Hahn 2007 Marshall Sahlins

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Marshall D. Sahlins (* 1930)Von der ursprnglichen berflussgesellschaft zum ,,Develop-ManMit seiner These der ursprnglichen berflussgesellschaft und seiner Beschreibung der hauswirtschaftlichen Produktionsweisewurde Marshall Sahlins zu einem der bedeutendsten Vertreter einer Denkrichtung, die der Mainstream-konomik das Recht abspricht, ein einziges Wirtschaftsmodell (den homo oeconomicus) fr alle Gesellschaften zu postulieren. Die Entscheidung fr eine Wirtschaftsweise wird vielmehr auf Grund kultureller Prferenzen getroffen. Damit erwies sich Sahlins auch als Stichwortgeber fr die Post-Development-Bewegung.

Hans Peter Hahn

I. Leben

konomie der Flle

Marshall David Sahlins wurde am 27. Dezember 1930 in Chicago geboren und wuchs dort auf. Er studierte in Ann Arbor an der University of Michigan unter anderem bei dem Kulturkologen Leslie White. 1954erwarb er den Doktorgrad an der Columbia University, wo er Kontakt mit Karl Polanyi und Julian Steward hatte. Danach kehrte er nach Ann Arbor zurck, um dort zu lehren. Ende der 60er Jahre verbrachte er zwei Jahre in Paris und setzte sich dort mit den Ideen von Claude LeviStrauss auseinander. Von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1999 war er Inhaber des Lehrstuhls fr Cultural Anthropology in Chicago, wo er weiterhin lebt. 2002 entschloss er sich, die Leitung der Prickly Paradigm Press zu bernehmen, um deren Schwerpunkt, die Verffentlichung wissenschaftlicher Essays, weiter auszubauen. Feldforschungsaufenthalte fhrten ihn in die Trkei und vor allem in die Pazifik-Region (Fidschi, PapuaNeuguinea). Jedoch sind es nicht diese Feldforschungen, sondern seine grundlegenden theoretischen berlegungen, die seine herausragende Rolle in der gegenwrtigen Anthropologie begrnden. An erster Stelle ist hier die Aufsatzsammlung Stone Age Economics (1972) zu nennen, worin er das von ihm schon 1966 entworfene Konzept der Original Affluent Society weiter ausbaute. Von gleich groer Bedeutung ist Culture and Practical Reason (1976), das als Loslsung von der damals dominanten Kulturkologie gelesen werden kann. Sein jngstes Buch mit dem Titel ,,Culture in Practice (2000) umfasst eine Sammlung frherer Aufstze und kennzeichnet schon durch den Titel die Frage, die ihn ber ein Vierteljahrhundert hinweg beschftigte: Wie ist der Zusammenhang zwischen Praxis und Kultur zu beschreiben?II. Werk und Einordnung

Als er 1966 auf dem Symposium Man the Hunter in Chicago seine These von der original affluent society vortrug, war dies eine gezielte Provokation in zwei unterschiedliche Richtungen. Zum einen wandte er sich gegen die auch heute noch verbreitete Vorstellung, das Dasein als Jger oder Sammler zwinge zu einem von Mangel geprgten, entbehrungsreichen Leben ohne Rast und in bestndiger Angst vor Not und Katastrophen, und erst die zur Sesshaftigkeit fhrende Erfindung des Ackerbaus (neolithischeRevolution) habe zu Nahrungssicherheit und einem komfortableren Lebensstil gefhrt. Sahlins begrndet seine These von der ursprnglichen berflussgesellschaft mit damals neuen empirischen Studien zur Ernhrung und zum Arbeitsaufkommen bei Jgern und Sammlern. Basierend auf Langzeituntersuchungen konnten diese belegen, dass bei einer kalorienreichen und ausgewogenen Ernhrung der Arbeitsaufwand pro Zeiteinheit bei diesen Gruppen sehr viel niedriger liegt als bei buerlichen Gruppen, die in der gleichen Region leben. Sahlins berief sich dabei auf die Studien von Richard Lee bei den !Kung-Buschleutenin Namibia sowie auf Daten von den australischen Aborigines,den Feuerland-Indianern und den nordamerikanischen Westksten-Indianern. Die andere Zielrichtung seiner Polemik war der Begriff der ,,berflussgesellschaft, den einige Jahre zuvor der amerikanische konom J. K. Galbraith ins Gesprch gebracht hatte (deutsch:Gesellschaft im berfluss, 1959). Galbraith hatte erklrt, dass dieVlker (...) fast alle bis in die neueste Zeit arm gewesen seien und dass sich erst in jngster Zeit im Westen ,,ein umfassender und bis dahin beispielloser Wohlstand entwickelt" habe (Galbraith 1959,S. 7). Die Theorien der Wirtschaftswissenschaft, die

M i t seinen Thesen stellt er die damals in der Kulturkologie dominierende Idee der Entwicklung der Menschheit auf den Kopf.

