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HäNDE WEG VOM STEUER! Bei der BMW Group arbeiten verschiedene Teams daran, dass Autos in Zukunft immer selbstständiger fahren, die Fahrer entlasten und in schwierigen Situationen unterstützen. Bis zum vollautomatisierten Fahren ist es allerdings noch ein langer Weg. VERNETZTES AUTOMOBIL 62

Hände Weg vom Steuer!

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Hände weg vom Steuer!Bei der BMW Group arbeiten verschiedene Teams daran, dass Autos in Zukunft immer

selbstständiger fahren, die Fahrer entlasten und in schwierigen Situationen unterstützen.

Bis zum vollautomatisierten Fahren ist es allerdings noch ein langer Weg.

Vernetztes Automobil

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WAlter Kuffnerist Hauptabteilungsleiter

Fahrerassistenzsysteme, Karosserie-elektronik und physisches Bordnetz

bei der BMW Group.

Dr. michAel Würtenbergerist Hauptabteilungsleiter für

ConnectedDrive und Infotainment bei der BMW Group.

Dr. DirK WisselmAnnleitet die Integration

Fahrerassistenz im Bereich Gesamtfahrzeug

bei der BMW Group.

Dr. hAriolf gentnerleitet das Projekt Umfeldmodell

bei der BMW Group.

Dr. richArD rAuleitet die Abteilung

Assistenzsysteme Fahrerlebnisplatz bei der BMW Group.

AUToren Das Lenkrad aus der Hand geben? Sich dem Auto kom-plett anvertrauen? Auto matisiert fahren also? Dem Auto-fahrer heute fällt es immer noch schwer, sich führerlose

Fahrzeuge im regulären Straßenverkehr vorzustellen. In allen Bereichen: Viele Menschen haben zum Beispiel die Frage, ob sie eine führerlose U-Bahn nutzen würden, kategorisch verneint. Das ungute Gefühl einer Maschine oder einer Elektronik ausgeliefert zu sein, wird sich bei autonomem Fahren gleichlautend einstellen. Keine Technologie kann über Nacht die im täglichen Leben gewachsenen Zweifel in Begeisterung wandeln. Psycholo-gische Vorbehalte und die Angst vor Kontrollverlust werden sich nur schrittweise über die Zeit ausräumen lassen.

Aber, jede neue positiv erlebte Zusatzfunktion, die durch teil-automatisiertes Fahren schwierige Situationen wie das Durch-fahren von Engstellen auf Autobahn-Baustellen signifikant ent-schärft, hebt das Akzeptanzlevel Schritt für Schritt. Und Vielfahrer werden ins Grübeln kommen, ob sie die gewonnene Zeit nicht sinnvoller nutzen können, während das Fahrzeug in langweiligen Phasen beim Stop-and-Go-Kriechen im Stau die automatische Spurführung übernimmt. Die ersten Schritte hin zum automati-sierten Fahren sind bereits gemacht. Hier ein Überblick.

high-tech unterstützt – Auch im AlltAg

Aktuelle Fahrerassistenzsysteme unterstützen und entlasten den Fahrer schon heute bei seiner komplexen Fahraufgabe in zahlrei-chen Situationen. In Serie befindliche Regelsysteme wie Radar-basiertes ACC – ein abstandsgeregelter Tempomat – und die sogenannte Gierratensensor basierte Aktivlenkung greifen auto-ma tisiert ins Fahren ein. Sie überwachen und steuern die Longi-tudinal- und Lateral- Bewegung mit, um die Fahrsicherheit zu er-höhen und gleichzeitig mehr Komfort zu bieten. Auch der Einzug der Kamera und deren Bildverarbeitung in das Auto haben die maßgeblichen Voraussetzungen für ein automatisierbares Fahren bereits gegeben.

Einen allerersten und nicht wirklich überraschenden Schritt in Richtung automatisiertes Fahren wird der Kunde erleben, wenn er zumindest für eine überschaubare Zeit im Bereich von Sekunden die Hände vom Lenkrad nehmen darf und das Fahr-zeug sich für diesen Zeitraum selbsttätig in der Spur und auf Abstand zum Vorderfahrzeug hält. Insbesondere in Stausituatio-nen wird das für den Kunden einen erheblichen Zugewinn an Komfort bedeuten.

Ein neuartiges Erlebnis als zweiter Schritt zu einer automati-sierten Bewegung des Autos wird sich für jene Kunden eröffnen, die nur über einen eng begrenzten Parkraum verfügen und sich beim Ein-und Aussteigen quälen müssen. Das Fahrzeug kann man zukünftig vor der Garage oder dem Stellplatz abstellen und ohne Mühe aus- und einsteigen. Es rollt dann nach einem Fern-bedienkommando selbständig in die Garage oder auf den Stell-platz und hält korrekt positioniert an. Oder im Parkhaus der Zukunft: Der Fahrer verlässt sein Auto an einem Übergabestütz-punkt – er muss den passenden Parkraum nicht mehr zeitrau-bend selbst suchen, sondern das Fahrzeug bewegt sich, elektro-nisch zugewiesen, selbsttätig zum Stellplatz.

