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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg NIKOLAUS HENKEL Gesellschaftssatire im Mittelalter Formen und Verfahren satirischer Schreibweise in den Sermones nulli parcentes (Walther 6881), im Carmen satiricum des Nicolaus von Bibra, in der Ständekritik von Viri fratres, servi Dei (Walther 20575) und im Buch der Rügen Originalbeitrag erschienen in: Thomas Haye (Hrsg.): Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hildesheim: Weidmann, 2008, S. [95]-117

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

NIKOLAUS HENKEL Gesellschaftssatire im Mittelalter Formen und Verfahren satirischer Schreibweise in den Sermones nulli parcentes (Walther 6881), im Carmen satiricum des Nicolaus von Bibra, in der Ständekritik von Viri fratres, servi Dei (Walther 20575) und im Buch der Rügen Originalbeitrag erschienen in: Thomas Haye (Hrsg.): Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hildesheim: Weidmann, 2008, S. [95]-117

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GESELLSCHAFTSSATIRE IM MITTELALTER. Formen und Verfahren satirischer Schreibweise in den

Sermon esn u/li parcent es (Walther 6881), im Carmen satiricum des

Nicolaus von Bibra, in der Ständekritik von Virifratres, servi Dei

(Walther 20575) und im Buch der Rügen

Nikolaus Henkel (Hamburg)

Die satirische Dichtung des lateinischen Mittelalters lässt sich in einem Großteil ihrer Werke nicht in die Nachfolge der römischen Satire einordnen, wie sie maßgeblich durch die Satirenbücher des Horaz geprägt war, nachrangig auch durch die Satiren des Juvenal und des - schwächer rezipierten - Per­sius.1 Zwar sind die Satiren vor allem des Horaz und Juvenal im Mittelalter vielfach studiert worden,2 die Prinzipien ihrer Dichtung sind auf der Ebene der mittelalterlichen Begrifflichkeit und >Theorie< erfasst,3 die satirische Dich­tung des Mittelalters ist jedoch formal wie auch hinsichtlich der behandelten Gegenstände vielfach eigenständige Wege gegangen. Ein angemessener Blick auf die satirische Dichtung des Mittelalters eröffnet sich, wenn der Blick statt auf eine Gattungsgeschichte der Satire auf Satire als Schreibweise gerichtet

Zur Satire in der Antike und zu ihrer Wirkung vgl. Carl Joachim Classen, >>Die Satire­das vielgesichtige Genos<< (1988), in: ders., Die Welt der Riimer. Studien zu ihrer Literatur, Geschichte und Religion, unter Mitwirkung von Hans Bernsdorff hrsg. von Meinolf Vielberg (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 41), Berlin u. a. 1993, S. 246-267. Knapp zusammenfassend: Susanna Braund, Art. >>Satire<<, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 11, Stuttgart u. a. 2001, Sp. 101-104. - Zu den Strategien satiri­schen Sprechens siehe vor allem Christine Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 58), Berlin u. a. 2000.

2 Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200, nach den Quellen dargestellt (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance­Forschung 5), München 1970, sowie Birger Munk Olsen, >>Les poetes classiques dans les ecoles au IXe siede<<, in: ders., La riception de Ia Iitterature classique au Moyen Age (IX'- XII' siecle), Kopenhagen 1995. - Siehe zu Horaz, Juvenal und Persius die Angaben zur Über­lieferung in: Birger Munk Olsen, L'itude des auteurs classiques latins aux XJe et XIJe siecles, Bd. 1/2: Catalogue des manuscrits classiques latins copiis du JXe au XII' siecle; Bd. 3: Les classiques dans !es bibliotheques mediivales, Paris 1982/1985/1987.

3 Siehe Udo Kindermann, Satyra. Die Theorie der Satire im Mittellateinischen. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 58), Nürnberg 1978. Zur weiteren Rezeptionsgeschichte der römischen Satire siehe Jürgen Brummack, Art. >>Satire<<, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptionsgeschichte 15, 2, Stuttgart u. a. 2002,Sp. 1067-1074.

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wird. Worin liegt der Unterschied? Der bewährten Definition von Klaus Hempfer folgend, kann man Gattung als historisch situiertes und verortbares Ordnungsinstrument auffassen, während die Schreibweise eine überzeitliche Konstante ist, die sich je unterschiedlich verwirklicht und nicht gattungs­gebunden manifestiert.4 In diesem Zusammenhang erscheint Satire als Gat­tung, die durch das Muster der horazischen Satirenbücher geprägt ist und deren Textreihe sich an einem mehr oder weniger eingehaltenen Bündel gemeinsamer Merkmale erkennen lässt. Die satirische Schreibweise hingegen wäre eine nicht historisch gebundene Konstante, die in Texten unterschied­licher Gattungen, Formen und Zeiten in Erscheinung treten kann.

Die Satire als Gattung wie auch die gattungsübergreifende satirische Schreibweise sind von zwei grundlegenden Bedingungen abhängig. Das ist zum einen ein innerhalb der jeweiligen Gesellschaft als verbindlich geltender Normenhorizont, auf den satirisches Sprechen sich bezieht und beruft, das ist zum andern auf der Ebene der Darstellung ein entwickeltes, oftmals artifi­zielles Verhältnis zur Sprache und zur literarischen Tradition, nicht selten auch von intellektuell-spielerischem Charakter. Nur vor dem Hintergrund anerkannter Normen und Werte kann die als negativ erfahrene Gegenwart des Hier und Jetzt als defizitär, als mängelbehaftet profiliert und kritisiert wer­den. Dabei steht hinter der Negativ-Perspektive der Satire auf die Gegenwart in vielen Fällen ein verborgener oder auch offen herausgestellter pädagogischer Optimismus: die Hoffnung nämlich, bei rechter Einsicht in das menschlich gesteuerte Fehlverhalten den Lauf der Welt zum Besseren wenden zu können.5

4 Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie. Information und Synthese (UTB 133), München 1973, S. 27; ders., »Schreibweise2<<, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, Berlin u. a. 2003, S. 391-393; vgl. dazu auch Gunther Witting, >>Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise<<, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, hrsg. von Christian Wagenknecht (Germanistische Symposien, Berichtsbände 9), Stuttgart 1988, S. 274-288. - Siehe auch die neuere Bestandsaufnahme von Jürgen Brummack, Art. >>Satire<<, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3, Berlin u. a. 2003, S. 355-360 (mit Verzeichnung der einschlägigen Forschung). - Eine Einbettung der satirischen Schreibweise in eine Stiltheorie der Kommunikation bietet Dirk Jarosch, Thomas Murners satirische S chreibart. Studien aus thematischer, formaler und stilistischer Perspektive (Schriften zur Mediävistik 9), Harnburg 2006.

5 So hat es auch das Mittelalter verstanden. In der Sammlung der Accessus ad auctores der Zeit um 1200 wird etwa zu den Satiren des Horaz notiert, der Satire komme es nicht auf den Tadel allein an, vielmehr tadele sie jegliches Fehlverhalten, um den Menschen davon abzubringen und ihn zum Gegenteil, zu tugendhaftem Verhalten, zu ermahnen (Item nota quod hac de causa reprehendit vitia, ut dehortetur a vitiis et hortetur ad contraria, virtutes scilicet. [ Robert B. Constantijn Huygens (Hrsg.), Accessus ad auctores, Bernard d'Utrecht, Conrad d'Hirsau, Dialogus super Auctores, Leiden 1970, S. 51, 60-62]). Vergleichbar hebt Konrad von Hirsau in seinem Dialogus super auctores anlässlich der Erwähnung des Persius hervor, Anliegen dieses Autors sei, die Menschen durch den Tadel zu einer besseren Lebensfüh­rung zu veranlassen (intentio vero eius per reprehensionem a viciis deliquentes corrigere et ad vitam

