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A ls die Abiturientin Rika Maetzig ihre High Heels und auch das Auto mit Plauener Spitze beklebte, war das Aufsehen groß. „Sonst hieß es im- mer: Plauener Spitze? Hat meine Oma auch. Aber jetzt kippten meine Freunde fast aus den Lat- schen“, erzählt die junge Frau in schöner vogtländischer Mundart. Die mittlerweile 19-jährige Stu- dentin der Arabistik gewann vor zwei Jahren die Wahl zur Spit- zenprinzessin. Sie fühlt sich dem Produkt, das mit dem Namen ih- rer Stadt untrennbar verwachsen ist und das Kenner als „in Fäden gefangene Luft“ bezeichnen, eng verbunden. In ihrer Altersklasse ist sie damit eine Ausnahme. „Spitze zu tragen, das muss man mögen. Rika strahlt das aus“, sagt Ingrid Eichert, die Führungen in der Plauener Schaustickerei an- bietet. Die ehemalige Fabrik mit Garten und Wohnhaus und auch das Spitzenmuseum im Alten Rat- haus bieten einen tiefen Einblick in die dramatische Geschichte der Spitzenstadt mit Aufstieg, Blüte und Zerfall, mit Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau. In der Belle Époque verzierte und veredelte ganz Plauen Sei- den-, Baumwoll- und Tüllstoffe, aus denen Kragen, Blusen, Klei- der, Schirme und Strümpfe ent- standen. 1900 zur Weltausstellung in Paris sorgten sie international für Aufsehen. 1912 eröffnete Ame- rika ein Konsulat in Plauen, doch schon ein Jahr später kam der Erd- rutsch. Die schlichte Mode einer Coco Chanel ließ die Nachfrage über Nacht ins Bodenlose fallen. Doch der Zauber der Spitze überlebte selbst zwei Kriege. Ihr Ruf drang durch die Mauer bis zu Hertie, Quelle und Karstadt. In der DDR war Plauener Spitze so rar wie begehrt. Der VEB Spitze und Stickerei mit 22 Unterbetrieben gehörte zum Kombinat Deko. Die zentralisierte Massenproduktion aber hatte Folgen. „Wir waren nur noch Zulieferer für die Konfektion. Zur Wendezeit war unser einstiges Mode-Know-how weitgehend ver- loren“, erzählt Andreas Reinhardt, Geschäftsführer des Mittelstand- betriebes „Modespitze“ Plauen. Die traditionell kleinen Betriebs- einheiten hatten auch bei Investi- tionen zurückgestanden. Im auf- kommenden digitalen Zeitalter regierte noch die Lochkarte. Bis auf wenige Ausnahmen liefen Maschi- nen aus den 1910er- und 1920er- Jahren. „Robust, wartungsarm und zuverlässig, aber hoffnungslos ver- altet“, sagt Reinhardt. Die Großbetriebe wurden 1990 abgewickelt. Die kleineren ver- suchten, irgendwie durchzukom- men, doch der Absatz brach ein, Kapazitäten wurden zurück- gefahren. „Nahezu jede Fami- lie in Plauen hatte etwas mit der Spitze zu tun. Und jede Familie war davon betroffen“, berichtet Ingrid Eichert. Im Streben nach Devisen hatte man die zarten Pro- dukte an Quelle & Co. weit unter Wert verkauft. „Verramscht“, sa- gen sie in Plauen. Diese Gewissheit, dazu Nieder- gang, Arbeitslosigkeit und ent- täuschte Erwartungen verpassten der Spitze einen kräftigen Nega- tivanstrich. Für eine ganze Gene- ration brach die Perspektive weg. Auch Andreas Reinhardt ließ „die Stickerei links liegen“, wie er es nennt, verließ Plauen und absol- vierte ein Jura-Studium in Jena und Belgien. Danach ging er nach Genf zu einer UN-Organisation. Die Bemühungen seiner Mutter bei der schwierigen Reprivatisierung des in den 1960er- und 1970er-Jah- ren verstaatlichten Familienbetrie- bes verfolgte er lediglich aus der Ferne. Die etwa 120 Mitarbeiter mit 120 Stickmaschinen befanden sich verteilt an 35 Standorten im Vogtland. Denn Verstaatlichung, PGH und VEB hat- ten die traditionelle Kleinteiligkeit der Produktion nicht aufgehoben. 