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Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Ina Braun/Wolfgang Gantke (Hrsg.)

— Wege zur Religionswissenschaft

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Wege zur Religionswissenschaft

Eine interkulturelle Orientierung

Aspekte, Grundprobleme, ergänzende Perspektiven

herausgegeben und eingeleitet von

Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer Ina Braun und Wolfgang Gantke

unter Mitwirkung von Katja Thelen, Corinna Jenal, René Jaquett und Christoph Mauch

Traugott Bautz Nordhausen 2007

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH

99734 Nordhausen 2007 Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere

für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-3-88309-375-8

www.bautz.de

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Inhaltsübersicht 

Einleitung der Herausgeber .................................................................................9

Hamid Reza Yousefi Interkulturelle Religionswissenschaft...............................................................21

Wolfgang Gantke Hat die Religionsphänomenologie angesichts des veränderten interkulturellen Kontextes noch eine Zukunft?...............................................49

Richard Friedli Angewandte Religionswissenschaft..................................................................79

Udo Tworuschka Aufgaben Praktischer Religionswissenschaft ..................................................95

Gunther Stephenson Von der Gratwanderung des Religionswissenschaftlers .............................119

Peter Antes Religionswissenschaft – Wozu?.......................................................................135

Břetislav Horyna Söldner der Argumentation .............................................................................145

Adelheid Herrmann-Pfandt Beispiel Menschenopfer: Religionswissenschaftliche Forschung zwischen Wahrheitsanspruch und interkultureller Verleumdung ............169

Olaf Schumann Anmerkungen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Religionswissenschaft ................................................................................187

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Inhaltsübersicht 6 

Peter Kaiser Religiosität im interkulturellen Kontext .........................................................207

Katharina Ceming Menschenrechte und interkulturelle Religionswissenschaft .......................233

Michael von Brück ›Toleranz‹ in den Weltreligionen.....................................................................245

Wassilios Klein Interreligiöse Toleranz und Intoleranz als Arbeitsfeld der Religionswissenschaft......................................................265

Wolfram Reiss Anwendungsorientierte Religionswissenschaft. ...........................................289

Michael A. Schmiedel Der interreligiöse Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft ....................................................307

Ram Adhar Mall Interkulturelle Religionsphilosophie und die Ansätze von William James und Max Scheler ................................319 Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................339  

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Peter Gerdsen zum 70. Geburtstag

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Einleitung der Herausgeber 

Der gewählte Titel ›Wege zur Religionswissenschaft‹ weist, wie die bereits erschienenen Bände ›Wege zur Philosophie‹1 und ›Wege zur Kommunika‐tion‹2  darauf  hin,  daß  es  verschiedene methodische Möglichkeiten  gibt, Religionswissenschaft zu betrachten und zu betreiben – Wege, die sich be‐gegnen  oder  begleiten,  befruchten  oder  bekämpfen,  ergänzen  oder  igno‐rieren können. Der hier unternommene Versuch, Perspektiven aufzuzeigen, zu kontra‐

stieren und  zu  öffnen, versteht  sich  als  ein möglicher Weg,  zivilisations‐theoretische bzw. praktische Dimensionen der Religionswissenschaft im 21. Jahrhundert neu zu vermessen und zu bestimmen. Der Sache nach geht es auch um die Frage nach der Praxis der Religionswissenschaft, um ihre so‐ziale,  interkulturelle und  interreligiöse Funktion und um die Legitimation einer Religionswissenschaft als  solcher. Ferner gilt es die Frage zu beant‐worten, ob die Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung von Religionen darin  bestehen  kann, wissenschaftliche  Erkenntnisse  im  Sinne  eines  ver‐bindlichen Kanons  zu  formulieren und  zu deuten. Zum  anderen  ist  eine Beantwortung der Frage notwendig,  in welchem Verhältnis die deskripti‐ven  zu  den  normativen Anteilen  in  der  religionswissenschaftlichen Me‐thode zu sehen sind, wenn sie mit Erfolg angewandt werden soll. Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich in der einen oder ande‐

ren Weise mit den eben skizzierten Fragestellungen auseinander. Dabei soll es nicht  lediglich darum gehen, Vertreter diverser und oft antagonistisch argumentierender Richtungen  zusammenzuführen,  sondern vielmehr da‐rum, eine Arbeitsbasis zu finden, von der aus eine sachliche und problem‐orientierte Debatte möglich wird. Darin liegt auch der wesentliche Impuls 

1   Vgl. Yousefi, Hamid Reza, Klaus Fischer und Ina Braun (Hrsg.): Wege zur Philo‐sophie. Grundlagen der Interkulturalität, Nordhausen 2006. 

2   Vgl. Yousefi, Hamid Reza, Klaus Fischer und Ina Braun (Hrsg.): Wege zur Kom‐munikation. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, Nordhausen 2006. 

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Einleitung der Herausgeber 10 

dieses  interdisziplinär‐pluralistisch  orientierten  Bandes,  dessen  Beiträge hier kurz resümiert werden sollen. Der  interkulturelle  Philosoph,  Toleranz‐  und  Kommunikationsforscher 

