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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2015 Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen Methoden- und Argumentationslehre § 4 Alteuropäisches Erbe und neuzeitliche Vermächtnisse der Rechtsphilosophie I. Terminologie 1. Alteuropäisches Erbe 2. Neuzeitliche Vermächtnisse II. Alteuropäisches Erbe 1. Das griechische Erbe a) Die Philosophie b) Die Demokratie 2. Das römische Erbe a) Die Jurisprudenz b) Die Republik 3. Das christliche Erbe a) Staatskirchenrecht b) Naturrechtslehren III. Neuzeitliche Vermächtnisse 1. Privatautonomie a) Grundprinzip des Zivilrechts b) Herkunft aus dem ökonomischen Liberalismus 2. Gesetzlichkeitsprinzip a) Grundprinzip des Strafrechts b) Herkunft aus dem Republikanismus der Aufklärung 3. Menschenwürde a) Konstitutionsprinzip der Grundrechte b) Herkunft aus dem Humanismus der italienischen Renaissance c) Verhältnis zum Konstitutionsprinzip der Republik

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2015

Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen Methoden- und Argumentationslehre

§ 4 Alteuropäisches Erbe und neuzeitliche Vermächtnisse

der Rechtsphilosophie I. Terminologie

1. Alteuropäisches Erbe

2. Neuzeitliche Vermächtnisse II. Alteuropäisches Erbe

1. Das griechische Erbe a) Die Philosophie b) Die Demokratie

2. Das römische Erbe

a) Die Jurisprudenz b) Die Republik

3. Das christliche Erbe

a) Staatskirchenrecht b) Naturrechtslehren

III. Neuzeitliche Vermächtnisse

1. Privatautonomie a) Grundprinzip des Zivilrechts b) Herkunft aus dem ökonomischen Liberalismus

2. Gesetzlichkeitsprinzip

a) Grundprinzip des Strafrechts b) Herkunft aus dem Republikanismus der Aufklärung

3. Menschenwürde

a) Konstitutionsprinzip der Grundrechte b) Herkunft aus dem Humanismus der italienischen Renaissance c) Verhältnis zum Konstitutionsprinzip der Republik

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Professor Dr. Rolf Gröschner Sommersemester 2015

Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Juristischen Methoden- und Argumentationslehre

Texte zu § 4

Zur griechischen Philosophie

Aus europäischer Sicht hat die Philosophie ihre Wurzeln im antiken Griechenland. Mehr noch als für die Naturphilosophie gilt dies für die Rechts- und Staatsphilosophie. Sie beginnt mit den Sophisten und ihrer sprichwörtlich „sophistischen“ Rhetorik (der Redekunst, deren degenerierte Form bloßer Überredungstechnik nicht „Sophistik“, sondern – mit Schopen-hauer – „Eristik“ genannt werden sollte), findet in Sokrates als der ewigen Figur des kriti-schen Fragestellers ihr Vorbild und in seinem Meisterschüler Platon sowie dessen meisterli-chem Schüler und Kritiker Aristoteles ihre Hauptvertreter. Während die Letztgenannten mit ihren Dialogen und Traktaten Texte hinterlassen haben, von deren philosophischer Substanz wir noch heute zehren (dazu § 5), ist Sokrates (von dem es nicht einen einzigen Originaltext gibt) durch sein Leben und – so paradox es klingen mag – durch seinen Tod unsterblich ge-worden: als weltgeschichtliche Persönlichkeit, nicht nur als Stammvater der europäischen Philosophie. Er starb siebzigjährig im Jahre 399 v. Chr., in einem aufsehenerregenden Straf-verfahren zum Tode verurteilt, weil er die Jugend verdorben und die Götter Athens verun-glimpft habe. Da er zu diesen „Taten“ stand, verzichtete Sokrates nicht nur auf die übliche Verteidigungsstrategie vor Gericht, sondern auch auf die angebotene Flucht aus dem Ge-fängnis und trank gelassen das Gift des Schierlingsbechers. Diese Gelassenheit im Angesicht des Todes erklärt sich aus dem berühmten Wissen um das Nichtwissen, dessen richtiges Verständnis im Zentrum aller Erinnerungen an Sokrates als den Urtypus des dialogisch Philosophierenden stehen sollte. Einem verbreiteten Fehlzitat zum Trotz ist nirgends überliefert, Sokrates habe gesagt, er „wisse“, „nichts zu wissen“ (in richtigem Latein, aber mit unrichtigem Inhalt: „scio me nescire“). Einen solchen Widerspruch zwischen der Behauptung, etwas und doch nichts zu wissen, hätten weder Sokrates münd-lich noch sein philosophischer Hauptzeuge Platon schriftlich artikuliert. In Platons „Apolo-gie“ (der literarisch gestalteten Verteidigungsrede des Sokrates) heißt es deshalb: Etwas, das ich nicht weiß, glaube ich auch nicht zu wissen (21 d). Warum also sollte er, der sich nicht anmaßte zu wissen, ob es ein Jenseits gibt und was ihn gegebenenfalls dort erwartet, Angst vor dem Tode gehabt haben? Und warum sollte er permanent Dialoge über das Gelingen des diesseitigen Lebens geführt haben, die allesamt ohne abschließende Antwort geblieben sind, wenn er insoweit ein monologisches Wissen für sich in Anspruch genommen hätte? Am En-de der Vorlesung wird deutlich geworden sein, was diese dialogische Grundhaltung für den philosophisch richtigen Umgang mit Recht und Staat bedeutet.