1990 ging der VEB in Liquidation. Viele Eigentümer, deren Ansprüche wieder auflebten, ga- ben altersbedingt auf. Doch Regine Reinhardt gründete eine GmbH mit 15 Mitarbeitern und trat dem neuen Branchenverband bei. Die Mitgliedschaft berechtigt, den Mar- kennamen „Plauener Spitze“ zu nutzen, der seit mehr als 100 Jah- ren existiert, aber erst 1990 ge- schützt wurde. Außer der „Mode- spitze“ gibt es heute im Vogtland nur noch zehn Stickereiunterneh- men, die als Lizenznehmer echte Plauener Spitze produzieren. Der Strukturwandel im Vertrieb sowie der rapide Preisverfall in der Textilindustrie stellen sie vor immense Herausforderungen. Vor neun Jahren ist Andreas Reinhardt in den „Schoß der Spitze“ zurück- gekehrt und übernahm den 1890 von seinem Urgroßvater gegrün- deten Betrieb. Das Unternehmen hatte Umsatzrückgänge zu ver- kraften, doch es wagt auch ganz neue Wege. Mit den edlen Ac- cessoires der Kollektion „Frieda & Elly“ lässt man Deckchen und Fensterbild zurück und platziert sich in der Nische von Vintage- Mode und Retro-Chick. Auch die renommierte Modede- signerin Irene Luft aus München hat die Plauener Spitze in eine neue Liga gehoben: die der Haute Couture. Ein von ihr entworfenes, mit glitzernden Steinen übersätes schwarzes Tüllkleid wurde vor zwei Jahren zum „schönsten Kleid des Wiener Opernballs“ gekürt. Im letzten Jahr war es in Paris zu sehen. Danach wurde es vom Plauener Spitzen- museum für einen guten Zweck erstei- gert. Auch wenn der Stolz darüber dem Museumschef Jür- gen Fritzlar ins Ge- sicht geschrieben steht, führt er seine überraschten Gäste am liebs- ten in eine ganz junge Abteilung: die der technischen Stickerei. Ge- stickte, leitfähige Gebilde heizen Autositze und Fußböden, kühlen bandagierte Brüche und kontrol- lieren den Lastendruck auf Dä- chern. Technische Stickereien kön- nen als Implantate verlorene Haut ergänzen und als Tastatur in Hand- schuhe eingearbeitet werden. Die Möglichkeiten der Stick-Technolo- gie in Medizin-, Kfz-, Bau- und Si- cherheitstechnik stehen erst am Anfang. „Dort liegt die Zukunft“, sagt Jürgen Fritzlar. 56. Plauener Spitzenfest, 12. bis 14. Juni, Eröffnung am 12. Juni, 19.30 Uhr, auf dem Altmarkt, Informationen unter Tel. 03741 2911027, www.plauen.de Spitze hat die Stadt Plauen einst groß gemacht. Sie brachte Arbeit und ging als Export in 44 Länder. Mit der Wende brach alles weg. Jetzt versucht man, neue Wege zu gehen / Von Steffi Schweizer In Fäden gefangene Luft Zurück im „Schoß der Spitze“: Geschäftsführer Andreas Reinhardt leitet in vierter Generation das 1890 gegründete Familienunternehmen „Modespitze“. Foto: Modespitze Steht auf das luftige Produkt: Spitzenprinzessin Rika Maetzig in ihrem Amtskleid in der Schaustickerei Plauen. Foto rechts: Blick in die Muster-Bibliothek Fotos: Steffi Schweizer Gestickte, leitfähige Gebilde heizen heute Autositze und kühlen bandagierte Brüche D en Blick unter die Kleidung wagt jetzt das Haus der Geschichte Baden-Würt- temberg. In der Sonderausstellung „Auf nackter Haut – Leib. Wäsche. Träume.