Marshall Sahlins' Werk ist am besten zu verstehen aus seiner persnlichen Neigung, Gegenpositionen zu gngigen, aber mangelhaft reflektierten Vorannahmen ber Unterschiede zwischen dem Westen und dem Rest der Welt zu entwerfen. Dabei ist er ein Meister kritischer, oft beiender Polemik, die aber stets mit sorgfltigen Analysen und wohldurchdachten neuen theoretischen Einsichten gepaart ist.

Entwicklungstheorie - Wer ist wer?Mit dem Beitrag von Hans Peter Hahn setzen wir die Serie fort, die Reinold E. Thiel als ehemaliger Chefredakteur in ,,Entwicklung und Zusammenarbeit" begonnen hat. Thiel betreut auch die neue Folge der Serie in unserer Zeitschrift. Redaktion

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1968: Notes on the Original Affluent Society, in: R. B. Lee. I. Devore (Hg.): Man the Hunter. Chicago,Aldine, S. 85-89 1972: Stone Age Economics. New York: Aldine (dt. bers. von Kapitel I: konomie der Flle - Die Subsistenzwirtschaft der Jger und Sammler, in: F. Duve (Hg.): Technologie und Politik 12 -Die Zukunft der konomie. Reinbek, Rowohlt, S. 154-204) 1976: Culture and Practical Reason. Chicago.(dt.:Kultur und praktische Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp 1981) 1988: Cosmologiesof Capitalism:The Trans-PacificSector of TheWorld System. Develop-Man Economics, in: Proceedings of the British Academy 74, S 1-51 . 1993:Goodbye to Tristes Tropes: Ethnography in the Context of Modern World History, in: Journal of Modem History 65, S. 1-25 1999:Two or Three Things that I Know about Culture, in: Journal of the Royal AnthropologicalInstitute 5, S. 401-421 2000: Culture in Practice. New York, Zone Books2002: Waiting for Foucault, still. Chicago, Prickly Paradigm

tionsweise, so Sahlins, zielt nicht darauf ab, Einnahmen oder Gewinn zu maximieren, sondern darauf, mit beschrnktem Einsatz von Mitteln und vor allem von Arbeitskrften allen Angehrigen einer Gruppe das berleben zu sichern. Der Aufwand an Arbeitszeit ist auch hier angesichts beschrnkter Produktionsziele geringer als in den westlichen Gesellschaften. An der hier entwickelten Denkfigur - nmlich Unhinterfragtes ber unsere eigene Gesellschaft anhand der Beobachtung des Fremden in Frage zu stellen -lsst sich ein zentraler Anspruch im Schaffen von Marshall Sahlins festmachen. Mit seinen Thesen stellt er die damals in der Kulturkologie dominierende Idee der Entwicklung der Menschheit auf den Kopf. Offensichtlich fhrt zunehmende Beherrschung der Natur nicht unmittelbar zu besserer Ernhrung und geringerem Aufwand bei der Sicherung des Lebens.Damit widerspricht er dem noch weit verbreiteten Nachhall des Evolutionismus und populren kulturmaterialistischen Vorstellungen, dass der Entwicklungsgrad einer Gesellschaft anhand ihrer konomischen und technologischen Grunddaten zu beschreiben sei.Kultur und konomie

2004: Apologies to Thucydides. Understanding History as Culture and Vice Versa. Chicago, UCP

