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Geschickte Sprünge Physik und Medium bei Martin Heidegger

Geschickte Sprünge Physik und Medium bei Martin Heidegger · Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Graduiertenkollegs »Mediale Historiographien« der Universitäten Weimar,

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Geschickte SprüngePhysik und Medium bei Martin Heidegger

Christina Vagt

Geschickte Sprünge Physik und Medium bei Martin Heidegger

diaphanes

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Graduiertenkollegs

»Mediale Historiographien« der Universitäten Weimar, Erfurt und Jena,

der Technischen Universität Berlin und der Johanna und Fritz Buch

Gedächtnisstiftung.

1. Auflage

ISBN 978-3-03734-198-8

© diaphanes, Zürich 2012

www.diaphanes.net

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Layout: 2edit, Zürich

Druck: Pustet, Regensburg

Inhalt

Einleitung 7

Erster Teil: Simultanität 11

1.1 Von Uhren 15 1.1.1 Im Äther 16 Ortszeit 22 Die Uhren der Mikrobe 26 1.1.2 Leben und Sprache 38 Negentropie oder die Ordnung des Lebens 44 Relativität 54 1.2 Das Vergessen der Schreibmaschine 65 1.2.1 Durchschnittliche Mitteilung 65 1.2.2 Schreibmaschine 69 Vergessung 72 1.2.3 Blinde Geschichte 76 1.3 Diagramm 81 1.3.1 Kosmograph 82 Absolute Welt 85 1.3.2 Bildraum. Vom Äther- zum Feldproblem 91 Feldtheorie 92 Ich-Residuum 96 Schichten und Fasern 101 Weltbild 105 1.3.3 Umwelt 110 Weltbildendes Zeug 110 Gegenwelt 117 Spiegelstadien 122 1.3.4 Kunst und Technik 131 Von der Gestalt zum Gestell 132

Zweiter Teil: Unbestimmtheit 139

2.1 Kant. Einführung des Beobachters 141 2.1.1 Naturgesetz. Mathematik als Apriori 144

Wahrscheinlichkeit 147 Rekursion 151 Experiment 156 2.1.2 Licht und Materie. Natura facit saltus 165 Thermometer. Schwarze Strahlung oder die Vermessung des Universums 167 Stehende Wellen 173 Matrizen – Quantenmechanik 178 2.1.3 Chora. Physis und Sprache 188 Zwischenraum 192 Ding und Medium 199 Seinsgeschichte 202 2.2 Aristoteles. Die doppelte Natur der Dinge 209 Morphé und arché – doppelte Gestalt 211 Genesis und dynamis – doppelte Bewegung 213 Lesbarkeit der Natur 216 Superposition 221 2.3 Heisenberg. Eine Frage der Technik 229 2.3.1 Briefwechsel 230 Atomschrift 242 2.3.2 Gestell 249 2.4 Atomphysik. Gefahr und Rettung 263 Verschuldung 264 Geschickte Maschinen 270 2.4.1 Seinsgeschichte der Bombe 273 Das Vergessen der Technik 281

Danksagung 289

Literaturverzeichnis 291

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit begann mit der epistemologischen Frage, wel-che Rolle naturwissenschaftliche Diskurse innerhalb von Heideggers philosophischem Programm im Allgemeinen und für seine Technik-philosophie im Besonderen spielen und ob sich daran eine medien-ontologische Relation aufzeigen lässt, die über Heidegger hinaus symptomatisch für das Wissen des 20. und 21. Jahrhunderts wäre.

Im Zuge meiner Recherchen tauchte 2005 ein unbekannter Brief-wechsel zwischen Heidegger und Werner Heisenberg auf. So stand am Anfang die recht mühselige Entzifferung eines Heidegger-Konvo-lutes zu Heisenberg, das im Laufe der Promotion dann immer mehr zu einem Fluchtpunkt meiner Überlegungen und schließlich auch dieses Buches avancierte.1

Das Konvolut ist etwas, das Heideggers Philosophie gleichermaßen entzaubert und in Vollzug setzt, denn dieses Zeug konfrontiert mit der ausdauernden Gedanken- und Papierverarbeitung des Philoso-phen. Plötzlich bilden alltägliche Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben, Markieren, Umschreiben, Ausstreichen, Verschicken, Empfangen, Überarbeiten, Ausschneiden, Überschreiben den profanen Hinter-grund von Daseinsanalyse und Seinsgeschichte.