“ zeigt das Stuttgarter Museum, was seit Beginn der industriellen Produktion vor 150 Jahren an Un- terwäsche und Bademoden produziert wurde. Die Ausstellung präsentiert mit 418 Expo- naten und in fünf Kapiteln, was Textilien über gesellschaftliche Trends, Modegeschmack und technische Erfindungen ihrer Zeit sagen. Zu se- hen sind auch Objekte aus den Produktarchi- ven der Unterwäschefirmen Schiesser und Wil- helm Benger Söhne. Am Anfang der Ausstellung und am Anfang der Unterwäsche-Produktion steht der Rund- wirkstuhl. Diese Maschine sorgte im 19. Jahr- hundert in Zeiten der industriellen Revolution dafür, dass zum ersten Mal Textilien in gro- ßen Stückzahlen mit elastischen Geweben pro- duziert werden konnten – auch Unterwäsche. Schon früh wurde die in Frankreich erfundene Maschine auf der Schwäbischen Alb und am Bodensee eingesetzt. Laut Museumsleiter Tho- mas Schnabel war damit die Textilindustrie über mehr als 100 Jahre der wichtigste Industrie- bereich im Südwesten. „Beinkleider“ nannte man die ersten Unter- hosen für Damen, die bis zum Knie reichten und im Schritt offen waren. Sie setzten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Zuvor trugen Damen mehrere Unterrö- cke, aber keine Unterhosen. Schon um 1900 wurde intensiv über gesunde Leibwäsche dis- kutiert: Der Stuttgarter Arzt und Zoologe Gus- tav Jäher empfahl wollene Unterwäsche: „wet- terfest, affektfest, seuchenfest“. Sein Kollege Heinrich Lachmann trat für lo- cker fallende Trikotwäsche aus Baumwolle ein, die besser waschbar war. Die Unterwäsche- firma Schiesser warb, dass ihre „Abhärtungs- Wäsche“, produziert aus der indischen Nessel- faser Ramie, Krankheiten vorbeuge. Denn das Material sei „luftdurchgängig“, verhindere eine Überhitzung der Haut und belebe den Stoff- wechsel durch eine „ruhige, gleichmäßig-ener- gische Reibung der Haut“. Auch das gab es: wollene Badeanzüge, die ab 1928 in Stuttgart hergestellt wurden. Sie blieben im Gegen- satz zu Baumwolle im Wasser formsta- bil, auch wenn sie in vollgesogenem Zustand mehrere Kilo wogen. Für Herren kamen in den 1930er-Jahren farbige Unterhemden aus glänzender Baumwolle in Mode: Mann trug nun auch rosa. Aus Rohstoffmangel wurde während der Welt- kriege mit alternativen Materialien wie Papier oder Kunststoffe produziert. Feminine und fi- gurbetonte Damenmode wie elastische, hauch- dünne Perlonstrümpfe verhalfen in der Wirt- schaftswunderzeit den Wäscheherstellern zu hohen Umsätzen. Als Alternative zum Korsett entstanden um 1920 die ersten Büstenhalter. Was damals re- volutionär war, wurde von der Frauenbewe- gung Ende der 60er-Jahre verpönt: Viele junge Frauen legten den BH als Sinnbild männlicher Unterdrückung ab, es gab sogar einzelne BH- Verbrennungen. Schiesser reagierte zu dieser Zeit darauf mit einem leichten, transparenten BH, den die Firma mit dem Slogan „Frei – aber nicht haltlos“ bewarb. Filmausschnitte zeigen, wie die intime Hülle Film und Werbung eroberte. Durch US-Film- serien wie „Dallas“, in denen Schauspielerinnen in spitzenbesetzten Dessous zu sehen waren, setzte sich die aufwendige, dekorative Unter- wäsche auch in Deutschland durch. Die Männer dagegen hinkten den Unter- wäsche-Trends der Frauen hinterher. Über Jahr- zehnte trugen sie weißen Fein- und Doppel- ripp. Farbig wurden ihre Unterhosen erst in den späten 1960er-Jahren. „Farblose Männer gibt’s