Hamid Reza Yousefi stellt das Konzept der  interkulturellen Religionswis‐senschaft dar. Er versteht  seinen Beitrag als  eine Einführung  in Struktur, Gegenstand und Aufgabe dieser  neuen Ausrichtung. Ausgehend  von  ei‐nem  flexiblen,  Verbindungen  suchenden  Kulturbegriff  stellt  er  verschie‐dene  interkulturelle Zugänge dar. Es geht Yousefi  in der Hauptsache um die Aufgaben der Religionswissenschaft im postkolonialen Zeitalter sowie um die Darstellung der Problem‐ und Themenfelder dieser Disziplin, die sich  als  eine  humanwissenschaftliche  versteht.  Er  zählt  die  interreligiöse Kompetenz,  interreligiöse  Semantik,  angewandte  Toleranz,  analogische Hermeneutik und  schließlich den Dialog der Kulturen  zu den wichtigen Themenfeldern der interkulturellen Religionswissenschaft. Der Verfasser plädiert für eine Synthese von normativer und deskriptiv‐

empirischen Methode als einen möglichen Weg, um religionswissenschaft‐liche Inhalte besser in handlungsrelevantes Wissen transformieren zu kön‐nen. Mit diesem neuen praxisorientierten Denkansatz verfolgt Yousefi das Ziel,  einen  verstehens‐ und  faktenorientierten Dialog  zwischen den Reli‐gionen auf gleicher Augenhöhe zu realisieren. Der  Religionswissenschaftler Wolfgang  Gantke  stellt  in  seinem  enga‐

gierten Beitrag die grundlegende Frage, ob die Religionsphänomenologie angesichts des veränderten  interkulturellen Kontextes noch  eine Zukunft hat. Dabei  geht  er  auf die  traditionelle Diskussion um die Religionsphä‐nomenologie,  auf die  immer wieder gegen diese Richtung vorgebrachten zentralen Argumente und natürlich auch auf die entsprechenden Gegenar‐gumente  ein.  Diese  traditionelle  Diskussion  scheint  ihm  insbesondere durch die neuen interkulturellen Herausforderungen überholt. Gantke weist auf die zumeist nicht wahrgenommene Vielfalt neuerer re‐

ligionsphänomenologischer  Betrachtungsweisen  hin.  Er  schreibt,  daß  die Kritik eigentlich nur eine traditionelle Richtung trifft, die von den meisten Religionsphänomenologen heute  in dieser Form gar nicht mehr vertreten wird.  Angesichts  der  völlig  veränderten  Verhältnisse  in  der  interdiszi‐plinären und  interkulturellen Diskussionslandschaft scheint  ihm eine pro‐blemorientiert‐engagierte  Lebensphänomenologie  gute  Zukunftschancen zu haben. 

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Wege zur Religionswissenschaft 11 

In der Religionswissenschaft  scheint  es heute geboten, mit der neueren Lebensphänomenologie  die  Programmatik  einer  umfassenden  Entzaube‐rung  der Wirklichkeit  im  Kontext  eines  objektivierenden,  in  nuce  tech‐nisch‐rechnenden Denkmodells und der diesem  entsprechenden kapitali‐stischen Wirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Gerade eine interkulturell  erweiterte  Frageperspektive  verdeutlicht,  daß  es  durchaus Alternativen  zu  dem  Entzauberungsmodell  gibt,  das  heute  die  auf  den Begriff  des  Heiligen  verzichtende,  kulturwissenschaftliche  Religionswis‐senschaft unausdrücklich dominiert. Gantke versucht zu zeigen, daß es im Streit  um die Religionsphänomenologie  im Kern  um die  nunmehr  inter‐kulturell erweiterte Diskussion um das Heilige und damit um die Grenzen einer  rein  kulturwissenschaftlich‐rationalistischen  Betrachtungsweise  von Religion geht. Der Religionswissenschaftler Richard Friedli behandelt in seinem Beitrag 

›Angewandte  Religionswissenschaft‹ methodische Grundzüge  sowie An‐wendungsfelder dieser Disziplin. Die  religionsgeschichtliche Grundlagen‐forschung, wie sie von der ›reinen‹ Religionswissenschaft seit Jahrzehnten geleistet worden ist, wird nach Friedli im Kontext der sich globalisierenden Welt  einem  neuen  gesellschaftlichen Mehrwert  zugeführt.  Es  sind  nicht mehr  die  Forscherin  oder  der  Forscher, welche  das  Objekt  des wissen‐schaftlichen Engagements bestimmen, sondern – ähnlich wie Chemie, Phy‐sik und Mathematik zur Werkstoff‐Wissenschaft führen – die Herausforde‐rungen der Gegenwart, die  zu  ihrer Lösung  einer  interdisziplinären Ko‐operation bedürfen. Zur Lösung der aktuellen sozio‐politischen Probleme sind nämlich die Kompetenzen von verschiedenen Zubringerwissenschaf‐ten wie z.B. Politologie, Soziologie, Demographie oder eben Religionswis‐senschaft notwendig. Um  diesen  Sachverhalt  zu  dokumentieren,  behandelt  Friedli  exempla‐

risch drei gesellschaftliche Situationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: die internationalen Migrationsbewegungen, die Präsenz von Muslim‐Gemein‐schaften in der politischen Weltagenda und die Rückfragen an die Akteure der  Entwicklungszusammenarbeit.  Die  methodologischen  und  universi‐täts‐curricularen  Folgerungen  für  das  Studium  der  angewandten  Religi‐onswissenschaft  sind  eine  Herausforderung,  denn  in  der  angewandten Religionswissenschaft  ist ein vielfältiges, religionsgeschichtliches und reli‐gionssoziologisches Fachwissen mit  interdisziplinären und kommunikati‐

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Einleitung der Herausgeber 12 

ven Kompetenzen  zu kombinieren. Um diese Zusammenhänge zu doku‐mentieren, werden einige Anwendungsfelder wie etwa die Schule, die Frie‐dens‐  und  Konfliktforschung,  der  kirchliche  Kontext,  das  internationale Management‐Umfeld, das  Spitalmilieu  oder das politische Umfeld  erwä‐hnt.  Entscheidend  ist  es  aber  für  die  angewandte Religionswissenschaft, daß wissenschaftliche  Persönlichkeiten  gefördert werden,  die  zum  einen religionsgeschichtlich  und  religionssoziologisch  kompetent  ausgebildet sind und zum  anderen  risikobereit und  interdisziplinär vernetzt  arbeiten können. Der  Religionswissenschaftler  Udo  Tworuschka  thematisiert  in  seinem 

