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Hämozentrismus und mimetische Rivalität (Rosenzweig/Jünger. Heideggers Schweigen) von Markus Semm

Hämozentrismus und mimetische Rivalität (Rosenzweig/Jünger. Heideggers Schweigen) - Hemocentrism and mimetic rivalry

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Vor einem Jahr erschien die deutsche Übersetzung des umfangreichen heideggerkritischen Werks von Emmanuel Faye. Sorgfältiger gearbeitet als jenes von V. Farias bringt es z.T. neue und unbekannte Dokumente und Abschriften zum Vorschein und stellt Heideggers Engagement für das deutsche Volk in einen zeitgeschichtlichen Horizont. Sein Untertitel 'Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie' ist eine Provokation. Dass Fayes Haltung gegenüber Heideggers Denken von einer grundsätzlichen Ambivalenz bestimmt wird, zeigt sich daran, dass er einerseits sich entrüstet über die weltweite Verbreitung 'nationalsozialistischer' Schriften durch die Gesamtausgabe, er aber andererseits die Nichtveröffentlichung bestimmter – besonders in Verdacht stehender – Seminare tadelt. Zudem ist sein hermeneutisches Interesse begrenzt. Unschwer lässt sich dies an jenen Stellen zeigen, wo er kurz auf die von Heidegger gebrauchten Wendungen von der 'Stimme des Blutes' oder vom 'Strömen des Blutes' hinweist. Seine Grundabsicht, Heidegger einen 'Rassendiskurs' zu unterstellen, würde an einer Kontextualisierung dieser Wendungen scheitern. Eine solche erfordert eine grundsätzlich tiefer ansetzende Hermeneutik des Heideggerschen Oeuvres. Dazu dient der erste Teil des vorliegenden Essays. Durch die Gegenüberstellung von Texten Rosenzweigs und Jüngers, eines jüdischen Denkers und eines deutschen politischen Schriftstellers, soll die hämozentrische Grunddisposition der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erwiesen werden. Der Verfasser greift dazu auf die mimetische Theorie René Girards zurück, dessen Grundbegriffe er allerdings frei zur Anwendung bringt. Erst vor dem Hintergrund der mimetisch rivalisierenden Diskurse Rosenzweigs und Jüngers zu Geschlecht und Reich lassen sich die oben erwähnten Wendungen Heideggers zureichend deuten. Die Nacht wird dann allerdings tiefer als der Tag gedacht.

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Page 1: Hämozentrismus und mimetische Rivalität (Rosenzweig/Jünger. Heideggers Schweigen) - Hemocentrism and mimetic rivalry

Hämozentrismus und mimetische Rivalität (Rosenzweig/Jünger. Heideggers Schweigen)

vonMarkus Semm

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Vorbemerkung

Vor einem Jahr erschien die deutsche Übersetzung des umfangreichen heideggerkritischen Werks von Emmanuel Faye. Sorgfältiger gearbeitet als jenes von V. Farias bringt es z.T. neue und unbekannte Dokumente und Abschriften zum Vorschein und stellt Heideggers Engagement für das deutsche Volk in einen zeitgeschichtlichen Horizont. Sein Untertitel 'Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie' ist eine Provokation. Dass Fayes Haltung gegenüber Heideggers Denken von einer grundsätzlichen Ambivalenz bestimmt wird, zeigt sich daran, dass er einerseits sich entrüstet über die weltweite Verbreitung 'nationalsozialistischer' Schriften durch die Gesamtausgabe, er aber andererseits die Nichtveröffentlichung bestimmter – besonders in Verdacht stehender – Seminare tadelt. Zudem ist sein hermeneutisches Interesse begrenzt. Unschwer lässt sich dies an jenen Stellen zeigen, wo er kurz auf die von Heidegger gebrauchten Wendungen von der 'Stimme des Blutes' oder vom 'Strömen des Blutes' hinweist. Seine Grundabsicht, Heidegger einen 'Rassendiskurs' zu unterstellen, würde an einer Kontextualisierung dieser Wendungen scheitern. Eine solche erfordert eine grundsätzlich tiefer ansetzende Hermeneutik des Heideggerschen Oeuvres. Dazu dient der erste Teil des vorliegenden Essays. Durch die Gegenüberstellung von Texten Rosenzweigs und Jüngers, eines jüdischen Denkers und eines deutschen politischen Schriftstellers, soll die hämozentrische Grunddisposition der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erwiesen werden. Der Verfasser greift dazu auf die mimetische Theorie René Girards zurück, dessen Grundbegriffe er allerdings frei zur Anwendung bringt. Erst vor dem Hintergrund der mimetisch rivalisierenden Diskurse Rosenzweigs und Jüngers zu Geschlecht und Reich lassen sich die oben erwähnten Wendungen Heideggers zureichend deuten. Die Nacht wird dann allerdings tiefer als der Tag gedacht.

Rheinau, im Februar 2010

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Inhalt

I. Hämozentrisums und mimetische Rivalität

Einleitung

A. Franz RosenzweigB. Ernst Jünger

Übergang

II. Martin Heidegger

Schluss

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I. Hämozentrismus und mimetische Rivalität

Einleitung

Dem weit verbreiteten Buch Victor Klemperers 'LTI, Notizbuch eines Philologen'1 ist ein Motto vorangestellt. Es lautet:

„Sprache ist mehr als BlutFranz Rosenzweig“

Eine genauere Quellen- und Datumsangabe zum Spruch fehlt. Wer an der Aussage Rosenzweigs und ihrem Kontext interessiert ist, wird auf eine lange Reise geschickt. Schliesslich wird er fündig. Rosenzweig schreibt kurz vor seinem Tod im Dezember 1929 – am 6. Oktober – folgenden Brief an seine Mutter:

„Liebe Mutter, über N.N.'s Wort wundre ich mich. Mein Deutschtum wäre doch genau was es ist, auch wenn es kein Deutsches Reich mehr gäbe...Sprache ist doch mehr als »Blut«...“2

Der Brief ist nicht vollständig abgedruckt. Die Auslassungszeichen stammen von den Herausgebern. Immerhin wird klar, dass der Leitspruch von Klemperers Buch nicht in der statischen Apodiktizität von Rosenzweig geäussert wurde, in der er dann erscheint: Das Wort 'doch' wird ebenso weggelassen wie die Anführungszeichen bei »Blut«. Ausserdem erhellt der Zusammenhang, dass die Aussage auf das Deutschtum Rosenzweigs bezug nimmt; indem er deutsch schreibt – versichert sich der Jude Rosenzweig – ist die Sprache doch mehr als »Blut«.

Im Kapitel 'Zion' nimmt Klemperer bezug auf den Spruch Rosenzweigs. Er erwidert dort einem Freund mit dem er auf Tauschfuss stand, der ihm also gelegentlich Kartoffeln und winzige Fleisch- und Gemüsemengen brachte und der ihn – Klemperer – wiederholt auf sein gebliebenes Deutschtum ansprach:

„[...] aber eine Art deutscher Stamm, das könnte, rein geistig genommen, wirklich auf unsereinen zutreffen, ich meine Leute, deren Muttersprache deutsch und deren ganze Bildung deutsch ist. »Sprache ist mehr als Blut!«. Ich kann sonst wenig mit Rosenzweig anfangen, dessen Briefe mir Geheimrat Elsa gegeben hat – aber Rosenzweig gehört ins Buberkapitel, und wir halten bei Herzl.“

Worauf ihm der Tauschfreund antwortet:

„Es hat keinen Zweck, mit Ihnen zu reden, Sie kennen Herzl nicht. Sie müssen ihn kennenlernen, das gehört jetzt notwendig zu Ihrer Bildung, ich will sehen, Ihnen etwas von ihm zu verschaffen.“3

Das Gespräch verfolgt Klemperer tagelang. Er kramt sein geringes Wissen über Herzl und 1 Das Buch erschien nach dem 2. Weltkrieg und liegt bereits in der 22. Auflage vor (Stuttgart 2007). LTI steht für Lingua Tertii

Imperii - Sprache des Dritten Reiches.2 F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd. I.2, S. 12373 V. Klemperer, LTI, S. 274

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die zionistische Bewegung zusammen, erinnert sich an eine Begegnung in München, an eine Vortragsreise nach Prag, wo er, noch vor dem ersten Weltkrieg, einige Stunden mit zionistischen Studenten im Kaufhaus zusammen sass –, aber all dies nur, um sich desto sicherer zu sein:

„Aber was ging das mich, was ging das Deutschland an?“1

Schliesslich bringt ihm der Freund zwei Bände von Herzl, die Zionistischen Schriften und den ersten Band der Tagebücher, beide 1920 und 1922 im Jüdischen Verlag erschienen. Klemperer: „Ich habe sie mit einer Erschütterung gelesen, die an Verzweiflung grenzte“. Er notierte in sein Tagebuch:

„Herr, beschütze mich vor meinen Freunden! In diesen zwei Bänden lässt sich bei entsprechendem Willen Beweismaterial für vieles finden, was Hitler und Goebbels und Rosenberg gegen die Juden vorbringen, es bedarf dazu nicht übermässiger Geschicklichkeit im Auslegen und Verdrehen.“2

Die Verwirrung des Philologen steigt. Wie soll er die beobachtete „gedankliche, sittliche, sprachliche Ähnlichkeit des Messias der Juden mit dem der Deutschen“3 einordnen? Wohin gehört das „sprachliche Zusammenklingen der beiden“4, die Reden vom Führer, die Handlung des Entrollens der nationalsozialen Fahne, die Beschwörung des Volks:

„Wieder und wieder Übereinstimmungen der beiden – gedankliche und stilistische, psychologische, spekulative, politische, und wie sehr haben sie sich gegenseitig gefördert!“5

Klemperer stösst in seinen Beobachtungen auf das Phänomen der mimetischen Rivalität zwischen Judentum und Deutschtum.6

A. Franz Rosenzweig

Ich richte mein Interesse im folgenden – dem Thema entsprechend – lediglich auf das, was man Rosenzweigs 'spekulative Soziologie des jüdischen Volkes' (M. Brumlik) genannt hat. Sie findet sich im ersten Buch des dritten Teils seines Hauptwerks, dem Stern der Erlösung7. Die Gleichsinnigkeit des Anfangs- und Schlusssatzes des Buches weist auf die in sich geschlossene Einheit dieser Partie des Sterns hin.

