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  • Quelle: ZiF:Mitteilungen 4/1996

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    "Wr' nicht das Auge sonnenhaft..."

    Goethes Farbenlehre: Nur eine Poesie des Chromatischen oderBeitrag zu einer naturwissenschaftlichen Psychologie?

    Rainer Mausfeld

    Prof. Dr. Rainer Mausfeld hat den Lehrstuhl fr Allgemeine Psychologie II am Institut fr Psychologie derChristian-Albrechts-Universitt zu Kiel inne. Er arbeitet in der Kognitionsforschung mit Forschungsschwerpunkt inder visuell-kognitiven Informationsverarbeitung. Er hat gemeinsam mit Dr. Dieter Heyer dieZiF:Forschungsgruppe Perception and the role of evolutionary internalized regularities of the physical worldgeleitet.

    In der Einleitung zum Didaktischen Teil der Farbenlehre bemerkte Goethe: "Es hatte von jeher etwasGefhrliches, von der Farbe zu handeln, dergestalt da einer unserer Vorgnger gelegentlich gar zuuern wagt: Hlt man dem Stier ein rotes Tuch vor, so wird er wtend; aber der Philosoph, wenn mannur berhaupt von Farbe spricht, fngt an zu rasen." Was macht nun das Eigentmliche der Farben aus,da ihre Behandlung nicht nur in der Erkenntnistheorie eine so groe Faszination entfaltet, sondern dasie auch in der gegenwrtigen Kognitionsforschung, die sich mit der Untersuchung der Prinzipien desmenschlichen Geistes befat, eines der attraktivsten Forschungsfelder darstellt (vgl. z.B. Thompson,1995)? Warum ranken sich um die Farbwahrnehmung so groe und vehement ausgetrageneKontroversen, ja in der Gegenberstellung von Goethe und Newton eine der bedeutendstenKontroversen der Wissenschaftsgeschichte berhaupt? Wie in keinem anderen Phnomenbereich der Psychologie bndeln sich in den Farberscheinungenwie unter einem Brennglas physische und psychische Aspekte in einer untrennbaren Einheit. Januskpfigblicken die Farben zugleich in die uere objektive und in die innere subjektive Welt: Die Farbqualittenstellen das durch psychische Prozesse im Bewutsein hervorgebrachte Endprodukt eines Prozesses dar,der seinen kausalen Ursprung in der Physik des Lichtes hat. Die phnomenale Beschreibung derFarbqualitten erfolgt in Ausdrcken wie 'Rot' oder 'Blau', doch gibt es fr diese kein natrlichesKorrelat in der Physik, die in Termini von 'Lichtquant', 'Wellenlnge' und 'Energie' ber die mit demLicht verbundenen Phnomene redet. Da nun beispielsweise ein rotes Blatt Papier und ein roter Sternhinsichtlich des physikalischen Ursprungs der Erscheinung 'Rot' nichts gemeinsam haben, so stellt sichdie Frage, wie sich perzeptueller Eindruck und physikalisches Korrelat in gesetzhafter Weise inBeziehung setzen lassen. So sicher auch die Farberscheinungen im Fundament der Physik verankert zusein scheinen, fhren sie uns doch unmittelbar in die Aporien des Leib-Seele-Problems undkonfrontieren uns mit Fragen nach der Natur des Bewutseins. In den Farberscheinungen stoen die imErkenntnisproze angelegte Gegenberstellung eines Innen und eines Auen, eines Objekt und einesSubjekt aufeinander, der objektive, nach auen gerichtete und auf die Eliminierung allesAnthropomorphen bedachte Blick des Naturforschers und der auf die Einheit des Erlebten nach innengerichtete Blick der beobachtenden Person. Daher ist es nur natrlich, da die Farberscheinungen fr denErkenntnistheoretiker und den sich mit der Natur des Bewutseins befassenden Philosophen eingeradezu paradigmatisches Untersuchungsfeld ausmachen (z.B. Hardin, 1988). Das Interesse desKognitionsforschers wecken die Farberscheinungen darber hinaus dadurch, da ihre Untersuchung eineInterdisziplinaritt verkrpert, in der sich Physik, Neurophysiologie, Wahrnehmungspsychologie,Denkpsychologie, Linguistik und Kulturanthropologie bei der Untersuchung ein und des selbenPhnomenbereiches verbinden und dadurch in ihren Beziehungen studieren lassen: Die Beschreibungdes physikalischen Reizes ist Sache der Physik, die neurale Transduktion dieses Reizes in denRezeptoren und die sich daran anschlieende neurale Codierung Gegenstand der Biophysik undNeurophysiologie, die Abhngigkeit des Sinneseindrucks vom physikalischen Reiz Gegenstand der

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    Psychophysik, die Bildung von Farbkategorien Gegenstand der Denkpsychologie und Linguistik undsomit das Ganze der Farbwahrnehmung Gegenstand der Psychologie. Doch war es nicht erst die Kognitionsforschung, die der Untersuchung der Farbwahrnehmung einebesondere Rolle zuwies. Die Beschftigung mit der Farbwahrnehmung markiert zugleich den Beginn derexperimentellen und naturwissenschaftlich orientierten Psychologie. G.-Th. Fechners ersteexperimentell-psychologische Studien beschftigten sich, veranlat durch Goethes Arbeiten, mit derNatur der Nachbilder und farbigen Schatten, und auch H.v. Helmholtz - der im brigen in einerlebenslangen Auseinandersetzung mit Goethes Wissenschaftsverstndnis seine Forschungsprinzipien zurechtfertigen suchte - begann seine psychologischen Untersuchungen im Bereich der Farbwahrnehmung.Die Grnde hierfr sind leicht auszumachen: Mit ihr sind bereits aus prtheoretischer Perspektivevielfltige und erstaunliche Phnomene verbunden; sie erlaubt zudem, durch eine przise physikalischeBeschreibung des Reizes eine Verankerung der Theoriebildung zu gewinnen, so da sich hier das ver-gleichsweise sicherste Fundament fr eine Behandlung allgemeiner Fragen psychologischer Experimen-tallogik und Theoriebildung bietet. Folglich bildete in dem Proze der Herausbildung der Psychologieals eigenstndige und von der Philosophie unabhngige Wissenschaft die Untersuchung derFarbwahrnehmung und mit ihr die Wahrnehmungspsychologie allgemein die eigentliche Keimzelle dernatur wissenschaftlichen Psychologie. Innerhalb der Kognitionsforschung und dem fr sie konstitutiven Paradigma perzeptuell-kognitiverInformationsverarbeitung wurde die Erforschung der Farbwahrnehmung zu einem fr den einzelnenkaum noch berschaubaren Forschungsbereich, zu dem Psychologie, Biophysik, Neurophysiologie undin der Informatik der Bereich des sog. Maschinensehens eine stndig wachsende Zahl von Beitrgenleisten. Das bekannte exponentielle Wachstum der Wissenschaft legt die Einschtzung nahe, da sich inden vergangenen Jahren mehr Forscher mit der Farbwahrnehmung beschftigt haben als in der gesamtenZeit der abendlndischen Wissenschaft zuvor. Damit kann, so scheint es, die Frage, ob Goethe zuunserem Verstndnis der Natur der Farbwahrnehmung noch einen Beitrag leisten kann, nur noch einerhetorische sein. Goethes Farbenlehre - von Thomas Young bereits 1814 als "a striking example of theperversion of the human faculties" geschmht - wurde so oft, so grndlich, so endgltig als gescheiterterklrt, da sich das Urteil aufdrngt, eine Beschftigung mit ihr knne nur noch demWissenschaftshistoriker als lohnend erscheinen. Da eine solche Einschtzung nicht eine volle Gltigkeit fr sich beanspruchen kann, da vielmehrnicht nur fr den im engeren Sinne an der Natur der Farberscheinungen interessierten Forscher, sondernauch fr den Kognitionsforscher allgemein eine Auseinandersetzung mit Goethes Auffassungen undEinsichten fruchtbar zu sein verspricht, legen zweierlei Aspekte nahe, auf die ich im folgendenausfhrlicher zu sprechen kommen mchte. Zum einen: Wir stoen in den Kognitionswissenschaften inder Verbindung von naturwissenschaftlicher Orientierung und Bewutseinsproblematik an eine schwerzu fassende Grenze wissenschaftlicher Naturerkenntnis, die es lohnenswert erscheinen lt, sich erneutmit Goethes Alternativentwurf einer Naturwissenschaft auseinanderzusetzen und seine Metaprinzipienzu untersuchen, durch die er gerade auf die Einheit von Innen und Auen zielt. Diesem bergeordnetenAspekt gesellt sich, zum andern, ein profanerer bei: Die Goethesche Art der Behandlung vonFarberscheinungen fhrt uns in natrlicher Weise zu Perspektiven, die aus dem Konkurrenzunternehmeneiner Newton-Young-Helmholtz-Farbenlehre nur mhsam zu gewinnen waren; sie stellt Heuristikenbereit, die Natur der Farbwahrnehmung - freilich im Kontext einer von ihm bekmpften Auffassung vonNaturwissenschaften - besser zu verstehen.