Ihre Materialität macht die zahllosen Bündel von losen handschrift-lichen Notizen, abgetippten Entwürfen, Zeitungsausschnitten, Brie-fen und Postkarten, aus denen der unveröffentlichte Nachlass Hei-deggers größtenteils besteht, zu begehrten Objekten der aktuellen Forschung.

Unter dem Titel Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik ist 2009 Band Nr. 76 der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe, eine Sammlung von Notizen und unveröffentlichten Aufsätzen Heideggers erschienen, die als »Vorüberlegungen und seinsgeschichtliche Nachbereitung«, so die Herausgeber, Heideggers Schriften zu Wissenschaft und Tech-nik betreffen. Band 76, eine mühevoll edierte, druckgelegte Ausgabe von Konvoluten, enthält keine Faksimiles, erleichtert aber dafür um einiges die Lektüre der heideggerschen Notizen. Hier kann jeder

1 Vgl. 2.3. Heisenberg.

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nachlesen, wie eingehend sich Heidegger zwischen 1935 und 1953 mit den in der Naturwissenschaft herrschenden Ontologien ausein-andersetzte und wie sich dieses Nachdenken als Schreibübung auf Papier vollzog.

Die Aussage des Konvolutes in all seiner Faktizität ist aber zunächst und zumeist nicht mehr als ein ›Dass‹: dass Heidegger sich mit der Wissensgeschichte der Naturwissenschaften und insbesondere der Quantenphysik sehr viel eingehender beschäftigte, als es die Philo-sophie lange Zeit wahrhaben wollte, dass diese Auseinandersetzung zur langen Vorgeschichte der heideggerschen Frage nach der Technik gehört, und dass eben dieser Sachverhalt in Vergessenheit geraten ist. Von den Konsequenzen handelt dieses Buch.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste beschäftigt sich mit der Wissensordnung der Simultanität und ihrer Medien, wie sie im Kontext der philosophischen und physikalischen Bezüge bei Heideg-ger begegnen. Dabei steht der Diskurs rund um Leben und Zeit inner-halb von Thermodynamik und Relativitätstheorie im Vordergrund, wie er bei Heidegger in Bezug auf Henri Bergson, Hermann Weyl, Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Oskar Becker u.a. erscheint. Auch Heideggers Auseinandersetzung mit der theoretischen Biologie Jakob von Uexkülls wird in Bezug auf die Begriffe des Lebens und der Maschine, vor allem aber in Bezug auf Welt- und Raumbegriffe thematisiert.

Der zweite Teil beschreibt die Wissensordnung der Unbestimmt-heit als Folge der quantenphysikalischen Volten und ihrer Medien. Der Streit um die Formalisierung der Quantenphysik, wie er zwi-schen Werner Heisenberg, Niels Bohr, Max Born, Hermann Weyl, Erwin Schrödinger u.a. ausgetragen wird, bildet den Ausgangspunkt der Diskussion um einen neuen Stellenwert des Medialen bei Heideg-ger. Er versucht das Wissen der Physik, ihre medialisierten Räume und neue Ursächlichkeit nicht nur in expliziter Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft zu verstehen, sondern versucht es durch die ihm vertrauten Ontologien, vor allem anhand von Kant- und Aris-toteleslektüren, seinsgeschichtlich wieder einzuholen.