Das Buch beginnt:

„Gepriesen sei, der ewiges Leben gepflanzt hat mitten unter uns. Inmitten des Sterns brennt 1 Ebd., S. 2752 Ebd., S. 2803 Ebd., S. 2814 Ebd., S. 2835 Ebd., S. 2846 Er selbst sieht Herzl und Hitler als Erben einer 'verkitschten Romantik' – eine allzu schnelle und kurzschlüssige Antwort, wie er

selbst weiss (vgl. dazu: ebd., S. 284).7 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Ffm. 1988. S. 331-372. Erstausgabe 1921, bzw. 5681 nach jüdischer Jahreszählung. Im

folgenden SE; die Ausgaben sind seitenzahlidentisch.

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das Feuer.“

So beginnt ein Hymnus. Rosenzweig hat später, nach der Niederschrift des Sterns, Gedichte und Hymnen des Jehuda Halevi in die deutsche Sprache übertragen1. Hier beginnt er das Buch mit dem Titel 'Das Feuer oder das ewige Leben' mit einer Lobpreisung des lebens- und feuerspendenden Gottes. Er fährt fort:

„Das Kernfeuer muss brennen ohne Unterlass. Seine Flamme muss sich ewig aus sich selber nähren. Es begehrt keiner äusseren Nahrung. Die Zeit muss machtlos an ihm vorüberrollen. Es muss seine eigene Zeit erzeugen. Es muss sich selbst ewig fortzeugen. Es muss sein Leben verewigen in der Folge der Geschlechter, deren jedes das nachkommende erzeugt, wie es selber hinwiederum von den Vorfahren zeugt. Das Bezeugen geschieht im Erzeugen.“

Von einem sich selbst nährenden und seine eigene Zeit erzeugenden Feuer wird gesprochen. Die erzeugte Zeit ihrerseits legt sich als verewigende auf die Folge der Geschlechter. Hier liegt der Keim dessen, was man (etwas unartig) die 'spekulative Soziologie' Rosenzweigs genannt hat. Doch ist der Schritt deutlich: Von der Lobpreisung des Gottes geht der Gedanke über das ewig sich fortzeugende Feuer zur erzeugt-zeugenden Zeit und weiter zum ewigen Geschlecht. Rosenzweig fährt fort:

„Es gibt nur eine Gemeinschaft, in der ein solcher Zusammenhang ewigen Lebens vom Grossvater zum Enkel geht, nur eine, die das „Wir“ ihrer Einheit nicht aussprechen kann, ohne dabei in ihrem Innern das ergänzende „sind ewig“ mitzuvernehmen. Eine Gemeinschaft des Bluts muss es sein, denn nur das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr in der Gegenwart.“2

Hier spricht Rosenzweig den Gedanken zum ersten Mal aus, den er im folgenden wieder und wieder variieren wird: Die Einheit der Gemeinschaft der Juden erhält ihre letzte und erste, ihre a-temporale Rechtfertigung der Ewigkeit durch ein Vernehmen, das auf ein eigenes Inneres hin offen ist – und dieses Innere, das das gesprochene 'Wir' erst zur Ganzheit fügt, ist das Blut. »Aber wir – sind ewig«: Mit dieser nur an das anwesende Publikum gerichteten Wendung schloss Hermann Cohen seine letzte Vorlesung an der Lehranstalt in Berlin3. Die Wirkung, die Cohens Worte auf Rosenzweig ausübten, kann kaum überschätzt werden. Auch im Stern führt er sie – das 'Wir' nun gross geschrieben – als des Meisters letzter Schluss an4. Hier aber tun sich Welten auf. Niemals hätte Cohen der Verwendung seiner Worte in dem oben zitierten Sinne zugestimmt. Niemals hätte er es zugelassen, dass einer seiner Schüler den zweiten Teil des von ihm gesprochenen Satzes auf die dunkle Substanz des Blutes5 zurück 1 F. Rosenzweig, Gesammelte Schriften Bd. IV.1, Sprachdenken im Übersetzen, Hymnen und Gedichte des Jehuda Halevi. - Vgl.

dazu auch die Bemerkung bzgl. einer Übertragung des Sterns ins Hebäische: „Gebs Gott, dass der, der sie unternimmt, auch deutsch kann. Hölderlinsch, meine ich natürlich.“ (GS I.2, S. 903)

2 SE, S. 3313 F. Rosenzweig, Zweistromland (Berlin/Wien 2001), S. 207: „Den Vortrag über Platon und die Propheten, [...], schloss ein

stürmisch aufjubelndes »Aber wir – sind ewig«. Es war das letzte Wort, das er [Cohen] von seinem Katheder in der Aula der Lehranstalt gesprochen hat. / In der Niederschrift fehlt es. Auch das gehört zum Wesen dieser Worte. Er sprach sie nicht, sie wuchsen aus ihm hervor und überwuchsen ihn.“ Vgl. die Anmerkung S. 240: „ich [Rosenzweig] war selbst zugegen.“

4 SE, S. 281:„Dies siegende Aber – „Aber Wir sind ewig“ hat unser grosser Meister als seiner Weisheit letzten Schluss ausgerufen, als er das letzte Mal vor Vielen über das Verhältnis seines Wir zu seiner Welt sprach. Die Wir sind ewig; vor diesem Triumphgeschrei der Ewigkeit stürzt der Tod ins Nichts. Das Leben wird unsterblich im ewigen Lobgesang der Erlösung.“

5 SE, S. 338. Der 'Bestand des Volks' und die 'Unvergänglichkeit seines Lebens' sind „im Schöpfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen des Blutes“ gesichert.

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bezieht. Ganz im Gegenteil: Es macht gerade den Sinn seines letzten Werks 'Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums' aus, dass die Gesetzlichkeit der Vernunft es ist, die das letzte Wort behält1. Nicht so bei Rosenzweig. Es entspricht seinem Vorgehen einer Remythisierung des Monotheismus2, dass für den tiefsten Zusammenhalt des ewigen Volks nun dem Schweigen, dem schweigenden Sichverstehen der Wir die wesentlichste Bedeutung zufällt:

„[...] es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Misstrauen gegen die Macht des Worts und ein inniges Zutrauen zur Macht des Schweigens.“3

Hätte man nicht erwartet, dass der Satz anders endete? Würde man nicht dem Misstrauen gegen die Macht des Worts das Zutrauen zur Demut des Schweigens eher gegenüberstellen? Wie kann ein Schweigen mächtig sein? Dem Juden kann es das. Warum? Weil er mit sich selbst in einem inneren, heiligen Gebet sich befindet – aufruhend auf der Gewissheit in der Blutsgemeinschaft seines Judentums die Gewähr seiner Ewigkeit zu besitzen.

„Was bedeutet das aber – Verwurzelung im eigenen Selbst? Was bedeutet es, dass hier ein Einzelnes, ein Volk, Gewähr seines Bestehens in nichts Äusserem sucht und grade darin, grade in seiner Beziehungslosigkeit, Ewiges sein will? Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch, als Einzelnes dennoch Alles zu sein.“4

Das ist der Zentralgedanke des Judentums nach Rosenzweig: Israel ist das von Gott eine einzige ewige auserwählte Volk. Bei keinem anderen Volk lebt das Gefühl der unmittelbaren Gotteskindschaft so wie in ihm5. 'Gotteskindschaft': Das wird nun von Rosenzweig sehr volkhaft weiter transponiert und er sagt von der jüdischen Frau, dass...

„[...] doch nach altem Rechtssatz sie es [ist], durch die sich das jüdische Blut fortpflanzt; nicht erst das Kind zweier jüdischer Eltern, schon das Kind einer jüdischen Mutter ist durch seine Geburt Jude.“6

So, als diese auf sich selbst zurückgedrängten Kinder Gottes, die die ihnen eigene Ewigkeit aus den dunklen Quellen des Blutes schöpfen, sind sie die einzigen Kinder als das abgesonderte Volk:

„Wir allein vertrauten dem Blut und liessen das Land; also sparten wir den kostbaren Lebenssaft, der uns Gewähr der eigenen Ewigkeit bot, und lösten allein unter allen Völkern der Erde unser Lebendiges aus jeder Gemeinschaft mit dem Toten. Denn die Erde nährt, aber sie bindet auch, ...“7

Das Geschlecht Abrahams betrachtet sich nicht als zu den Völkern gehörig, sondern als

1 „Die Vernunft ist der Felsen, aus dem der Begriff entspringt und aus dem er erst entsprungen sein muss für die methodische Einsicht, wenn der Lauf übersichtlich werden soll, den er im Stromgebiet der Geschichte nimmt. [...] Sofern auch sie [die Religion] in Begriffen besteht und auf Begriffen beruht, kann ihre letzte Quelle auch nur die Vernunft sein.“ (H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 2008, S. 33f.)