    1. Goethes Farbenlehre: Geistes- oder Naturwissenschaft?

    Steht Goethe auch als Dichter ohne Beispiel, so war er doch in Belangen der Wissenschaften wederseinen Zeitgenossen noch den Spteren Autoritt. Wre er es nicht in einzigartiger Weise als Dichter,

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    seine Farbenlehre htte wohl kaum jene Beachtung gerade auch der bedeutendsten modernen Physikererfahren, die ihr tatschlich zuteil wurde.1

    Selbstverstndnis und Anspruch

    Sich selbst indes verstand er seit jenem Moment, den er seine "chromatische Bekehrung" nannte,zunchst und vor allem anderen als Naturforscher. "Auf alles, was ich als Poet geleistet habe", pflegte erwiederholt zu Eckermann (23.3.1829) zu sagen, "bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichtermit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Da ich aber inmeinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das rechtewei, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewutsein der Superioritt ber viele."Der einzige, wohlgemerkt, der das rechte wei: in der Tat ein heraklitischer Anspruch auf die Wahrheit.Nicht durch die Dichtkunst sei ihm vergnnt, "Epoche in der Welt zu machen" (2.5.1824), vielmehrdurch "die groe Erbschaft", die ihm "mit dem Irrtum der Newtonischen Lehre zuteil geworden" war(2.5.1824) und durch die er allein die "reine Lehre" (20.12.1826) ber die Farben gefunden habe,... durchdie er "das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit" erkannt habe (4.1.1824). Rund 2000 Seiten reinenSchreibumfanges umfassen seine Farbstudien; es gereue ihn nicht, uert er zu Eckermann (1.2.1827),die "Mhen eines halben Lebens" hineingesteckt zu haben. "Ich htte vielleicht ein halbes DutzendTrauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden." Bereits in der Biologie, etwa zur Metamorphose der Pflanzen, hatte er seine Zugangsweise syste-matischer Naturbeobachtung ausgefhrt; nun habe sie ihn auch im Bereiche der Farben zum verbindlichRichtigen gefhrt; die Farbenlehre stelle gar "ein Muster wissenschaftlicher Behandlung dar, woran mansich auch bei Behandlung hnlicher Gegenstnde immer halten kann." (1.2.1887) Leitfaden fr eine jedeNaturwissenschaft sollte sie sein. Veranlat wurde sie durch Probleme auerhalb der Natur-wissenschaften: Goethes Reflexionen ber Regeln der knstlerischen Produktion und Gesetze dessthetischen. Die Dichtkunst scheint ihm hierzu nicht geeignet, sein Verhltnis zu ihr erlebt er als"wundersam", er fhre sie "gewissermaen instinktartig" aus. "So sucht ich mir", schrieb er in seinerKonfession, "auerhalb der Dichtkunst eine Stelle, auf welcher ich zu irgendeiner Vergleichunggelangen, und dasjenige was mich in der Nhe verwirrte, aus einer gewissen Entfernung bersehen undbeurteilen knnte." Dies nun sei die bildende Kunst, zu der er keine natrliche Anlage habe und so destomehr durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufllen suche, was die Natur Lckenhaftes an ihmgelassen habe. Die Suche nach den Grundlagen einer sthetischen Theorie des Kolorits bildete also denbiographischen Ausgangspunkt, doch das Produkt seiner Studien sollte nicht ein Beitrag zu denGeisteswissenschaften - wie wir sie verstehen - sein, es sollte Naturwissenschaft sein. Nehmen wir diesen mit der Farbenlehre verbundenen Anspruch ernst, so knnen wir sie nicht auf einesthetische Theorie des Kolorits, auf ein Ordnungsschema fr Knstler, gleichsam auf eine Poesie desChromatischen reduzieren. So werden es denn auch nicht gegenwrtige Auffassungen zu den Themen-kreisen 'Farbe und Schnheit', 'Farbe und Charakter', 'Farbprferenzen und Persnlichkeit', kurz zu alldem, was man in einem weiteren Sinne unter Psychologie der Farbe verstehen kann, sein, mit denen ichGoethes Farbenlehre in Beziehung setzen mchte. Die Farbenlehre bezieht sich freilich auch auf solcheAspekte, doch diese machen keineswegs ihren Kern aus. Goethe wollte mehr und Grundlegenderes: DieFarbenlehre sollte ein paradigmatischer Entwurf von Naturwissenschaft berhaupt sein.

    1 Goethe, W.v. Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollstndige mit Erluterungen versehene Ausgabe, hrsg. im Auftrag derLeopoldina von D. Kuhn, R. Matthaei, G. Schmid, W. Troll & L. Wolf. Weimar: 1947ff.Stellvertretend fr die umfangreiche Literatur zur Goethes Farbenlehre seien genannt:Amrine, F., Zucker, F.J. & Wheeler, H. (Eds.) (1987). Goethe and the Sciences: A Reappraisal. Dordrecht: Reidel.Sepper, D.L. (1988). Goethe contra Newton. Polemics and the Project for a New Science of Color. Cambridge: CambridgeUniversity Press.Weitere Literatur am Ende des Beitrags.

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    Goethes Anspruch auf Naturwissenschaft anerkennend, will ich wenn schon nicht das Ganze, so dochzentrale Teile seiner Farbenlehre vom aktuellen Forschungsstand der natur wissenschaftlichenWahrnehmungspsychologie betrachten. Diese sucht die grundlegenden Mechanismen unseresWahrnehmungssystems bei der Erzeugung und Verarbeitung von Farbinformationen zu verstehen, alsodas, was man perzeptuelle und neurale Farbcodierung nennt.

    Von Mechanismen des Wahrnehmungssystems zu sprechen wre fr Goethe bereits nicht zulssig; einesolche Sprechweise wrde eine ebenso verwerfliche Haltung der Natur gegenber bezeugen, wie er sieschon bei Newton diagnostiziert hat. Wieder stoen wir hier auf das zu Beginn angesprochene Problem,das Einzelne nicht ohne das Ganze verstehen zu knnen, Goethes Farbenlehre nicht ohne seineVorstellungen von Naturforschung verstehen zu knnen. Denn ein grerer Gegensatz als zwischen demGoetheschen und dem modernen Konzept von Naturwissenschaft ist nicht denkbar; nicht erst zuNewton, bereits zu Bacon, Galilei oder Descartes, sondern zur gesamten Tradition neuzeitlicherNaturforschung steht Goethes Auffassung in unberbrckbarem Gegensatz. Wie das mythische Weltbildeines Homer nicht bersetzt oder auch nur bezogen werden kann auf das Weltbild eines Demokrit undfolglich auch nicht aus diesem heraus, sondern nur aus sich selbst verstanden werden kann, so kann auchGoethes Farbenlehre nur vor dem Hintergrund seiner Konzeption von Naturwissenschaft verstandenwerden. Gleiches gilt freilich auch fr Newtons Farbtheorie, doch ist diese eingebunden in einumfassendes Wissenschaftsverstndnis, das uns natrlich und selbstverstndlich, zudem ob seinestechnischen Erfolges kaum hinterfragbar erscheint. Beide, Newton wie Goethe, scheinen denselbenForschungsgegenstand zu haben, die Farben; beide wollen den inneren Zusammenhang derFarbphnomene erfassen und theoretisch ordnen, ohne dabei auf irgendwelche qualitates occultae, aufverborgene hinter den Phnomenen liegende Wirkkrfte Bezug zu nehmen. Und doch scheint zwischenbeider Naturverstndnis eine unberwindliche Kluft zu liegen. So hat denn, wie ich meine, jederVersuch, sich Goethes Farbenlehre zu nhern, zur notwendigen Voraussetzung, zuvor seinWissenschaftsverstndnis darzulegen.

    Goethes Kampf gegen Newtons Zugang zur Natur

    Werfen wir zunchst einen Blick auf die dramatis personae, Goethe und Newton, um aus ihrenIntentionen zu erkennen, da die Kluft, die sie trennt, eben nicht jene von Geistes- versusNaturwissenschaft ist. Beider ausdrckliches Ziel war, nicht durch Hypothesen und Spekulation, sondern durch Vernunftund Experiment die Farberscheinungen zu ordnen. Beide zogen zwischen physikalischen undphysiologischen Farbphnomenen eine Grenze und wollten ihre Theorie nicht nur auf eine dieserKlassen eingeschrnkt sehen. Newton betonte, da die Lichtstrahlen selbst keineswegs farbig sind,sondern lediglich eine Disposition haben, im Organismus diese oder jene Farbe hervorzurufen. SolcheEffekte nun gehren nicht mehr zum eigentlichen Gegenstandsbereich der Physik. Wenn Newtondennoch ihre Gesetzmigkeiten untersuchte und entdeckte, da physikalisch verschiedene Farben demFarbeindruck nach ununterscheidbar sein knnen - wir bezeichnen diese als metamere Farben - und dasich fr die Farbgleichheit, die Metamerie, Gesetze formulieren lassen: die Gesetze der additiven Farb-mischung, wenn Newton sich also mit diesen Gesetzen beschftigte, dann betrieb er Wahrnehmungspsy-chologie; den Bereich der physikalischen Theorie hatte er damit verlassen. Auch seine Formulierung desFarbkreises ist -pythagoreisch und spekulativ gefrbte - Wahrnehmungspsychologie, ist Psychophysik,und stellt in der Tat das erste quantitative Modell der Psychophysik dar.

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    Newton bei seinem Prismenexperiment nach einer zeitgenssischen Darstellung.

    Wie Newton eben auch auf die Wahrnehmungspsychologie zielte, so Goethe auf die Physik! Dieberlegenheit seiner Theorie suchte er gerade durch seine Erklrung der "Refraktionsfarben", der andurchsichtigen Medien zu beobachtenden Farberscheinungen, zu zeigen; nicht im Bereich derFarbsthetik, nicht im Bereich der Farbwahrnehmung, auf dem Gebiete der Physik selbst wollte er seine"Superioritt" beweisen. Newtons Theorie sei "barer Unsinn", eine "wunderliche Lehre kmmerlichenInhalts", und "Wortkram"; "etwas hnlich Nrrisches und Lcherliches von Erklrungsart" sei kaum inder Geschichte der Wissenschaften zu finden, Newton sei ein Starrkopf, ein Lgenbold, der "dasUnwahre wahr und das Wahre unwahr" mache, unredlich in seinem Verhltnis zur Wahrheit, eher einemFalschspieler oder einem Sektenhaupt gleich als einem Wissenschaftler, jemand, der weder beobachtennoch folgern knne und schwer an der Natur schuldig geworden sei und dessen Anhnger sich durch"Inkompetenz und Dnkel", "Faulheit und Selbstgengsamkeit", "Ingrimm und Verfolgungsgelst"auszeichneten. In seiner irrationalen Vehemenz, in der Flle der Schmhungen und Verchtlichmachungen istGoethes 40 Jahre whrender Kampf gegen Newton ein - wie Bhme (1980) es formulierte - "Skandalonder Wissenschaftsgeschichte". Die Tiraden der Gehssigkeit und des Spottes, die insbesondere die 680Paragraphen des Polemischen Teiles der Farbenlehre durchziehen, erscheinen Goethe selbst, wie erEckermann gegenber bemerkte, als so ganz seiner "eigentlicher Natur" zuwiderlaufend (15.5.1831).Dieser an Heftigkeit und Dauer in der Wissenschaftsgeschichte wohl einzigartige Kampf konnteschwerlich allein durch divergierende wissenschaftliche Haltungen veranlat sein, sein Geheimnis muin der Person selbst zu suchen sein. An Erklrungsversuchen fehlt es denn auch nicht (Eisler, 1963;Schne, 1987).