Beitrag das Wesen der praktischen Religionswissenschaft. Nach  ihm stellt der religiöse Pluralismus für die gesellschaftliche und politologische Ana‐lyse der Wirklichkeit seit  längerem kein marginales Phänomen mehr dar. Der Autor  lebte,  forschte und  lehrte  zwei  Jahrzehnte  lang  im  Schnittfeld von Religions‐ und Erziehungswissenschaft. Aufgrund seiner Erfahrungen plädiert  er  für  die  Etablierung  einer  ›Praktischen Religionswissenschaft‹, deren Aufgabe auch darin besteht, bei problematischen gesellschaftlichen Sachfragen ihren ›Beitrag zur Entschlüsselung, Entscheidungsfindung, Pla‐nung und Umsetzung‹ zu  leisten. In Ergänzung zur traditionell eher text‐ und vergangenheitsorientierten Religionswissenschaft richtet sich die neue Disziplin  an  der  gegenwärtigen  Lebenswirklichkeit  aus,  ohne  deswegen auf historische Tiefenschärfung zu verzichten.  Im Anschluß an eine Posi‐tionsbestimmung  wichtiger  Vordenker  der  neuen  Disziplin  wie  Gustav Mensching, Mircea Eliade und Wilfred Cantwell Smith werden drei Auf‐gabenfelder  Praktischer  Religionswissenschaft  skizziert: Mediation,  Reli‐gionskritik und Religionsdialog. Der  Religionswissenschaftler  Gunther  Stephenson  setzt  sich  mit  dem 

Thema Gratwanderung des Religionswissenschaftlers  auseinander. Dabei handelt  es  sich um den Erkenntnisakt des Religionswissenschaftlers und seinen  ›Gegenstand‹, den religiösen Menschen  in seinem kulturellen Um‐feld. Die unlösbare Frage, was Religion ist, wird dabei ausgeklammert. Die Ausgangslage  des  Forschers  ist  eine  anthropologische;  er  ist  aufgerufen, die  fünf bekannten Methoden  (historisch, philologisch, psychologisch, so‐ziologisch, phänomenologisch) seines  ›Gegenstandes‹  integrativ zu benut‐zen, damit die Einheit der Religionswissenschaft gewahrt bleibt. Um  sei‐nem ›Gegenstand‹ vollends gerecht werden zu können, bleibt für den Au‐

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Wege zur Religionswissenschaft 13 

tor eine revidierte Phänomenologie unverzichtbar, freilich unter Anerken‐nung des subjektiven Elements seines Erkenntnisbemühens. Ein Plädoyer wird auch gehalten für ein komplementäres, sowohl empirisches als auch hermeneutisches Vorgehen. Die Gratwanderung des Religionswissenschaf‐tlers besteht eben im vorsichtigen Balancieren zwischen diesen beiden Ar‐beitsweisen, da sonst kein zureichender Erkenntniswert zustande kommt. Der Religionswissenschaftler Peter Antes stellt die Frage: Wozu überhaupt 

Religionswissenschaft?  Sein  Beitrag  zeigt,  daß  gerade  angesichts  einer  zu‐nehmenden  Spezialisierung  in  den  Einzeldisziplinen  wie  Altorientalistik, Ägyptologie,  Judaistik, Theologie,  Islamwissenschaft, Hinduismusforschung oder  Buddhismuskunde  eine Art Dachdisziplin  notwendig  ist,  die  all  das erarbeitete Wissen in eine Gesamtschau einordnet. Dementsprechend plädiert der Beitrag  für die Strukturierung von Material  als  eine Hauptaufgabe der Religionswissenschaft.  Dies  kann  durch  Überblicke,  Deutungszusammen‐hänge und Vergleiche geschehen.  Im Bereich der  systematischen Religions‐wissenschaft  sieht  der  Beitrag  die  Aufgabe  der  Religionswissenschaft  vor allem  in Anfragen  an  die  Theoriebildung. Als  Beispiele  dafür werden mit Blick auf die kognitionswissenschaftlichen Modelle die Wahrnehmungskate‐gorien  thematisiert und mit Blick auf den politischen Kontext konkret Deu‐tungskonzepte wie religiöser Fundamentalismus und ›Clash of Civilizations‹ angesprochen. Der  Philosoph  und  Religionswissenschaftler  Břetislav Horyna  themati‐

siert Tatsachen, Evidenz und Objektivität in der Religionswissenschaft. Der Schwerpunkt seines Aufsatzes liegt im Bereich der Theorie und Methodo‐logie der Religionswissenschaft. Verschiedene Versuche, aus der heutigen wissenschaftstheoretisch  komplizierten  Lage  der  Religionswissenschaft einen Ausweg zu finden (engagierte, angewandte, praktische, hermeneuti‐sche Religionswissenschaft, usw.) haben etwas Gemeinsames: sie möchten größere  Anerkennung  durch  breitere  gesellschaftliche  Nützlichkeit  der Religionswissenschaft erreichen,  lassen dabei aber die wesentlichsten Fra‐gen  ihrer Wissenschaftlichkeit  unbeantwortet.  Eine  der wichtigsten wird vom Problem der Argumentation dargestellt: wie  läßt  sich  in der Religi‐onswissenschaft  begründet  argumentieren,  was  ist  eine  Beweisführung, was  wird  von  einer  religionswissenschaftlichen  Aussage  verlangt,  was heißt Tatsache, Evidenz, Begriffsexplikation, wie  ist Religionswissenschaft 