Ohne Fahrereingriff auf der Autobahn von A nach B zu fahren, stellt einen weiteren logischen Schritt der Hochautomatisierung dar. In einer Machbarkeitsstudie der BMW Group Forschung und

63oktober 2012

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Technik ist die Zukunftstechnologie bereits heute umgesetzt und erlebbare Realität, 1. Ebenso demonstriert das Google mit seinen Self-driving Cars in Nevada.

forschung für DAs „loslAssen“

Die langfristige Vision lautet, dass ein Fah-rer zu jedem Zeitpunkt entscheiden kann, ob er selbst – und gegebenenfalls unter-stützt fährt – oder ob er die Fahraufgabe komplett abgeben kann. Im besten Fall so, dass er auch in Grenzsituationen die Fahr-aufgabe nicht wieder selbst mit einer schnellen Reaktion übernehmen muss, die ihn vielleicht überfordern würde.

Bis dahin ist ein langer Weg. Und mo-mentan lautet die elementare Frage immer noch: Wie kann man ein teilautonomes System so gestalten, dass der Fahrer recht-zeitig zurück in die Verantwortung genom-men werden kann? In Untersuchungen wird die Anzahl an Sekunden ermittelt, nach denen ein Fahrer abhängig von Ver-

kehrssituation und Aufmerksamkeit nach automatisiertem Betrieb die Fahr aufgabe wieder voll übernehmen kann. Außerdem müssen die automatisierten Systeme selbst rechtzeitig diagnostizieren, wann sie an ih-re Grenzen stoßen und die Fahraufgabe an den Fahrer zurückgeben müssen.

Entscheidend für die Lösung dieses Problems ist die Gestaltung des Mensch-Maschine-Interfaces. Es ist in zwei Richtun-gen zu perfektionieren: Es muss den Fahrer entlasten und Raum dafür schaffen, dass alternative Aufgaben bewältigt werden kön-nen. Gleichzeitig muss es dem Fahrer stän-dig bewusst machen, dass er die Fahrfunk-tion überwachen muss. Ein geschicktes Zusammenspiel der verschiedenen Anzeige-flächen im Fahrzeug (Head up-Display, Inst-rumenten-Kombi und zentrales Informati-onsdisplay) ist dabei ebenso wichtig wie die kontext abhängige und vorausschauende Steuerung des Infotainment-Angebots. Ein derartiges intelligentes Anzeige-Bedienkon-zept ist eine echte Herausforderung.

Ein weiterer zentraler Entwicklungs-schwerpunkt liegt in der Umfelderfas-sung, dem sogenannten Umfeldmodell. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, welche großartigen Fähigkeiten die menschliche Wahrnehmung besitzt, wenn es darum geht, komplexe Situationen schnell zu bewerten und Handlungsoptionen gegen-einander abzuwägen. Das schwache Glied in der Kette sind allerdings beim Fahren die relevante Sensorik, primär die Augen, und die nicht immer zuverlässige Auf-merksamkeit. Gerade hier liegen die Chancen, aber auch Grenzen der Umfel-derfassung im Fahrzeug: Bereits heute ist es möglich, mit in unterschiedlichen Blickrichtungen angeordneten Video-, Radar- und Ultraschallsensoren quasi rund um das eigene Fahrzeug zu schauen.

Die unterschiedlichen Sensorprinzipien ergänzen sich in Reichweite, Auflösung sowie Helligkeits- und Wetterabhängigkeit. Das Fahrzeug ist dem Menschen in vielen Aspekten rein sensorisch deutlich überle-

1 Forschungsprojekt der BMW Group zum automatisierten Fahren

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gen. Die große Herausforderung liegt nun in der Auswertung und richtigen Interpre-tation der Signale. Während der Mensch intuitiv seine Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Dinge richtet und eine schier grenzenlose Fülle von Merkmalen in die Bewertung von Situationen mit einbezieht, muss diese „Intelligenz“ dem Umfeldmo-dell des Fahrzeugs beigebracht werden.

DAs umfelD muss mitspielen

In den kommenden Jahren wird es hier große Fortschritte geben. Die intuitive Ver-ständnisleistung eines menschlichen Fahrers wird man in absehbarer Zeit aber nicht vollständig automatisieren können, sodass komplexe Grenzsi-tuationen auch längerfris-tig den Eingriff eines menschlichen Fahrers erfordern werden.