    Lt sich der Wahrnehmungspsychologe Goethe gegen den Physiker Goethe rehabilitieren?

    Was auch Goethes verborgene Beweggrnde gewesen sein mgen, in jedem Fall wollte er, so seineWorte, die Physik "von der Knechtschaft dieser Lehre auf ewige Zeiten" befreien. Dieses Vorhaben ist ineiner Weise gescheitert, wie wohl kaum je ein mit hnlichem Anspruch verbundenes Vorhaben in denWissenschaften. Goethes Zugang zur Natur hat sich weder als theoretisch fruchtbar noch als kumulativwissenserzeugend erwiesen - beides charakteristische Kriterien der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Danun einerseits der Erfolg der Newtonschen Theorie und ihre Einbindbarkeit in ein einheitliches Gefge

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    der Naturwissenschaften unstreitig ist, andererseits man jedoch die Goethesche Farbenlehre schon alleinder Reputation ihres Urhebers wegen nicht als vllig irrig ansehen mochte, suchte man die damitentstandene Kluft zwischen beiden auf andere Weise zu berbrcken. Heisenberg (1941) etwa ordnetNewtons und Goethes Theorien "verschiedenen Schichten der Wirklichkeit" zu. Wenn Goethes Theorieschon keine Naturwissenschaft ist, dann msse sie von etwas anderem handeln, nmlich Geistes-wissenschaft sein. Eine solche Schlichtung bedeutet indes, Goethes eigenen Anspruch,Naturwissenschaft zu betreiben, nicht ernst zu nehmen. Gegen Goethes Auffassung, da "die Materie nieohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann" wird mit einem solchenSchlichtungsversuch die Cartesische Spaltung der Wirklichkeit in eine res extensa und eine res cogitansanerkannt, einer Spaltung, die wie keine andere das Weltbild der Naturwissenschaften geprgt hat.Unmiverstndlich hat bereits Carl Friedrich von Weizcker (1961) festgestellt: "Selbst jede Kompetenz-abgrenzung, wie etwa die, Newton behandle den physikalischen, Goethe den erlebnismigen 'Aspekt'der Farben, ist eine Niederlage Goethes, dem es um die Einheit des Wirklichen ging; diese Kompe-tenzabgrenzung wird ja gerade mit den begrifflichen Hilfsmitteln der Cartesischen Spaltungvorgenommen." Der Rettungsversuch, den groen Denker und Dichter dadurch gegen Newton zu rehabilitieren, daman das, was vom Standpunkt physikalischer Theorie als vollstndig irregeleitet und falsch erscheint,grozgig ignoriert und aus dem brigen eklektisch herausgreift, was vom eigenen Standpunkt aus dieWeitsicht und Tiefe des Dichters und Naturfreundes bezeuge, dieser Rettungsversuch mu sich in seinGegenteil verkehren. Denn durch ihn wird gerade Goethes einheitlicher und konsequenter Entwurf einerNaturwissenschaft und ihrer Methodik stillschweigend abgelehnt. Goethes Behandlung physikalischerPhnomene ist ein notwendiger und folgerichtiger Bestandteil seiner Konzeption von Naturforschung.Eine Ablehnung seiner Behandlung physikalischer Phnomene bedeutet zugleich, auch sein Verstndnisvon Naturwissenschaft berhaupt abzulehnen. Kurzum: Wir knnen die wahrnehmungspsychologischenTeile der Farbenlehre nicht ohne die physikalischen betrachten. Beide sind aus derselben Weltsichtentstanden; wenn sich also die physikalischen Erklrungen als 'falsch' im Sinne der heutigen Physikerwiesen haben, so mu auch sein gesamtes Vorgehen, seine Konzeption von Naturforschung 'falsch',d.h. unfruchtbar im Sinne der modernen Naturwissenschaft sein. Und dies gilt fr seinen Gesamtentwurfin der Tat. Goethes Farbenlehre fand keine wissenschaftlichen Erben, sie wurde als nicht traditions-, alsfortsetzungsfhig fr eine kumulative Theoriebildung in einem einheitlichen naturwissenschaftlichenWeltbild angesehen. Bereits Goethes Auswahl dessen, was er als Phnomen betrachtete, sodann seineZergliederung der Phnomene, die zu ihrer Ordnung verwandte Begrifflichkeit, seine Auffassung vonTheorie, kurz: seine gesamte Zugangsweise erwies sich vom Standpunkt neuzeitlicher Naturwissenschaftals unzweckmig, unfruchtbar und erfolglos. Und doch bleibt sie, wie ich versuchen werde deutlich zu machen, eine Form der Naturwissenschaft.In Goethes Farbenlehre finden wir alle Kriterien einer systematischen, intersubjektiven, empirischen undtheoriebildenden Naturwissenschaft, wenn es auch ein gnzlich anderer Entwurf von Naturwissenschaftist als der, der sich heute als erfolgreich durchgesetzt hat. Statt den Wahrnehmungspsychologen (und auch nicht den Dichter oder Kunsttheoretiker) Goethegegen den Physiker Goethe auszuspielen und durch Miachtung des Gesamtentwurfes Goethe gegenNewton wenigstens partiell zu rehabilitieren, will ich aufzeigen, in welchen Aspekten GoethesAlternative unmittelbarer und leichter zu Einsichten gelangen konnte, die in der Forschungstradition derWahrnehmungspsychologie nur mhsam zu erlangen waren oder erst noch zu erlangen sind.

    2. Goethes metatheoretische Prinzipien einer Naturwissenschaft

    Was unterscheidet Goethes Vorstellungen von Naturforschung und seine Auffassung der Theoriebildungvon der unsrigen; warum erscheinen sie uns so fremd? Charakteristisch fr die moderne Naturwissenschaften ist Bacons dissecare naturam, das Zer-schneiden, Zerlegen und Isolieren der Natur in theoretisch handhabbare Einheiten, wodurch man diewahre, hinter den Phnomenen gegebene Ordnung zu erkennen sucht, das Idealisieren, uerste

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    Abstrahieren, Mathematisieren und die damit verbundene zunehmende Entfernung von dem phnomenalGegebenen. Nicht das Wesen der Dinge zu erkennen, sondern einen rationalen berblick ber die Naturgewinnen ist ihr Ziel; und sie frchtet sich nicht davor, da die archimedischen Punkte, von denen aussich die Mannigfaltigkeit der Alltagsphnomene einheitlich ordnen lt, auerhalb dieserAlltagsphnomene liegen knnten und nur durch Abstraktion, unanschauliche Begriffe undMathematisierung zu erreichen sind. So klaffen Alltagssprache und Sprache der Naturwissenschaftzunehmend auseinander; doch der Tausch der Flle und Lebendigkeit einer gegenstndlichenAnschaulichkeit gegen eine nur noch symbolische und exakte, die Ersetzbarkeit der Mannigfaltigkeit derErscheinungen durch ein 'als ob'-Schema hat sich durch die Einheitlichkeit und technischen Erfolge derNaturwissenschaft bezahlt gemacht. Wie kann man, wrde Goethe dagegensetzen, die Natur verstehen, wenn man sie auf der Grundlagevon Fiktionen und des Irrealen ordnet, wenn die theoretischen Bestimmungsgren etwa das ideale Gas,die gleichfrmige durch keinen Widerstand beeintrchtigte Bewegung auf einer euklidischen Geraden,das reine monochromatische Licht sind, die nirgends in der Natur zu finden sind und auch niemalsexperimentell hergestellt werden knnen? "Lichtstrahlen, Strahlenbndel", bemerkt Goethe, "sindhypothetische Wesen, von denen man in der Erfahrung nicht sprechen sollte. Durch die kleinste ffnungeines Ladens wird weder ein Lichtstrahl, noch ein Lichtbndel eingelassen, sondern das ganzeSonnenbild fllt herein, ja das Bild des ganzen Himmels und der ganzen Umgebung...". Goethe betrachtet die Natur wie eine Person, der man sich somit nur in Art eines Dialoges nhernknne, nicht als Gegner, den es durch Experimente zu bezwingen gilt. In der freien Natur Phnomene zubemerken und sich von der Natur belehren zu lassen ist Aufgabe des Naturforschers. Keineswegs seidieser wie in der Newtonschen Wissenschaft - einer Charakterisierung Kants zufolge - ein bestallterRichter, der die Natur wie eine Zeugin ntigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihr vorlegt. Die Natur spricht "hinabwrts zu unseren Sinnen ...; so spricht sie mit sich selbst und zu uns durchtausend Erscheinungen." Sie "spricht nichts aus, was ihr selbst unbequem wre." So sei Newtonsexperimentum crucis ein wahrhaftiges Kreuzigungsexperiment, "wobei der Forscher die Natur auf dieFolter spannte, um sie zu dem Bekenntnis dessen zu ntigen, was er schon vorher bei sich festgesetzthatte. Allein die Natur gleicht einer standhaften und edelmtigen Person, welche selbst unter allenQualen bei der Wahrheit verharrt. Newtons Experiment, durch das er mit Hilfe zweier Prismennachweist, da ein monochromatisches Licht nicht weiter zerlegt werden kann - in seiner eigenen Skizzevermerkte er 'nec variat lux fracta colorem' -, dieses berhmte experimentum crucis zeigt aber nachGoethe kein natrliches Phnomen, es sei vielmehr ein Qualschrei der Natur, der durch die unnatrlichenBedingungen, die das Licht hier erleiden mu, veranlat werde. Hier, wo das Licht in die "dunkleKammer" eingesperrt werde, in der "Marterkammer" des Experimentators, werde das Komplizierteste alsdas Einfachste bezeichnet und statt einer naturgemen eine "fratzenhafte Erklrungsart" herangezogen.