2 Vgl. SE, S. 3653 SE, S. 3354 SE, S. 3395 SE, S. 240f6 SE, S. 3627 SE, S. 332

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Nicht-Volk. Und eben dies sagt auch der Name Hebräer:

„Abraham der Ibri heisst [...]: Abraham, der zu den Durchziehenden, an keinen festen Wohnsitz gebundenen, nomadisch Lebenden gehört, wie der Erzvater in Kanaan auch stets der Fremdling heisst: denn der nirgends Weilende ist überall nur ein Fremdling, ein Wanderer“.1

Die Hebräer sind die wandernden Fremdlinge und eben als solche fasst sie die spekulative Soziologie Rosenzweigs wurzelhaft gegründet in...

„[...] dem eigentlichen und reinen Lebenspunkt, der Blutsgemeinschaft; der Wille zum Volk darf sich hier an kein totes Mittel klammern; er darf sich verwirklichen allein durch das Volk selber; das Volk ist Volk nur durch das Volk.“2

So kennt dieses a-territoriale Volk auch den Krieg nicht –, gegen wen sollte es sich denn richten, wenn es weder ein Gebiet zu verteidigen, noch ein Land zu erobern die Absicht haben kann?

„Das jüdische Volk ist für sich schon an dem Ziel, dem die Völker der Welt erst zuschreiten. [...] indem es den ewigen Frieden lebt, steht es ausserhalb einer kriegerischen Zeitlichkeit“3

Auch den Staat kennt es nicht:

„Es muss, um das Bild der wahren Gemeinschaft unversehrt zu erhalten, sich die Befriedigung verbieten, die den Völkern der Welt fortwährend im Staate wird. Denn der Staat ist die immer wechselnde Form, unter der die Zeit sich Schritt für Schritt der Ewigkeit zubewegt. Im Gottesvolk ist das Ewige schon da, mitten in der Zeit. In den Völkern der Welt ist reine Zeitlichkeit. Aber der Staat ist der notwendig immer zu erneuernde Versuch, den Völkern in der Zeit Ewigkeit zu geben. [...] Aber dass er [der Staat] es unternimmt und unternehmen muss, das macht ihn zum Nachahmer und Nebenbuhler des in sich selber ewigen Volkes, das kein Recht auf seine eigene Ewigkeit mehr hätte, könnte der Staat erreichen, wonach er langt.“4

Im Staat, dem Nebenbuhler und Nachahmer des in sich selber ewigen Volkes findet Rosenzweig den mimetischen Gegner seiner Konzeption des Judentums. Das ist kein Zufall. Rosenzweig hat, wie man weiss, bei dem Historiker F. Meinecke in Freiburg eine umfangreiche Dissertation unter dem Titel 'Hegel und der Staat' verfasst. Zur Orientierung über den Hegelschen Staatsbegriff diente ihm, wie er selbst bemerkt5, die 'Einleitung in die Philosophie der Geschichte' und nicht die 'Grundlinien der Philosophie des Rechts' desselben Autors. In jener Einleitung aber finden wir den Satz:

„Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.“6

Mit der Ausarbeitung des Sterns der Erlösung stellt Rosenzweig sich in (vermeintlicher) Aufnahme der Motive H. Cohens in direkte Konkurrenz zur Hegelschen 1 F.W.J. Schelling, Sämtliche Werke (1856-61), Bd. XI, S. 157f.2 SE, S. 3333 SE, S. 3684 SE, S. 3695 F. Rosenzweig, Gesammelte Schriften I.1, S. 1096 G.W.F. Hegel, Philosophie der Geschichte, TWA 12, S. 57

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Geschichtsphilosophie. Erst wenn man begreift, dass die spekulative Soziologie des Judentums im Stern sich gegen und neben eine Geschichtsphilosophie stellt, die die Weltgeschichte als die 'wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte'1

begreift, wird die Rede vom Staat als dem Konkurrenten der Tatsächlichkeit des ewigen Volkes verständlich. Ausserdem wird Rosenzweig nicht entgangen sein, dass Hegel in der Passage zu 'Judäa' dem Judentum das staatliche Prinzip aberkennt, weil es im 'Dienst an Jehova' die Familie als 'das Substantielle' privilegiere.

„Der Staat aber ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene und der Gesetzgebung Mosis fremd“2

Soweit die Ausgangslage. Da die Ewigkeit nicht in der Mehrzahl zu denken ist und Rosenzweig unterstellt, dass der Staat der 'notwendig immer zu erneuernde Versuch' ist, 'Völkern in der Zeit Ewigkeit zu geben', muss er diesen Versuch als scheiternden erweisen. Und nicht nur das. Folgt die Auseinandersetzung wirklich – wie oben andeutungsweise bemerkt – den Gesetzen der mimetischen Theorie, d.h. durchläuft sie den mimetischen Zyklus vollständig, so wird am Ende die eine Seite sich der anderen als ein Modellhindernis, als ein Ärgernis entpuppen. Genau dies ist der Fall.

Rosenzweig organisiert die Abrechnung mithilfe des – auch für die Positionierung des Christentums verwendeten – dualen Schemas von ewig insichbleibendem Feuer/Strom/Blut/Kreislauf und der von diesem in sich kreisenden Pol ausstrahlend-strömenden Zeitlichkeiten. Er beginnt:

„Ein Kreislauf, der Kreislauf des Jahres [gegliedert in die Feste der Schöpfung, der Offenbarung, der Erlösung etc.], versichert das ewige Volk seiner Ewigkeit. Die Völker der Welt sind in sich ohne Kreislauf; ihr Leben rollt in breitem Strome talwärts. Soll ihnen vom Staat her Ewigkeit kommen, so muss der Strom aufgehalten, zum See gestaut werden. Aus dem reinen Ablauf der Zeit, dem die Völker an sich hingegeben sind, muss der Staat einen Kreislauf zu machen suchen; den dauernden Wechsel ihres Lebens muss er in Erhaltung und Erneuerung umformen und so einen Kreislauf hineinbringen, der in sich die Fähigkeit hätte, ewig zu sein.“3

Zunächst, so Rosenzweig, hängt der Staat über den Wandel der Zeit das Gesetz. Ein erstes Innehalten ist gegeben. Doch da das strömende Leben des Volkes dem Beharrlichen entgegengesetzt ist, werden die fest gesetzten Tafeln hinweg gespült:

„Und Recht und Leben, Dauerndes und Wechselndes, scheinen auseinanderzugehen. Da enthüllt der Staat sein wahres Gesicht. [...] Nun aber spricht er sein zweites Wort: das Wort der Gewalt.“4

Bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt, sind die Worte des Staates. Der Staat integriert ein natürlich Gegebenes, die Gewalt, in sich und macht sich zu ihrem Heger. Ihm eignet das Gewaltmonopol. Nun lässt sich die Dialektik entwickeln, die Rosenzweig vorführt – denn:

1 Ebd., S. 5402 Ebd., S. 2433 SE, S. 3694 SE, S. 369f.

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„Es ist der Sinn aller Gewalt, dass sie neues Recht gründe. Sie ist keine Leugnung des Rechts, wie man wohl, gebannt durch ihr umstürzlerisches Gehabe, meint, sondern im Gegenteil seine Begründung.“

Neues Recht, sagt Rosenzweig, aber:

„[...] es steckt ein Widerspruch in dem Gedanken eines neuen Rechts. Recht ist seinem Wesen nach altes Recht. Und nun zeigt sichs, was die Gewalt ist: die Erneuerin des alten Rechts.“

Doch Rosenzweig ist noch nicht am Ziel; denn noch fehlt der Dialektik von altem und neuem Recht und der immer wieder einsetzenden Gewalt die Zuspitzung. Die Lösung liegt im Augenblick:

„In jedem Augenblick bringt der Staat den Widerspruch von Erhaltung und Erneuerung, altem und neuem Recht, gewaltsam zum Austrag. [...] ja er ist weiter nichts als dies jeden Augenblick vorgenommene Lösen des Widerspruchs.“

Und weiter:

„So ist Krieg und Revolution die einzige Wirklichkeit, die der Staat kennt, und in einem Augenblick, wo weder das eine noch das andre statthätte – und sei es auch nur in Gestalt eines Gedankens an Krieg oder Revolution –, wäre er nicht mehr Staat. Er kann keinen Augenblick das Schwert aus der Hand legen; denn er muss es jeden Augenblick wieder schwingen, um mit ihm den gordischen Knoten des Volkslebens, den Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft, den das Volk in seinem natürlichen Leben nicht löst, nur weiterschiebt, zu zerhauen. Aber indem er ihn zerhaut, schafft er in jedem Augenblick, und freilich nur immer für diesen einzelnen Augenblick, den Widerspruch aus der Welt und staut so den immerfort in alle Zeit bis zum endlichen Münden in den Ozean der Ewigkeit sich selber verleugnenden Fluss des Lebens der Welt in jedem Augenblick zum stehenden Gewässer [nunc stans - aeternitas]. So aber macht er jeden Augenblick zur Ewigkeit. Er schliesst in jedem den Widerspruch von alt und neu durch die gewaltsame Verneuerung des Alten, die dem Neuen die rechtliche Kraft des Alten verleiht, zum Kreis.“

Damit ist die Metaphysik des Staates dialektisch entwickelt. Er zeigt sich als in sich geschlossener, selbstreproduzierender Kreislauf von immer wieder augenblicks- und gewalthaft zusammenschiessendem altem und neuem Recht. Rosenzweig nennt diese Zeitkristalle: Epochen.