An die Stelle des so widerlegten, bis dahin in der Ethnologie vorherrschenden Umweltdeterminismus setzte er den (vondem franzsischenHistoriker Lucien Febvre beCook, Scott (1974): Structural Substantivism. A Critical Review of Marshall reits 1922 eingefhrten) Begriff des Possibilismus.In seiSahlins' Stone Age Economics, in: Comparative Studies in Society and nem Buch ,,Culture and Practical Reason (1976)fhrt er History 16, S. 355-379 aus, es sei nicht richtig, auf Grund bestimmter Umweltfaktoren wie Klima, Bodeneigenschaften oder VegetaBird-David, Nurit (1992): Beyond 'The Original Affluent Society': tion auf bestimmte optimale Nutzungstechniken loA Culturalist Reformulation, in: Current Anthropology 33/1, S. 25-47 kaler Ressourcen zu schlieen. Jede beliebige UmweltKohl, Karl-Heinz (2001): Er ist gewissermaen Kolumbus.Rezension von konstellation,so seine Erkenntnis,bietet der lokalen GeMarshall Sahlins: Culture in Practice, in: F Z 28.12.,S. 48 A sellschaft eine Reihe von unterschiedlichen Mglichkeiten, bestimmte Ressourcen auszuwhlen, auf andere zu verzichten, sowie bestimmte Techniken der Subin der Zeit bitterer Armut entstanden seien (nmlich in sistenz anzuwenden und andere nicht. Die Entscheider Zeit des Frhkapitalismus)und auf dem zentralen Be- dung darber ist nicht durch die Umwelt vorgegeben, griff der Knappheit basierten,seien deshalb heute nicht sondern wird auf Grund kultureller Prferenzen getrofmehr zutreffend.Sahlins zeigte nun, dass es schon sehr fen. Damit fhrt er den Begriff der Kultur in die Debatte frh in der Geschichte der Menschheit berflussgesell- ein: Die konomie einer Gesellschaft kann nicht erklrt schaften gegeben hatte, und dass die weithin akzeptier- werden, ohne deren Kultur als entscheidenden Faktor te Gleichsetzungvon Wohlstand und berfluss mit west- fr die jeweiligen lokalen Praktiken zu beschreiben. lichen Industriegesellschaftenauf einer falschen Vorannahme beruhte. berfluss sei kein spezifisches oder gar Die Verbindung von Kultur und konomie bleibt das exklusives Merkmal westlicher Gesellschaften. Aller- zentrale Thema von Sahlins' weiterem Schaffen. In verdings gebe es unterschiedliche Wege zu einer konomie schiedenen wichtigen Aufstzen der 1990er Jahre kritider Flle": den Zen-Weg der geringen Bedrfnisse-und siert er immer wieder, dass Entwicklungskonzepte und -Strategien, die Kultur unbercksichtigt lassen, letztlich den Galbraith-Weg der hohen Produktivitt. an den anthropologischen Grundlagen der Aufklrung vorbeigehen. Entwicklung muss scheitern, wenn sie es Hauswirtschaftliche Produktionsweise nicht versteht, das Handeln in fremden Gesellschaften Die auf dem Symposium in Chicago vorgetragene The- durch deren Augen zu interpretieren, sondern stattdesse baute Sahlins weiter aus in seinem Buch StoneAge sen die weltweite Existenz eines immer gleich gearteEconomics (1972), das inzwischen zu einem der ein- ten economic man voraussetzt, dessen Wirtschaftsverflussreichsten und meistzitierten Werke der ethnologi- halten profitorientiert ist. Die Annahme einer derartischen Literatur geworden ist. Darin entwickelte er im gen konomischen Rationalitt demaskiert Sahlins in Anschluss an die berlegungen von Alexander Tschaja- ,,Kulturund praktische Vernunft als bloe Ideologie.In now, dessen Buch ber die buerliche Familienwirt- zahlreichen indigenen Gesellschaften ist das Wirtschaft von 1923 gerade neu entdeckt worden war (eng- schaftsverhalten nicht profit-,sondern bedrfnisorienlische bersetzung 1966), Begriff der ,,domesticmo- tiert, der Wert freier Zeit wird hher geschtzt als der eiden de of production. Die hauswirtschaftliche Produk- ner unbegrenzten Steigerung der Produktion.