schon zu Genüge“ – so lautete deshalb eine Schiesser-Werbung für die ersten bunten Unterhosen. Modische Schnitte für Herren wie Boxer-Shorts, Rio-Slips und Pants folgten erst in den 1980er-Jahren. Bis 31. Januar 2016, Di–So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr, Haus der Geschichte Baden-Württem- berg, Konrad-Adenauer-Straße 16, Stuttgart Geschichte der Beinkleider Stuttgarter Ausstellung zeigt 150 Jahre Unterwäsche-Produktion Von Judith Kubitscheck Nur die Damenwäsche wird bunt: Stücke aus den 1950er- und 1960er-Jahren Foto: Museum Als Alternative zum Korsett entstanden um 1920 die ersten Büstenhalter E ine Hose, die im Stehen klasse aussieht, verliert im Sitzen oft ihren Schick. Die Hosen- beine sehen nach Hochwasser aus, Taschen und Nähte hinterlassen hinten unangenehme Druckstel- len, und der Knopf geht nur müh- sam auf. Marco Hopp versuchte es anfangs mit Leggins – an gewöhn- lichen Hosen störte ihn vor allem das „Maurerdekolleté“. „Ich emp- finde es als unästhetisch, wenn ich sitze und es schaut der halbe Hintern raus“, sagt der 43-Jährige aus Heidelberg, der seit einem Au- tounfall querschnittsgelähmt ist. „Auch wenn ich im Rollstuhl un- terwegs bin, muss das Gesamtbild immer stimmig sein.“ Inzwischen kauft Hopp seine Hosen bei einem Anbieter im nahe gelegenen Eberbach, der auf Mode für Rollstuhlfahrer spezialisiert ist. „In einem normalen Geschäft eine Hose zu kaufen, kommt für mich nicht infrage. Es sind zwar stolze Preise hier, aber ich weiß, dass sie passt.“ Der Markt für Rollstuhlfah- rer-Mode ist übersichtlich. Rolli- Moden in Eberbach ist der nach eigenen Angaben weltweit größte Anbieter – und hat nur elf Mit- arbeiter. „Viele Rollstuhlfahrer wissen selbst gar nicht, dass es so etwas gibt“, sagt Geschäftsführer Berkay Dogan. „Deshalb sieht man auch, dass viele Schlabberhosen tragen.“ Auch dem Handel sei das Angebot kaum bewusst – trotz geschätzt etwa 1,6 Millionen Rollstuhlfah- rern in Deutschland. Der Klamotteneinkauf werde für Rollstuhlfahrer schnell frustrie- rend, sagt Dunja Fuhrmann aus dem Vorstand des Bundesverban- des Selbsthilfe Körperbehinderter. Sie könnten zwar die meiste Klei- dung für Nicht-Behinderte auch kaufen, die sehe dann aber häufig im Sitzen nicht gut aus und müsse aufwendig umgenäht werden. Bei Spezial-Anbietern vermisst Fuhr- mann, die selbst im Rollstuhl sitzt, wiederum die Auswahl. Außerdem seien die Preise für viele zu hoch. Bei den Eberbachern hat jetzt ein junges Leitungsteam die Führung übernommen – und möchte vie- les anders machen. „Die Mode ist praktisch, wird aber modischer“, sagt Geschäftsführerin und Desig- nerin Julia Schulz. Es soll nicht gleich nach einer Hose für Roll- stuhlfahrer aussehen. Auch Designerin Vivien Schlü- ter aus Oldenburg macht Mode für Rollstuhlfahrer, vor allem festliche Kleidung. In den gewöhnlichen Ge- schäften fänden ihre Kunden meist nur die Grundausstattung. „Sie nehmen dann einfach das, was ih- nen passt, und nicht das, was ihnen gefällt – und das ist nicht optimal.“ Mode für Rollstuhlfahrer ist noch immer eine Nischenbranche / Von Christine Cornelius Keine Lust auf Schlabberhosen „Das Gesamtbild muss stimmig sein“: Marco Hopp sucht im Geschäft „Rolli-Moden“ nach einer passenden Jeanshose.Foto: dpa/Uwe Anspach Journal 4 MOZ Sonnabend/Sonntag, 6./7. Juni 2015