„Die Epochen sind die Stunden der Weltgeschichte, und nur der Staat bringt sie hinein durch seinen kriegerischen Bannspruch, der die Sonne der Zeit stillstehen lässt, bis jeweils für diesen Tag „das Volk Herr geworden über seine Feinde“*. Ohne Staat also keine Weltgeschichte. Der Staat allein lässt jene Spiegelbilder der wahren Ewigkeit in den Zeitstrom fallen, die als Epochen die Bausteine der Weltgeschichte bilden.“1

Wie das Einsprengsel einer Stelle aus dem Buch Josua belegt, steht Rosenzweigs Metaphysik des Staates nicht nur der, wie man sagt, 'Deutsche Idealismus' eines Hegel Pate. Die

* Im Kampf der Israeliter gegen die Amoriter liess der HERR Hagelkörner auf die fliehenden Feinde fallen. „Durch sie kamen mehr Amoriter ums Leben als durch die Schwerter der Israeliten.“ Josuas Gebet: „Sonne, steh still über Gibeon“ wurde erhört und so kämpfte „der HERR selbst auf der Seite Israels“. Jos. 10,9ff.

1 SE, 370f.

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entscheidenden Züge der Konzeption und die Sicherheit mit der Rosenzweig den Satz ausspricht: Ohne Staat also keine Weltgeschichte, dürften ein Reflex der Fundierung seiner Überlegungen in der Geschichte des Judentums sein. Der Hinweis auf die durch den Gott stillgestellte Sonne und die Rede von den 'Spiegelbildern der wahren Ewigkeit', die in den Epochen der Weltgeschichte sichtbar würden, belegen dies. 'Staatsvergottung' ist ein hässliches Wort, dennoch erfüllt die Schilderung des Staates im Stern exakt diese Verbindung von Staat und Gott. Alles hat Rosenzweig aufgewendet, um den Nachahmer und Nebenbuhler des ewigen Volkes stark zu machen, ihm sogar eigenes geliehen, und doch stand der Verlierer bereits zu Beginn fest. Nie wird es der Gott/Staat dazu bringen, die wahre Ewigkeit zu repräsentieren, ihm bleiben immer nur Augenblicke, „kleine Ewigkeiten“, in denen er von seinem nie zu erreichenden Ziel kündet.

„Und darum muss die wahre Ewigkeit des ewigen Volks dem Staat und der Weltgeschichte allzeit fremd und ärgerlich bleiben.“1

Ärgerlich ist die Existenz der Juden: So charakterisiert Rosenzweig in der Rück-Projektion die Attitüde des Staates gegenüber seinem Modell-Hindernis, dem ewigen Volk. Und er unterlässt es nicht, den leer laufenden, weil nicht die wahre Ewigkeit erreichenden Neid des bloss weltgeschichtlichen und deshalb immer wieder ins Endliche zurückfallenden Staates zu beschwören:

„Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den Epochen der Weltgeschichte mit scharfem Schwert einkerbt in die Rinde des wachsenden Baums der Zeit, setzt das ewige Volk unbekümmert und unberührt Jahr um Jahr Ring auf Ring um den Stamm seines ewigen Lebens. An diesem stillen, ganz seitenblicklosen Leben bricht sich die Macht der Weltgeschichte. Mag sie doch immer aufs neue ihre neuste Ewigkeit für die wahre behaupten, wir setzen gegen alle solche Behauptungen immer wieder das ruhige, stumme Bild unsres Daseins, [...]“2

So ist der Wille des Staates sich zu beständigen blosse Spiegelfechterei; hinter dem Spiegel seines Begehrens lodert selbstgenügsam und unerreichbar die Flamme des ewigen Volks:

„In seinem Leben allein brennt das Feuer, das sich aus sich selber nährt und das darum des Schwertes nicht bedarf, das seiner Flamme aus den Gehölzen der Welt Nahrung zubrächte. Dies Feuer brennt in sich selber [...] Es brennt, schweigend und ewig.“3

Nichts wird feuriger begehrt als die Fülle des in sich befriedigten seligen Begehrens selbst. Und doch, ein Letztes ist zu sagen. Auch den Juden bleibt ein Unerreichtes. Aber dies begehren sie nicht, sie wissen, dass es kommt:

„Der Same des ewigen Lebens ist gepflanzt; so kann es warten, dass er aufgehe. Von dem Baum, der aus ihm wächst, weiss das Samenkorn nichts und wenn er die Welt überschattete. Eines Tages wird aus den Früchten des Baums ein Same kommen, der ihm gleicht. Gepriesen sei, der ewiges Leben pflanzte in unsrer Mitte.“4

1 SE, 3712 SE, 371f.3 SE, 3724 SE, 372

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Mit diesen hymnischen Worten schliesst Rosenzweig. Sie deuten vor auf den erst noch kommenden Messias. Am Ende aller Tage wird er kommen und mit der Erlösung des Seienden identisch sein. Der grosse Zyklus von Schöpfung-Offenbarung-Erlösung wird dann sich schliessen.

***

B. Ernst Jünger

Gegen Ende des Jahres 1926 lässt Ernst Jünger im Stahlhelm-Jahrbuch vier Aufsätze unter dem Titel 'Grundlagen des Nationalismus' erscheinen. Die Titelreihenfolge lautet: 'Das Blut', 'Der Wille', 'Der Charakter' und 'Der Geist'1. Die Aufgabe der Artikelserie sieht Jünger in Analogie zu jenem Übergangsstadium der marxistischen Revolution, die mit dem 'schönen Wort' von der »Expropriation der Expropriateure« bezeichnet wird2. Entsprechend geht Jünger in den Artikeln aufs Ganze. Es geht um nichts geringeres als um die Wiederaneignung des durch den Liberalismus der Nation enteigneten Staates:

„Der Staat ist uns die höchste äussere Form der Nation, und den Staat ändern wird zur Pflicht, wenn dadurch die Idee der Nation einen schärferen und wirksameren Ausdruck erhält.“

Die nationalistische Bewegung, die „den Keim zu einem neuen Staate in sich spürt“ ist so gehalten, ihre Idee des Nationalen gegen den bestehenden – die Idee des Staates unzulänglich repräsentierenden – Staat geltend zu machen. Jüngers Texte sind entsprechend Manifeste, Aufrufe zur Revitalisierung bzw. Umwälzung des bestehenden Staats in einen neuen. Der erste der vier Aufrufe trägt den Titel 'Das Blut' und beginnt:

„Unsere Gemeinschaften sollen Blutsgemeinschaften sein, das ist unsere erste Forderung.“3

Und Jünger fährt mit der Suggestivfrage fort:

„Was aber ist das Blut?“

Klar ist, dass die scheinbar alles öffnende Frage nach dem Blut, noch vor ihrer Beantwortung, eine Einkreisung durch die angesprochenen Leser der 'Standarte' – einer Sonderbeilage des 'Stahlhelm'4 – erfahren hat. Die Wir, denen Jünger die Frage nach dem Blut auseinander zu setzen gedenkt, sind die ehemaligen deutschen Frontsoldaten des ersten Weltkriegs. Ihnen wird verkündet:

„Das Blut ist tiefer als alles, was man darüber sagen und schreiben mag. Seine dunklen und hellen Schwingungen zaubern jene Melodien hervor, die uns betrübt oder glücklich

1 E. Jünger, Politische Publizistik 1919-33, Stuttgart 2001, S. 699 (Anm. v. S. O. Berggötz). - Die Texte sind nicht in den Sämtlichen Werken Jüngers enthalten.

2 Ebd., S. 180f.3 Ebd., S. 1914 Ebd., S. 676. Der vollständige Titel lautet: 'Die Standarte – Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens. Sonderbeilage

des Stahlhelm. Wochenschrift des Bundes der Frontsoldaten.' (Auflage: 170'000)

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stimmen. Sie ziehen uns hin zu Personen, Landschaften und Dingen, oder sie stossen uns von ihnen zurück. Jenes Etwas, jenes Mehr, das sich uns preisgibt in den Umrissen eines Gebirges, der Linienführung einer Ebene, dem Spiele der Wolken des Himmels, dem Lachen eines Menschen, [...] , jener Akzent, den das Leben mit traumhafter Sicherheit allen Dingen gibt – er wird durch die Art und Eigenart des Blutes bestimmt. Die Erscheinung ist gegeben, aber die Stärke und Fülle des Blutes erst setzt den Wert, macht sie bedeutend, symbolisch und tief.“1

'Jenes Etwas, jenes Mehr': Jünger führt das Blut als ideierendes Medium vor. Es fundiert das Gegebene zum Bedeutenden, in ihm liegt gestaltgebende Kraft.

„Mit dem Auge sehen wir, mit den Ohren hören wir, mit der Hand tasten wir, mit dem Gehirn nehmen wir fremde Gedanken auf, aber ob dies alles nur toter Stoff ist oder ob es zu uns in einer lebendigen Beziehung steht, das entscheidet das Blut. [...] Durch die Sinne erkennen wir; durch das Blut erkennen wir an. Durch das Blut fühlen wir uns fremd oder verwandt.“2

Das Blut, so wird Jünger wenig später sagen, darf nicht rassisch-biologisch interpretiert werden, sondern es ist ein „vorwiegend metaphysischer Begriff“3. Nimmt man die beiden Zitate zusammen, d.h. verbindet man die Bedeutung des Blutes als gestaltgebendes Medium mit der Rede von der Anerkenntnis des Verwandten (bzw. mit der Erkenntnis des Fremden), so wird deutlich, dass 'Blutsgemeinschaft' im Jüngerschen Sinne das wechselweise Typisieren von Typen meint.