Während unter den Wissensbedingungen der Simultanität Medien der Gleichzeitigkeit, der Einschreibung und der raumzeitlichen Ver-schränkung in Physik und Philosophie vor allem der ontologischen Unterscheidung dienen, scheinen unter dem quantenmechanischen

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Axiom der Unbestimmtheit Medien der Verdoppelung eher ontologi-sche Identitäten zu produzieren. Durch die von der Quantenphysik gewandelte Substanz- und Kausalitätsbestimmung verändert sich auch die Funktion des Medialen bei Heidegger. Die Unbestimmtheit zieht eine Revision der heideggerschen Zeit-, Raum- und Seinsbe-stimmungen nach sich und verweist das frühe fundamentalontologi-sche Programm auf seinen seinsgeschichtlichen Platz.

Die beiden Wissensordnungen dienen auch dem besseren Ver-ständnis des heideggerschen Werkzusammenhangs in Bezug auf die Geschichte des Seins und der modernen Physik, da die handelnden Akteure dieser Geschichte jeweils andere sind und sich darüber hin-aus ihre ontologische Funktion verändert.

Während sich der frühe Heidegger im weitesten Sinne mit den Relationen von Dasein, Zeit und Raum beschäftigt, lauten die Vek-toren beim späten Heidegger Sein, Sprache und Geschichte. Obwohl Heidegger sich diese Fragen erst im Laufe der 1930er Jahre stellt, verändert sich unter ihren Bedingungen auch die Perspektive auf die frühen Schriften, insbesondere was die Rolle des Medialen betrifft. Als Folge dieses Kurzschlusses überlagern sich auch die beiden Wis-sensordnungen.

Der Begriff der »Seinsgeschichte« wird von Heidegger in zwei unter-schiedlichen Modalitäten verwendet. Er bezeichnet die Geschichte zunehmender Seinsvergessenheit, wie Heidegger sie anhand der onto-logischen Zuschreibungen in metaphysischen Etappen beschreibt. Die andere »Seinsgeschichte« bildet den Bezugspunkt für das von Heidegger adressierte »Wesen« des Seins, das sich nicht durch Des-truktion herrschender Wahrheiten, sondern nur im Vollzug eigent-lichen Denkens und Sagens ereignet. Dabei handelt es sich nach Heidegger nicht mehr um klassische, sondern um prozessorientierte Seinsbestimmungen, da sich das Wesen des Seins in seinem unver-stellten, »gelichteten« Wesen dem Diskurs und vor allem der Logik der Philosophie entzieht. Im Folgenden soll gezeigt werden, weshalb genau in der Überschreitung des »reinen« philosophischen Diskurses das Potenzial einer Medienontologie nach Heidegger liegt.

Während die ontisch-ontologische Differenz seit Sein und Zeit für den fundamentalen Unterschied zwischen Seiendem und Sein steht, behauptet die seinsgeschichtliche Differenz geschichtliche Identität, den seinsgeschichtlichen Zusammenhang innerhalb einer epoché des

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»Geschicks«. Diese Überlagerung von Differenz und Identität ist ver-wirrend aber unumgänglich, zumal auch Heidegger alle Versuche, die Differenzen und Identitäten des Seins auf der Signifikantenebene zu markieren (etwa durch die Schreibweisen »Seyn« und »Sein«, »Ge-stell« und »Gestell«, Sein und Sein) schnell wieder aufgegeben hat. Identitäten und Differenzen müssen in gedanklicher Nähe voll-zogen werden, so scheint Heideggers Philosophie zu fordern, als ob diejenigen, die nicht zwischen den verschiedenen Seinsweisen und -geschichten hin- und herspringen können, wieder in die herrschende Ontologie des vorhandenen, gegenständlichen, faktischen und seins-vergessenen Denkens zurücksinken.

Die griechischen Begriffe, die sich bei Heidegger teilweise in grie-chischer, meist jedoch in lateinischer Schrift finden, werden aus-schließlich in lateinischen Buchstaben wiedergegeben. In wenigen Fällen wurden Betonungszeichen gesetzt.

Erster Teil

Simultanität

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Simultanität – a) Gemeinsamkeit, Gleichzeitigkeit; b) die Darstellung von zeitlich oder räumlich auseinanderliegenden Ereignissen in einem Bild.