Geschichte der Beinkleider - mode-spitze.de · Als die Abiturientin Rika Maetzig ihre High Heels und auch das Auto mit PlauenerSpitzebeklebte,wardas Aufsehengroß.„Sonsthießesim-mer:

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Page 1: Geschichte der Beinkleider - mode-spitze.de · Als die Abiturientin Rika Maetzig ihre High Heels und auch das Auto mit PlauenerSpitzebeklebte,wardas Aufsehengroß.„Sonsthießesim-mer:

Als die Abiturientin RikaMaetzig ihre High Heelsund auch das Auto mit

Plauener Spitze beklebte, war dasAufsehen groß. „Sonst hieß es im-mer: Plauener Spitze? Hat meineOma auch. Aber jetzt kipptenmeine Freunde fast aus den Lat-schen“, erzählt die junge Frau inschöner vogtländischer Mundart.Die mittlerweile 19-jährige Stu-dentin der Arabistik gewann vorzwei Jahren die Wahl zur Spit-zenprinzessin. Sie fühlt sich demProdukt, das mit dem Namen ih-rer Stadt untrennbar verwachsenist und das Kenner als „in Fädengefangene Luft“ bezeichnen, engverbunden. In ihrer Altersklasseist sie damit eine Ausnahme.

„Spitze zu tragen, das mussman mögen. Rika strahlt das aus“,sagt Ingrid Eichert, die Führungenin der Plauener Schaustickerei an-bietet. Die ehemalige Fabrik mitGarten und Wohnhaus und auchdas Spitzenmuseum im Alten Rat-haus bieten einen tiefen Einblickin die dramatische Geschichte der

Spitzenstadt mit Aufstieg, Blüteund Zerfall, mit Krieg, Zerstörungund Wiederaufbau.

In der Belle Époque verzierteund veredelte ganz Plauen Sei-den-, Baumwoll- und Tüllstoffe,aus denen Kragen, Blusen, Klei-der, Schirme und Strümpfe ent-standen. 1900 zur Weltausstellungin Paris sorgten sie internationalfür Aufsehen. 1912 eröffnete Ame-rika ein Konsulat in Plauen, dochschon ein Jahr später kam der Erd-rutsch. Die schlichte Mode einerCoco Chanel ließ die Nachfrageüber Nacht ins Bodenlose fallen.

Doch der Zauber der Spitzeüberlebte selbst zwei Kriege. IhrRuf drang durch die Mauer bis zuHertie, Quelle und Karstadt. In derDDR war Plauener Spitze so rarwie begehrt. Der VEB Spitze undStickerei mit 22 Unterbetriebengehörte zum Kombinat Deko. Diezentralisierte Massenproduktionaber hatte Folgen. „Wir waren nurnoch Zulieferer für die Konfektion.Zur Wendezeit war unser einstigesMode-Know-how weitgehend ver-

loren“, erzählt Andreas Reinhardt,Geschäftsführer des Mittelstand-betriebes „Modespitze“ Plauen.

Die traditionell kleinen Betriebs-einheiten hatten auch bei Investi-tionen zurückgestanden. Im auf-kommenden digitalen Zeitalterregierte noch die Lochkarte. Bis aufwenige Ausnahmen liefen Maschi-nen aus den 1910er- und 1920er-Jahren. „Robust, wartungsarm undzuverlässig, aber hoffnungslos ver-altet“, sagt Reinhardt.

Die Großbetriebe wurden 1990abgewickelt. Die kleineren ver-suchten, irgendwie durchzukom-men, doch der Absatz brach ein,Kapazitäten wurden zurück-gefahren. „Nahezu jede Fami-lie in Plauen hatte etwas mit derSpitze zu tun. Und jede Familiewar davon betroffen“, berichtetIngrid Eichert. Im Streben nachDevisen hatte man die zarten Pro-dukte an Quelle & Co. weit unterWert verkauft. „Verramscht“, sa-gen sie in Plauen.

Diese Gewissheit, dazu Nieder-gang, Arbeitslosigkeit und ent-

täuschte Erwartungen verpasstender Spitze einen kräftigen Nega-tivanstrich. Für eine ganze Gene-ration brach die Perspektive weg.Auch Andreas Reinhardt ließ „dieStickerei links liegen“, wie er esnennt, verließ Plauen und absol-vierte ein Jura-Studium in Jenaund Belgien. Danach ging er nachGenf zu einer UN-Organisation.Die Bemühungen seiner Mutter beider schwierigen Reprivatisierungdes in den 1960er- und 1970er-Jah-ren verstaatlichten Familienbetrie-bes verfolgte er lediglich aus derFerne. Die etwa 120 Mitarbeitermit 120 Stickmaschinen befandensich verteilt an 35 Standorten imVogtland. Denn Verstaatlichung,PGH und VEB hat-ten die traditionelleKleinteiligkeit derProduktion nichtaufgehoben.