„Ein Händedruck, der zwischen Männern gewechselt wird, der Blick ins Auge, der Ton der Stimme, ... , Gang, Haltung, Bewegung und Mienenspiel, in all den tausend Unwägbarkeiten, die wir wahrnehmen ohne darüber nachzudenken, sprechen wir mit dem Blut, spricht das Blut zu uns, es wirbt, es nähert sich an oder es stösst ab. Über alle Masken hinweg verständigen sich Ich und Du in einer Geheimsprache, die vor allem Sprechen ist.“4

Das Blut ist das Zugrundeliegende, das Subiectum, das Hypokeimenon der Typengenese. Die Wir sprechen mit ihm, Es spricht mit den Wir und Es spricht aus Ihnen. Der Raum aber, in dem dies Geschehen statthat, ist die intensive Extension des Schicksalsraums:

„Das [...] ist die grosse Spannung, die dem Leben Sinn, Würde und tragischen Gehalt verleiht. Schicksal und Blut, eine unsichtbare Kraft und ein tragender Stoff, durch den sie sich offenbart. Von ihr müssen wir ausgehen, um das Wesen des Blutes ganz zu verstehen. [...] Nur am Prüfstein des Schicksals beweist das Blut seinen Wert.“5

Eine Spannung, die sich offenbart – das Blut, das sich am Prüfstein des Schicksals beweist: Aus dem Einsatz dieser beiden Verben bezieht Jüngers Rede seine Überzeugungskraft. Es sind deutsche und deutliche Worte, und sie haben ihren Herkunftszusammenhang in dem Wort

1 Ebd., S. 1912 Ebd., S. 191f.3 Ebd., S. 2334 Ebd., S. 1925 Ebd., S. 193f. Jünger fährt fort: „Daher lehnen wir alle jene Bestrebungen ab, die die Begriffe Rasse und Blut verstandesmässig

zu stützen suchen. Den Wert des Blutes durch das Gehirn, durch Mittel der modernen Naturwissenschaft beweisen zu wollen, das heisst den Knecht für den Herren zeugen lassen. Wir wollen nichts hören von chemischen Reaktionen, von Bluteinspritzungen, von Schädelformen und arischen Profilen. Das alles muss ausarten in Unfug und Haarspaltereien und öffnet dem Intellekt die Einfallspforten in das Reich der Werte, die er nur zerstören, aber niemals begreifen kann.“

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'Offenbarungsbeweis' der christlichen Theologie. Was ist es, das bei Jünger an dessen Stelle tritt? Woran zeigt und beweist sich für einen deutschen Heiden am und im Zeitlichen ein Ewiges? Antwort: In der „dramatischen Offenbarung“1 des Krieges.

„Der Krieg ist eine der ewigen Tatsachen, die jeder Fragestellung gewachsen sind, und an denen das Denken jeder neuen Generation zerschäumt wie eine flüchtige Welle an den ehernen Fundamenten der Welt. Nie wird man mehr von ihm aussagen können als jener griechische Weise, der ihn den Vater aller Dinge nannte. [...] Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schosse der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an. [...] Der Einzelne lebt nicht nur in seiner Zeit. Er lebt zugleich in der Schicksalszeit seines Geschlechts, [...]. Der Sohn ist jünger als der Vater, insofern beide in ihre persönliche Schicksalszeit geschlossen sind. Er ist jedoch älter als der Vater in bezug auf die beiden gemeinsame Schicksalszeit des Geschlechts.“2

Wie ähnlich die Reden Jüngers und Rosenweigs über das Geschlecht doch sind! Und doch: Wie abgrundtief verschieden sind die Wir der zwei Geschlechter, des Jüdischen, des Deutschen. Beide ziehen, wie Rosenzweig einmal sagt, eine „Kreislinie der Exklusivität“3 um sich und scheiden die fremden Ihr von den um sich gescharten Wir.

„Das Wir umfasst alles, was es ergreifen und erreichen, ja was es noch sichten kann. Aber was es nicht mehr erreichen und auch nicht mehr sichten kann, das muss es um seiner eigenen Geschlossenheit und Einigkeit willen aus seinem hellen, tönenden Kreise hinaus ins kalte Grauen des Nichts stossen, indem es zu ihm spricht: Ihr. Ja, das Ihr ist grauenhaft. Es ist das Gericht. Das Wir kann nicht vermeiden, dies Gericht zu halten; denn nur in diesem Gericht gibt es der Allheit seines Wir bestimmten Inhalt, der doch kein besonderer Inhalt ist, ihm nichts von seiner Allheit nimmt; [...] So muss das Wir Ihr sagen, und je stärker es anschwillt, um so stärker dröhnt aus seinem Munde auch das Ihr. [...] Das ist die entscheidende Vorwegnahme, dieses scheidende Gericht, worin das kommende Reich als kommendes wirklich und dadurch die Ewigkeit Tatsache ist*. Der Heilige des Herrn muss das Gericht Gottes vorwegnehmen; er muss seine Feinde für die Feinde Gottes erkennen.“4

Die Aussagen Rosenzweigs und Jüngers zu Geschlecht und Reich spiegeln sich ineinander. Die beiden Spiegel sind Doubles, in denen je das eine Wir als das Ihr des anderen erscheint. Aber beide Wir streben nach dem Ganzen, nach Allheit, wie Rosenzweig sagt. Entsprechend tauchen spiegelverkehrt die zwei Wir und die zwei Ihr als antagonistische Modell-Hindernisse (modèle-obstacle) in Erscheinung. Auf beiden Wegen zum Reich gilt es das gesichtete Hindernis – das das Erreichen des Totalen zu verhindern droht – aus dem Weg zu räumen. Erstaunlich ist, dass beide Seiten diesen Ernstfall, d.h. den Eintritt des Widersachers in ihr Bild und dessen Wegräumung, reflektieren. Um diesen sich selbst spiegelnden Spiegel zu denken, benötigen beide Seiten Hilfe. Diese Hilfe holen sie sich vom Unaussprechlichen.

Zuerst Jünger:

1 Ebd., S. 1762 Ebd., S. 174, S. 185, S. 277f.3 F. Rosenzweig, GS I.2, S. 732* Vgl. dazu Jünger, a.a.O., S. 556f. (März 1930): „Aber über dem Deutschland von gestern, von heute und von morgen, über

ihren zeitlichen Bildern steht die ewige Wirklichkeit des Reiches, der es in diesem Lande noch nie an einer Jugend gemangelt hat, die von ihr ergriffen war. Hier gibt es nichts zu wünschen, es ist vielmehr eine strenge Verpflichtung, die sich zum Ausdruck bringt, - damals wie heute bedeutet deutsch sein: im Kampfe sein.“

4 SE, 264f.

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„Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiss wenig von den Philosophen und ihren Werten. Aber in ihm und seiner Tat äussert sich das Leben ergreifender und tiefer, als je ein Buch es vermöchte. Und immer wieder, trotz allem Widersinn und Wahnsinn des äusseren Geschehens, bleibt eine strahlende Wahrheit: der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Es ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel; es ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und die Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts und die Überzeugung alles. [...] Mag der Flieger Barbusse* tief unter sich zwei gerüstete Heere zu einem Gott um den Sieg ihrer gerechten Sache beten sehen, so heftet sicher eins, wahrscheinlich beide, einen Irrtum an die Fahnen; und doch wird Gott beide zugleich in seinem Wesen umfassen.“1

Bitte, Herr Jünger! möchte man zu diesen Sätzen anmerken: Mindestens einmal ist hier das Wort 'Gott' zu viel gebraucht. Entweder ist der Gott der Kampf, dann ist er der Polemos des Heraklit oder er ist der eine, einzige Gott, dann aber ist er nicht mehr jener, der beide Heere in 'seinem Wesen umfassen' kann. Man muss sich schon entscheiden – oder den Gott ins Namenlose entlassen... – so wie Rosenzweig es tut:

„Gott selbst muss das letzte Wort sprechen – es darf kein Wort mehr sein. Denn es muss Ende sein und nicht Vorwegnahme mehr. Und alles Wort wäre noch Vorwegnahme des nächsten Worts. Für Gott sind die Wir wie die Ihr – Sie. Aber er spricht kein Sie, sondern er vollbringts. Er tuts. Er ist der Erlöser. In seinem Sie sinken das Wir und das Ihr zurück in ein eines blendendes Licht. Aller Name schwindet. Das letzte, in aller Ewigkeit vorwegnehmende Gericht tilgt die Scheidung, nachdem und indem es sie bestätigt, und löscht die Feuer der Hölle. Im letzten Gericht, das Gott selber in seinem eignen Namen richtet, geht alles All ein in Seine Allheit, aller Name in Sein namenloses Eins.“2

Übergang

Hans Ehrenberg, ein Freund und Briefpartner3 Franz Rosenzweigs, veröffentlichte im Jahre * Henri Barbusse (1873-1935), französischer Schriftsteller und Kommunist, schildert in seinem Roman 'Le feu. Journal d'une

escouade' (1916) das Grauen der Materialschlachten des ersten Weltkriegs.1 E. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (1922). In: Werke, Band 5, Essays I, Stuttgart o.J., S. 105. Vgl. Ebd. S. 52: „Der

Kampf ist immer noch etwas Heiliges, ein Gottesurteil über zwei Ideen.“2 SE, S. 2653 Auf wenigstens einen Brief sei in unserem Zusammenhang hingewiesen. Rosenzweig reagiert darin auf einen mit 'Der