    Freunde, flieht die dunkleKammer,

    Wo man euch dasLicht verzwickt

    Und mit kmmerlichstem JammerSich verschrobnen Bildern bckt.

    Die Erscheinungen der Natur, nicht aber jener der Marterkammer des Laboratoriums sind Goethezufolge Gegenstand der Naturwissenschaften. Es sei hchst notwendig, "das Phnomen erst an sichselbst zu betrachten, es in sich selbst sorgfltig zu wiederholen und solches von allen Seiten aber undabermals zu beschauen." Vermannigfaltigung der Phnomene nennt er dies; die der modernenNaturwissenschaft eigene Reduzierung, Isolierung und Konstanthaltung von Randbedingungen steht zuihr in einem unberwindlichen Gegensatz. Die eigentliche Theorie, die Ordnung der Phnomene, hat nundarin ihren Ausgangspunkt, da wir beginnen "von unserem Standpunkte aus, allenthalben umher zublicken, ob wir nicht hnliche Erscheinungen zugunsten unseres Vornehmens auffinden mchten;... Hierdrfen wir die Analogie, als Handhabe, als Hebel die Natur anzufassen und zu bewegen gar wohlempfehlen und anrhmen, ... wodurch Erfahrung erst belebt wird, indem das Abgesonderte und entfernt

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    Scheinende verknpft, dessen Identitt entdeckt und das eigentliche Gesamtleben der Natur auch in derWissenschaft nach und nach empfunden wird." Goethes Methode der Theoriebildung ist die Analogie.Sein Denken will sich nicht in Richtung einer zunehmenden Abstraktion - vor Abstraktion frchte ersich, schrieb er - und einer Ausgrenzung lebendiger Vielfalt bewegen. "Trennen und Zhlen lag nicht inmeiner Natur", schrieb er schon im Zusammenhang mit der Botanik. berhaupt knne jedemathematische Behandlung groen Schaden anrichten; die Physik msse unabhngig von derMathematik existieren, im Feld der Erfahrung sei der Mathematiker so gut wie jeder andere dem Irrtumunterworfen. Das Mathematische war Goethe fremd und er mitraute ihm. In den Maximen undReflexionen schrieb er: "Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: redet man zu ihnen, so bersetzensie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas Anderes." Nicht auf die der modernen Naturwissenschaft eigene abstrahierende und idealisierende Reduktion,vielmehr auf Vermannigfaltigung und Verbindung durch Analogie zielt Goethe, und die Gedankenfigurder Analogie durchzieht denn auch sein gesamtes naturwissenschaftliches Werk. Die Methode derAnalogie lt all das hervortreten, was demselben Logos folgt. Bndig stellt er fest: "Durch dasZusammenstellen des Verwandten entsteht nach und nach eine Totalitt, die sich selbst ausspricht undkeiner weitern Erklrung bedarf." Mit der Totalitt haben wir den ersten der fr Goethes Theoriebildung zentralen Begriffe. UnterTotalitt ist die Einheit der Natur verstanden, wie sie sich durch die Methode der Analogie demMenschen zeigt. Das Bild der Einheit der Natur, von dem sich Goethe leiten lt, hat nichts gemeinmit der gleichsam formalen Einheit der Natur in einer Mathesis universalis, wie sie seit Pythagoras,Descartes, Leibniz und der gesamten Tradition der modernen Naturwissenschaft deren Anbindungan die Mathematik bestimmt. Diese Tradition ist von der Gewiheit getragen, da der Verstand dieOrdnung hinter der Vielfalt der Phnomene nur durch das Quantitative begreifen knne. IhrenAusdruck findet sie, wenn bei Cusanus das Wort mens mit dem Wort mensura in Beziehung gesetztwird oder wenn Keppler die berzeugung ausdrckt, wie sich das Auge auf das Erkennen vonFarben und das Ohr auf das Erkennen von Tnen richte, so richte sich der menschliche Geist aufdie Erkenntnis des Quantitativen. In der neuzeitlichen Wissenschaft, in der sich das Streben nachNaturerkenntnis mit dem Bedrfnis nach Gewiheit dieser Erkenntnis verbindet, lt sich eintheoretischer Erkenntnisforschritt nur in Anbindung an die Mathematik erreichen - eine Haltung dieHelmholtz konsequent auch auf die Psychologie bertragen hat. Anders Goethe: Gegen Pythagoras' - die Zahl ist Anfang aller Dinge - setzt er das Heraklitische - Einswie Alles -. Die Prinzipien der Natur sieht Goethe nicht in der Zahl verkrpert, sondern wieHeraklit in dem, was in den Wechseln als das Bleibende, als Struktur erscheint. Ein weiterer theoretischer Begriff erweist sich als zentral: die Polaritt. Da allen Erscheinungen desLebens die groen Polaritten wie Tag und Nacht, Leben und Wachen, Flle und Mangel, Leben undTod zugrunde liegen, ist uns schon aus der griechischen Dichtung vertraut. Das Gesetzmige im Lebender Natur enthllt sich dem Verstand durch die Methode der Analogie. Goethe schreibt: "Somannigfaltig, so verwickelt und unverstndlich uns oft diese Sprache scheinen mag, so bleiben doch ihreElemente immer dieselbigen. Mit leisem Gewicht und Gegengewicht wgt die Natur sich hin und her,und so entsteht ein Hben und Drben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und Hernach, wodurch alle dieErscheinungen bedingt sind, die uns im Raum und in der Zeit entgegentreten. .... Indem man aber jenesGewicht und Gegengewicht von ungleicher Wirkung zu finden glaubt, so hat man auch dieses Verhltniszu bezeichnen versucht. Man hat ein Mehr und ein Weniger, ein Wirken ein Widerstreben, ein Tun einLeiden, ein Vordringendes ein Zurckhaltendes, ein Heftiges ein Migendes, ein Mnnliches einWeibliches berall bemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man aufhnliche Flle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwendenund benutzen mag." In dieser Natursprache, in der allein sich gleichberechtigt mit der Natur reden lt,ergibt sich auf ganz und gar natrliche Weise die Polaritt als zentraler theoretischer Begriff. Er erlaubt,das der Natur Charakteristische zu erfassen, wonach sich alles Entzweite wechselseitig "fordert" undzugleich hin zur ursprnglichen Einheit deutet. In der Harmonie schlielich werden, dem Wortsinnegetreu, die widerstrebenden Krfte zur Einheit zusammengefgt.

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    Eine solche, auf den Begriffen der Totalitt und Polaritt aufgebaute Natursprache ermglicht - unddies ist Goethe zufolge das Ziel aller Naturforschung -, die "Phnomene in ihrer natrlichen Entwicklungund wahrhaft erfahrungsmigen Ordnung darzustellen", ohne dabei Anschauung und Theorievoneinander zu trennen. Eine Spaltung von Theorie und Anschauung ergebe sich - wie das BeispielNewton lehre - fr all jene, "die von der Natur abweichen, welche das Hinterste zuvrderst stellen, dasAbgeleitete zum Ursprnglichen erheben, das Ursprngliche zum Abgeleiteten erniedrigen, dasZusammengesetzte einfach, das Einfache zusammengesetzt nennen." Goethe mahnt, "Man suche nurnichts hinter den Phnomenen; sie selbst sind die Lehre", womit er den zulssigen Grad der Abstraktionbegrenzt. Es ist nicht die Aufgabe einer Theorie, die Phnomene zu zwingen, eine hinter ihnen liegendeverborgene und wahre Welt freizugeben, sondern vielmehr das in der Erfahrung Gegebene selbst zuordnen und seinen inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Jede Theorie msse den Phnomenen selbstverhaftet bleiben. Das Hchste, was sich durch Theoretisieren berhaupt erreichen lasse, sei, ein Urphnomen zuentdecken, womit wir einen weiteren Kernbegriff der theoretischen Sprache Goethes haben: DasUrphnomen ist gleichsam Keimzelle und anschauliches Urbild, in dem sich die Mannigfaltigkeit allerbrigen Phnomene bndelt. Nicht das Auffinden der Ur-sache, wie in der neuzeitlichenNaturwissenschaft, ist also das Ziel, sondern das Erkennen des Ur-phnomens. Mit seiner Entdeckung istdie "Grenze der Wissenschaft" erreicht. Hinter ihnen oder ber ihnen noch etwas Weiteres aufsuchen zuwollen, ist verwerflich: "Der Naturforscher lasse die Urphnomene in ihrer ewigen Ruhe undHerrlichkeit dastehen." "Das Hchste, wozu der Mensch gelangen kann," sagte Goethe anllich einesGesprchs ber die Farbenlehre zu Eckermann (18.2.1829), "ist das Staunen, und wenn ihn dasUrphnomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Hheres kann es ihm nicht gewhren, und einWeiters soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze." Gegen die schrankenlose Wibegierde derneuzeitlichen Wissenschaft zieht Goethe - wie zuvor das curiositas-Verbot der Scholastik - dertheoretischen Neugierde eine Grenze.

    Soweit das Ohr, soweit das Auge reicht,Du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht,

    Und deines Geistes hchster FeuerflugHat schon am Gleichnis, hat am Bild genug.

    Das Wahre nmlich lasse sich niemals von uns direkt erkennen, "wir erschauen es nur im Abglanz, imBeispiel, Symbol." So offenbart sich fr Goethe der Urgrund der Natur nur im Gleichnis und Symbol.Seine Realitt trgt - Wolfgang Schadewaldt (1962) hat dies in seinen Goethe-Studien sehr deutlichgemacht - durchgngigen Symbolcharakter. Das Gttliche der Natur bleibt seinem Wesen nach immerunbekannt. Nicht mehr erkennen zu wollen, als dem Menschen seiner Natur nach gegeben ist, ist fr Goethe dienatrliche Beschrnkung der Wissenschaft. Ihr Ziel darf und kann nicht sein, die Natur zu unterwerfen,ihr ihre letzten Geheimnisse zu entreien, sondern in der Einheit von Innen und Auen den Menschendurch die Reinheit und Schnheit der Natur dieser gleich werden zu lassen. Die Theoria im griechischenSinne, das freie, durch keine Verpflichtung gebundene Beiwohnen ist der Sinn der Wissenschaft; "dasharmonische Behagen" durch sie gewhre dem Menschen ein "reines freies Entzcken." Erkenntnis undEudaimonie werden hier wieder aneinandergebunden. Totalitt, Polaritt und Urphnomen: damit ist das theoretische Raster und zugleich Goethes Haltungzur Naturwissenschaft bestimmt. Im Bereich der Farbe finden diese Begriffe ihre konsequenteAnwendung.