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Die Sprache der Satire als literarische Ausdrucksmöglichkeit verlässt sich da­bei nicht auf das Benennen und Beschreiben der Negativität der Gegenwart, appelliert also nicht nur an das Normbewusstsein des Lesers oder Zuhörers. Sie fordert auch den Intellekt und den sprachlichen Spieltrieb heraus, sowohl den des Verfassers als auch den des Lesers. Satire nutzt ebenso die zu­gespitzte Ausdrucksweise wie auch den spielerischen, aber höchst artifiziell gehandhabten Rückgriff auf literarische Muster und Traditionen. Satire als solchermaßen geprägte Schreib- und Ausdrucksweise ist nicht gattungsge­bunden, sondern hat - wie J ürgen Brummack formulierte - einen proteischen Charakter, »kann sich in alle (literarischen) Formen verwandeln oder in ihnen erscheinen.«6

Vor diesem Hintergrund geht es in meinem Beitrag um drei lateinische Texte des späten Mittelalters, die die satirische Schreibweise nutzen, nämlich die als fiktive Predigtunterweisung sich inszenierenden Sermones nulli parcentes, wohl aus dem 13. Jahrhundert (I), um das Carmen satiricum (um 1282-1284) des Nicolaus von Bibra, das zahlreiche wörtliche Parallelen zu den Sermones auf­weist (II), sowie um die Ständesatire inc. Viri fratres, servi Dei, die sich, wie die Sermones, gleichfalls als Predigtunterweisung präsentiert (III). Abschließend soll die deutsche Bearbeitung der Sermones nulli parcentes in den Blick gefasst werden, das sog. Buch der Rügen, und seine von den lateinischen Texten sich unterscheidende Art des satirischen Sprechens (IV).

meliorem reformare [ebd., S. 119, Z. 1482 f. ]). Vgl. hierzu auch Udo Kindermann, Satyra (wie Anm. 3), S. 40-43.

6 Brummack, >>Satire« (wie Anm. 4), S. 357. - Es darf freilich nicht übersehen werden, dass - ohne expliziten Bezug auf die Diskussion um die satirische Schreibweise - >>das Satiri­sche<< über die eigentliche Gattung hinaus auch im Zusammenhang der römischen Satire und ihrer Folgen untersucht wurde, so etwa von Classen, >>Die Satire<< (wie Anm. 1) oder von Kenneth M. Abott, >>Satira and Satiricus in Late Latin<<, in: I!linois C!assical Studies 4 (1979), S. 192-199; siehe hierzu auch Schmitz, Das Satirische (wie Anm. 1), bes. S. 65-142.

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I

Zunächst zu den Sermones nulli parcentesJ Es gibt im 12./13. Jahrhundert eine Reihe von rhythmischen, zum Teil auch strophisch-sangbaren Dichtungen, die sich inszenieren als Predigtlehren in Art der Sermones ad status. Innerhalb eines so konstruierten Modells literarisch fingierter Predigt werden Jratres, Ordensbrüder, oder Viri venerabiles angeredet und instruiert, wie den einzelnen Ständen der Gesellschaft, geistlichen wie weltlichen, gepredigt werden soll. Denn jeder Stand der Gesellschaft weist je standesspezifische Mängel auf und verfehlt deshalb seine ihm innerhalb der Kirche bzw. der Gesellschaft zugewiesene Aufgabe. Hierher gehören auch die Sermones nulli parcentes. In ihrer Werkbezeichnung beziehen sie sich also nicht im Entferntesten auf die horazischen Sermones und deren Tradition, sondern auf die Tradition des christlichen sermo, der Predigt.

Das hinter diesen dichterischen Fiktionen stehende Muster sind die seit dem 12. Jahrhundert in Gebrauch befindlichen Predigtsammlungen Ad status, wie sie Honorius Augustodunensis im Speculum ecclesiae bietet oder am Ende des Jahrhunderts Alanus ab Insulis in seiner Summa de arte praedicandi oder wie sie im 13. Jahrhundert Jacob von Vitry (gest. 1240), Humbertus de Romanis (gest. 1277) oder Gilbert von Tournay (gest. 1288) verfasst haben.8

Auf diesen Texttyp der Lehrbücher zur Ständepredigt, die natürlich, der Gattung entsprechend, in Prosa abgefasst und öffentlich vorgetragen werden sollte, bezieht sich die strophische Dichtung der Sermones nulli parcentes. Sie inszeniert sich als - fiktive - Anweisung für Prediger, wie und mit welchen Argumenten diese gegenüber den einzelnen Ständen predigen sollen. Dabei werden die einzelnen Stände in einer doppelten Reihe - geistlich und welt­lich- in je separaten Kapiteln abgehandelt.9 Konzipiert ist hier ein Modell,

7 Text (zusammen mit der deutschen Bearbeitung): Theodor von Karajan, »Buch der Rügen<<, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 2 (1842), S. 6-92, hier S. 15-45. Siehe dazu Karin Schneider, Art. »Buch der Rügen<<, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasser­lexikon 1, Berlin u. a. 21978, Sp. 1096-1097; zu der hier noch als verschollen gemeldeten Handschrift siehe Nikolaus Henkel, >>Weiteres zu Verbleib unbekannt. Die Kuppitsch­Handschrift von >Buch der Rügen< und >Von dem Antichriste< <<, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 110 (1981), S. 23-27. Zur Datierung und Einordnung der Texte vgl. dens., >> >Sermones nulli parcentes< und >Buch der Rügen<. Überlegungen zum Gattungscharakter und zur Datierung<<, in: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahr­hunderts. Dubliner Colloquium 1981, hrsg. von Walter Haug u. a. (Publications of the Institute of Germanie Studies, University of London 29), Heidelberg 1983, S. 115-140.

8 Siehe dazu den Überblick von Marianne G. Briscoe, Artes praedicandi (Typologie des sources du moyen age occidental 61), Turnhaut 1992, hier S. 9-76; vgl. zu einem Teilaspekt jetzt auch Sarah Khan, Diversa diversis. Mittelalterliche Ständepredigten und ihre Visualisierung (Pictura et poesis 20), Köln u. a. 2007.

9 Siehe die Übersicht im Anhang 1.

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das die gesamte Gesellschaft repräsentieren soll, und zwar ganz unabhängig von der Frage einer realen Umsetzung, sichtbar etwa, wo (fiktive) Predigten an den Papst oder den Kaiser adressiert sind.1ü

Der satirische Charakter der Sermones nulli parcentes besteht zum einen in dem durchgängig verfolgten Prinzip der correctio morum vor dem Hintergrund eines christlich begründeten Normenhorizonts, zum andern in der poetischen Fiktionalisierung des Prosatyps der Predigt.

Singulär innerhalb der gesellschafts- und kirchenkritischen Satire des latei­nischen Mittelalters ist, dass den Sermones nulli parcentes eine Art Gebrauchs­anweisung mitgegeben wird in Form einer Prosa-Praefatio.11 Der anonyme Verfasser beklagt hier die Nachlässigkeit der Prediger wie auch die Verstockt­heit des Volks, die an der schlimmen Lage sowohl der Kirche wie auch der Gesellschaft schuld seien. Deshalb (Z. 9 ff.) habe der Autor sich trotz seines Unvermögens und seiner Geringheit (ego cinis et javilla »Staub und Asche«, Z. 9 nach lob 42, 6; omnium peripsima »ihr aller Unrat«, Z. 10, nach I Cor 4, 13) daran gemacht, ad laudem et honorem Salvatoris ein opusculum sermonum rigmice compositum in 28 Kapiteln zu verfassen (Z. 17). Die Kapitel seien auch noch rot ausgezeichnet (minio assignata, Z. 17). In diesem Werk seien in zwei Reihen die Stände vom Papst bis zum untersten Kleriker und vom Kaiser bis letzten Bauern abgehandelt (ohne dass die Frauen dabei vergessen würden), denen frei heraus gepredigt werden solle (Z. 18-22). In Versen (rigmice, Z. 23 f.) habe er das Werk abgefasst, damit weder Leser noch Hörer dessen überdrüssig würden. Rot ausgezeichnet habe er die Kapitel, damit der Leser schnell findet, was er sucht (Z. 25 f.).