Antisemitismus' betitelten Aufsatz von H. Ehrenberg im 'Christlichen Volksblatt' des Badischen Volkskirchenbundes mit den Worten: „Von Hans kriegte ich ein christliches Volk mit dem viehischen Aufsatz über den Antisemitismus. Ehe er sich nicht diese Sorte Christentum abgewöhnt, ist er mir ungreifbar.“ In einer längeren Fussnote orientieren die Herausgeber des Gritli-Briefwechsels (S. 622) über den Hintergrund der scharfen Reaktion Rosenzweigs. Da mir der Artikel nicht vorliegt, die Auseinandersetzung aber in unserem Zusammenhang von grösster Bedeutung ist, sei die Fussnote hier vollständig zitiert: „Hans Ehrenberg war zeitweise verantwortlicher Redakteur der seit 1919 im Rahmen des Badischen Volkskirchenbundes erscheinenden Kirchenzeitung 'Christliches Volksblatt'. Im 2.Jahrgang. Nr.14, 4.Juli 1920 erschien ein von ihm verfasster Artikel, der den Titel 'Der Antisemitismus' trug. Darin bezeichnete er zwar den Antisemitismus als die „furchtbarste Krankheit unserer Zeit und unseres Volkes“, der eine Welt des Hasses errege und daher jedem Christen entsetzlich sein müsse. Ursache des Antisemitismus sei der 'Blutstolz des Volkes', der völkisch-heidnische Nationalismus, der spätestens im Weltkrieg in all seiner zerstörerischen Kraft entlarvt worden sei. Das grosse Ziel müsse daher künftig sein, jeden übertriebenen Nationalismus zu überwinden zugunsten „der großen Völkerfamilie der europäischen Menschheit“. / Im dann Folgenden aber führte Ehrenberg den heidnischen Blutstolz ausgerechnet auf das Judentum und sein Lehre von der Erwählung zurück: „noch heute wirkt im Judentum, selbst in dem westeuropäisch emanzipierten, dieser altunbändige Stolz [auf die Erwählung] nach und erzeugt ein jüdisches Selbstbewusstsein, das dem Rassenhass des teutonischen Siegfriedanbeters immer wieder neue Nahrung geben muss. Und damit haben wir die zweite Quelle des Antisemitismus entdeckt: / Der Antisemit ist vom Juden angesteckt. Der Bazill des Stolzes seiner Weltmission überträgt sich auf die heidnischen Deutschen und verjudet sie. Und dieser verjudete Teutone ist der

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1923 ein Buch mit dem Titel 'Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus'; darin finden sich die Sätze:

„Das Blut, das im Innern strömt, gibt die Antwort auf die schlecht gestellte Frage der Philosophie nach dem Selbstbewusstsein. Das älteste Gesetz des gemeinsamen Lebens ist mit Blut geschrieben und spricht vom Blut; Blut bindet, Blut trennt; es ist dicker als das Wasser der Idealisten.“1

Die Passage beschreibt bündig, was wir – in Analogie zur Rede vom 'Heliozentrismus' – als den epochalen Hämozentrismus der deutschsprachigen Philosophie bezeichnen.

II. Martin Heidegger

„Die Besinnung auf das Volkhafte ist ein wesentlicher Durchgang.“2

Martin Heidegger, 1936

Das Wort »Blut« kommt in Heideggers Hauptwerk 'Sein und Zeit' kein einziges Mal vor. Noch in der Wintervorlesung 1928/29, dort, wo es um ein konkreteres Verständnis der Transzendenz geht, formuliert er:

„Das Dasein ist vom Seienden, dem es preisgegeben ist, durchwaltet. Das Dasein ist Körper und Leib und Leben; es hat Natur nicht nur und erst als Gegenstand der Betrachtung, sondern es ist Natur; aber eben nicht so, dass es ein Konglomerat von Materie, Leib und Seele darstellt; es ist Natur qua transzendierendes Seiendes, Dasein, von ihr durchwaltet und durchstimmt.“3

Im Gegensatz zu Jünger, der, vom selben sprechend, die trüben oder beglückenden Stimmungen auf die dunklen oder hellen Schwingungen des uns zugehörenden Blutes zurück bezieht, lässt Heidegger den Ort einer solchen Trägersubstanz des konkreten Transzendierens

Antisemit.“ Einziger Schutz gegen Juden wie Antisemiten ist nach Auskunft Ehrenbergs der Geist Jesu, weil dieser - obwohl Jude - seinen eigenen Blutstolz überwand und sich den Völkern der Welt öffnete. Dadurch erscheint ausgerechnet die Judentaufe als wirksamstes Instrument. um den Antisemitismus zu überwinden.“ - Soweit die Fussnote. Der zum Christentum konvertierte Jude Ehrenberg deklariert darin den deutschnationalen Blutstolz als eine durch das Judentum angestossene mimetische Infektion.

1 H. Ehrenberg, Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus, München 1923. S. 102

2 GA 65, S. 42. In den Heidegger-Zitaten wird die Kursivsetzung nur dann übernommen, wenn es dem Verständnis dient.3 GA 27, S. 328

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des Daseins unbesetzt. Noch hält Heidegger hier dasjenige offen, was wir den existenzialontologischen Universalismus nennen können: Die Geworfenheit – noch ist ihr Schicksal nicht bestimmt. Deshalb gilt:

„Dies, dass es in Richtung seiner Herkunft mit eigenem Beschluss nichts zu suchen hat, gibt dem Dasein einen wesentlichen Abstoss von der Dunkelheit seiner Herkunft in die relative Helle seines Seinkönnens.“1

Auch hier hätten Jünger und Rosenzweig nicht gezögert und flugs die passende Antwort gefunden: Die Plausibilität des Gedankens der Geschlechterfolge hat ihnen Jahre zuvor die Dunkelheit der Herkunft des Daseins bereits aufgehellt.

Heidegger aber schweigt beharrlich vom Blut.

Nicht ganz. Die hämozentrische Disposition der Epoche ringt ihm zwei charakteristische Bemerkungen zum Blut ab. Und hier ist nun alles wichtig: der örtliche, der zeitliche und der argumentative Zusammenhang – sowie die Wendungen, in denen vom Blut gesprochen wird. Es wird sich zeigen, dass Heidegger über Abstraktionen sich des allzu aufdringlichen Saftes entledigt und schliesslich zum Wasser – allerdings gerade nicht mehr zum idealistischen Wasser – zurückkehrt.

I. Im Wintersemester 1933/34 hält Heidegger in Freiburg i. Br. eine Vorlesung zu Platons Mythos vom »Höhlengleichnis« aus der Politeia (VII. Buch) unter dem Titel 'Vom Wesen der Wahrheit'. Nachdem er klar gemacht hat, dass es darum gehe „den Geist der Erde [zu] verwandeln“2 und er – mit Heraklit – das Wesen des Seins als Kampf auslegt und also alles „Seiende mit Entscheidungscharakter durchsetzt“3 ist, verweist er auf den situativen Aspekt seiner professoralen Rede. Da es Heidegger primär um „die Erweckung und Durchsetzung der Frage nach dem Wesen der Wahrheit“ geht,

„[...] hängt das eigentliche Verständnis des Mythos bei Ihnen zunächst auch nicht davon ab, ob Sie gut oder schlecht oder gar nicht Griechisch verstehen, auch nicht davon, ob Sie viel oder wenig oder gar nichts von Platon wissen, sondern allein davon, ob Sie bereit sind, mit der Tatsache ernst zu machen, dass Sie hier im Hörsaal einer deutschen Universität sitzen, d.h. ob in Ihnen etwas Unumgängliches und Fortwirkendes auf die auszulegende Geschichte von der unterirdischen Höhle anspricht.“4

Zurecht macht der Herausgeber (H. Tietjen) darauf aufmerksam, dass in der Auslegung der Leitfigur des in die Höhle zurückkehrenden Philosophen im platonischen Mythos sich das „Selbstverständnis Heideggers“5 spiegle. Die professorale Rhetorik – Rhetorik verstanden als „die Grundwissenschaft vom Menschen, [als] die politische Wissenschaft“6 – zieht zunehmend eine Kreislinie der Exklusivität um die Hörenden. So führt Heidegger die Hörenden durch die vier Stadien des Wahrheitsgeschehens – als da sind:

1 Ebd., S. 3402 GA 36/37, S. 863 Ebd., S. 94f.4 Ebd., S. 1255 Ebd., S. 3056 Ebd., S. 158

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a) Die Lage des Menschen in der unterirdische Höhleb) Die »Befreiung« des Menschen innerhalb der Höhlec) Die eigentliche Befreiung des Menschen zum ursprünglichen Lichtd) Der Rückstieg des Befreiten in die Höhle

Im vierten Stadium kehrt der „mit dem Lichtblick Erfüllte“1, der Philosoph, zu den Höhlenbewohnern zurück. Er hat die Dinge im Lichte der Sonne und die Sonne selbst gesehen und hat nun unter den Höhlenbewohnern den „Kampf um die Wahrheit“ zu entfachen.

„Dieser Kampf ist als Kampf immer ein bestimmter. Wahrheit ist immer Wahrheit für uns. [...] So ist der Wille zu Wissen und Geist dasjenige, womit wir stehen und fallen. Es ist heute viel die Rede von Blut und Boden als vielberufener Kräfte. Bereits haben die Literaten, die es ja auch heute noch gibt, sich ihrer bemächtigt. Blut und Boden sind zwar mächtig und notwendig, aber nicht hinreichende Bedingung für das Dasein eines Volkes. Andere Bedingungen sind Wissen und Geist, nicht als ein Nachtrag in einem Nebeneinander, sondern das Wissen bringt erst das Strömen des Blutes in eine Richtung und in eine Bahn, bringt erst den Boden in die Trächtigkeit dessen, was er zu tragen vermag: Wissen verschafft Adel auf dem Boden zum Austrag, was er zu tragen vermag.“2

Das Wissen soll das Strömen des Blutes in eine Richtung und Bahn bringen. Der mit dem Lichtblick begabte Rhetor ist der wissende und adelnde Stromlenker.