    3. Goethes theoretische Behandlung von Farbphnomenen

    Goethe bemerkte: "Alles kommt auf den Weg an, auf welchem man zu einer Wissenschaft gelangt."Tatschlich enthalten diese Wege schon alles weitere im Keime. Ging es Newton um die Verbesserung

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    des dioptrischen Fernrohres und somit letztlich um die Beseitung der Farben als chromatische Fehler, sowar es Goethe um die Grundlegung der Gesetze des Kolorits zu tun. Sein Ausgangspunkt ist dasKunstwerk, sein Experimentierfeld liegt unter freiem Himmel; Newtons Ausgangspunkt ist bereits einInstrument, das Fernrohr, sein Experimentierfeld ist das Labor. Wo Newton das Prisma ins Licht hieltund das Spektrum auf einer Wand betrachtete, hielt Goethe das Prisma vor sein Auge und betrachtete dieentstehenden Farberscheinungen. Der Unterschied ist eklatant: Newton beobachtete die Phnomenegleichsam von auen, Goethe hingegen war nicht neutraler Beobachter, er war wesentlicher Teil desExperiments. Licht nmlich ist Goethe zufolge kein Abstraktum, kein "bei geringen Anlssen aus sichselbst die Farben hervorbringendes Wesen", sondern es ist etwas Ursprngliches, Unmittelbares. Goethebestimmt: "Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die hchstendenkbaren unteilbaren Energien." ... "Das Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen daswir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt. Am allerwenigsten aus farbigen Lichtern. Jedes Licht, daseine Farbe angenommen hat, ist dunkler als das farblose Licht. Das Helle kann nicht aus Dunkelheitzusammengesetzt sein." Newtons Behauptung, Wei sei aus allen Farben des Spektrums zusammen-gesetzt, der reinste und einfachste aller Farbeindrcke sei demnach ein Mannigfaltiges, mute Goetheabsurd, ja frevelhaft erscheinen. "Die Farben werden an dem Lichte erregt, nicht aus dem Lichteentwickelt." Das Wesen des Lichtes knne nicht durch Abstraktion erfat werden, sondern, wie derCharakter eines Menschen, durch seine Handlungen und Taten, durch die Farben also. GoethesWesensbestimmung der Farben beginnt und kulminiert in dem bekannten Wort: "Farben sind Taten undLeiden des Lichtes." Goethe nimmt seinen Ausgangspunkt bei etwas, das schon fr Parmenides elementare Urprinzipiendarstellte: Licht und Finsternis. (Auch die Aristotelische Modifikationstheorie der Farben, der Newton zuBeginn seiner Beschftigung mit den Farberscheinungen noch anhing, verstand Farben als eineMischung aus Licht und Finsternis.) Licht und Finsternis bringen durch das dazwischen liegendeMedium, die Trbe, die Farben hervor. "Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf deranderen die Finsterniss, das Dunkle, wir bringen die Trbe zwischen beide, und aus diesen Gegensetzen,mit Hlfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben..." Damitist die Natur der Farbe fr Goethe bestimmt: "Die Farbe (ist) ein elementares Naturphnomen fr denSinn des Auges, das sich ... durch Trennung und Gegensatz, durch Mischung und Vereinigung, durchErhhung und Neutralisation ... und so weiter manifestiert." "Die Farbe ist die gesetzmige Natur inbezug auf den Sinn des Auges." Als Urphnomen - mit ihm sind Hhepunkt und Grenze desTheoretisierens erreicht, von ihm aus lt sich alles berschauen und ordnen - sieht Goethe dieEntstehung des Gelben und Blauen aus der Polaritt von Helligkeit und Dunkelheit durch Vermittlungdes trben Mediums. Hierbei lt er sich leiten durch die in der Malerei viel behandeltenNaturphnomene der - durch die Luftmassen als trbem Medium vermittelten - Blaufrbung fernerBerge und der komplementren Gelb- und Rottnung der untergehenden Sonne. Goethe teilte die Einheit und Mannigfaltigkeit der Farben in physiologische, physische undchemische Farben. Die physiologischen Farben, das "Fundament der ganzen Lehre", sind durch dasAuge selbst bedingt. Bisher als "auerwesentlich, zufllig, als Tuschung und Gebrechen betrachtet",wrden sie nunmehr "als Norm und Richtschnur alles brigen Sichtbaren festgehalten." Diese heute oftsubjektive Farberscheinungen genannten Phnomene als Sinnestuschung zu betrachten schien Goethevllig abwegig; "Gotteslsterung" war sein lakonischer Kommentar hierzu. Denn die Sinne sind frGoethe zuverlssig, sie tuschen uns nicht, und sie sind nicht Widersacher des Verstandes. "Den Sinnenhast du dann zu trauen, kein Falsches lassen sie dich schauen", schrieb er und suchte die Wahrheit dessinnlichen Eindrucks gegen die Wissenschaft zu verteidigen. Goethes wichtigste Beobachtung zu den physiologischen Farben ist, da Farben sich fordern: Blicktman lngere Zeit etwa auf ein blaues Licht, so sieht man, wenn man das Auge abwendet, ein gelblichesNachbild. Entsprechend erscheinen auch alle anderen Farben ebenso wie das Helle und Dunklepaarweise und fordern sich je nach den Umstnden wechselseitig. Hierin zeige sich die Polaritt derFarben. Die Zuordnung von Farben zu Paaren spiegele deren naturgeme Gesetzlichkeiten wider. Einweiterer theoretischer Kernbegriff Goethes kommt hier ins Spiel: die Steigerung als das Prinzip, wonachsich zwei Gegenstze einem Dritten nhern. Vom Urphnomen kommend, sei die hchste Steigerung

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    sowohl des Gelben wie auch des Blauen das Rote, wodurch man in natrlicher Weise zum Farbkreisgelangt. Kommen wir zur Anwendung des dritten theoretischen Begriffes auf die Farben: der Totalitt. DieLebendigkeit der ganzen Netzhaut bringe eine Totalitt hervor, immer sei das gesamte Auge amFarbeindruck beteiligt. Ist ein Teil des Auges von einer Farbe affiziert, so neigt der Rest dazu, die- entsprechend der Polaritt - geforderte Farbe hervorzubringen. Malern und Naturbeobachtern warschon seit dem Altertum der Einflu der Umgebung auf den lokalen Farbeindruck gelufig, undLeonardo da Vinci hatte sich ausfhrlich in seinem Trattato della Pittura damit beschftigt. Besondersdas Farbenspiel der Schatten in der Natur weckte die wissenschaftliche und knstlerische Neugierde. Sonimmt die Behandlung der farbigen Schatten auch in Goethes Farbenlehre eine ganz zentrale Stellungein. Goethes feine Beschreibung beginnt: "Auf einer Harzreise im Winter stieg ich gegen abend vomBrocken herunter...". Abermals gewinnt er seine Beobachtungen in freier Natur, abermals ist erTeilnehmer, nicht unpersnlicher Beobachter. Goethe bemerkte, da bei gelblichem Zwielicht dieSchatten blau wirken, bei rtlichem Zwielicht grnlich. Eine physikalische Erklrung dieses Phnomens,zu der neben Eckermann auch namhafte damalige Physiker neigten, lehnte Goethe entschieden ab: Hierzeige sich die lebendige Kraft des Auges. Fechner war es dann, der in einer Reihe experimenteller Unter-suchungen eindeutig nachwies, da es sich hierbei um ein perzeptuelles, nicht um ein physikalischesPhnomen handelt.

    Versuchsaufbau zur Erzeugung farbiger Schatten.Der in der Abbildung durch einen schwarzen Pfeil markierte Gegenstand wird zugleich durch eine weie Lichtquelle B

    und eine (infolge eines Filters F) rote Lichtquelle A beleuchtet. Der Gegenstand wirft nun in jedem der beiden Lichtkegeleinen Schatten auf einen homogenen neutralen Hintergrund. Auf diesem Hintergrund finden sich also drei Bereiche vonunterschiedlicher Beleuchtung: nur rot beleuchtet, nur wei beleuchtet und mit einer Rot-Wei-Mischung beleuchtet. Ander Stelle B' wird wird der Hintergrund allein durch das weie Licht B beleuchtet, an der Stelle A' nur durch rotes Licht.

    Whrend A' in krftigem Rot erscheint, sieht der Beobachter den Schatten B' jedoch als deutlich grnlich!

    Auch wenn sich bis heute fr dieses Phnomen keine theoretisch befriedigende Erklrung hat findenlassen, lt sich doch pointiert sagen, bei den farbigen Schatten habe Goethe wenn schon nicht gegenNewton, so doch gegen die Newton-Young-Helmholtz-Theorie der Farbwahrnehmung recht behalten. Soweit zentrale Elemente der Farbenlehre, in denen Goethe den Umgang mit den Grundbegriffenseines Theoretisierens am ausfhrlichsten und konsequentesten vor Augen fhrt. Totalitt, Polaritt, undSteigerung, zudem das Urphnomen als Kulminationspunkt der Theorie.