Zur römischen Jurisprudenz

Philosophie und Demokratie sind das griechische, Jurisprudenz und Republik das römische Erbe Europas. Am Anfang der römischen Republik (509 v. Chr.) steht die Vertreibung der etruskischen Könige, am Beginn der römischen Jurisprudenz das Zwölftafelgesetz (450 v. Chr.). Benannt ist es nach den Tafeln, auf denen es aufgezeichnet und vor der Rednerbühne des Forum Romanum öffentlich aufgestellt war, damit es „ganz leicht zur Kenntnis genom-men werden“ konnte (D.1.1.2). Anders als die Griechen, die ihr gesamtes Recht den Laien anvertrauten, haben die Römer einen eigenen Juristenstand, eine spezifische Kunst professi-oneller Rechts- und Gerechtigkeitspflege und eine selbstbewußte Wissenschaft vom Recht

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hervorgebracht: die „iuris prudentia“ (die mit „Rechtsklugheit“ genauer getroffen wäre als mit „Rechtswissenschaft“). Zwar waren die Richter weiterhin Laien, die Zivilprozesse wur-den aber durch einen eigenen Beamten, den Prätor, vorbereitet. Unter seiner Führung und aufgrund seiner amtlichen Autorität hatten die streitenden Parteien sich auf eine „formula“ zu einigen, die den rechtlichen Rahmen für die anschließende Verhandlung vorgab – daher der Name „Formularprozeß“. Nach heutigen Maßstäben entschied der Prätor über die Zulässigkeit der Klage, das zustän-dige Gericht und die statthafte Klageart und damit über die prozessualen Essentialia, für die er professioneller juristischer Kompetenz bedurfte, während die beweiswürdigende Aufar-beitung der Tatsachen den Laienrichtern überlassen wurde. Die Grundsätze, nach denen der Prätor Klagen in seinem jeweiligen Amtsjahr zulassen wollte, wurden in einem Edikt ver-kündet, das von seinen Nachfolgern übernommen wurde. Die prätorischen Edikte enthielten so eine Sammlung des tatsächlich geltenden, praktisch angewandten Rechts. Beraten wurden die Prätoren von den „iuris consulti“, den Rechtsgelehrten, die insbesondere als „Respon-dierjuristen“ wissenschaftlich begründete Antworten (responsa) auf Anfragen erteilten. „Es war für die Entwicklung des römischen Rechts nun von großer Bedeutung, daß sich stets genügend Nobiles als Rechtsberater fanden; doch war der gelehrte Nachwuchs vor allem dadurch gesichert, daß die Tätigkeit des Rechtsgelehrten als standesgemäß galt“ (Jochen Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, S. 145). Die von jeder Juristengeneration zu wiederholende Rezeption (Aneignung) des römischen Rechts, die mit der Wiederentde-ckung der Kodifikation Justinians im 11./12. Jahrhundert begann, und mit ihr die Pflege der über Jahrhunderte einheitlichen europäischen Gelehrtensprache könnte noch immer als standesgemäß gelten, wenn man in Schulen und Universitäten nicht alles nach unten nivel-liert und das Latinum als Voraussetzung des Jurastudiums nicht abgeschafft hätte.

Zur Menschenwürde

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Nicht erst die feierliche Formulierung bringt die Besonderheit dieses Satzes zum Ausdruck, sondern schon seine Stellung als Eingangssatz des Grundgesetzes. Die Eigenschaft, der erste Satz der Verfassung zu sein, hebt ihn aus der Masse der Normsätze unserer Rechtsordnung heraus. Seine Singularität spricht für die Ex-klusivität seines Sinnes oder kurz: für seinen Eigen-Sinn. Nach Theodor Heuss, dem späteren ersten Bundespräsidenten, formuliert Art. 1 I 1 GG eine „nicht interpretierte These“. Eine „These“ ist eine Setzung, die eine Behauptung aufstellt, sie aber selbst nicht begründet. Mit Pico della Mirandola (1463-1494) kann man noch heute sagen, der Mensch sei „plastes et fictor“ – schöpferischer Gestalter – seiner selbst, pointiert: er verfüge über „Entwurfsvermö-gen“ (zum ideengeschichtlichen Hintergrund: Band 1 der Reihe POLITIKA, hrsg. von Rolf Gröschner und Oliver Lembcke: Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Huma-nismus der italienischen Renaissance, 2008, insbes. S. 159 ff. und S. 215 ff.). Da dieses „Ver-mögen“ thetisch oder quasi-axiomatisch vorausgesetzt (unterstellt) wird, und eine reine (de-finitorisch zugesprochene) Potentialität zum Ausdruck bringt, ist es in der Tat „unantast-bar“. Als „Konstitutionsprinzip“ (BVerfG) fundiert es die Menschenrechte (Art. 1 II GG), die als Grundrechte alle staatliche Gewalt binden (Art. 1 III GG). In liberal-rechtsstaatlicher Tra-dition sind Grundrechte zwar unstreitig Abwehrrechte gegen den Staat, ebenso unstreitig sind sie in demokratisch-republikanischer Funktion aber auch politische Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte. Ernsthaft freiheitsphilosophisch konzipiert, haben die Freiheitsgrund-rechte daher sowohl limitierende als auch legitimierende Funktion. Sie bilden den Grund und die Grenze der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes. Deren tragende Prinzipien oder Konstitutionsprinzipien sind Menschenwürde und Republik: das Republikprinzip kon-stituiert die Freiheit aller, das Menschenwürdeprinzip die Freiheit aller Einzelnen (Rolf Gröschner/Oliver Lembcke, Ethik und Recht, in: Nikolaus Knoepffler u.a., Einführung in die Angewandte Ethik, 2006, S. 60).