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Einleitung der Herausgeber 14 

als argumentative Struktur von Sätzen, die den wissenschaftlichen Regeln entsprechen, überhaupt möglich. Der Verfasser vertritt die Einsicht, daß diese Problematik vernachlässigt 

wird. Die Auffassung,  daß  es  sich  um  keine  religionswissenschaftlichen, sondern philosophische Fragen handelt, welche die Religionswissenschaft ihrer  Substanz  berauben  könnten, weist  er  zurück.  Immerhin muß man sich dessen bewußt sein, daß all diese fremdartig wirkenden Abstraktionen sich in ganz konkrete Formen des Denkens und des Argumentierens, folg‐lich  auch  Wissens  und  Handelns  transformieren.  Die  religionswissen‐schaftliche Argumentation,  ihre Glaubwürdigkeit, Wirkung und Möglich‐keiten an der Entwicklung von gesellschaftlichen Einsichten, Einstellungen, Werten und Verhaltensnormen Anteil zu nehmen, hängt nicht von dieser oder jener Auffassung der ›Religion‹, sondern davon ab, wie sie mit diesen Komponenten  der  Wissenschaftstheorie,  die  generell  die  Bedingungen religionswissenschaftlicher Sprache darstellen, zurecht kommt. Die Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann‐Pfandt  setzt  sich  in 

ihrem  Beitrag  mit  der  religionswissenschaftlichen  Forschung  zwischen Wahrheitsanspruch  und  interkultureller  Verleumdung  auseinander.  Am Beispiel  des  Menschenopfers  werden  verschiedene  mehr  oder  weniger bewußte  Vorurteile  und  Vorentscheidungen  untersucht,  mit  denen  sich Erforscher religiöser Gewalttätigkeit auseinandersetzen müssen. Der Aus‐gangspunkt  der  Betrachtung  ist  die  in  der  älteren  Forschung  verbreitete Tendenz zur Abwertung des Fremden, die dazu geführt hat, problematisch Rituale wie das Menschenopfer manchmal auch dort zu sehen, wo sie gar nicht existieren.  Jedoch kann auch das Gegenteil der Abwertung, nämlich die  Idealisierung  einer  fremden Kultur und die darauf  basierende Leug‐nung  von deren  gewalttätigen  Seiten,  eine Gefahr  für  ausgewogene  For‐schung sein. Gerade im europäischen Kulturkontext gilt, basierend auf der Tabuisierung des Menschenopfers im Christentum, die Zuschreibung einer solchen  Praktik  häufig  als  Beleidigung  einer Kultur,  unabhängig  davon, welche  religiösen  Praktiken  es  dort  nun wirklich  gegeben  hat  oder  gibt. Eine weitere Gefahr für sachgemäße Forschung ist schließlich die Romanti‐sierung von Gewaltaspekten einer Religion, die umso besser ›funktioniert‹, je ferner uns die betreffende Religion steht, und gegen die auch Fachleute nicht gefeit sind, sobald sie sich bei  ihrer Forschung wirklich  intensiv auf die Weltanschauungen einlassen, die religiösen Gewaltkulturen zugrunde‐

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Wege zur Religionswissenschaft 15 

liegen. Der Artikel  endet mit  der  Feststellung,  daß  angesichts  religiöser Gewaltpraktiken,  die  den Menschenrechten  fundamental widersprechen, interkulturelle Toleranz an  ihre Grenzen stößt und auch Religionswissen‐schaftler/innen gefordert sein können, Position zu beziehen. Der Religionswissenschaftler Olaf Schumann setzt sich in seinem Beitrag 

mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Religionswis‐senschaft  auseinander.  Die  europäische  Religionswissenschaft  ist  im  19. Jahrhundert als akademische Wissenschaft entstanden. Damit war  sie be‐sonders  in  ihren Anfängen  sehr  stark philologisch, historisch und  exege‐tisch und insbesondere an den ›klassischen‹ Entfaltungen der großen Reli‐gionssysteme orientiert. Die zeitgenössischen Entwicklungen fanden dage‐gen weniger  Interesse, wurden oft auch als Dekadenzerscheinungen oder politisch motivierte  Perversionen des Religiösen  interpretiert. Diese  Ten‐denz hat besonders in der politisch oder ideologisch motivierten und inter‐essierten  ›Populärwissenschaft‹ großen Widerhall  erfahren, die nicht von Erkenntnisdrang  getrieben,  sondern  von  der  Abwertung  des  ›Anderen‹ und der damit parallel gehenden Aufwertung der eigenen  Identität moti‐viert wurde und wird. Die dadurch entstandenen Klischees dienen im po‐litischen  und  gesellschaftlichen  Diskurs  in  erschreckend  zunehmendem Maße als ideologische Keule, um andere zu diffamieren, zu marginalisieren oder auch zu eliminieren. Hier hat die moderne Religionswissenschaft auch eine gegenwartsbezo‐

gene Verantwortung  zu  übernehmen,  um  auf Grund  ihrer  Einsichten  in das Entstehen und Werden der Religionen bis hin zu in ihnen entstandenen Bemühungen um Erneuerung und Sinngebung in einer neuen Welt Kennt‐nisse, Verständnis und Verstehen gegenwärtiger  religiöser Ausdrucksfor‐men zu vermitteln. Diese Bemühung zielt auf zwei Richtungen: zum einen in  die  Richtung  der  behandelten  Religion  und  ihrer  Anhänger/‐innen selbst,  indem  in der Geschichte verschüttete oder pervertierte,  in der Ge‐genwart  jedoch  relevante Elemente wieder  ins Bewusstsein  gerückt wer‐den, zum anderen in die Richtung moderner (pluraler) Gesellschaft, in der die Religionsgemeinschaften  nun miteinander  in  einer  gemeinsamen Ge‐sellschaft und in einem gemeinsamen Staat wohnen, zu dessen Wohlerge‐hen  sie alle gemeinsam Verantwortung  tragen.  In dem hier notwendigen gesellschaftlichen Dialog können die Religionswissenschaftler eine herme‐neutische Rolle übernehmen. 