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    Es zeigt sich, in welch natrlicher Weise sich die gesamte Farbenlehre aus Goethes Verstndnis vonWissenschaft und Naturforschung ergibt. So wenig sich sein Zugang zur Natur beim Aufbau eineseinheitlichen naturwissenschaftlichen Weltbildes als erfolgreich erwies, so bleibt er doch eine Form derNaturwissenschaft, freilich, wie auch Bhme (1980) deutlich machte, "eine Alternative auerhalb,- eineAlternative zur neuzeitlichen Naturwissenschaft." Wenn wir heute versucht sind, Goethes physikalischeIrrtmer und sein Wissenschaftsverstndnis zum Gegenstand des milden Spottes dernaturwissenschaftlich Gebildeten zu machen, sollten wir nicht vergessen, da auch erfolgreiche undberhmte Physiker, die Zeitgenossen Goethes waren, etwa Faraday, durchaus vergleichbareWissenschaftsauffassungen vertraten (und da sich zudem Aspekte der holistischen Haltung Goethes inInterpretationen der Quantentheorie und ihrer jngeren Experimente zur sogenannten Nicht-Lokalittwiederfinden; vgl. Bohm & Hiley, 1993). Gustav Theodor Fechner, Physiker und Begrnder derPsychophysik und der experimentellen Psychologie hatte sicherlich die grte Verwandtschaft zuGoethe, doch auch so bedeutende Sinnesphysiologen wie Jan E. Purkyn, Johannes Mller und EwaldHering wurden in ihren Forschungsperspektiven in entscheidender Weise von Goethes Farbenlehrebeeinflut. Auch waren auf physikalischer Seite die Vorstellungen, die Newton ber die Entstehung derFarben hatte, unter den fhrenden Physikern seiner Zeit keineswegs anerkannt. Am bekanntesten ist dieGegnerschaft Hookes, die viel dazu beigetragen hat, da Newton seine bereits 1872 vorgetrageneTheorie erst 1704, kurz vor seinem Tode, zu verffentlichen wagte. Und Voltaire bemerkte zu NewtonsVorgehensweise: "Es scheint, die Physik will nun drollig werden, seitdem es die Komdie nicht mehrist." So singulr und einsam, wie es uns heute scheinen mag, war also Goethes Wissenschaftsverstndnisnicht; jedoch hat er seine berzeugungen am konsequentesten entwickelt und die Abgrenzung zurabstrahierenden Naturwissenschaft am radikalsten vollzogen. Die folgende Gegenberstellung soll dasverdeutlichen:

    GOETHE (1749-1832) NEWTON (1642-1727)

    Ausgangspunkt MalereiTheorie des Kolorits

    FernrohrBeseitigung chromatischer

    Aberration

    Licht Ursprnglich, unmittelbar, einfach zusammengesetzt

    Was ist einfach? weies Licht, Urphnomen monochromatischer Lichtstrahl

    Stellung desMenschen

    Beobachter und beobachtete Natur sinduntrennbar Beobachter steht Natur gegenber

    Erkenntnis Durch Ordnen der Phnomene,Anschauung

    durch Abstraktion undEliminierung des

    Anthropomorphen

    Methode Analogie Analyse und Abstraktion

    Erklrungsbegriffe Polaritt, Steigerung, Totalitt Brechbarkeit, Wellenlnge

    Ziel der Theorie Entdecken von Urphnomenen Entdecken von Naturgesetzen

    Entstehung von Durch Taten und Leiden des Lichtes als Konsequenz der

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    'Farbe' unterschiedlichen Brechbarkeitder im weien Licht enthaltenen

    Lichtstrahlen

    4. Goethes Farbenlehre aus der Perspektive der gegenwrtigen Kognitionsforschung

    Nach diesem Versuch, die Farbenlehre aus dem ihr zugrunde liegenden Weltbild gleichsam von innenheraus zu verstehen, kehren wir zum gewohnten Blick zurck und betrachten Goethes Farbenlehre ausder Perspektive der gegenwrtigen naturwissenschaftlichen Psychologie. Wir projizieren sie gleichsamauf das theoretische Reibrett der Wahrnehmungspsychologie. Die Ganzheit eines alternativenEntwurfes verliert sie dabei, zugleich heben sich jedoch jene Elemente deutlicher hervor, die- transponiert in die moderne Theoriesprache - zu entscheidenden neuen Einsichten gefhrt haben undnoch fhren knnen.

    Die Bedeutung phnomenologischer Analysen fr die Kognitionsforschung

    Ein Aspekt tritt hierbei besonders hervor: Es ist dies Goethes einzigartige Fhigkeit zur phnomeno-logischen Analyse des Wahrgenommenen. Unvoreingenommen und unbefrachtet durch unnatrlicheBegrifflichkeit sind seine Beschreibungen - etwa der farbigen Nachbilder, des Sukzessiv- undSimultankontrastes und der farbigen Schatten - scharfsinnig, von einzigartiger Klarheit und - so kannman fast sagen - vollstndig, was die Phnomenologie betrifft. Hier erweist die von ihm gewhlteNatursprache, seine theoretische Begrifflichkeit in Termini von Polaritt, Steigerung und Totalitt, ihredeutliche berlegenheit ber ihre Konkurrenten.Sein Credo, da jede Theorie der Anschauung verhaftet bleiben msse, lie ihn eine Methode derBeschreibung entwickeln, die sich uns als hchste Form einer phnomenologischen Analyse darstellt.Der Wert dieser Analysen wird durch Goethes irrige Vorstellungen ber die physikalische Natur derSituation berhaupt nicht beeintrchtigt. "Die phnomenologische Analyse, wie z.B. Goethe sie wollte,ist eine Begriffsanalyse und kann der Physik weder beistimmen noch widersprechen", schriebWittgenstein in seinen Bemerkungen ber die Farben. In Goethes Behandlung der physiologischen Farben zeigt sich am deutlichsten, welch reichhaltigenErtrag an wahrnehmungspsychologischen Einsichten Goethes Kunst der unvoreingenommenenphnomenologischen Betrachtung mit sich bringt. Hier, wo das Innen und das Auen besonders engverwoben sind, mute - anders als in der ihren Prinzipien nach als reines 'Auen' konzipierten Physik -die phnomenologische Methode eine besondere Wirkungskraft entfalten. Der Wert der GoetheschenBeobachtungen liegt in der Unbefangenheit und Freiheit von theoretischen Vorurteilen und im genauenFeststellen dessen, von dem Wittgenstein sagt: "Wir knnen es nicht sehen, weil wir es immer vor Augenhaben." (Eine Einsicht, die Goethe vorweggenommen hat in seinem Vers: "Was ist das Schwerste vonallem? Was dir das Leichteste dnket, Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen dir liegt.") Einegetreue phnomenologische Analyse mu nun auch in der Wahrnehmungspsychologie jede abstrakteund mathematische Theoriebildung ber die Funktionsweisen des Wahrnehmungssystems leiten.Versagt man bei der phnomenologischen Analyse, so mu auch jede abstrakte Theorie scheitern. Beider Untersuchung der menschlichen Wahrnehmung stt man auf ein tiefliegendes Problem, das frdiesen Forschungsbereich als geradezu charakteristisch angesehen werden mu und das den Kern desLeib-Seele- oder Bewutseinsproblems ausmacht: die Unterscheidung einer internen und einer externenBeobachtungskategorie, die mit zwei unterschiedlichen Beschreibungsebenen einhergeht. Bei derErforschung der Wahrnehmung knnen wir nmlich - hinsichtlich der Wahrnehmung einer Situation -sowohl einen Innenstandpunkt einnehmen - d.h. beschreiben, mit welcher eigenenWahrnehmungserfahrung diese Situation verbunden ist - und zugleich einen Auenstandpunkteinnehmen - d.h. den Wahrnehmenden so beschreiben, wie er einem ueren Beobachter erscheint (beiallen anderen Objekten der Forschung ist uns nur ein Auenstandpunkt mglich). Im ersten Fall ist

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    beispielsweise das 'Bewutsein' etwas unmittelbar Evidentes, im letzten Fall etwas theoretischErschlossenes, d.h. beide Begriffe fallen logisch zunchst auseinander. Indem man nun die von 'innen' und die von 'auen' gemachten Beobachtungen innerhalb einerwahrnehmungspsychologischen Theorie miteinander in Beziehung gesetzt, stiftet man eine Verbindungder Theorie mit den eigenen Erfahrungen. Wrde man darauf verzichten, verlre die Theorie eine solcheVerankerung und bezge sich nur auf ein 'Konstrukt von auen'. Die Frage nach der Rolle 'internerBeobachtungen', nach der Rolle des Subjektiven fr eine naturwissenschaftliche Theoriebildung in derWahrnehmungspsychologie fhrt uns zum allgemeinen Problem der Beziehung von Innen und Auen,das fr Goethe so zentral war.

    Geist und Natur

    Die Kernfrage der Kognitionsforschung ist, ob und wie sich das Bewutsein innerhalb einernaturwissenschaftlichen Theoriebildung theoretisch erfassen lt (s. z.B. Bieri, 1992). Die Vorstellungen,die wir uns dabei von der Natur geistiger Prozesse machen, werden wiederum durch Analogienbestimmt. Sucht man die Prinzipien des Geistes innerhalb des durch die Physik vorgegebenenTheoriegefges zu verstehen, so liegt es nahe, sich seine Funktionsweise in Analogie zu bereitsBekanntem vorzustellen. Wie das Herz einer Pumpe gleicht und die Niere einem Filter, so gleiche dermenschliche Geist: einem Uhrwerk, einem durch Triebe bestimmten hydrodynamischen System, einemRelaissystem, einem Nachrichtenbermittlungssystem, einem kybernetischen Regelsystem, je nachVerfgbarkeit technischer Analogien. Das in der Natur Vorgefundene erscheint uns verstndlicher, wennwir es mit etwas von uns Erstelltem vergleichen. Doch whrend in der Tat der Vergleich des Herzens miteiner Pumpe den wesentlichen Mechanismus beschreibt, scheint das perzeptuell-kognitive System soeinzigartig zu sein, da uns passendere technische Bilder fehlen. In der Kognitionsforschung wird heutevielfach angenommen, da mit der Verfgbarkeit des Konzepts der Turing-Maschine (als eineridealisierten abstrakten Rechenmaschine, die den Begriff der Berechenbarkeit fr Funktionen aufMengen von diskreten Zeichenreihen przisiert) ein neues Bild fr die Funktionsweise des Geistes bereitsteht (vgl. Mausfeld, 1994). In einem folgenschweren Abstraktionsschritt wurde nun die 'Mechanik desGeistes' nicht mehr materiell, sondern funktional bestimmt: Das perzeptuell-kognitive System wurde alsinformationsverarbeitendes System aufgefat, und man spricht von Inputs, die sich in einer zeitlichenAbfolge von Verarbeitungsschritten durch Operationen der Symbolmanipulation zu jeweiligen Outputstransformieren. So beraus erfolgreich sich dieses Forschungsparadigma auch fr die Analysespezifischer Teilprozesse des perzeptuell-kognitiven Systems erwiesen hat, erscheint es doch zunehmendzweifelhaft, ob es uns einem theoretischen Verstndnis von geistigen Prozessen nherbringen kann (z.B.Bringsjord, 1992). Da zudem die Prozesse des Wahrnehmens, Lernens, Denkens selbst fast vollstndigunbewut verlaufen, wird durch eine solche Auffassung das Problem des phnomenalen Bewutseinsberhaupt nicht berhrt. Warum entstand in der Entwicklungsgeschichte neben den hochkomplexenautomatischen Prozessen biologischer Informationsverarbeitung, die durchaus fr eine biologischzweckmige adaptive Kopplung des Organismus an seine Umwelt ausreichen knnen, so etwas wie einBewutsein, das auf der Grundlage der Sprache gleichsam einen inneren 'Raum' konstruiert, in demVorstellungen ber Aspekte der physikalischen Welt, ber eigenes Verhaltens, ber das Ich selbst undber das Bewutsein anderer die Vielzahl komplexer, unbewuter Denk- und Wahrnehmungsprozessezu steuern helfen und dort, wo automatische Prozesse in neuartigen Situationen kein angemessenesVerhalten ermglichen, gleichsam durch eine interne Simulation der Situation Entscheidungenoptimieren? Mit dieser Frage ist das Bewutsein selbst zu einem Gegenstand desnaturwissenschaftlichen Forschungsinteresses geworden; gleichsam nach auen verlagert, wird es zueinem ganz gewhnlichen Forschungsgegenstand (z.B. Hameroff, 1994), der sich nur dadurch vonanderen unterscheidet, da sein Verstndnis dadurch erschwert (oder gar verhindert) wird, da wir in derWelt nichts finden knnen, das ihm gleicht.