1990 ging der VEBin Liquidation. VieleEigentümer, derenAnsprüche wieder auflebten, ga-ben altersbedingt auf. Doch RegineReinhardt gründete eine GmbHmit 15 Mitarbeitern und trat demneuen Branchenverband bei. DieMitgliedschaft berechtigt, den Mar-kennamen „Plauener Spitze“ zunutzen, der seit mehr als 100 Jah-ren existiert, aber erst 1990 ge-schützt wurde. Außer der „Mode-spitze“ gibt es heute im Vogtlandnur noch zehn Stickereiunterneh-men, die als Lizenznehmer echtePlauener Spitze produzieren.

Der Strukturwandel im Vertriebsowie der rapide Preisverfall inder Textilindustrie stellen sie vorimmense Herausforderungen. Vorneun Jahren ist Andreas Reinhardtin den „Schoß der Spitze“ zurück-gekehrt und übernahm den 1890von seinem Urgroßvater gegrün-deten Betrieb. Das Unternehmen

hatte Umsatzrückgänge zu ver-kraften, doch es wagt auch ganzneue Wege. Mit den edlen Ac-cessoires der Kollektion „Frieda& Elly“ lässt man Deckchen undFensterbild zurück und platziertsich in der Nische von Vintage-Mode und Retro-Chick.

Auch die renommierte Modede-signerin Irene Luft aus Münchenhat die Plauener Spitze in eineneue Liga gehoben: die der HauteCouture. Ein von ihr entworfenes,mit glitzernden Steinen übersätesschwarzes Tüllkleid wurde vorzwei Jahren zum „schönsten Kleiddes Wiener Opernballs“ gekürt.Im letzten Jahr war es in Pariszu sehen. Danach wurde es vom

Plauener Spitzen-museum für einenguten Zweck erstei-gert.

Auch wenn derStolz darüber demMuseumschef Jür-gen Fritzlar ins Ge-

sicht geschrieben steht, führt erseine überraschten Gäste am liebs-ten in eine ganz junge Abteilung:die der technischen Stickerei. Ge-stickte, leitfähige Gebilde heizenAutositze und Fußböden, kühlenbandagierte Brüche und kontrol-lieren den Lastendruck auf Dä-chern. Technische Stickereien kön-nen als Implantate verlorene Hautergänzen und als Tastatur in Hand-schuhe eingearbeitet werden. DieMöglichkeiten der Stick-Technolo-gie in Medizin-, Kfz-, Bau- und Si-cherheitstechnik stehen erst amAnfang. „Dort liegt die Zukunft“,sagt Jürgen Fritzlar.

56. Plauener Spitzenfest, 12. bis14. Juni, Eröffnung am 12. Juni,19.30 Uhr, auf dem Altmarkt,Informationen unter Tel. 037412911027, www.plauen.de

Spitze hat die Stadt Plauen einst groß gemacht. Sie brachte Arbeit und ging als Export in44 Länder. Mit der Wende brach alles weg. Jetzt versucht man, neue Wege zu gehen / Von Steffi Schweizer

In Fäden gefangene LuftZurück im „Schoß der Spitze“: Geschäftsführer Andreas Reinhardt leitet in vierter Generation das 1890 gegründete Familienunternehmen „Modespitze“. Foto: Modespitze

Steht auf das luftige Produkt: Spitzenprinzessin Rika Maetzig in ihrem Amtskleid in der SchaustickereiPlauen. Foto rechts: Blick in die Muster-Bibliothek Fotos: Steffi Schweizer

Gestickte, leitfähigeGebilde heizen heuteAutositze und kühlenbandagierte Brüche

Den Blick unter die Kleidung wagt jetztdas Haus der Geschichte Baden-Würt-temberg. In der Sonderausstellung „Auf

nackter Haut – Leib. Wäsche. Träume.“ zeigtdas Stuttgarter Museum, was seit Beginn derindustriellen Produktion vor 150 Jahren an Un-terwäsche und Bademoden produziert wurde.