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Sahlins widerspricht der Prognose, dass indigene Kulturen aussterben werden, dass das westliche Wertsystem und westliche Verhaltensweisen berall Einzug halten werden. Selbstverstndlich, so Sahlins,findet in den nicht-westlichen Gesellschaften eine Auseinandersetzung mit dem Westen statt, und sicherlich stehen jene Gesellschaften vor der Notwendigkeit, sich zu verndern und Teile ihrer bisherigen Lebensweise aufzugeben Die scheinbar inhrente Logik der Modernisierung, nmlich die Auslschung aller kulturellen Unterschiede, erweise sich jedoch als falsch. Was tatschlich geschehe, ist, dass die Moderne angeeignet, domestiziert und indigenisiert wird, bis ein neues Muster kultureller Praktiken entsteht. Den Begriff der domestic mode of production, den er 1972 vorgestellt hatte, greift er in neueren Texten, ab 1990,wieder auf, aber in dem doppelten Sinn, den nur das Englische zulsst. konomisches Handeln ist nach Sahlins nicht nur huslich (domestic),sondern wirtschaftliche Gter und Wirtschaftstechniken werden auch domestiziert.Sie werden den Bedingungen des Lokalen unterworfen und damit angeeignet -was zugleich bedeutet, dass die moderne, universelle Rationalitt des homo oeconomicus in Frage gestellt wird. Die Aneignung macht klar, wie die Gter des Westens transformiert, in die Gesellschaft eingeordnet und damit zu einem Teil der lokalen Kosmologie gemacht werden. Das Prinzip der Aneignung gilt durchaus nicht fr alle Dinge, wie Sahlins anhand zahlreicher Beispiele fr die Ablehnung westlicher Gter erlutert: Warum hatten die Chinesen nichts als Verachtung brig fr europisches Essbesteck? Ablehnung und Aneignung werden in der lokalen Kultur jedoch nicht nur als Widerstand manifest, sondern auch als Chance der eigenen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit den fremden Gesellschaften. Das ist die tiefere Bedeutung des Begriffs ,,Develop-man, den Sahlins zuerst in einem Aufsatz aus dem Jahr 1988 aufgreift und dann mehrfach verwendet. Er stammt von ethnischen Gruppen aus Papua-Neuguinea, die damit den lokal definierten Gebrauch westlicher Gter bezeichnen. Bei Sahlins wird der Begriff aus dem Pidgin-Englisch zu einem polemischen Wortspiel, indem er Development, also das Entwicklungskonzept, in dem die Angehrigen der lokalen Gesellschaften ihren Platz nur als Objekte der von augen kommenden Entwicklung haben, der Idee des Entwicklungs-Mannes gegenberstellt: Nicht mehr die Entwicklung als Prozess, sondern die Menschen, die sich als Handelnde und Entscheidende selbst entwickeln, mssen im Fokus stehen. Marshall Sahlins zentrales Anliegen ist es, auf die Existenz nicht-westlicher Vorstellungen ber den Westen hinzuweisen. Dazu gehren auch eigene Vorstellungen ber den Umgang mit den Ideen und Gtern des Westens sowie ber die Entwicklung einer Gesellschaft. Dadurch macht er zugleich ernst mit dem Projekt der Aufklrung, die ja die anthropologische Einheit der Menschheit voraussetzt: Kultur kann nur dann ein Thema sein, wenn den Strukturen der Kultur und deren praktischen Konsequenzen in allen Gesellschaften das gleiche Potenzial der Weltdeutung

zugesprochen wird. Dass Kultur dabei nur als Praxis zu verstehen ist, betont Sahlins nochmals mit dem Titel seines aktuellen Buches, das eine Zusammenstellung von Aufstzen aus den letzten 40 Jahren enthlt: Culture in Practice.III. Wirkung

Marshall Sahlins' frhe Arbeiten zur konomie der Flle (so eine bersetzung der Original Affluent Society) erschienen just zu einer Zeit, als die Studenten bewegung einen Gegenentwurf zum American Way of Life suchte. Sie wurden ber den engen Kreis der Ethnologen hinaus mit berwltigender Zustimmung aufgenommen. Seine Thesen zu einer konomie der Migung und seine Forderung, anderen Lebensweisen Respekt zu zollen,fielen auf fruchtbaren Boden. Sie trugen dazu bei, der grnen Bewegung eine theoretische Grundlage zu schaffen, und frderten eine neue Sensibilitt fr kologie. Innerhalb der Ethnologie wurde durch Sahlins Thesen die gesamte Debatte um den Status der Jger- und Sammler-Gruppen und der peasant economy neu aufgerollt. Zusammen mit Karl Polanyi, dessen berlegungen zur embeddedness (kulturellen Einbettung) der vorkapitalistischen konomie ihn stark beeinflussten, leistete er wesentliche Vorarbeiten fr den cultualist turn in Ethnologie und Soziologie. Auch in historischen Analysen (2004)machte er die Verbindung von Kultur und konomie deutlich. Der von ihm befrwortete Possibilismus ist prototypisch fr die sptere Debatte um lokales Wissen. Ohne die von ihm geforderte Sensibilisierung fr lokale Kultur als komplexe Struktur von Wissen und Praktiken wre das heutige Konzept, lokales Wissen fr die Entwicklung zu nutzen,undenkbar. Mit seiner Kulturtheorie steht er im Gegensatz zu dominanten Positionen in der Globalisierungsdiskussion, die eine gleichgerichtete konomische Rationalitt berall in der Weltgesellschaft zu unterstellen.Sahlins ist es dagegen wichtig, auf alternative Kontinuitten zu verweisen. Hinweise auf lokale Kosmologien und die Idee des Develop-man sind Anstze, die auf den inneren, sinnstiftenden Zusammenhang von Gesellschaften verweisen, die sich zwar mit globalen Einflssen auseinandersetzen, sich aber letztlich als eigenstndige Kulturen behaupten werden.

Warum hatten die Chinesen nichts als Verachtung brig fr europisches Essbesteck?

PD Dr. Hans Peter Hahn ist wissenschaftlicher Oberassistent am Lehrstuhl fr Ethnologie der Universitt Bayreuth.

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