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Einleitung der Herausgeber 16 

Der Religionswissenschaftler Peter Kaiser thematisiert  in seinem Beitrag die Religiösität im interkulturellen Kontext. Neben der Aufgabe, mit loka‐len Mitarbeitern die medizinische Versorgung  in Flüchtlingslagern an der Thai‐burmesischen  Grenze  sicherzustellen,  wurde  vom  Autor  zwischen Dezember 2002 und März 2003 sowie Anfang 2006 eine Feldstudie mit dem Ziel  durchgeführt,  mehr  über  die  lokalen  Coping‐Strategien  der  unter‐suchten Ethnie zu erfahren. Die medizinische und psychologische Betreu‐ung betraf neu eintreffende Flüchtlingen, welche in den vorangegangenen Tagen  und Wochen meist  aufgrund  kriegerischer Auseinandersetzungen gezwungen waren, ihr Heimatdorf zu verlassen, sowie Menschen, die sich schon seit Monaten bis Jahren  in den Lagern aufhalten, ohne daß sich die Möglichkeit zur baldigen Rückkehr in die Herkunftsgegend abzeichnet. Im vorliegenden Artikel  soll  vor  dem Hintergrund  der  internationalen  For‐schung  ›Psychische Gesundheit‹  (mental  health)  unter  den  Bedingungen eines Flüchtlingslagers thematisiert werden. Am konkreten Beispiel der Population einer asiatischen Ethnie  (der Ka‐

ren) werden Vor‐ und Nachteile einer spezifischen Coping‐Strategie, näm‐lich  die  Adaptation  des  religiösen  Glaubenssystems  an  sich  wandelnde soziale Umweltbedingungen, beschrieben und diskutiert.  Im Fall der Ka‐ren‐Ethnie  scheint der  christliche Glauben  (wie  auch  andere Glaubenssy‐steme oder Formen der  individuellen und kollektiven  Identifikation) den Betroffenen zu helfen, die gegenwärtig schwierigen Lebensbedingungen zu transzendieren und ihnen eine Bedeutung zu geben. Bei den Karen ist die Vorstellung von der Wiederkunft eines himmlischen Retters sehr verbreitet und wahrscheinlich imstande, die Bedeutung der Ressource ›Religion‹ für die  psychische Gesundheit  noch  zu  erhöhen. Hilfsorganisationen  sollten sich über die Bedeutung dieser Ressource  im Rahmen des Umgangs mit der  spezifischen  Situation  eines Flüchtlingslagers  im Klaren  sein und  ihr bei  der  Implementierung  von  sog.  Entwicklungs‐  und Hilfsprogrammen entsprechend Beachtung schenken. Von Menschenrechten  im Kontext der  interkulturellen Religionswissen‐

schaft zu reden, bedeutet für Katharina Ceming, sich auf andere Kulturen existentiell  einzulassen,  da  ein  wesentlicher  Aspekt  das  Verstehen  und nicht das Bewerten des Fremden ist. Es gilt nach Ceming zunächst heraus‐zufinden, weswegen bestimmte Bräuche, Riten, Traditionen als sakrosankt gelten, was Menschen damit verbinden und von der Respektierung dieser 

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erhoffen. Dies bedeutet aber gerade nicht, selbst standpunktlos zu sein und es  impliziert auch nicht, alles kritiklos zu akzeptieren. Ein Verstehen muß nicht zwangsläufig ein Billigen  implizieren.  In einem zweiten Schritt geht es dann darum,  in einem Dialog zu klären, was kulturell bestimmte Nor‐men sind. Dieser Dialog setzt jedoch voraus, daß beide Seiten daran Inter‐esse haben. Wo eine Seite keines zeigt, ist zu eruieren, woran dies liegt. Ist es die Angst, von den anderen vereinnahmt zu werden, ist es die Angst vor dem Verlust liebgewordener Gewohnheiten, die geholfen haben, das Leben zu  organisieren,  etc.?  In  einem dritten  Schritt  sollen universelle Normen bestimmt  werden,  die  ein  gemeinsames  Zusammenleben  verschiedener Kulturen ermöglichen. Wo die Rechte aller Menschen  im Mittelpunkt ste‐hen, ist die Enthaltung der Bewertung kultureller Normen nicht Ausdruck von Toleranz, sondern ein implizites Billigen des herrschenden status quo. Um universelle Normen zu begründen, bedarf es  letztlich eines verbindli‐chen Wertemaßstabs. Hier  ist  die  Logik  ein wichtiges Hilfsmittel, wobei universell logische Strukturen nicht mit systemimmanenten logischen Kon‐sequenzen verwechselt werden dürfen. Der Religionswissenschaftler Michael von Brück thematisiert Toleranz als 

Signum interkultureller Normativität in den Weltreligionen und ihre Kon‐sequenzen  für  das  Verhältnis  von  Religionswissenschaft  und  Theologie bzw.  Religionsphilosophie.  Für  den  interreligiösen  und  interkulturellen Dialog  sieht er nur den Toleranzbegriff als  tragfähig an, der Toleranz als respektvolle Zuwendung und Wertschätzung des Anderen  in  seiner An‐dersartigkeit definiert. Für den Verfasser  resultiert Toleranz  aus der Ein‐sicht in die Einheit allen Lebens. Nach  einer Darstellung des  Toleranzverständnisses  in  den Weltreligio‐

nen arbeitet  er Grundlagen  für den Horizont der  christlich‐theologischen Wahrheitsfrage heraus. Seit der griechischen Philosophie, in der Wahrheit als Teilhabe an ewigen Strukturen verstanden wurde, hat sich die Absolut‐heit  von  Auffassungen  relativiert.  Im  Nominalismus  und  Skeptizismus verblieb nur noch  eine Selbstgewißheit des Subjektes,  in der neueren Er‐kenntnistheorie  wurde  die  Sprache  als  Horizont  der Wahrheit  wahrge‐nommen. Die Betrachtung eines Ereignisses war damit zur Sache der Per‐spektive  geworden,  deren  relativer Wahrheitsgehalt  vom  jeweiligen  Be‐zugssystem abhing. Die Kohärenz einer Aussage wird dann angenommen, 