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    Die Spaltung der Welt in ein Innen und Auen, in Physik und Beobachter, die uns so vieletheoretische Schwierigkeiten bereitet, hat Goethe niemals vollzogen. Der fr die Elimination desAnthropomorphen aus der Physik zu entrichtende Preis war eine Abspaltung des Bewutseins ausunserem theoretischen Bild von der Natur. Fr Goethe hingegen sind Beobachter und Natur nichttrennbar, seine Vorstellungen grnden sich auf "die ewige Wahrheit, da wir uns in der Welt spiegelnund die Welt sich in uns." Innen und Auen stehen in einem komplementren Verhltnis: "Msset imNaturbetrachten immer eins wie alles achten, nichts ist drinnen, nichts ist drauen, denn was innen, dasist auen." Nirgendwo sei dies deutlicher zu erkennen als beim Auge. "Die Totalitt des Inneren und desueren wird durchs Auge vollendet." Da nur Gleiches von Gleichem erkannt werde, "ruft sich dasLicht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte frs Licht,damit das innere Licht dem ueren entgegentrete."

    Wr' nicht das Auge sonnenhaft,Wie knnten wir das Licht erblicken?

    Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,Wie knnt' uns Gttliches entzcken?

    Im Bereich der Farberscheinungen, in dem die objektive Welt der Physik und die subjektive vonWahrnehmungseindrcken besonders eng verwoben sind, lt sich dies am ehesten erkennen: "Es istnichts auer uns, was nicht zugleich in uns wre, und wie die uere Welt ihre Farben hat, so hat sie auchdas Auge." (1.2.1827) In seinen Betrachtungen zum Innen und Auen erahnt Goethe sehr richtig dieGrenzen der naturwissenschaftlichen Methode, mit denen wir in der Kognitionsforschung durch dasBewutseinsproblem konfrontiert sind. Auch wenn durch die Entwicklung der Physik das letzte Wortgegen Goethes Prinzipien der Naturerkenntnis gesprochen zu sein scheint, enthalten diese doch einenKeim, der sich fr unser Verstndnis von Bewutseinsphnomenen innerhalb einernaturwissenschaftlichen Weltsicht fruchtbar machen zu lassen verspricht. Da seine Auffassungen engeBezge zu einem - ins Sinnliche und Ttig-Schpferische gewendeten - Spinozismus aufweisen, ist vonihm selbst hervorgehoben worden.

    Goethes Einsicht in Prinzipien der perzeptuellen Codierung von Farben

    Zwei Beispiele aus Goethes Farbenlehre mchte ich heranziehen, um zu zeigen, da Goethes Einsichtenentweder als Heuristiken in der naturwissenschaftlichen Tradition der Wahrnehmungspsychologiebereits fruchtbar gemacht wurden oder aber da sie sich in Goethes Wissenschaftskonzeptionunmittelbar und leicht gewinnen lassen, whrend sie im modernen Paradigma nur mhsam zu gewinnensind. Das erste Beispiel bezieht sich auf Goethes Beobachtung, da sich Farben gegenseitig fordern undpaarweise wechselseitig bedingen, da beispielsweise im sukzessiven oder simultanen Kontraste ein Rotein Grn hervorbringe und ein Gelb ein Blau. Der groe Neurophysiologe und Wahrnehmungs-psychologe Ewald Hering knpfte Ende des vergangenen Jahrhunderts ausdrcklich an dieseBeobachtung Goethes an und baute auf der Polaritt - nun freilich als Metapher verstanden - eineneurophysiologische Theorie der Gegenfarben auf. Hering vertraute der phnomenologischen MethodeGoethes und nahm an, da etwas so Gesetzhaftes wie die Polaritt auch ein Korrelat in derneurophysiologischen Codierung der Farbe haben msse. Helmholtz, der sich der Farbwahrnehmungganz in den Newtonschen Termini von Wellenlnge und Lichtintensitt nherte, lehnte hingegen solcheBeobachtungen als irrelevant ab; so kam es in der die Wahrnehmungspsychologie des vergangenenJahrhunderts bestimmenden Kontroverse zwischen Hering und Helmholtz gleichsam zu einerNeuauflage der Kontroverse Goethe-Newton. Heute wissen wir, da Hering mit der Annahme einesneurophysiologischen Korrelats der Polaritt ebenso recht gehabt hat wie Helmholtz mit seiner physi-kalistischen Analyse. Denn auf der Ebene der Primrrezeptoren, der drei Zapfentypen im Auge, hngt

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    die neurale Codierung tatschlich nur von Wellenlnge und Intensitt des auf die Rezeptoren treffendenLichtes ab, doch sind auf einer hheren Ebene diese Rezeptoren so verschaltet, da es zu einerCodierung in Form von Gegenfarben kommt. Hier finden wir drei unabhngige neurale Kanle: einenRot-Grn-Kanal, einen Blau-Gelb-Kanal und einen Schwarz-Wei-Kanal. Phnomene wie etwa derSimultankontrast knnen erst mit dieser Ebene der neuralen Codierung in Beziehung gesetzt werden.Dies ist nur ein Beispiel aus der Wahrnehmungspsychologie, das zeigt, da die Intuition einer PolarittEingang in unser theoretisches Verstndnis von Wahrnehmungsprozessen gefunden hat. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Totalitt. Der Newton-Young-Helmholtz-Theorie desFarbensehen zufolge hngt der Farbeindruck von der Wellenlngenzusammensetzung des Lichtes ab,das lokal auf eine Stelle der Netzhaut trifft. Diese Theorie ist bis heute die einzige ausgearbeitete undanerkannte Theorie des Farbensehens. Sie ist experimentell gut besttigt, neurophysiologischuntermauert und stellt die Grundlage der Farbmetrik bereit, wie sie bei der industriellen Farbbestimmungverwendet wird. Sie ist jedoch nur fr eine extrem reduzierte Sehsituation gltig, nmlich fr dieBeobachtung sehr kleiner Lichtreize in einem ansonsten dunklen Gesichtsfeld. So produziert sie ihreeigenen Anomalien, sobald man sie auf komplexere Sehsituationen anzuwenden sucht. Denn hier hngt,wie einfache Alltagsbeobachtungen zeigen, der Farbeindruck keineswegs von der Wellenlnge des zumAuge kommenden Lichtes ab. Dies zeigt uns besonders das Phnomen der sog. Farbkonstanz: Farbenknnen sich zwar mit einem Wechsel der Beleuchtung ndern. Dennoch ist die wahrgenommenenderung gering verglichen mit der oftmals drastischen physikalischen nderung in derZusammensetzung des Lichtes, die durch einen Wechsel der Beleuchtung verursacht wird. DiesesPhnomen - da sich nmlich ber einen weiten Bereich von Beleuchtungsnderungen der Farbeindrucknicht ndert, d.h. die Farbe von Objekten als weitgehend konstant erscheint - wird als Farbkonstanzbezeichnet. Wodurch vermag nun das visuelle System eine solche Konstanzleistung zu erbringen?Betrachten wir zunchst rein physikalisch, was bei einer Beleuchtungsnderung mit dem Licht geschieht,das von einem Objekt zum Auge gelangt: Im Falle eines beleuchteten Objektes hngt die Zusammen-setzung dieses Lichtes sowohl von der spektralen Zusammensetzung der Beleuchtung als auch von derspektralen Remissionscharakteristik des Objektes ab (sie ergibt sich gleichsam als Produkt beider).ndert sich die Farbigkeit der Beleuchtung, so ndert sich folglich auch die spektrale Zusammensetzungdes zum Auge kommenden Lichtes (ein Farbdia, mit einem Tageslichtfilm unter Kunstlichtaufgenommen, fhrt das Ausma der physikalischen nderung vor Augen). Das Phnomen derFarbkonstanz zeigt also, da der Farbeindruck nicht ausschlielich durch dieWellenlngenzusammensetzung des zum Auge kommenden Lichtes bestimmt wird, sondern vielmehrauf einer globalen 'Verrechnung' der gesamten Szene beruht. Welche komplexen physikalischenCharakteristika der Szene (z.B. Helligkeitsgradienten, Verhltnisse an Objektkanten, Glanzlichter,Schatten) jedoch in welcher Weise zu dieser Leistung beitragen, ist noch weitgehend unbekannt. Damitstellt sich die Aufgabe, relevante physikalische Charakteristika experimentell zu identifizieren undphysikalisch-geometrisch zu beschreiben, Theorievorstellungen ber die internen Verarbeitungsschrittezu entwickeln, durch die das Wahrnehmungssystem auf der Grundlage dieser Charakteristika diejeweilige Leistung er bringt. Eine solche Perspektive wird gnzlich andere Reizsituationen heranziehenund andere experimentelle Paradigmen verwenden als eine an den Ausgangsfragen der Young-Helmholtz-Theorie interessierte Perspektive. Die Sinne sind eben nicht, wie die HelmholtzschePerspektive dies nahelegt, gleichsam sensorische Meinstrumente, die Punkt-fr-Punkt und gleichsamatomistisch den lokal auf die Rezeptoren treffenden sensorischen Input auswerten und sodann das Gehirndarber unterrichten. Heute wissen wir, da dieses theoretische Bild, so sehr es auch bis in jngere Zeitunsere Vorstellungen ber Wahrnehmungsprozesse bestimmt hat, unangemessen und falsch ist. Es istnmlich das gesamte perzeptuell-kognitive System, das aktiv und global auf der Basis seinesphylogenetisch und ontogenetisch erworbenen 'Vorwissens' ber die physikalische Welt denWahrnehmungseindruck konstituiert. Der lokale Sinnesreiz ist dabei nicht mehr als eine ArtStichwortgeber, der fr ein wesentlich durch interne Strukturen bestimmtes komplexes Geschehen einestabile Anbindung an die biologisch relevante physikalische Umwelt garantiert. So kann auch eine