Auf diese innerhalb der kirchen- und ständekritischen Dichtung ganz un­gewöhnliche Praefatio folgt die Dichtung selbst, angeordnet in einer doppelten Ständereihe. Zu den Geistlichen (Kap. 1-14) gehören hier u. a. die Kreuzritter (cruciferi, Kap. 7), weiterhin die schon aus der Regula Benedicti (RB Kap. 1, 6 und 1 1) bekannten Sarabaiten und Girovagi (Kap. 9), die geldgierigen Juristen und Ärzte (Kap. 1 1) und die Vaganten (Kap. 13). In der Reihe der weltlichen Stände finden sich nach dem Adel und verschiedenen Arten von Kaufleuten auch die braven Bauern (rustici oboedientes, Kap. 25), die nach der Sitte der Vä­ter ihr Land bestellen, und diejenigen Vertreter dieses Standes, die sich gegen die Obrigkeit auflehnen (rustici qui sunt rebelles, Kap. 26) und die deshalb direkt den Qualen der Hölle anheimfallen.

10 Vergleichbar ist der hier eröffnete, die Gesellschaft in ihrer Totalität umfassende Aspekt am ehesten mit dem alle Stände umfassenden Schematismus der Artes dictandi.

11 Ich zitiere hier wie sonst nach der von mir vorbereiteten Neuausgabe. Den Text der Praefatio habe ich komplett im Anhang 2 wiedergegeben. Auf die Zeilenzählung dieses Abdrucks beziehen sich die Nachweise.

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Durchgängig wird die Fiktion der Predigtanleitung aufrechterhalten, wenn die Kapitel eingeleitet werden mit Wendungen wie: »Geht zum Papst und sagt ihm ins Gesicht [ . . . ]«, oder: »Was ihr den Patriarchen sagen sollt, werdet ihr gleich von mir hören [ . . . ]«, oder: »Wenn ihr auf aufständische Bauern trefft, dann tadelt sie hart [ . . . ] «.1 2 Die Kritik der geistlichen und weltlichen Stände bewegt sich weitgehend in den gattungstypischen Argumenten: auf der Seite der Geistlichen die Unfähigkeit zur Leitung der Kirche, Simonie, Geldgier, Missbrauch der Sakramente, Völlerei und Unkeuschheit, auf der Seite der weltlichen Stände der Missbrauch der Macht, fehlender Schutz der Kirche, der Witwen und Waisen, Hochmut, Genusssucht etc.13 Nichts Aufregendes also, sollte man meinen, und vielleicht ist das auch der Grund für die schmale Überlieferung. Nur eine Handschrift vom Anfang des 14. Jahrhunderts ist erhalten, 14 und so mag es aufgrund der geringen Überlieferung vielleicht nicht verwunderlich sein, dass einem so kundigen Sammler des 16. Jahrhunderts wie Mattbias Flacius Illyricus die Sermones nulli parcentes unbekannt geblieben sind, denn sonst hätte er sie doch wohl wenigstens auszugsweise in seine Sammlungen kirchenkritischer Dichtungen des Mittelalters aufgenommen, vor allem in die Carmina vetusta (1548), in den Catalogus testium veritatis (1556/1562) oder die Varia de corrupto ecclesiae statu poemata (1557), mit denen er der kontroverstheologischen Argumentation seiner Zeit einen reichen Fundus historischer Quellen des Mittelalters, darunter vieles an Dichtung, zugeführt hat.1s

Bemerkenswert hingegen sind die Sermones nulli parcentes wegen ihres sprachlichen Witzes und ihrer formalen Eleganz. Ich greife dazu den auf die Praefatio folgenden Prolog heraus, in dem der Verfasser seine (Ordens-)Brüder, die in der Welt herumziehen, tadelt, weil sie alten, ja veralteten Predigt­gegenständen verhaftet seien und zu wenig die aktuellen Anliegen der Gesell­schaft im Auge hätten.

12 Idcirco fratres accedatis I papam [ ... ] et in Jaciem dicatis (Kap. 1); Patriarchis quid dicetis I a me statim audietis (Kap. 2); Rebelies si inveniatis, I nullo modo obmittatis, I nisi dure arguatis I impe­randoque dicatis [ . . . ] (Kap. 26).

13 Siehe hierzu insbes. die umfassende Darstellung von Helga Schüppert, Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts (Medium Aevum 23), München 1972.

14 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 138. Siehe dazu Nikolaus Henkel, >>Eine verschollene Handschrift aus St. Paul im Lavanttal<<, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten, hrsg. von Peter Krämer (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), Wien 1981, S. 67-86.

15 Siehe hierzu besonders den Beitrag von Gerlinde Buber-Rebenich in diesem Band. -Viele der von Flacius herangezogenen Quellen sind heute verloren, so beispielsweise die von ihm ausgeschriebene Überlieferung nicht weniger lyrischer Stücke der Kleriker- und Rom-Satire. Dazu gehören Überlieferungszeugen etwa zu den Carmina Burana 22, 26, 27, 31, 34, 41, 42, 47 u. a., die nur noch durch die Drucke des Flacius vertreten sind.

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Incipit prologus in sermones nulli parcentes

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Fratres, mundum qui transitis Totum atque circuitis Predicantes imperitis, Cum ad hoc electi sitis,

Rogo, semper intendatis Loqui verbum veritatis Et, cum vetus recitatis, Simul novum inseratis.

Novum dico quod videtis Malum, de quo non doletis Nec corrigere soletis, S icut iure deberetis.

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Die nun folgenden Strophen listen auf, welches diese veralteten und deshalb ungeeigneten Gegenstände der Predigt sind. In einer nicht enden wollenden Reihe werden Themen aufgeführt, die aus pastoraltheologischer Sicht vielfach randständig oder gänzlich überflüssig sind. Stilistisch brillant, in der Abfolge und Kombination überraschend und deshalb witzig sind die Gegenstände gereiht: heute predigen sie von Judith, gestern ging es um Esther oder darum, wie die Früchte in Feld und Wald wachsen, wie Adam geschaffen wurde -eben nicht wie ein Mensch -, warum Judas verdammt und Mattbias als sein Nachfolger gewählt wurde (Act 1, 21-26), von Enoch und Elia, die beide von Gott entrückt wurden (IV Rg 2, 1-18), von der triefäugigen Lea, von der es in der Genesis heißt: sed Lia lippis erat oculis (Gn 29, 17), danach etwa von der schönen Rahel, vom Propheten Daniel, vom Verkündigungsengel Gabriel, vom Erzengel Michael, von Paulus und von Petrus, zu dem J esus sagte: »Wei­che von mir!« (vade retro, Mc 8, 33).16 Weiter von Mose und seinem Schwieger­vater Jetro (Ex 3, 1), und zwar - es reimt sich ja so gut - vel de prosa vel de metro (Str. 8, 4). Und dieses Feuerwerk witzig arrangierter Disparata wird in gekonn­ter sprachlicher Glätte, ja Brillanz vorgeführt:

4 Nobis sonat sermo vester Nunc de Iudit, cras de Hester,

5

15 Fructus quomodo campester Procreatur vef silvester,

20

Adam quomodo creatus Sit, cum non ut homo natus, Judas quare sit dampnatus Et Mathyas subrogatus,

16 Innerhalb der ersten Leidensankündigung spricht Jesus vor den Hohepriestern und Schriftgelehrten von seinem Tod und der Auferstehung nach drei Tagen, worauf Petrus Einspruch erhebt; Jesus darauf zu ihm vor allen Jüngern: vade retro me Satana I quoniam non sapis quae Dei sunt I sed quae sunt hominum (Mc 8, 33).