II. Im Sommersemester 1934 hält Martin Heidegger – ebenfalls in Freiburg i. Br., aber nicht mehr als Rektor der Universität – eine Vorlesung unter dem Titel 'Logik [als die Frage nach dem Wesen der Sprache]'3. Die Schlusspassage deutet vor auf das folgende Semester. „Die ursprüngliche Sprache“ – heisst es am Ende – „ ist die Sprache der Dichtung.“4. In der Vorlesung selbst aber wird einem Wort Gewalt angetan. Es ist das Wort »Bestimmung«:

„Wir wollen dem Wort »Bestimmung« hier einen volleren, ursprünglicheren Sinn geben. [...] Das Wort kann im alltäglichen Gebrauch verwendet werden, wie es beliebt. Wir vergewaltigen es. Aber diese Gewaltsamkeit, mit der die Philosophie Worte gebraucht und Worte bestimmt, gehört zu ihrem Wesen.“5

Der Meister spricht. Im folgenden entfaltet er – oder reisst er es auf? – das Wort »Bestimmung« in die Richtung dreier Bedeutungshinsichten:

1 Ebd., S. 183. Vgl. auch GA 34, S. 64, 88 und 326 zum Lichtblick: „[...] das Gleichnis sagt uns, [...], dass der Aufblick in das Licht schliesslich und vor allem ein Blick in die Sonne selbst, die Lichtquelle, werden muss, dass erst damit die Befreiung eine eigentliche wird.“

2 Ebd., S. 262f. - Hinweis: Das Wortfeld um »Austrag« wird später eines der Hauptworte des seynsgeschichtlichen Denkens des Ereignisses. So z.B. GA 66, S. 307F.: „Der Austrag meint das Auseinandertragen der Entgegnung [Gott und Mensch] und des Streites [Welt und Erde] in die Kreuzung ihres Wesens. [...] Das Austragen – zur Reife bringen – ist die Wesungsstille, deren Stimme vom Seyn alle Bestimmung ausgehen lässt. [...] Er-eignis ist Austrag. [...] Er-eignung ist Austrag.“ Ebd. S. 314: „Lichtung west aus dem Austrag und eignet ihm.“ Bei der Relektüre muss Heidegger selbst auf die weitreichende Tiefe seiner Aussage aufmerksam geworden seyn.

3 So: GA 58; ursprünglich nur als 'Logik' angekündigt.4 Ebd., S. 170. Im WS 1934/35 wird sich Heidegger der Auslegung der Dichtung Hölderlins widmen. Wir kommen darauf

zurück.5 Ebd., S. 127

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„Das Wort »Bestimmung«, sofern wir von unserer Bestimmung reden, hat eine dreifache Bedeutung in ursprünglicher Einheit und Zusammengehörigkeit.“

Wieder gilt die Rede den anwesend-hörenden Wir; die Kreislinie der Exklusivität wird wieder gezogen. Für diese Wir gilt eine dreifache Bestimmung:

a) das Bestimmtsein durch Auftrag und Sendungb) die Bestimmtheit durch Arbeitc) das Gestimmtsein auf die geschichtliche Einzigkeit1

Es fällt auf, dass die Entfaltung – bzw. der Aufriss – des Wortes Bestimmung um die, bzw. aus der Mitte des Wortstamms -stimm- geschieht: dieser Kern bleibt invariant, -stimm- ist das nicht wechselnde Wortatom der Bestimmungen von »Bestimmung«. Nur ein Buchstabe fehlt, um dem Wortstamm Bedeutung zu verleihen und die erste Bedeutung in der Stimme zu finden. Doch Heidegger hält sich – die Vorlesung datiert aus dem Sommer 1934 – bei der Erläuterung kleiner Stimmungen, den Launen, und dem Hinweis auf die grossen Stimmungen auf:

„Der Unterschied zwischen grossen und kleinen Stimmungen liegt darin, dass grosse Stimmungen, je mächtiger sie sind, um so verborgener wirken. Sie sind um so mächtiger, wenn sie sich offenbaren in der eigenen Schöpfung einer Tat, eines Werkes. Ein grosses Werk ist nur aus der Grundstimmung, letztlich aus der Grundstimmung eines Volkes möglich.“2

Bezogen auf den Leib, „das von aussen her an uns Sichtbare und Greifbare, den wir von innen her spüren“, gilt, dass er nicht das „Ursprüngliche des Daseins“, sondern er „gleichsam aufgehängt in der Macht der Stimmungen“ ist. Entsprechend formuliert Heidegger:

„So kann auch das Blut und das Geblüt nur dann den Menschen wesensmässig bestimmen, wenn es von Stimmungen bestimmt ist, nie von sich allein aus. Die Stimme des Blutes kommt aus der Grundstimmung des Menschen. Sie schwebt nicht für sich, sondern gehört mit in die Einheit der Stimmung. Dazu gehört auch die Geistigkeit unseres Daseins, die als Arbeit geschieht.“3

Auch hier wird Heidegger, gezwungen durch die hämozentrisch orientierte Gesamtlage der Epoche, zu Ausführungen zum Blut gedrängt. Die Geste des Abweisens ähnelt der oben besprochenen. So wie dort das Strömen des Blutes das Wissen und den Geist benötigte, um in die rechten Bahnen geleitet zu werden, ist es hier die Einheit der Stimmung, und d.h. die Geistigkeit 'unseres' Daseins, die als Arbeit geschieht, die die Stimme des Blutes zu fundieren hat.

Sowohl das Strömen als auch die Stimme des Blutes sind als bloss natürliche Gegebenheiten nicht hinreichende Bedingungen für den Auftrag und die Sendung, die der geschichtliche Augenblick den Deutschen zu vergeben hat. So gehen Heidegger und Jünger mit einem

1 Ebd., S. 127-1302 Ebd., S. 1303 Ebd., S. 153

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nicht-rassischen Konzept des Volkes an ihr Werk der Umerziehung der Deutschen1.

Aus dem Wintersemester 1934/35 datiert die erste Hölderlin-Vorlesung Heideggers: 'Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«'. Er beginnt seine Vorlesung mit demjenigen Hymnus, mit dem Norbert v. Hellingrath seinen Vortrag 'Hölderlin und die Deutschen' beendete. Hellingrath schickte seiner Lesung von »Germanien« die folgenden Worte voraus:

„Und nun zurück zu Germanien! Hölderlin hat sich entschieden der abendländischen Heimat zugewandt; so vieles in ihr die Hoffnung niederdrückt, er will das Göttliche, das er immer gesucht hat, nun noch in der Zukunft suchen. Die alten Götter sind tot, leben bloss noch in der Sage fort, aber um diese drängen sich ihre Schatten zusammen zu neuer Geburt.“2

In Germanien geht es um Alles. Die Besinnung auf die Sprache – als „der Güter Gefährlichstes“3 –, auf das Sagen des Dichters als der „Stimme Gottes“ (Hellingrath) tut not. Hölderlin ist der Dichter der Deutschen. Heidegger:

„Dichter der Deutschen nicht als genitivus subiectivus, sondern als genitivus obiectivus: Der Dichter, der die Deutschen erst dichtet, [...], d.h. der Stifter des deutschen Seyns, [...]“4

Heidegger verweist auf das Gedicht 'Stimme des Volks'; in ihm kommt der Bezug der beiden Teile der Vorlesung, 'Germanien' (Volk) und 'Der Rhein' (Strom), zur Sprache:

„Kein Zufall, dass ein Gedicht, das überschrieben ist »Stimme des Volks« und das wir in zweifacher Ausführung haben, in seinem Beginn den Stromgedanken aufnimmt:

Du seiest Gottes Stimme, so glaubt ich sonst, In heilger Jugend; ja und ich sag es noch! Um unsre Weisheit unbekümmert Rauschen die Ströme doch auch, ...“5

„Kein Zufall“ – wie könnte es einer sein!? Gezeigt wurde, dass und wie in der Vorlesung des Wintersemesters 1933/34 vom Strömen des Blutes gesprochen wird, gezeigt wurde weiter, in welchem Zusammenhang in der darauf folgenden Sommervorlesung 1934 von der Stimme des Blutes gehandelt wird. In beiden Wendungen ist der Genitiv ein genitivus obiectivus: Das Strömen des Blutes meint einen Strom, der das Blut erst lenkt, die Stimme des Blutes meint eine Stimme, die das Blut erst auf eine Stimmung ab-stimmt. Streichen wir – mit Heidegger – die Nennung des Blutes aus den beiden Wendungen, so bleiben die stimmende Stimme und

1 Vgl. dazu die wichtige und grundsätzliche Stellungnahme Heideggers zur Arbeit seines Freundes (nach 1934): „Das Entscheidende an Ernst Jüngers Werk ist, dass es an einer wesentlichen geschichtlichen Erfahrung (der Gestalt des Arbeiters) überhaupt und wesentlich das Gestalthafte mit ins Wissen heben und so das Ver-stehen des Seins, den Seinsentwurf als Grund des Menschseins mit erfahrbar und gründbar machen hilft. Es ist ein Zurückholen der Metaphysik in das »Volk«.“ Heidegger verweist dabei auf „Hegels Wort in der »Logik«“ um sich des kontinuierlichen Sinns der deutschen Bewegung zu versichern. Hegels Wort lautet: „Indem so die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen, - wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.“ (GA 90, S. 76)

2 N. v. Hellingrath, Hölderlin. Zwei Vorträge, München 1922. S. 443 GA 39, S. 14 Ebd., S. 2205 Ebd., S. 224

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die gelenkte Bahn des Stroms1. Zusammengenommen ergibt sich das von allem Hämozentrischen gereinigte Wort Stromstimme. Mit dieser Wortfügung geht Heidegger – unausgesprochen – an die Auslegung Hölderlins. Zweimal wird dies in der Vorlesung 1934/35 deutlich. Einmal heisst es von der Sprache Hölderlins – dem Sagen, das „gesagt und doch ungesagt im Volke steht“ –, dass „sie im Verborgenen noch Strom ist, worin und als welchen das Seyn sich selbst stiftet. Meint: Das Sagen ist in der „Tiefe seines Strömens“2 das sich selbst stiftende Seyn als die Stimme eines Stroms, die Stromstimme. Aber auch dort, wo Heidegger auf den Vater Rhein zu sprechen kommt, ist ihm der Strom...