Die Ausstellung präsentiert mit 418 Expo-naten und in fünf Kapiteln, was Textilien übergesellschaftliche Trends, Modegeschmack undtechnische Erfindungen ihrer Zeit sagen. Zu se-hen sind auch Objekte aus den Produktarchi-ven der Unterwäschefirmen Schiesser und Wil-helm Benger Söhne.

Am Anfang der Ausstellung und am Anfangder Unterwäsche-Produktion steht der Rund-wirkstuhl. Diese Maschine sorgte im 19. Jahr-hundert in Zeiten der industriellen Revolutiondafür, dass zum ersten Mal Textilien in gro-ßen Stückzahlen mit elastischen Geweben pro-duziert werden konnten – auch Unterwäsche.Schon früh wurde die in Frankreich erfundeneMaschine auf der Schwäbischen Alb und amBodensee eingesetzt. Laut Museumsleiter Tho-mas Schnabel war damit die Textilindustrie übermehr als 100 Jahre der wichtigste Industrie-bereich im Südwesten.

„Beinkleider“ nannte man die ersten Unter-hosen für Damen, die bis zum Knie reichtenund im Schritt offen waren. Sie setzten sicherst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertsdurch. Zuvor trugen Damen mehrere Unterrö-

cke, aber keine Unterhosen. Schon um 1900wurde intensiv über gesunde Leibwäsche dis-kutiert: Der Stuttgarter Arzt und Zoologe Gus-tav Jäher empfahl wollene Unterwäsche: „wet-terfest, affektfest, seuchenfest“.

Sein Kollege Heinrich Lachmann trat für lo-cker fallende Trikotwäsche aus Baumwolle ein,die besser waschbar war. Die Unterwäsche-firma Schiesser warb, dass ihre „Abhärtungs-Wäsche“, produziert aus der indischen Nessel-faser Ramie, Krankheiten vorbeuge. Denn dasMaterial sei „luftdurchgängig“, verhindere eineÜberhitzung der Haut und belebe den Stoff-wechsel durch eine „ruhige, gleichmäßig-ener-gische Reibung der Haut“.

Auch das gab es: wollene Badeanzüge, dieab 1928 in Stuttgart hergestellt wurden. Sie

blieben im Gegen-satz zu Baumwolleim Wasser formsta-bil, auch wenn siein vollgesogenemZustand mehrereKilo wogen. FürHerren kamen in

den 1930er-Jahren farbige Unterhemden ausglänzender Baumwolle in Mode: Mann trugnun auch rosa.

Aus Rohstoffmangel wurde während der Welt-kriege mit alternativen Materialien wie Papieroder Kunststoffe produziert. Feminine und fi-gurbetonte Damenmode wie elastische, hauch-dünne Perlonstrümpfe verhalfen in der Wirt-schaftswunderzeit den Wäscheherstellern zuhohen Umsätzen.

Als Alternative zum Korsett entstanden um1920 die ersten Büstenhalter. Was damals re-volutionär war, wurde von der Frauenbewe-gung Ende der 60er-Jahre verpönt: Viele jungeFrauen legten den BH als Sinnbild männlicherUnterdrückung ab, es gab sogar einzelne BH-Verbrennungen. Schiesser reagierte zu dieserZeit darauf mit einem leichten, transparentenBH, den die Firma mit dem Slogan „Frei – abernicht haltlos“ bewarb.

Filmausschnitte zeigen, wie die intime HülleFilm und Werbung eroberte. Durch US-Film-serien wie „Dallas“, in denen Schauspielerinnenin spitzenbesetzten Dessous zu sehen waren,setzte sich die aufwendige, dekorative Unter-wäsche auch in Deutschland durch.

Die Männer dagegen hinkten den Unter-wäsche-Trends der Frauen hinterher. Über Jahr-zehnte trugen sie weißen Fein- und Doppel-ripp. Farbig wurden ihre Unterhosen erst inden späten 1960er-Jahren. „Farblose Männergibt’s schon zu Genüge“ – so lautete deshalbeine Schiesser-Werbung für die ersten buntenUnterhosen. Modische Schnitte für Herren wieBoxer-Shorts, Rio-Slips und Pants folgten erstin den 1980er-Jahren.