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Nikolaus Henkel

Iam de Enoeh vel He!Ja, De Gabelo vel Thobya, De preeante tune Maria Certe vel de lippa Lya,

Post hee forte de Raehele, De propheta Daniele, Tune de misso Gabriele, Vel de saneto Miehahele,

Nune de Paulo vel de Petro, Cui Ihesus: ))vade retroh1, Tune de Moyse vel Ietro Vel de prosa vel de metro [ ... )

Die sprachlich-gestalterische Raffinesse dieser Reihe ist formal begründet: Innerhalb einer Strophe sind mit dem gleichen Reim verbunden einerseits die großen Themen der Kirche, andererseits offenkundige Nebensächlichkeiten: Str. 4: Hester- campester- silvester, Str. 6 die das Magnißrat betende ( precante) Maria (Lc 1, 46-55) neben der triefaugigen Lea. Das setzt sich in den folgen­den Strophen fort. Neben den Dicta der Propheten werden als Gegenstände der Predigt genannt die Kraft der Heilkräuter (De virtutibus herbarum ist der Titel des sog. Macer floridus), die Qualen der Seelen im Fegefeuer, Rebecca und Susanna, die Hosiannarufer beim Einzug in Jerusalem.17 Immer wieder sind es völlig überraschende Konstellationen, sachlich gänzlich disparate Themen, die auf diese Weise - durch den gleichen Reim aneinandergekettet - gereiht wer­den; so auch in der folgenden Passage:

17vb 9 Iam de dictis prophetarum, De virtutibus herbarum

10

11

35 Vel de penis animarum Non iniuste dampnatarum,

40

De Rebecca vel Susanna, De psallentibus ))Osanna!!, Modo quare ftevit Anna Vel de celo missum manna,

De Am an vel Mardocheo, Nune de Juda Maehabeo, Tune de rege Ptholomeo Vel de patre Zebedeo, [ ... )

Ebenso überraschend wie witzig ist in Str. 11 die Nennung des pater Zebedeus. Er taucht in den synoptischen Evangelien eigentlich nur als Vater der »Zwen Söhne Zebedäi« auf, der Jünger Jacobus und Johannes.18 Von Zebedäus sagt

17 Siehe Mt 21, 9 und 15; Mc 11, 9; Jo 12, 13. 18 Mt 4, 21; 17, 1; Mc 10, 35; Lc 5, 10.

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die Schrift lediglich, dass er mit den Söhnen in seinem Boot sitzt und Netze flickt, mehr nicht.19 Und darüber predigen?

Die Botschaft des Prologus ist: Gepredigt wird über alles Mögliche, auch über das Langweilige und höchst Nebensächliche, über entlegenste Gegen­stände, doch es fehlt der entscheidende Bezug zur Gegenwart der Gläubigen. Ihn aber sollen die angeredeten Brüder anzielen, indem sie sich an jeden Stand der Gesellschaft wenden, ihm seine je spezifischen Verfehlungen vorhal­ten und ihn, bei Androhung der Höllenstrafen, auf den rechten Weg führen.

Die formal elegante Glätte der Strophen und des zweisilbig reinen Reims, die variationsreiche Fügung höchst disparater Elemente durch überraschende Reimbindung, das überreiche Spiel mit biblischen Allusionen prägen den Text der Sermones nulli parcentes als Satire. Doch trotz seiner erkennbaren litera­rischen Qualität ist der Text im Mittelalter offenbar nahezu unbeachtet geblieben.

II

Es gibt jedoch einen überraschenden Zusammenhang einzelner Passagen der Sermones nulli parcentes mit dem wesentlich breiter überlieferten sog. Occultus Eifordensis oder Carmen satiricum des Nicolaus von Bibra, einem Text, den Christine Mundhenk durch ihre umfassende kommentierte Ausgabe eigentlich erst der Wissenschaft erschlossen hat.zo

Es handelt sich beim Carmen satiricum um eine große, meist anonym tra­dierte Satire von über 2400 leoninischen Hexametern, die sich einerseits ge­gen den Erfurter Stadtschreiber und Juristen Heinrich von Kirchberg richtet, andererseits die allgemeine Misere der Zeit anprangert: unter anderem die Plünderung von Kirchen und Klöstern und die Verschwendungssucht des Papstes wie auch des hohen Klerus. Hier sollen die Ordensbrüder eingreifen und solchen Zuständen mit ihrer Predigt entgegenwirken.

Vergleichbar den Sermones nulli parcentes reiht Nicolaus in seiner Distinctio III auch die alten, in der Gegenwart untauglichen Predigtthemen, doch ist der Unterschied gegenüber den Sermones nulli parcentes deutlich erkennbar:

Est sermo vester hodie de ]udith et Hester (V. 1220).

19 Et procedens [sc. Iesus] inde vidit alios duos fratres I Iacobum Zebedaei et Iohannem fratrem eius I in navi cum Zebedaeo patre eorum reftcientes retia sua (Mt 4, 21 ). Dass es sich bei Zebedäus um eine vielleicht in der Kommentartradition doch aufgewertete Gestalt handele, nehme ich in diesem Zusammenhang nicht an.

20 Christine Mundhenk (Hrsg.), Der Occultus Erfordensis des Nicolaus von Bibra. Kritische Edition mit Einführung, Kommentar und deutscher Übersetzung (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 3), Weimar 1997.

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Der fructus campester bzw silvester, den die Sermones nulli parcentes noch als Thema anfügen (s. o., V. 15 f.), fehlt. Auch die triefäugige Lea wird genannt, aber nicht im gleichen Atemzug wie die Jungfrau Maria, de precante Maria (Sermones, V. 23 f., s. o.), sondern zusammen mit der Sünderin Maria Magdalena:

De lippa Lya vel de peccante Maria (V. 1234).

Auch Zebedäus kommt vor, freilich hier nicht als eigener Predigtgegenstand wie in den Sermones nulli parcentes (s. o., V. 44), sondern nur als Vater der bei­den Jünger; gepredigt werde auch von Zachäus und den beiden Söhnen des Zebedäus:

Post de Zacheo vel natis ex Zehedeo (V. 1223).

Neben Jetro wird auch Petrus genannt, aber nicht mit dem abwehrenden >> Vade retrol<<, sondern ehrenvoll, als Anführer der Jüngerschar:

Et modo de Jetro vel apostolico duce Petro (V. 1236).

Vergleicht man die Stellen aus den Sermones nulli parcentes mit den entspre­chenden im Carmen satiricum, erscheinen die Formulierungen des Nicolaus von Bibra, abgesehen davon, dass seinen Versen die formale Glätte ganz abgeht, blasser, da >entschärft<; es fehlt ihnen zudem der sprachliche Witz, der die Sermones auszeichnet und dort durch die unerwartete Nebeneinanderstellung des Widersprüchlichen und durch die oftmals überraschende Reimbindung erreicht wird.

Am Ende dieser Passage des Carmen satiricum wendet sich der V erfass er, z. T. wörtlich mit den Sermones nulli parcentes übereinstimmend (s. das Zitat weiter oben), direkt an die Prediger:

Ergo, boni fratres, quos mundus habet sibi patres, Hoc attendatis et quando vetus recitatis, Admiscete novum, vel sermo non valet ovum; Dico novum, quod heri vel cras contingit haberi. (V. 1256-1259)

Über das Thema der Unterweisung der Prediger hinaus weist das Carmen sati­ricum auch sonst eine Reihe wörtlicher Entsprechungen zu den Sermones auf; so etwa: Sermones, V. 281-284 (Ad monachos):

71 281 Debet monachus dolere, De peractis malis fiere,

19vb De futuris precavere, Dicat crebro: >>Miserere<<.

im Vergleich mit Nicolaus von Bibra, Carmen satiricum, V. 1281-84:

Dicatis monacho, quod nec Venen' neque Bacho Debet inherere nec quid proprium retinere, Et mundum fugere, sed et ora serata tenere Et mala deflere, crebroque Iegat '>Miserere«.

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Gesellschaftssatire im Mittelalter

Oder: Sermones nulli parcentes, V. 453-456 �>Ad sacerdotes seculares«):2 1

114 Certe tu qui missam dicis Post amplexum meretricis

455 Potaberis ab inimicis Liquore sulphuris et picis.

im Vergleich mit Nicolaus von Bibra, Carmen satiricum, V. 1292 f.:

Qui missas dicis post amplexum meretricis, Ibis ad antra stigis, quoniam dominum crucifigis!