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Einleitung der Herausgeber 18 

wenn  sie  sich widerspruchsfrei  in  das  Gesamtgefüge  eines  bestimmten, ebenfalls relativen Verstehenssystems einfügt. Eine  solche Denkart  ordnet  die  religiös  bestimmte Wahrheitsfrage  der 

Tugend der Toleranz zu. In einem Diskurs um Kohärenz ist das Ringen um Wahrheit beim Ziel der Wahrheitssuche ein maßgeblicher Bestandteil. Un‐ter Verzicht auf den Besitz der absoluten Wahrheit muß sie dialogisch die jeweiligen Wertenormen des Gegenübers bewußt machen. Für eine Religi‐onswissenschaft, Theologie und Religionsphilosophie interkultureller Aus‐richtung bedeutet dies, daß Wahrheit nur ein Resultat von Diskursen sein kann. Der Religionswissenschaftler Wassilios Klein thematisiert  in seinem Bei‐

trag  interreligiöse  Toleranz  und  Intoleranz  als Arbeitsfeld  der Religions‐wissenschaft. Er hält fest, daß Toleranz in der Religionswissenschaft ange‐sichts der Bedeutung des Themas, zu wenig behandelt wird. Kleins These ist deshalb, daß Toleranz unbedingt ein Thema der Religionswissenschaft sein sollte. Die Relevanz dieser Thematik zeigt sich unter anderem im Stre‐ben nach einer angemessenen Beschreibung von Erscheinungsformen von interreligiöser  Toleranz  und  in  der  neuerdings  verstärkten  Toleranzfor‐schung im Umfeld des interreligiösen Dialogs. Es zeigt sich, daß Toleranz sowohl für rein empirisch arbeitende Religionswissenschaftler wie auch für solche, die für eine Angewandte Religionswissenschaft plädieren, ein wei‐tes Arbeitsfeld  ist,  daß  das  Fach  auch  in  der Zukunft  noch  beschäftigen dürfte. Wenn hier von anwendungsorientierter Religionswissenschaft die Rede 

ist,  so geht  es um die Konzeption  einer Religionswissenschaft, die  ›bera‐tend und  informierend‹ auf die  ›aktuellen‹ Entwicklungen  in Politik und Gesellschaft  Bezug  nimmt,  die  mit  interreligiösen  und  interkulturellen Fragen  zu  tun  haben.  Die  klassische  Unterteilung  der  Religionswissen‐schaft  in  historische  und  systematische  Religionswissenschaft  muß  um diese weitere Disziplin  konstitutiv  ergänzt werden. Reiss  ist  davon  über‐zeugt, daß dieses Feld, bei dem es um andere Religionen, um  interkultu‐relle und interreligiöse Beziehungen geht, nicht Soziologen und Politologen oder gar selbsternannten Medienexperten überlassen werden darf. Religi‐onswissenschaft  hat  eine  gesellschaftliche  und  politische Verantwortung. Diese  müssen  Religionswissenschaftler  auch  wahrnehmen.  Udo  Two‐ruschka, Wolfgang Gantke und Hamid Reza Yousefi haben nach Reiss we‐

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Wege zur Religionswissenschaft 19 

sentliche Beiträge hierzu geliefert und versucht, eigenständige Konzeptio‐nen zu entwickeln. Allerdings müssen dabei gefährliche Klippen umschifft werden. Ob es gelungen ist, mit den obigen Unterscheidungen auf diesem Weg ein Stück weiter zu kommen, möge der Leser kritisch beurteilen. Der Religionswissenschaftler Michael A. Schmiedel  setzt  sich  in  seinem 

Beitrag mit  dem  interreligiösem  Dialog  als Aufgabe  einer  angewandten Religionswissenschaft auseinander.  In  religionswissenschaftlichen Kreisen wird der interreligiöse Dialog meistens als eine Angelegenheit der Theolo‐gie  und  ein  religionswissenschaftliches Engagement darin  als dem wert‐neutralen  Selbstverständnis  des  Faches  abträglich  betrachtet.  Die  Religi‐onswissenschaft  könne  und  dürfe  sich  dem  interreligiösen  Dialog  nur widmen, indem sie ihn zu einem Forschungsobjekt mache, aber keinesfalls dürfe sie sich aktiv und normativ daran beteiligen, heißt es oft. Schmiedel vertritt hingegen  in seinem Beitrag eine andere Auffassung und versucht sinnvolle  Argumente  für  eine  Beteiligung  der  Religionswissenschaft  am interreligiösen Dialog zusammenzutragen. Dabei betont  er die Eingebun‐denheit  der  Religionswissenschaft  in  gesellschaftliche  Zusammenhänge, die auf Wertefundamenten ruhen, denen sich keine Wissenschaft entziehen darf, und vertritt die Auffassung, daß auch Religionswissenschaftler, wenn auch  anders  als Theologen,  sich  in den  interreligiösen Dialog  einbringen können,  ohne  damit  den Maximen  ihres  Faches  untreu  zu werden. Der Autor nennt namhafte Vertreter des Faches, die dies auf unterschiedliche Weise getan haben und weiterhin tun. Der interkulturelle Philosoph Ram Adhar Mall macht das Thema der in‐

terkulturellen  Religionsphilosophie  und  die Ansätze  von William  James und Max  Scheler  zum Gegenstand.  Sein  zentrales Anliegen versteht  sich dabei als ein Plädoyer für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer plura‐listischen Religionsphilosophie. Diesem Konzept entsprechend erkennt die Vielfalt  der  Religionen  und  Philosophien  die Universalität  einer  ›religio perennis‹ bzw. ›philosophia perennis‹ an, ohne dabei irgendeine bestimmte Religion  in einen exklusivistisch‐absolutistischen Stand zu setzen.  Jenseits aller phänomenologischen,  theologischen und  religionswissenschaftlichen Kategorisierungen unterscheidet Mall zwischen  religiöser und spiritueller Erfahrung. Während  eine  religiöse  Erfahrung  einen  notwendigen  Bezug zum Göttlichen zu  ihrem konstitutiven Element macht, scheint eine spiri‐tuelle Erfahrung auch ohne einen solchen Bezug zu existieren. Eine solche 