Bis 31. Januar 2016, Di–So 10–18 Uhr, Do bis21 Uhr, Haus der Geschichte Baden-Württem-berg, Konrad-Adenauer-Straße 16, Stuttgart

Geschichte derBeinkleiderStuttgarter Ausstellung zeigt

150 Jahre Unterwäsche-ProduktionVon Judith Kubitscheck

Nur die Damenwäsche wird bunt: Stücke ausden 1950er- und 1960er-Jahren Foto: Museum

Als Alternative zumKorsett entstandenum 1920 die ersten

Büstenhalter

Eine Hose, die im Stehen klasseaussieht, verliert im Sitzenoft ihren Schick. Die Hosen-

beine sehen nach Hochwasser aus,Taschen und Nähte hinterlassenhinten unangenehme Druckstel-len, und der Knopf geht nur müh-sam auf. Marco Hopp versuchte esanfangs mit Leggins – an gewöhn-lichen Hosen störte ihn vor allemdas „Maurerdekolleté“. „Ich emp-finde es als unästhetisch, wennich sitze und es schaut der halbeHintern raus“, sagt der 43-Jährigeaus Heidelberg, der seit einem Au-tounfall querschnittsgelähmt ist.„Auch wenn ich im Rollstuhl un-terwegs bin, muss das Gesamtbildimmer stimmig sein.“

Inzwischen kauft Hopp seineHosen bei einem Anbieter im nahegelegenen Eberbach, der auf Modefür Rollstuhlfahrer spezialisiert ist.„In einem normalen Geschäft eineHose zu kaufen, kommt für michnicht infrage. Es sind zwar stolzePreise hier, aber ich weiß, dass siepasst.“ Der Markt für Rollstuhlfah-

rer-Mode ist übersichtlich. Rolli-Moden in Eberbach ist der nacheigenen Angaben weltweit größteAnbieter – und hat nur elf Mit-arbeiter.

„Viele Rollstuhlfahrer wissenselbst gar nicht, dass es so etwasgibt“, sagt Geschäftsführer BerkayDogan. „Deshalb sieht man auch,dass viele Schlabberhosen tragen.“Auch dem Handel sei das Angebotkaum bewusst – trotz geschätztetwa 1,6 Millionen Rollstuhlfah-rern in Deutschland.

Der Klamotteneinkauf werde fürRollstuhlfahrer schnell frustrie-rend, sagt Dunja Fuhrmann ausdem Vorstand des Bundesverban-des Selbsthilfe Körperbehinderter.Sie könnten zwar die meiste Klei-dung für Nicht-Behinderte auchkaufen, die sehe dann aber häufigim Sitzen nicht gut aus und müsse

aufwendig umgenäht werden. BeiSpezial-Anbietern vermisst Fuhr-mann, die selbst im Rollstuhl sitzt,wiederum die Auswahl. Außerdemseien die Preise für viele zu hoch.

Bei den Eberbachern hat jetzt einjunges Leitungsteam die Führungübernommen – und möchte vie-les anders machen. „Die Mode istpraktisch, wird aber modischer“,sagt Geschäftsführerin und Desig-nerin Julia Schulz. Es soll nichtgleich nach einer Hose für Roll-stuhlfahrer aussehen.

Auch Designerin Vivien Schlü-ter aus Oldenburg macht Mode fürRollstuhlfahrer, vor allem festlicheKleidung. In den gewöhnlichen Ge-schäften fänden ihre Kunden meistnur die Grundausstattung. „Sienehmen dann einfach das, was ih-nen passt, und nicht das, was ihnengefällt – und das ist nicht optimal.“

Mode für Rollstuhlfahrer ist noch immer eine Nischenbranche / Von Christine Cornelius

Keine Lust auf Schlabberhosen

„Das Gesamtbild muss stimmig sein“: Marco Hopp sucht im Geschäft„Rolli-Moden“ nach einer passenden Jeanshose. Foto: dpa/Uwe Anspach

Journal4 MOZSonnabend/Sonntag, 6./7. Juni 2015