105

Wie ist der ganz offenkundige Zusammenhang beider Texte zu erklären? Christine Mundhenk hat vorsichtig die Vermutung geäußert, der V erfass er der Sermones nulli parcentes habe sie aus dem Occultus (Carmen satiricum) über­nommen: »Man darf also annehmen, dass dieser Dichter [sc. der Verfasser der Sermones], der vermutlich auch Geistlicher war, den Stoff, den er im Occultus vorfand, für seine eigenen Zwecke umgestaltet hat.«22 Sie stützt sich dabei auf einen Beitrag von Hannes Kästner und Eva Schütz, die dieses Abhängigkeits­verhältnis vorgeschlagen haben: »Die >Sermones< resultieren - wie ein Text­vergleich erkennen lässt - aus einer solchen schulbuchmäßigen Beschäftigung mit dem >Carmen< [sc. satiricum)«. Der unbekannte Autor der Sermones nulli parcentes greife »quellenmäßig auf diese Dichtung zurück, löst einen themati­schen Textbereich, nämlich die Gegenüberstellung von alter und neuer Pre­digt, heraus, listet nach seiner Vorlage in einem eigenen >Prologus< karikierend alte Predigtinhalte auf und exemplifiziert dann in den nachfolgenden 28 Kapi­teln die vorgegebene Ständekritik Dabei hat er den Ansatz seiner Vorlage stärker systematisiert und vor allem inhaltlich erweitert.«23

Ganz unsicher sind freilich die Grundlagen dieser behaupteten Abhängig­keit. Die Sermones nulli parcentes bieten keine über den Inhalt sich ergebende Datierung; ihre Verse zeigen einen Grad der Formbeherrschung, wie er im 12. und 13. Jahrhundert durchaus üblich ist. Die Erwähnung der cruciferi (Kap. 7) verweist auf die im Laufe des 12. Jahrhunderts entstandenen Ritterorden, ein näherer Bezug zu den Mendikanten, der dann auf das 13. Jahrhundert verwei­sen könnte (und den das Carmen satiricum bietet), ist nicht erkennbar, denn die

21 Bis in die Formulierung hinein verwandt ist eine Strophe aus der seit dem 13. Jahrhundert ungemein weit verbreiteten Priesterlehre des Carmen Buranum 91: Mane sur;gens missam dicis, I corpus Christi benedicis, I post amplexum meretricis, I minus quam tu peccatricis! (CB 91, 10, 1�4: Alfons Hilka und Otto Schumann [ Hrsg.], Carmina Burana, Bd. I: Text, Teil 2: Die Liebes­lieder, S. 87�94, hier S. 87).

22 Mundhenk, Der Occultus (wie Anm. 20), S. 87. 23 Hannes Kästner I Eva Schütz, >>daz alte sagen � daz niuwe niht verdagen. Einflüsse der

neuen Predigt auf Textsortenentwicklung und Sprachgeschichte um 1300«, in: Die Erscheinungsformen der deutschen Sprache: Literatursprache, Alltagssprache, Gruppensprache, Fach­sprache. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hugo Steger, hrsg. von Jürgen Dittmann u. a., Berlin 1991, S. 19�46, das Zitat hier S. 25; auch später wird mehrfach darauf rekurriert, so S. 29, 32 f.

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in der Praefatio und im Prolog eröffnete Fiktion, die Prediger sollten in die Welt hinausziehen (jratres mundum qui transitis) lässt sich plausibel auch auf Christi Missionsbefehl an die Jünger beziehen: »Gehet hin in alle Welt [ ... ]« (euntes in mundum universum praedicate evangelium omni creaturae, Mc 16, 15; auch Jo 17, 18). Lediglich ein terminus ante quem lässt sich durch die Existenz der deutschen Bearbeitung der Sermones im Buch der Rügen angeben, das sich auf eine historische Situation um 1320 bezieht.24

Hinsichtlich der Datierung ist nur das Carmen satiricum sicher fixierbar; es ist in mehreren Etappen in den Jahren 1282 bis 1284 entstanden. Aussagen über das Verhältnis von Sermones nulli parcentes und Carmen satiricum lassen sich also nur aus formalen und inhaltlichen Argumenten gewinnen.

Zunächst die formalen Argumente. Zutreffend ist: Eine Übernahme des binnengereimten Hexameters in eine rhythmische Strophe von gereimten Achtsilblern kann zumindest die Reimwörter beibehalten. Doch ist solch eine Übernahme in unserem Fall plausibel? Warum sollte der anonyme Dichter der Sermones nulli parcentes, der Sprache und Form ganz offenkundig mit größter Raffinesse beherrscht, lediglich für einzelne Verspaare borgen gehen, dazu auch noch aus einer anderen V ersform, wo er sein Metier doch blendend beherrscht? Zumal er dann für eine Strophe mit vier identischen Reimen je­weils pro übernommenem Hexameter noch ein Verspaar zudichten müsste? Vergleichen wir zudem die Verse hinsichtlich ihrer formalen Ausgewogenheit und Glätte, dann sind die rhythmischen Verse der Sermones nulli parcentes den nicht selten ungelenken Hexametern des Nicolaus von Bibra erkennbar über­legen.25 Das würde zunächst einmal dafür sprechen, dass Nicolaus die Sermo­nes gekannt und benutzt hat.

Ein inhaltliches Argument kommt hinzu: Die Sermones nulli parcentes sind in einer klar erkennbaren Struktur zweier gleichgewichtiger, hierarchisch geord­neter Ständereihen angelegt. In der III. Distinctio des Carmen satiricum hingegen sind die Stände in einer mehrfach unterbrochenen Abfolge ohne stringente Gliederung, ja sogar ausgesprochen sprunghaft, ohne erkennbar strukturie­rende Ordnung in dieser Folge präsentiert: Papst, König, Bischof, Prälaten, Mönche, Konversen, Kleriker, Scolaris, Begine, Rom (mit Papstkritik), Ex­kurs: Landgraf Albrecht der Entartete und seine Mätresse Kunigunde von Eisenberg (V. 1314-1360 = 47 Verse), Adlige, Ritter, Räuber, Strauchdieb, Dieb, Präfekt, Herold, Bürger, Kaufmann, Bauer, Frauen, Pfarrer, Exkurs über den Frieden. Dass sich der Dichter der Sermones nulli parcentes aus dieser >Ungeordneten< Folge bedient und passende Hexameter für die einzelnen

24 Vgl. die genauere Begründung bei Henkel, »>Sermones nulli parcentes<« (wie Anm. 7), S. 121-127, der sich auch Kästner/Schütz, >>daz alte sagen<< (wie Anm. 23), S. 23 und 26, angeschlossen haben.

25 Zur Verstechnik siehe Mundhenk, Der Occultus (wie Anm. 20), S. 65-68.

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Kapitel seiner konzise strukturierten Ständereihe herausgesucht haben sollte, ist mir wenig wahrscheinlich.

Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Sermones nu!li parcentes neben zahlreichen anderen Werken zu dem überaus vielfaltigen Fundus an Materialien gehört haben, die Nicolaus von Bibra in sein Carmen satiricum ein­gebaut hat, ein Werk, das erkennbar Patchwork-Charakter besitzt.

III

Zu den dichterisch-fiktiven Predigtadaptationen mit satirischem Charakter gehört auch die Dichtung inc. Viri fratres, servi Dei, eine im 14. und besonders 15. Jahrhundert reich verbreitete Ständesatire, von der noch über 40 Hand­schriften nachweisbar sind.26 Die im Text herausgestellte scharfe Kritik an den Mendikantenorden lässt eine Datierung gegen Ende des 13. /Anfang des 14. Jahrhunderts plausibel erscheinen.

Die Dichtung besteht aus 240 paarweise gereimten Achtsilblern und setzt ein mit einem Appell an die Mitbrüder des Verfassers (V. 1-4):27

Viri fratres, servi Dei, Vos non turbent verba mei, S ed audite propter Deum Flebilem sermonem meum.

Bereits die Anrede greift auf ein Muster zurück, das in der ordensinternen Predigt bewährt ist, sich überdies aber auf eine in der Apostelgeschichte viel­fach gebrauchte Formel zurückführen lässt.28 Im Gestus der Zeitklage wird in V. 4-12 der Verlust der fides beklagt; Fides, zur allegorischen Figur erhoben, ist vom Thron gestürzt, nun herrscht Dolus (V. 15-18):

Heu, de sua sede ruit Fides, quae tam jirma fuit Quondam, et pro ea dolus Triumphat per orbem solus [ . . . ]

26 Hans Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen (Carmina medii aevi posterioris Latina 1), Göttingen 1959, Nr. 20575, S. 1080. Text (auf der Basis von 4 Überlieferungs­zeugen): Analeeta hymnica medii aevi, hrsg. von Clemens Blume und Guido Maria Dreves, Bd. 33: Pia dictamina. Reimgebete und Leselieder des Mittelalters, Folge 6, Leipzig 1899, Nr. 246, S. 269-273.