Die lexikalische Definition der Simultanität gibt zu denken. Zunächst erscheint es seltsam, dass Simultanität Gleichzeitigkeit und Gemein-samkeit bedeutet, da sie im herkömmlichen Sinne eher ein techni-scher Ausdruck ist, während Gemeinsamkeit doch eher eine soziale Konnotation besitzt. Bemerkenswert erscheint auch, dass der Begriff neben seiner zeitlichen Bedeutung explizit für eine bestimmte Art der Repräsentation steht, die Darstellung von zeitlich oder räumlich auseinanderliegenden Ereignissen in einem Bild.

Der Begriff der Simultanität verweist in dieser doppelten, räum-lichen und zeitlichen Funktion auf eine Wissensordnung um 1900, die die philosophischen, textbasierten Diskurse wie die der Zeit- und Lebensphilosophie mit der Experimental- und Mathematikgeschichte der Thermodynamik und der Relativitätstheorie verschränkt. Diskurs-analytisch lässt sich sowohl die moderne Physik als auch die Philo-sophie Heideggers als Produkt dieser Wissensordnung verstehen.

Simultanität wird durch Medien der Gemeinsamkeit, der Gleich-zeitigkeit und der Darstellung von zeitlich oder räumlich auseinan-derliegenden Ereignissen in einem Bild hergestellt. Uhren, Schreib-maschinen, Diagramme und Fotografien verschränken Heideggers Philosophie mit Diskursen der Lebensphilosophie, Relativitätstheorie und Biologie auf unterschiedliche Art und Weise: Während Uhren bestimmte Auffassungen von Zeit generieren, bedingen Schreib-maschinen bestimmte Formen der Geschichte und Diagramme prä-gen den Welt- und Bildbegriff Heideggers.

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1.1 Von Uhren

»Je mehr das Besorgen in der Welt aufgeht (jetzt das, dann das und dann erst noch das), umso weniger hat es ›Zeit‹. Je häufiger und dring-licher das besorgende Aufgehen nach dem »Wann« fragen muß, umso kostbarer wird die Zeit. Und je kostbarer sie ist, umso feiner und hand-licher wird die Uhr. Die Rede des Besorgens: ›ich habe keine Zeit‹ besagt: ich habe jetzt keine Zeit übrig für … Das Besorgen geht in der verfügbaren Zeit auf. Sie soll nicht verloren gehen. Nicht einmal die Feststellung des ›rechten Jetzt‹ soll ›Zeit‹ in Anspruch nehmen. Die Kostbarkeit dokumentiert das Sein der Zeit. Es gibt ›die Zeit‹.«1

Die Ökonomie des heideggerschen Daseins besteht aus kostbarer Zeit und handlichen Uhren. Erst die Uhr macht Zeit ablesbar und verfügbar, ihr Gebrauch zeitigt Physik und Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts gleichermaßen. Da Funktion und Bedeutung der Uhr aber keineswegs zeitlos, sondern selbst geschichtlich sind, gilt der erste Schritt dieser Untersuchung dem Uhr-Wesen, das die Kon-stellation aus Daseinsanalyse und Relativitätstheorie überhaupt erst gestattet: ein durch Uhren konstruierter Raum der Simultanität, der an die Stelle des Äthers tritt.

Die Auseinandersetzung zwischen Henri Bergson und Albert Ein-stein, eigentlich ein Streit um die erkenntnistheoretische Rolle der Uhr, dient Heidegger als diskursiver Grund für die eigene zeitphiloso-phische Position der Daseinsanalyse jenseits von Lebensphilosophie, Phänomenologie und Transzendentalismus. Die Wissensordnung der Simultanität zersetzt nicht nur die Modelle der vorrelativistischen Physik und des Transzendentalismus, sie produziert ihrerseits neue epistemische Felder und Aussageregeln. Medialer Akteur dieser Ord-nung sind die Uhren, die sowohl an der neuen Ontologie der Physik wie an der heideggerschen Seinsgeschichte mitschreiben.

1 Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit (GA 64), Frankfurt a.M. 2004, S. 71f.