Auch ist darauf zu ach-ten, dass teil- oder hoch-automatisierte Fahrzeuge nicht zu neuen Störfakto-ren im Verkehr werden. Straßenverkehr funktio-niert in der Regel rei-bungslos, weil die meis-ten Verkehrsteilnehmer sich auch in komplexeren Situationen vorausschau-bar und rücksichtsvoll verhalten und ein intuiti-ves Verständnis für Ver-kehrssituationen erwor-ben haben. Verhielten sich nun hochautomati-sierte Fahrzeuge in bestimmten Situ-ationen deutlich anders und damit für andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr intuitiv voraussagbar, könnte dies zu neuen Risiken und weniger flüssigem Verkehr führen.

Ein Weg aus diesem Dilemma, der zudem viele weitere Möglichkeiten eröffnet: Das Umfeldmodell muss mit Informationen angereichert werden, die das Fahrzeug nicht direkt sensorisch erfassen kann, sondern von anderen Fahrzeugen oder einem Backend-System erhält. Das BMW ConnectedDrive Backend zum Beispiel bietet eine Platt-form, um Informationen von Fahrzeu-gen zu sammeln, geeignet zu analysie-

ren beziehungsweise zu aggregieren und entsprechend gefiltert zurückzuspielen. Moderne Kommunika tionsnetze wie UMTS oder LTE erlauben es, die Fahr-zeugflotte zu nutzen, um das digitale Kartenmaterial kontinuierlich und kol-lektiv zu verbessern und die Verkehrs-lage präzise zu erfassen. Hieraus lassen sich Gefahrenwarnungen oder Echtzeit-Verkehrsinformationen ableiten und an die betroffenen Fahrzeuge verteilen. In einem weiteren Ausbauschritt wird die direkte Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommu-nikation an Bedeutung gewinnen und so

Funktionen mit wesentlich höheren Anforderungen an Zeitverzögerung und Verfügbarkeit ermöglichen.

eine frAge Des rechts

Wenn es um die Entwicklung des auto-matisierten Fahrens geht, spielen auch die rechtlichen und versicherungstechnischen Anforderungen eine große Rolle. Verbrau-cherschutzorganisationen überarbeiten gerade die Klassifizierungsregeln, um Maß-nahmen gegen Auffahrunfälle und Schutz-maßnahmen für Fußgänger und Radfahrer gegen Kollisionen einzufordern. Automati-sches Anbremsen bis hin zu Bremseingriff mit vollem Bremsdruck soll helfen, Kollisi-

onen zu vermeiden oder zumindest die Unfallschwere durch Verringern der Auf-prallenergie signifikant abzumildern. Fah-rerassistenzsysteme haben entsprechend das Potenzial, Reparaturkosten zu vermei-den und Versicherungseinstufungen oder -prämien zu senken. Zukünftige Einpark-systeme werden einen Bremseingriff erzwingen, falls die Minimaldistanz zum „gegnerischen Fahrzeug“ unterschritten wird. Bagatellschäden werden so der Ver-gangenheit angehören.

Nicht zu vergessen ist der Artikel 8 des Wiener Weltabkommens: Danach hat das

autonome Fahren unter Ju-risten noch keine Chance. Dort heißt es nämlich, dass der Fahrer seinen Wagen „dauernd und unter allen Umständen kontrollieren muss“. Doch stammt das Uno-Dokument von 1968 und damit aus einer Zeit, als an elektronische Assis-tenzsysteme nicht zu den-ken war. Die Rechtslage wird heute längst nicht mehr so kategorisch inter-pretiert und es wird auch diskutiert, wie man diese weiterentwickeln kann, um mit automatisierten Fahr-funktionen die Fahrsicher-heit steigern zu können.

Jenseits des Atlantiks ge-hen die Behörden sogar noch weiter: Um den Google-Entwicklern, ambi-tionierten Autoherstellern und Zulieferfirmen realisti-sche Testmöglichkeiten zu

bieten, hat der US-Staat Nevada jetzt ein Gesetz auf den Weg gebracht, das in dem Wüsten- und Spielerstaat ab März 2012 den Betrieb von führerlosen Autos erlaubt. Allerdings machen die Behörden eine Ein-schränkung: Auch wenn niemand am Steu-er agiert, muss zumindest eine Person im Fahrzeug sein, die bei Defekt oder Disfunk-tion die Kontrolle übernehmen kann.

Wie sich gesetzlichen Rahmenbedin-gungen verändern können, war schon bei der Entwicklung des Sicherheitsgurts oder bei den Airbags zu sehen. Auch auf dem Wege zum hochautomatisierten Fahren müssen sie schrittweise nachgezogen wer-den. Der Technologiesprung ist allerdings ungleich höher.

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65oktober 2012