27 In V. 3 bietet die Ausgabe der Analeeta hymnica turbant; daneben ist die Lesart ne vos perturbent überliefert (s. Apparat). An dieser Stelle ist der Indikativ turbant, wie ihn die Ausgabe bietet, kaum zu rechtfertigen.

28 Viri fratres (Act 1, 16; 2, 29; 7, 26; 13, 26; 15, 7; 22, 1; 23, 1; 23, 6; 28, 17); daneben auch Anreden wie: Viri Galilaei Act 1, 11; viri Israelitae Act 5, 35; 13, 16 - viri Judaei Act 18, 14; viri Athenienses Act 17, 22.

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Sowohl der Klerus (V. 23-24) wie auch das ganze Volk haben sich dem Dolus unterworfen. In Form der rhetorischen Annorninatio wird dolus in den fol­genden Versen im Bewusstsein der Leser befestigt. Und hier kommen die Stände ins Spiel (V. 25-28):

Dolus papam, cardinales Et episcopos totales Regit et unique reges, Dolus glosat iura, Ieges.

Wohl wegen dieser Häufung von dolushat der Text in der dem Abdruck in den Analeeta f?ymnica zugrundegelegten Berliner Handschrift die Überschrift De dolo bekommen. Aber es bleibt nicht dabei. Im Folgenden werden die aus der kirchenkritischen Dichtung des 12./13. Jahrhunderts bekannten Grava­mina gelistet: Der Arme findet in der Kirche kein Gehör, nur wer schmiert, bekommt, was er braucht; so werden die den Geistlichen anvertrauten Gaben verkauft (V. 45 ff.).29 Angesprochen sind hier die praelati (V. 63), die vor der Strafe im Jenseits gewarnt werden. Ebenso handeln aber auch die Curati et sacerdotes (V. 67 ff.). Die Kanoniker schließlich scheren sich nicht um die Re­gel; sie stürzen sich lieber in das städtische Leben (V. 85 f.): libentius ad forum / currunt, quam frequentant chorum und kleiden sich wie Ritter (V. 87): vestes militares jerunt. Schlimm sieht es in den Klöstern aus (V. 95 ff.): unter dem Habit nichts als Trug und Streit. Wie auch sonst pointiert der unbekannte Autor seme Bestandsaufnahme in einer satirisch aufgeladenen Sentenz (V. 107 f.):

Qui vult Sathanae servire CJaustrum debet introire.

Der folgende Abschnitt gilt den Mendikanten und formuliert, was im Spät­mittelalter zum zentralen Streitpunkt zwischen den Bettelorden und den Weltklerikern wird: Durch ihre gewandte Predigt machen Mendikanten sich an den Besitz der Reichen heran, anspielend auf Mt 25: sie ernten, wo sie nicht gesät haben (V. 115): Metunt, ubi non sparserunt;30 sie scheren Schafe, die ihnen nicht gehören: Oves alienas tondunt.31 Um die Armen kümmern sie sich nicht.

Im knapperen zweiten Teil der Dichtung kritisiert der Text auch die welt­lichen Stände, zunächst insgesamt (V. 144-146):

29 Siehe zu diesen Vorwürfen und ihrer Verbreitung Schüppert, Kirchenkritik (wie Anm. 13), Register.- Verwandt ist die dem Golias zugeschriebene, gleichfalls weit verbreitete (und auch von Flacius benutzte) satirische Priesterschelte inc. Viri Venerabiles, sacerdotes Dei (Walther, Initia [wie Anm. 26], Nr. 20578, S. 1080 f.), auf die ich hier nur verweisen kann.

30 Die Allusionen auf Stellen des Neuen Testaments sind offenkundig: Melis ubi non semi­nasti, et congregas ubi non sparsisti (Mt 25, 24); Et metis quod non seminasti (Lc 19,21 und 22).

31 Zur Verwendung dieser Vorstellung in der satirischen Dichtung siehe Schüppert, Kirchen­kritik (wie Anm. 13), S. 153-161.

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Gesellschaftssatire im Mittelalter

Caesar, reges, marchiones, Duces, comites, barones, Omnes principes terrarum [ . . . ] ,

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dann im Einzelnen die Ritter, dann die Seefahrer und Kaufleute. Ihnen wird, die alttestamentliche Formel aufnehmend,32 vorgeworfen, Gewicht, Zahl und Maß zu verfälschen (V. 189-191):

Pondus, numerus, mensura, Simul omnis mercatura 5 ic per ipsos sunt infectae.

Schließlich sind es auch noch die Randexistenzen der Gesellschaft, die am Zustand der Gegenwart schuldig sind (V. 199 ff.): Wucherer, Dieb, Meineidiger, Ehebrecher und Mörder, die jetzt ebenso angesehen seien wie rechtschaffene Männer.

Die Fiktion der Predigt ist hier auf weite Strecken aufgegeben. Zwar kün­digt der Text in den einleitenden Versen flebilem sermonem (V. 4)33 an, doch verbleibt der Redegestus im Aufzählen von Missständen und im Benennen der Schuldigen in der 3. Person. Nur an wenigen Stellen greift eine direkte Anrede in der 2. Person den Ton der Predigt auf: advertatis, vos praelati (V. 63-66) sowie am Schluss, wo sich der Autor wieder an seine geistlichen Brüder wendet: Liquet, fratres, quod erramus, / Tempus est, ut redeamus. (V. 223 f.).

Überall begegnet man, und sei es nur in winzigen Wendungen, der Spra­che der Bibel, überall auch den für die Satire bezeichnenden zugespitzten wie treffenden Formulierungen. In dieser Hinsicht ist dieser Text durchaus ver­gleichbar den Sermones nulli parcentes.

IV

Wir werfen noch einen Blick auf die deutsche Bearbeitung der Sermones nulli parcentes, das sog. Buch der Rügen (wohl um 1320),34 das eine in vielem abwei­chende Art satirischen Sprechens zeigt. Es ist in vierhebigen Reimpaaren abgefasst, der Form der didaktischen wie erzählenden Dichtung des Hoch­mittelalters. Aus der lateinischen Prosa-Praefatio sind nur einzelne Gedanken übernommen, so der der Zeitklage über den erbarmenswürdigen Zustand der Christenheit in der Gegenwart. Der deutsche Bearbeiter profiliert sich als Nicht-Geistlicher, als arm man (V. 7), also als Mann, der nicht von Stande ist,

32 Sed omnia in mensura et numero et pondere disposuisti (Sap 11, 21). 33 Auch hier ist sermo nicht in der Bedeutung der (horazischen) Satire gebraucht, sondern

meint >>Predigt<<. 34 Der 1666 Verse umfassende Text bei von Karajan, >>Buch der Rügen<< (wie Anm. 7),

S. 45-92. Vom Herausgeber von Karajan stammt auch die Werkbezeichnung, die keine Stütze im Text selbst hat.

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weder Geistlicher noch Adliger; er gibt sich als ungelert (V. 9) aus und als jemand, der weder das eigentlich nötige Wissen noch die Könnerschaft zum Dichten hat (der leider weder weiz noch kan, V. 8). Dennoch unternimmt er es, das Übel in der Christenheit (der kristenheit gebresten, V. 11 f.) dichtend zur Sprache zu bringen.

Freilich, die witzige und unerwartete Reihung verknappter biblischer Anspielungen wie im Prolog der Sermones nulli parcentes lässt sich bestenfalls inhaltlich verbreiternd, nicht aber in ihrer sprachlich-spielerischen und viel­fach nur alludierenden Diktion in die Volkssprache transferieren. Stattdessen werden die Themen der >alten< Predigt neu gereiht, und zwar in einer linearen Abfolge, wie sie die Bibel bietet: Schöpfung, Adam und Eva, Sündenfall, Kain und Abel, Turmbau zu Babel, Abraham und Sarah, Isaak, Sodom und Gomorra, Isaak und Rebekka, Jakob ringt mit dem Engel etc.