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1.1.1 Im Äther

Der Äther fungiert bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur als Träger elektromagnetischer Wellen und seit der Antike als Mittel, sich den horror vacui vom Leib zu halten, sondern auch als quasi-stoffliche Bedingung der Möglichkeit räumlicher Erfahrung. Er ver-bindet das Wissen der beiden Leitdisziplinen des 19. Jahrhunderts, Philosophie und Physik, seit Kant in ihm einen Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik auf systematische Art und Weise erkannt hat.2

Der Äther operiert im Innersten des europäischen Wissenschafts-verständnisses, wenn er bei Kant den Unterschied zwischen eigent-licher und uneigentlicher Wissenschaft, zwischen rational deduzier-barem Wissen und schöpferischer Erfindung, zwischen Science und Fiction markiert.

»Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkennt-nis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in diesem System ein Zusammen-hang von Gründen und Folgen ist, sogar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien bloß empirisch sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch-gewiß), und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft heißen.«3

Die Konzeption einer rationalen Naturlehre, also einer Naturwis-senschaft darf per definitionem nicht bloß aus Erfahrungssätzen zusammengesetzt sein, sondern muss, um unumstößlich zu sein, a priori reine Vernunfterkenntnis sein. Kants Metaphysischen Anfangs-gründen der Naturwissenschaft liegen dann auch wissenschaftstheo-

2 Vgl. Vagt, Christina: »Absolut ruhend. Zur medialen Epistemologie des Äthers«; in: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien und Zeitlichkeiten der Stagnation, Weimar 2007, S. 151–162.3 Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Hamburg 1997, S. 4.

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retische Fragen zugrunde, die entstehen, wenn das Reale als inten-sive Größe, als die Gegenstände unserer sinnlichen Wahrnehmung, die graduell und unendlich fein differenziert und ohne irgendwelche Messungen als Erfahrungen integriert werden können, als extensive Größe behandelt werden soll, um mathematisierbar zu sein. Kant widmet sich den theoretischen Problemen, die bei Umwandlungen von Wahrnehmungen in mathematische Modelle entstehen bzw. der Transformation von Begriffen der Wahrnehmung in Maß-Begriffe.

Physik um 1800 ist eine nicht formalisierte, experimentell arbei-tende Wissenschaft. Erst durch die Entwicklung der analytischen Mechanik, also durch die umfassende Mathematisierung der Mecha-nik im 19. Jahrhundert, erweist sich auch die theoretische Physik zunehmend als eine im praktischen Sinne nützliche. Rudolph Kötter rehabilitiert in diesem Sinne Kants Newton-Buch als frühen Versuch, die empirische Physik systematisch zu theoretisieren, sie auf wider-spruchsfreie Begriffe zu bringen.4

In den Metaphysischen Anfangsgründen befasst Kant sich unter anderem mit dem Begriff zusammengesetzter Geschwindigkeiten. Er beschreibt, wie die Physik aus den Relativbewegungen der Wahr-nehmung (graduelle Unterscheidung nach Richtung und Schnellig-keit) extensive Größen konstruiert, welche die intensive Ordnung bewahren. Das Reale der Wahrnehmung als intensive Größe muss per Maßeinheit in extensive Größen transformierbar sein, um mathe-matisierbar zu sein. Im Falle der zusammengesetzten Geschwin-digkeiten wäre das, in moderner Terminologie ausgedrückt, eine Galilei-Transformation:

»Die Zusammensetzung zweier Bewegungen eines und desselben Punktes kann nur dadurch gedacht werden, daß die eine derselben im absoluten Raume, statt der anderen aber eine mit der gleichen Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung geschehene Bewegung des relativen Raums, als mit derselben einerlei, vorgestellt wird.«5

4 Vgl. Kötter, Rudolph: »Kants Schwierigkeiten mit der Physik. Ansätze zu einer problemorientierten Interpretation seiner späten Schriften zur Philosophie der Naturwissenschaft«, in: Blasche, Siegfried (Hg.): Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants, Frankfurt a.M. 1991, S. 162f.5 Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, S. 30.