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Einleitung der Herausgeber 20 

phänomenologische Unterscheidung  hätte  den  Vorteil,  daß wir  dadurch nicht  nur  eine  Phänomenologie  der  Religion  hätten,  die  eine  theistische Verankerung  kennt,  sondern  eine  Phänomenologie  der  Religionen,  die keine solche Verankerung kennt und annimmt. Eine spirituelle Erfahrung kann  eine  religiöse  sein, muß  es  aber  nicht.  Eine  religiöse  Erfahrung  ist jedoch  spirituell,  aber  mit  dem  Zusatz  eines  Gottesbezugs.  Der  Autor schlußfolgert, wenn  es  eine  philosophia  perennis  oder  eine  religio  perennis gibt, so ist sie Niemandes Besitz allein. 

Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der  jeweiligen  individuellen Präferenzen  unserer Autoren  und Autorinnen  verzichtet. Auf  vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie  facettenreich die Perspektiven der Religionswissenschaft heute sind.  

Die Herausgeber Trier und Frankfurt/Main 

im Dezember 2006  

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Interkulturelle Religionswissenschaft 

Struktur – Gegenstand – Aufgabe 

von Hamid Reza Yousefi 

Einleitende Gedanken Mit der Frage  ›Was  ist Religionswissenschaft‹, beginnt  jedes Seminar und jede Vorlesung zur Einführung in die Religionswissenschaft. Dabei geht es auch um die  Frage  nach Ursprung,  Struktur, Gegenstand und Aufgaben dieser  Disziplin. Angesichts  der  Tatsache,  daß  auch  unsere  Gesellschaft hinsichtlich  ihrer öffentlichen  Institutionen zwar säkular erscheint,  ist die Präsenz der Religionen unübersehbar. Diese Tatsache wirft die Frage auf: ›Wozu  überhaupt  Religionswissenschaft?‹  Die  Antworten  sind  erwar‐tungsgemäß  sehr  unterschiedlich;  sie  reichen  von  theologisch  geprägten Erklärungsversuchen  bis  zu  sogenannten  rein  rationalistischen  und  bloß analytischen  Denkweisen.  Die  Verwundbarkeit  und  Krisenanfälligkeit einer  kulturwissenschaftlichen  Disziplin  wie  der  Religionswissenschaft hängt nicht nur von der Auswahl ihrer Methode und Selbstwahrnehmung bzw.  Selbsteinschätzung  ab,  sondern  auch  von  ihren Antworten  auf  die gesamtkulturelle Weltsituation, in der sie tätig ist. Im Allgemeinen  lassen  sich  zwei  Traditionslinien  innerhalb  der  beste‐

henden  Religionswissenschaft  ausmachen,  die  zwei  grundsätzlich  ver‐schiedene Antworten auf die Frage geben, was  religionswissenschaftliche Tätigkeitsformen  voneinander  unterscheidet.  Es  geht  um  eine  phänome‐nologische und eine philologisch ausgerichtete Verfahrensweise. Während Religionsphänomenologen  die  Kategorie  des  Heiligen  nicht  preisgeben und  faktisch eine Religionswissenschaft des Verstehens betreiben, distan‐zieren  sich philologisch ausgerichtete Religionswissenschaftler von dieser methodischen Tätigkeitsform und halten an der Religionswissenschaft als einer ›reinen‹ Wissenschaft fest. 

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Hamid Reza Yousefi 22 

Die  interkulturelle Religionswissenschaft  setzt  als  eine  interdisziplinäre Ausrichtung gerade hier an. Dabei vernachlässigt sie weder die Kategorie des Heiligen, die in allen Religionen je nach Form und Inhalt das konstitu‐tive Element bildet noch die philologisch  ausgerichtete Orientierung, die unerläßlich ist. Sie fügt beide Traditionslinien zusammen und umfaßt drei Tätigkeitsformen,  die  sich  in  vielerlei  Hinsicht  überlappen:  Engagierte, Praktische und Angewandte.1 Interkulturelle  Orientierung  schafft  verschiedene  Zugänge,  auf  die  im 

Zeitalter der Globalisierung, in der alles interdependenter wird, nicht ver‐zichtet werden kann. Diese Zugänge ermöglichen die Entfaltung von Fra‐gen auf variierenden methodischen Wegen und bieten Lösungsansätze an. Streng wissenschaftlich oder  an praktischen Problemen orientiert, distan‐ziert oder engagiert, prinzipientreu oder skeptisch, vermitteln sie Orientie‐rungsmuster mannigfacher Art. Hierbei handelt es sich um: 1. einen philosophischen Zugang, der die Einsicht kultiviert, daß die philosophia perennis

etwas von allen zu Suchendes und nie endgültig Gefundenes ist; 2. einen intertextuellen Zugang, der eine kulturenübergreifende weltliterarische Haltung

bezeichnet, welche die Ausprägungen kultureller Vielfalt in unterschiedlichen Sprachen ohne Scheuklappen würdigt;

3. einen kulturellen Zugang, der keine Tradition privilegiert, aber eine wechselseitige Be-fruchtung und Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert;

4. einen religiösen Zugang, der aufzeigt, daß die religio perennis in unterschiedlichen Ersch-einungsformen auftritt;

5. einen politischen Zugang, verbunden mit einer ästhetischen Kultur, die deutlich macht, daß interkulturelle Orientierung eine grundsätzlich-pluralistische und demokratische Überzeugung darstellt;

6. einen wirtschaftlichen Zugang mit dem Ziel, Grundproblemen der Globalisierung und Wirtschaftsethik sowie Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft herauszuar-beiten;