„[...] nicht ein Gewässer, das an dem Ort der Menschen nur vorbeifliesst, sondern sein Strömen, als landbildendes, schafft erst die Möglichkeit der Gründung der Wohnungen der Menschen. Der Strom ist nicht nur vergleichsweise, sondern als er selbst ein Stifter und Dichter.“3

Der Strom ist Stifter und Dichter, ist Stromstimme, noch einmal.

Indem Heidegger die Aufgabe vorsetzt, sich und „uns dem Machtbereich der Dichtung Hölderlins zu nähern und uns ihm gar auszusetzen“4, gibt er die Unterscheidungskraft des Denkens preis. Schon Hellingrath hat vor ihm zur Art des Dichtens Hölderlins und Pindars in 'harter Fügung' das folgende gesagt:

„So/ von schwerem wort zu schwerem wort reiszt diese dichtart den hörer/ lasst ihn nie zu sich kommen nie im eigenen sinn etwas verstehen vorstellen fühlen: von wort zu wort muss er dem strome folgen und dieser wirbel der schweren stoszenden massen in seinem verwirrenden oder festlich klaren schwunge ist ihr wesen und eigentlicher kunstcharakter.“5

Heidegger hat sich für die Stromschnellen und den Wirbel des Seyns entschieden. Statt den andrängenden Hämozentrismus wahrzunehmen und den ihm entlockten Wendungen vom Strömen und der Stimme des Blutes auf den Grund zu gehen, d.h. sie zu analysieren, hat er es vorgezogen, sie in den heiligen Wassern Hölderlins zu verklären. So hat das Geschick des Seyns das letzte Wort:

„[...] Lang istDie Zeit, es ereignet sich aberDas Wahre“

dichtet Hölderlin in 'Mnemosyne'. Und Heidegger kommentiert:

„Die Zeit [...] ist lang, weil [...] ein unausgesetztes Warten und Harren auf das Ereignis herrscht, ...“6

Später, bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, notiert Heidegger zu seiner berühmten Schrift Sein und Zeit:1 Vgl. ebd., S. 224: Im „rauschenden, seiner selbst sicheren Zug des Stroms erfüllt sich ein Geschick, erwirkt sich Land und Erde

Grenze und Gestalt, wird Heimat den Menschen und damit die Wahrheit dem Volke.“2 Ebd., S. 2563 Ebd., S. 2644 Ebd., S. 85 Norbert v. Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe, Jena 1911. S. 66 GA 39, S. 56

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„»Sein und Zeit« als Name für ein Ereignis im Seyn selbst.“1

Schluss

Blut ist ein solares Edelmedium2. Immer und überall in der bekannten Geschichte der Menschheit lassen sich Belege für die nahe liegende und fundamentale Analogie zwischen der Sonne und dem Herzen finden. Wenn William Harvey – der Entdecker des Blutkreislaufs – in der Vorrede zu 'De Motu Cordis' (1628) vom Herzen als der Sonne des mikrokosmischen Leibes spricht, nimmt er lediglich eine Tradition auf, die spätestens mit Aristoteles begann. Rosenzweigs spekulative Soziologie des Judentums unter dem Titel 'Das Feuer oder das ewige Leben' steht voll und ganz in dieser Tradition. Es wäre nicht allzu schwierig zu zeigen, dass der Leser und ausgezeichnete Kenner Hegels durch die Lektüre des Hegelschen Korpus – noch vor aller bewussten Reflexion – zu seiner hämozentrischen Konzeption des Judentums angespornt wurde. Ebenso hämozentrisch – aber nicht-rassisch – ist Jüngers Fassung des deutschen Geschlechts. Beide gebrauchen das solare Edelmedium Blut um ihren auf das kommende Reich ausgerichteten Diskurs zu organisieren. Es ist die Folge einer höheren Notwendigkeit, dass am Horizont der beiden Diskurse, als Zeichen der Reiche, die solaren Symbole des Sterns und des Sonnenrades (der Swastika) erscheinen.3 Beide Aneignungsmimetismen zielen über die Verwendung des nahen solaren Signifikanten Blut auf das ferne zu erreichende Signifikat der Sonne selbst.

Heidegger erkennt zwar den 'umgekehrten Platonismus' seiner Epoche (Nietzsche, Jünger), ist sich aber zu schade, dem ihn bedrängenden Hämozentrismus auf den Grund zu gehen. Weder kommt er je während seiner vieljährigen Auseinandersetzung mit Nietzsche (ab 1936) auf dessen Heureka! der Ähnlichkeit von Blut und Geist zu sprechen, noch unterbricht er seine Lektüre von Jüngers Arbeiter an der Stelle, da dieser von der „zauberischen Einheit von Blut und Geist“4 redet. Seine Stellung zum Hämozentrismus deckt sich deshalb mit derjenigen Jüngers, der gegen die aufkommenden 'Propagandisten der Rasse' im Jahr 1930 so argumentiert:

„Das, was meiner Ansicht nach den Propagandisten des Blutes und der Rasse mangelt, ist nichts anderes – als ein wenig Blut, ein wenig von jenem unaussprechlichen Saft, der nämlich gar kein Ideal darstellt, sondern bedeutend mehr – eben das, was die Ideale erst setzt und ihnen Gültigkeit schafft. Was heute bei uns gelernt werden muss, das ist das schweigende Einverständnis in bezug auf das Selbstverständliche. Auf diesem

1 GA 49, S. 272 Gold ist ein anderes.3 Vgl. dazu die Aufmerksamkeit Rosenzweigs auf Hermann Burtes Roman 'Wiltfeber, der ewige Deutsche' (1912). Ein

„herrliches Buch, das ganz trunken=betrunken ist und infolgedessen nichts erfindet aber alle Geheimnisse seines Herzens ausschwatzt, eines germanischen Rasseherzens.“ (Gritli-Briefe, 12. V. 1918). Im Herbst desselben Jahres – während der Planung des Aufbaus des Sterns – schreibt er an Eugen Rosenstock: „Lieber Eugen, kennst du die bei den Wiltfebern gebräuchliche Umformung des Kreuzes in das »altgermanische« Hakenkreuz [Zeichnung]? Und die Erklärung des Hakenkreuzes als - »Sonnenrad«?! Ist der Feind im eigenen Hause nicht auch hier wieder der gefährlichste?“ (ebd., Herbst 1918). Der Feind im eigenen Hause will das Selbe als der mimetische Rivale in Bezug auf das eine solare Objekt.

4 E. Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982, S. 13. Vgl. GA 90, S. 307: Heidegger übergeht die Stelle kommentarlos.

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Selbstverständlichen beruht die deutsche Strategie, deren Gesetze unveränderlich sind. Ihre Angriffsrichtung ist die ewige Utopie des Reiches; die Gründung und der Zerfall der irdischen Reiche bezeichnen die Abschnitte ihrer Bahn.“1

An dieses schweigende Einverständnis in bezug auf das Selbstverständliche hat Heidegger sich zeit seines Lebens gehalten. So grundiert der ungedachte Hämozentrismus sein Werk. Die in den 'Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)' angedeutete Disziplin einer Sigetik ruht auf diesem Ungedachten.

„Die Nähe zum letzten Gott ist die Verschweigung. Diese muss im Stil der Verhaltenheit ins Werk und Wort gesetzt werden. [...]Verhaltenheit stimmt den jeweiligen gründenden Augenblick einer Bergung der Wahrheit im künftigen Dasein des Menschen. Diese im Da-sein gegründete Geschichte ist die verborgene Geschichte der grossen Stille. In ihr allein kann noch ein Volk sein.“2

Ende der 30er Jahre ist Heidegger nicht weiter gekommen; seine ständige Praxis ist nun die wissentliche 'Übereignung an das Er-eignis'3:

„Die Zukünftigen [...] sind des harten Geschlechts, das die Deutschen wieder in die Not ihres Wesens rettet. Sie sind die Schweigenden. Sie sagen, was sie sagen, nur als den nothaften Anlass einer Verschweigung. Sie zwingen in das Ahnen, [...]“4

In der 'Geschichte des Seyns' formuliert er:

„Denn zu gründen gilt es im Eigentum des Seyns ein ahnendes Geschlecht. /Angestimmt vom Seyn muss das denkende Wort seine Stimme erschweigen.“5

Das Seyn ist der Ahne des deutschen Geschlechts, der im verschwiegenen Er-ahnen den anderen Anfang6 erinnert.

1 E. Jünger, a.a.O., S. 5382 GA 65, S. 12, S. 343 GA 65, S. 34 GA 66, S. 615 GA 69, S. 876 GA 65, S. 20

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Epilog

(F. Rosenzweig; aus dem Gritlianum, bearbeitet vom Verfasser)

Im Anfang' – als ungeschieden quoll Sein und Zeit

Voll rann das grosse Becken – Welt Voll bis zum Rand – lauter SeinDa stieg mein glänzender, glatter Bau,schlank, gefügt und froh aus der Flut, und hingelehnt am Rand des Beckens: Spiegel,Ding unter Dingen, in den Dingen der Welt.

Blickte brüderlich ins Aug' den harten Bergen:– so ihr die Erde, trägt mich meiner Knochen hartes Gesteinund den Strömen:– so ihr der Erde Bahnen, kreist in meinem Innern des Blutes Stromund den Winden:– so ihr die Erd' umweht, ziehn durch mich die Züge der Luft und dem All:– öffnen die Tore die Sinne – und lassen ein: die Welt.

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