In den nun folgenden Kapiteln, die die strukturierte Abfolge der parallelen Ständereihen der Sermones nulli parcentes übernehmen, wird auch in der deut­schen Bearbeitung die Fiktion einer Anleitung zur Ständepredigt aufrecht­erhalten. Das geschieht durch Kapiteleinleitungen vom Typ: Sagt den kardenaln daz [ . . . ] (V. 273); Strafet die kriuzaere [ . . . ] (V. 479); Sprecht zuo den lotetphaffen [ . . . ] (V. 797) etc. Aber es werden auch spezifische Zeitbezüge eingebaut, die der Dichter der Sermones nulli parcentes offenbar ganz bewusst vermieden hatte, um seinem Werk eine über die jeweilige Zeitspezifik hinausgehende Wirkung zu sichern. Die deutsche Bearbeitung erwähnt Papst Johannes (XXII., gewählt 1316) und appelliert an ihn, sich um einen guten Ausgleich mit dem Kaiser zu bemühen. Das Argument ist die Zwei-Schwerter-Lehre als politi­sche Chiffre der Verteilung zwischen geistlicher und weltlicher Macht: Un­verzüglich solle der Papst dem Kaiser das diesem zustehende Schwert der weltlichen Gewalt überlassen. Im Kaiser-Kapitel wird diese Lehre nochmals aufgenommen, hier allerdings in der betont pro-kaiserlichen Version: Gott habe zwei Schwerter gesandt, eines gehört der geistlichen, das andere der weltlichen Macht. Damit gewinnt der deutsche Text einen für die Datierung nutzbaren Standpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Papst Johannes XXII. und Ludwig dem Bayern in der Zeit um 1319/20.35 Anders als die im Bereich des Allgemeinverbindlichen und Topischen sich bewegenden Sermones nulli parcentes weist das Buch der Rügen so seinen markanten und aktuellen Zeit­bezug auf.

Der Vergleich beider Texte macht aber auch deutlich, welche Unter­schiede in der satirischen Schreibweise zwischen dem lateinischen und dem deutschen Text bestehen. Da ist zunächst die unterschiedliche Art, sich auf die Bibel zu beziehen. Die lateinische Dichtung kann mit kleinen zitierenden

35 Vgl. hierzu im Einzelnen Henkel, >»Sermones nulli parcentes<« (wie Anm. 7), S. 122-127.

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Wendungen ohne Umstand eme Bibelstelle abrufen und so mit der Sakral­sprache der Bibel (ebenso wie mit der Liturgie) spielen. Die satirische Zuspit­zung kann hier auf die Wiedererkennbarkeit des zitierten Musters bauen. Wenn die Sermones nul!i parcentes etwa die lippa Lia, die triefäugige Lea aufrufen und neben die Jungfrau Maria stellen oder mit dem Vers: cui Jesus >>vade retro<< (V. 30) den Kontext der gesamten Szene zwischen J esus und Petrus bezeich­nen können, so muss der deutsche Bearbeiter hier anders verfahren. In der Wendung, die Prediger handelten von Lien und von &:the! (V. 87), sind lediglich die Namen des Geschwisterpaares genannt, Petrus und das vade retro nimmt der deutsche Text überhaupt nicht auf. Stattdessen werden aber Kurzfassun­gen erzählbarer und als bekannt vorausgesetzter Sujets eingebracht, die in der lateinischen Fassung nicht oder nicht in dieser Ausführlichkeit vorkommen, so etwa (V. 85 f.):

wie ]acob mit dem enge! ranc und im den segen abe dwanc

oder (V. 95-98):

von Hester und von Judit, diu mit wisheit und mit sit Halofernen abe sluoc sin houbet und ez mit ir truoc.

Was der deutsche Text nicht leisten kann, ist, den Bezug zur Sakralsprache der Bibel im Medium der Volkssprache so zu nutzen, dass das Merkmal einer­seits der satirischen Zuspitzung und andererseits der Wiedererkennbarkeit geleistet würde. Das liegt wesentlich daran, dass das Deutsche bis hin zu Luther noch keine eigene Bibelsprache kennt, auf die das Schreiben in der Volkssprache sich zitierend beziehen könnte. Die Volkssprache besitzt die Möglichkeit solcher Bezugnahme lediglich auf der Ebene der Namen - und einer über Namen abrufbaren >Geschichte< - sowie mittels explizit entfalteter narrativer Bezüge.

So wird in den Sermones nu!!i parcentes in dem an den Papst gerichteten Kapitel das Gleichnis von den anvertrauten Talenten ins Spiel gebracht:

18va

31 121 Hec ausculta grata mente, Ut Ihesu Christo veniente Racionemque ponente

32

Et talentum exigente

125 Sibi reddas cum usura, Non in modica mensura Et pre omnibus procura S ervare Christo sua iura,

33 Ne te iudex creditori, 130 Creditor det exactori,

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Exactor postea tortori, Tortor faciat te mori.

Damit ist - deutlich erkennbar - der Wortlaut des biblischen Gleichnisses bei Matthäus abgerufen: venit dominus [ . . . ] cum usura [ ... ] tollite itaque ab eo talentum [ . . . ] (Mt 25, 27 f.), dazu aus dem Lukas-Evangelium: [ . . . ] ne Jorte frahat te apud iudicem I et iudex tradat te exactori I et exactor mittat te in carcerem (Lc 12, 58).

Solch eine geschärfte Bezugnahme, wie wir sie hier in lateinischer Sprache finden, überrascht den zeitgenössischen Kenner lateinischer Literatur keines­falls. Sie ist innerhalb der Sprachkultur der Litterati vielmehr selbstverständ­lich. Der Bearbeiter des deutschen Textes kann nicht in gleicher Weise mit biblischen Textsplittern spielen; an der entsprechenden Stelle ist es nur allge­mein die Sündhaftigkeit der Welt, der entgegenzutreten der Papst aufgerufen wird (Buch der Rügen, V. 171 ff.).

Das lässt sich auch beobachten, wenn man die Strategien der Selbstinsze­nierung des Verfassers der 5 ermones und des Bearbeiters des Buchs der Rügen vergleicht. Der Autor des lateinischen Textes ruft mit der Betonung seines Unvermögens und seiner Geringheit ein Hiob-Zitat ab: ego cinis et favilla »Staub und Asche« (Anhang 2, Z. 9 nach Iob 42, 6) und übernimmt mit dem paulini­schen omnium peripsima »ihr aller Unrat« (Z. 10, nach I Cor 4, 13) die Selbst­einschätzung des Apostels für sich. Solche V erweismöglichkeiten stehen dem deutschen Bearbeiter rein sprachlich nicht zu Gebote. Seine (topisch zu ver­stehende) standesmäßige Unbedeutendheit (arm man, V. 7) und seinen Mangel an Gelehrsamkeit formuliert er ohne solche biblische Stütze (Prolog, V. 5-12):

5 Manig man geit guoten rdt Der im selber chainen hat. Also tuon ich armer man Der laider weder wais noch chan. Doch swie ungelert ich pin,

10 Dannoch ratet mir mein sin, Daz ich nicht der cristenhait Gepresten lazse unpeclait [ . . . )

Das hier beobachtete Detail steht für eine grundsätzliche Differenz zwischen den Möglichkeiten von Latein und Volkssprache und ist letztlich bildungs­geschichtlich begründet.

Das Lateinische des Mittelalters kann ganz selbstverständlich auf die Tra­dition sowohl der antiken Literatur wie auf die der Bibel- und Liturgiesprache zurückgreifen. Der Zugriff auf diese Bildungsbereiche ist im Raum der Schule vielfach trainiert und zur Selbstverständlichkeit geworden, und zwar so sehr, dass das Sich-Bewegen in Formeln etwa der Klassiker oder der Bibel nicht als bewusst gesteuerter, als historisch markierter Rückgriff auf entferntes Bildungs­gut begriffen wird, sondern als gewissermaßen >familiär< der Gegenwart zu­gehörig. So gewinnt auch beispielsweise die vergilische Formel omnia vincit amor

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(ecl. 10, 69) innerhalb des Liebesdiskurses des 12. Jahrhunderts e1ne Omni­präsenz, die weit über die Zitierung eines I<lassikers hinausgeht.