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    Erklrung der Farbwahrnehmung nicht allein auf der Grundlage des jeweiligen physikalischen Inputserfolgen, sondern sie setzt ein Verstndnis des komplexen Zusammenspiels unserer perzeptuellenOrganisation und physikalischer Regularitten unserer Umgebung voraus (vgl. Shepard, 1992). Goethe hat dieses Wechselverhltnis von Innen und Auen ebenso wie den globalen Charakter derWahrnehmung frher als jeder andere erfat. Er spricht von der "eine Totalitt hervorbringendenLebendigkeit der ganzen Netzhaut." Der Farbeindruck ist niemals etwas Lokales, sondern wird von dergesamten Netzhaut hervorgebracht. Eine solche Betrachtungsweise mute beispielsweise Helmholtz, derphysikalistisch dachte, beraus fremd erscheinen. Doch wie konnte er dann die Phnomene der farbigenSchatten erklren? Hier versagte die Newton-Young-Helmholtz-Theorie und mute Zuflucht zumPostulat unbekannter kognitiven Prozesse nehmen, durch die hier die Wahrnehmung beeinflut werde.Ganz anders Fechner, der in seinen Untersuchungen der farbigen Schatten an Goethe anknpfte: "DieFarben durch den Contrast lehren offenbar, da der Eindruck, den eine Stelle der Netzhaut empfngt, aufeine gewisse Weise mit reagirt auf die anderen Stellen der Netzhaut, und zwar wird, wenn auch nur einsehr begrnzter Theil der Netzhaut direct getroffen wird, der ganze brige Theil der Netzhaut dadurch inMitleidenschaft gezogen.." Auch bei Ernst Mach finden wir eine hnliche Auffassung. Die Erklrung freilich, wie sich die Beziehung zwischen dem Auen des sensorischen Inputs und demInnen unserer Wahrnehmungsleistungen und Wahrnehmungserfahrungen theoretisch fassen lt, wiealso unser perzeptuell-kognitives System Wahrnehmungen erzeugt, wird nicht in den Begriffen derschpferischen Naturlehre Goethes vollzogen werden knnen, sondern allein auf den durch dasnaturwissenschaftliche Denken vorgegebenen Pfaden. Seine tiefen Einsichten in die Prinzipien derWahrnehmung werden sich nur in dem Mae fr unser heutiges naturwissenschaftliches Denkenfruchtbar machen lassen, wie es gelingt, sie in dieses zu transponieren. Goethe indes wrde eine solcheMetamorphose als eine Verkehrung seines heiligsten Anliegens erlebt haben. So sehr ihm bewut war,da jedes Sehen bereits Abstraktion ist und da sich auch im Bereich des Abstrakten eine Anschauungausbilden mu, damit man in den Phnomenen das auf etwas Allgemeineres Weisende zu entdeckenvermag, so drfe doch diese Abstraktion, diese Anschauung der Ideen, fr die jeder Knstler undWissenschaftler sich auszubilden habe, ihre Verankerung im Sinnlichen nicht verlieren. Kurz: jedeNaturwissenschaft msse unabhngig von der Mathematik existieren und besonders die Farbenlehregehre nicht "vor den Gerichtsstuhl des Mathematikers gezogen." Goethes auf die sinnlicheNaturanschauung gerichtetes Denken ganz und gar zuwider waren Abstraktionen der Art, wie siebeispielsweise in Spinozas axiomatischer Methode verkrpert waren. In den Proze der Systematisierungder Physik jedoch fand Spinozas Methode in zunehmendem Mae Eingang. Da nun dieFarberscheinungen nicht allein dem Bereich der Physik angehren, kam es ganz unerwartet undberraschend, da sich ausgerechnet fr sie ein Vorgehen more geometrico als so fruchtbar erwies: DerMathematiker Hermann Grassmann, der das Konzept des Vektorraumes entwickelte, legte 1853 seineaxiomatische Formulierung der Young-Helmholtz-Theorie der Farbwahrnehmung vor. Sie zeigt, dahinter dem, was wir als Gesetze der additiven Farbmischung kennen, eine mathematische Strukturplatonischer Schnheit erkennbar wird. Fr die Neurophysiologie bildete dies eine wichtige Heuristik frdie Untersuchung der primren Farbcodierung in den Rezeptoren, die zu dem Befund gefhrt hat, dadiese mathematische Struktur gleichsam in den Rezeptoren verkrpert ist. In den 20er Jahren hat dannder Physiker Erwin Schrdiger aufbauend auf Grassmanns Arbeit gezeigt, da die HelmholtzscheDreikomponententheorie der Farbwahrnehmung und die Heringsche Gegenfarbentheorie sich in einemeinheitlichen mathematischen Gebude vereinen lassen. Bis heute ist diese mathematische TheorieGrundlage jeder wahrnehmungspsychologischen Theorie der perzeptuellen Farbcodierung; auch derVersuch, den globalen Charakter der Farbwahrnehmung theoretisch zu erfassen, mu auf dieserGrundlage aufbauen (Mausfeld & Niedere, 1993). Wenn denn das Buch der Natur in mathematischenLettern geschrieben ist, so wird man in dem Mae, wie man bereit ist, Goethes Prinzip einer "Totalittdes Innern und uern" anzuerkennen und ihm in der empedokleischen Auffassung zu folgen, daGleiches stets nur durch Gleiches erkannt werde, auch annehmen mssen, da auch die Geheimnisse desmenschlichen Geistes in mathematischen Lettern geschrieben sind. Philosophisch nchterner bringt ein

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    bedeutender Hirnforscher diese berzeugung so zum Ausdruck: "We are convinced that ultimately asatisfactory explanation of thought and behaviour will be given in a language akin to that of physics, i.e.in mathematical terms." (Braitenberg, 1992). Freilich drckt dies nur eine pythagoreische Hoffnung fr eine ferne Zukunft aus. Einstweilen wirddie Psychologie weiterhin durch ein Ringen um eine phnomenangemessene Theoriesprachegekennzeichnet sein. Der Erfolg der Kognitionsforschung, welche die Prinzipien der Funktionsweisendes menschlichen Geistes zu entschlsseln sich zur Aufgabe macht, wird wesentlich davon abhngen, inwelchem Mae es ihr gelingt, dem das Bewutseinsproblem konstituierenden Spannungsverhltniszwischen einer 'Beschreibung von auen' und einer 'Beschreibung von innen' gerecht zu werden, und,wie Hermann Schmitz (1994) es formulierte, "die Arbeit in den Bergwerken der Phnomenologie undden Hochbauten der Naturwissenschaft" gemeinsam voranzutreiben.

    Literatur

    Bieri, P. (1992). Was macht Bewutsein zu einem Rtsel? Spektrum der Wissenschaften, 48-56.

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    Bringsjord, S. (1992). What Robots can and can't be. Boston: Kluwer

    Eissler, K.R. (1963) Goethe. A psychoanalytic study, 1775-1786. Detroit: Wayne State University Press.Schne, A. (1987). Goethes Farbentheologie. Mnchen: Beck.

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    Mausfeld, R. (1994). Methodologische Grundlagen und Probleme der Psychophysik. In Th.Herrmann &W.Tack (Hrsg.) Methodische Grundlagen der Psychologie (p.137-198). Enzyklopdie der Psychologie,Bereich B, Serie I, Bd.1, Gttingen: Hogrefe.

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    Schadewald, W. (1962). Goethestudien. Zrich: Artemis

    Schmitz, H. (1994). Goethes Farbenlehre im Lichte der Neuen Phnomenologie. Manuscript. Christian-Albrechts-Universitt Kiel.

    Shepard, R. (1992). The Perceptual Organization of Colors: An Adaptation to Regularities of theTerrestrial World? In J.H. Barkow, L. Cosmides, & J. Tooby (Eds.), The Adapted Mind. EvolutionaryPsychology and the Generation of Culture. Oxford: Oxford University Press.

    Thompson, E. (1995). Colour Vision. A Study in Cognitive Science and the Philosophy of Perception.London: Routledge.

    Weizcker, C.F. v. (1957). ber einige Begriffe aus der Naturwissenschaft Goethes. In E.Boehringer &W. Hoffmann (Hrsg.) Robert Boehringer. Eine Freundesgabe (p.697-711). Tbingen: Mohr.Weizcker, C.F. v. (1961). Geleitwort zu: E. Heimendahl, Licht und Farbe. Berlin: Gruyter.

    Young, Th. (1814). Zur Farbenlehre. On the Doctrine of Colours. By Goethe. ... (Review). EdingburghQuarterly Review, 10, 427-441.