Die Volkssprachen, und ich beziehe mich hier vorrangig auf das Deut­sche, haben weder diesen geschulten Umgang mit einer voraufgängigen Tradi­tion noch die Selbstverständlichkeit und sprachliche Leichtigkeit im Umgang mit der Sprache und ihrem Reichtum spielerisch gehandhabter Allusion, wie sie dem Lateinischen eigen ist. Natürlich gibt es auch hier den Rückgriff auf Traditionsgut, aber in anderer Dimension. Wenn etwa Hartmann von Aue von dem als vorbildlich dargestellten Ritter Erec sagt, man habe ihn hinsicht­lich seiner Weisheit mit Salomo, an Schönheit mit Absalon und an Stärke mit Samsan verglichen, dann ist das Verständnis dieser Wendung abhängig vom bildungsgeschichtlichen Ort dessen, der das liest oder hört.36 Nur wer die Doppelbödigkeit der mit diesen Namen verbundenen >Geschichten< kennt, versteht den Text in seiner Komplexität.

V

Ich komme zum Schluss. Das Spiel mit dem Zitat, mit der knappen, treffsicheren Anspielung vor dem Hintergrund einer reichen literarischen Tradition kennzeichnet die satirische Schreibweise des lateinischen Mittelalters. Es ist dies die an die Sprache sich bindende Tradition der antiken Texte, der Bibel und der Liturgie, auf die die Autoren spielend und spielerisch zurückgreifen. Und sie tun dies in der Sicherheit, von ihrem litteraten Publikum verstanden zu werden.

Der Anonymus, der die Sermones nulli parcentes zu Beginn des 14. Jahr­hunderts in deutscher Sprache bearbeitet, steht in einer gänzlich anderen Situation. Ihm liegt daran, die gesellschaftskritische Botschaft der Sermones zu übermitteln, nämlich dass in allen geistlichen und weltlichen Ständen religiöse wie auch moralische Mängel herrschten, denen abgeholfen werden müsse. Das aber sei Aufgabe vorrangig der Geistlichkeit, deshalb ist die Beibehaltung der fiktionalen Predigtinstruktion auch in der Volkssprache sinnvoll. Der deutsche Bearbeiter kann aber (noch) nicht auf eine Tradition der Satire als Gattung oder auf eine ausgebaute Praxis der satirischen Schreibweise in der Volkssprache zurückgreifen. Das wird erst, nach vereinzelten früheren

36 Albert Leitzmann (Hrsg.), Hartmann von Aue, Erec, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner (Altdeutsche Textbibliothek 39), Tübingen 2006, V. 2816-2818; vgl. zu dieser Reihe auch Heimo Reinitzer, >>Über Beispielfiguren im Erec<<, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Litera­turwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 597-639; siehe auch Sabine Griese, Salomon und Markoif. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Hermaea 81), Tübingen 1999, S. 113 f.

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Ansätzen,37 um 1500 erreicht, etwa bei Sebastian Brant mit seinem Narrenschiff und der europaweit verbreiteten Stultifera Navis. Doch auch das deutsche Narrenschiffzitiert vor allem in den in den Text eingefügten Exempelfiguren in großem Umfang Bildungsmaterial, das nur dem in der lateinischen Gelehrten­kultur Geschulten zu Gebote steht. Die Satire in der Volkssprache gewinnt erst langsam neben einer vielfältig ausgebauten Praxis der satirischen Schreib­weise in lateinischer Sprache an Boden.

37 Ein seltenes und auch nur singulär überliefertes Beispiel der Zeit um 1400 ist der Ring des Heinrich Wittenwiler; siehe hierzu die umfassende Analyse von Eckart Conrad Lutz, Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein J>Ring<( (Konstanz er Geschiehts­und Rechtsquellen 32), Sigmaringen 1990.

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ANHANG

1. Übersicht über die Ständereihen der Sermones nulli parcentes und des Buchs der Rügen

5 ermones nulli parcentes

Prefacio in sermones nulli parcentes Prologus in sermones nulli parcentes 1. Ad papam 2. Ad cardinales 3. Ad patriarchas 4. Ad episcopos 5. Ad prelatos generaliter 6. Ad monachos 7. Ad cruciferos 8. Ad conversos 9. Ad sarabaytas er girovagos 10. Ad sacerdotes seculares 1 1. Ad iurisperitos et phisicos 12. Ad scolares 13. Ad vagos 14. Ad moniales 15. Ad imparatorem 16. Ad reges 17. Ad principes et comites

18. Ad milites 19. Ad nobiles 20. Ad scutiferos 21. Ad cives 22. Ad mercatores 23. Ad singulas res vendentes

24. Ad preconem et socios suos

Buch der Rügen

Da strafet [er] die predigaer

Sagt dem pabst freieich Den kardenaln Den patriarchen Den pischolfen Den prelaten gemainecleich Den munchen Den creuczxrn Den laipruodern Den umblaufxrn Den werltleichen priestern Den atzden und den juristen Den schuolxrn Den lotter phaffen Den nunnen Ditz schult ir dem kaiser predigen Den chunigen gemainecleich Den fürsten, graven, vreigen vnd dienstherren Den rittern gemainecleich Den chnappen Den schiltchnechten Den purgxrn Den chaufleuten Den die alr slacht chaufent vnd verchaufent Dem schergen und sein gesellen (wuochxre, spilxre etc.)

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25. Ad rusticos obedientes Den gehorsamen gepaurn Den gepaurn, die sich zuo hoveleuten geleieheut Den werltleichen frawen

26. Ad rusticos, qui sunt rebelles

27. Ad mulieres 28. De ipsis fratribus

qui populo predicant. Daz gehört die prüeder selber an die predigen schullen und lern die cristenhait.

2. Sermones nulli parcentes, Praefatio 1

Berlin, SBBPK, Ms. germ. oct. 138 (1. Hälfte 14. Jh.)

16v Incipit prefacio in sermones nulli parcentes

17r 1 Cum per quorundam negligenciam predicatorum qui nec forte mittuntut ad predicandum et pro parvo questu gregem dominieuro negligere minime curant vel per inobedientis populi duriciam

5 tanta mala in ecclesia Dei crevisse videantur, ut non solum vir vicinum vel notum suum odio habeat, sed - proch dolor- nec frater fratrem suum uterinum nec pater filium nec filius patrem iam perfecte et in vera caritate diligere inveniantur, ego, cinis et favilla [lob 42, 6] respectu proborum virorum,

10 ymo omnium peripsima [I Cor 4, 13] non cum parvo gemitu et dolore cordis hoc cogitando considerans et quod tarn egregii clerici nullum prebuere remedium, ausus sum excedere vires et possibilitatem ingenioli mei ad scribendum ad laudem et honorem salvatoris nostri

15 necnon pro salute animarum quoddam opusculum sermonum rigmice compositum continens XXVIII capitula minio assignata, incipiens a papa usque ad ultimum clericum et ab imparatore usque ad ultimum rusticum

20 - tarn monialibus quam aliis mulieribus non oblitis -quid unicuique nulla palliacione vel adulacione mediante debeat predicari.

Der Textabdruck der Praefatio entstammt der in Vorbereitung befindlichen Neuausgabe. Der Text ist in der Handschrift fortlaufend notiert. Da er syntaktisch nicht leicht zu überschauen ist, habe ich ihn, der Interpunktion der Handschrift folgend, nach Sinn­abschnitten zeilenweise abgesetzt.

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Gesellschaftssatire im Mittelalter

Rigmice autem idcirco composui ut tarn lector quam auditores eo minus tedio afficiantur.

25 Minio vero capitula ideo assignavi, ut lector sine labore id, quod voluerit, eo cicius possit invenire.

Vocatur autem opusculum istud »Sermones nulli parcentes« eo, quod unicuique veritas predicetur.

Rogo autem omni diligencia qua possum 30 quatenus tarn lectores quam auditores huius opusculi

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mee ignorancie misericorditer, sicut decet sapientes, parcere dignentur. Et quidquid minus ordinate compositum vel incompletum viderint,

prompciores ad corrigendum quam ad deridendum semper inveniantur, solummodo ut secundum intencionem cordis mei unicuique,

35 qualiter in suo statu vel si possit in tali statu salvari, sine omni palliacione vel adulacione, ut supra dieturn est, fideliter recitetur. Explicit prefacio.