1   Dieser  Themenkomplex  wurde  an  anderer  Stelle  ausführlich  diskutiert.  Vgl. 

Yousefi, H. R.: Grundlagen der interkulturellen Religionswissenschaft (Interkulturelle Bibliothek Bd. 10), Nordhausen 2006. Unter dem Dach der interkulturellen Reli‐gionswissenschaft  können  Einzeldisziplinen  zusammen  operieren,  von  denen vor allem Kulturphilosophie, Anthropologie, Ethnologie, Sozialpsychologie, Re‐ligionspsychologie,  Religionssoziologie,  Religionspolitik,  Pädagogik  mit  ihren Unterfeldern Kultur‐  und Medienpädagogik,  Friedens‐  und Konfliktforschung und humanistische Staatenlehren zu nennen sind. Vgl. Ebenda. 

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Interkulturelle Religionswissenschaft 23 

7. einen pädagogisch-erzieherischen Zugang mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zu den Institutionen der Erwachsenenbildung eine interkulturelle Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern und den Aufbau des Faches ›Toleranzkunde‹ zu ermöglichen;

8. einen psychologischen Zugang, der darauf bedacht ist, die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Menschen auf der Ebene der Einstellung ernst zu nehmen;

9. einen soziologischen Zugang, der die Auswirkungen intra- und interkulturellen Verhal-tens auf gesellschaftliche Strukturen hin untersucht.

Ein weiterer Zugang  ist ein  religionswissenschaftlicher, der die Säule des vorliegenden Beitrags bildet. Er beinhaltet, daß Religionen und Kulturen in einer über weite Strecken gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie miteinander verbindet: Nicht nur Gemeinsamkeiten,  sondern auch er‐hellende Differenzen gibt es zwischen ihnen. 

Das Konzept der interkulturellen Religionswissenschaft 

Was heißt Kultur im Kontext des Interkulturellen? Mit der Entstehung und Entwicklung der Kultur  ›domestizierte‹  sich der Mensch selbst und schuf durch diesen immerwährenden Prozeß eine Reihe neuer Welten, die  äußerst  heterogen  sind. Man denke  hier  etwa  an  eine Haltung,  die  Gewalt  auslöst  und  innerhalb  eines  bestimmten  Kulturbe‐reichs Widerstand erzeugt, bei einem anderen hingegen aber wirkungslos bleibt. Die Thematisierung der Religionswissenschaft  im Kontext des  Interkul‐

turellen  setzt  die  Bestimmung  eines  flexiblen,  jedoch  überlappend  ver‐bindlichen Kulturbegriffs voraus, weil  es  eine Vielzahl von Kulturdefini‐tionen gibt2, die von unterschiedlichen Konzeptionen ausgehen. Es ist eine berechtigte  Frage,  ob  mit  einem  traditionellen  engen  Kulturbegriff  den gegenwärtigen Herausforderungen noch Rechnung getragen werden kann. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Mensch‐Kultur‐

beziehung zunehmend zum zentralen Thema der ethnologischen und an‐thropologischen  Forschung  erhoben.  Dabei war  es maßgeblich,  daß  der 

2   Die systematische Entwicklung des Kulturbegriffs ist mit Ethnologen wie Gustav 

Klemm, Edward Tylor, Bronislaw Malinowski und Franz Boas verbunden. Al‐fred Louis Kroeber und Clyde Kluckhohn stellen mehr als 160 Definitionen von Kultur zusammen, die sich  in vielerlei Hinsichten ähneln. Vgl. Kroeber, Alfred Louis und Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1963. 

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Mensch zwar einerseits Kulturen bildet und Gesellschaften prägt, anderer‐seits aber auch selbst von beiden so stark geprägt und bestimmt wird, daß selbst  die  Befriedigung  elementarster  Bedürfnisse,  die  als  biologisch  be‐zeichnet werden könnten, außer unter ungewöhnlichen Umständen immer im Bann der Regeln bleibt, die von Gebräuchen und Gewohnheiten diktiert werden. Die Ethnologen dieser Zeit untersuchten  traditionell Stammesge‐sellschaften bzw. außereuropäische schriftlose Völker. Dabei hegte man im wesentlichen einen Kulturbegriff, der dem Johann Gottfried Herders (1744‐1803) ähnlich  ist. Herder ging von der Kugelförmigkeit der Kulturen aus, die  sich  in  abgeschlossenen  Sphären  bilden.  Für  ihn  bedeutete  eine Mi‐schung  von  Kulturen  Verlust  an  »Eindrang,  Tiefe  und  Bestimmtheit.«3 Nach Herder »bringt eine Kultur nur so weit Verständnis für fremde Kul‐turleistungen  auf,  als  diese  assimilierbar  sind.  Eine Übernahme wird  zu einer  Integration und nicht  zu  einer  eigentlichen  Innovation der  eigenen Weltanschauung.  Sie  folgt  den  Verständnisgesichtspunkten  der  eigenen, nicht der fremden Kultur.«4 Noch  zu Beginn des  20.  Jahrhunderts galten Kulturen  als  statische Ge‐

bilde und homogene Gefüge. Dieser enge Kulturbegriff ist in einer globali‐sierten Welt nicht mehr haltbar und bedarf einer gründlichen Erweiterung. Es gibt faktisch »eine reine eigene Kultur [...] ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt.«5 Kulturen  sind wie die Fäden eines Gewebes, die auf vielfältige Weise miteinander verbunden  sind.6 Sarvepalli Radhakrishnan (1888‐1975) bezeichnet die verschiedenen Kulturen als »Dialekte einer ein‐

3   Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völ‐ker in alten und neuen Zeiten, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8, Hildesheim 1967 (334‐346), S. 423. 

4   Holenstein,  Elmar:  Kulturphilosophische  Perspektiven.  Schulbeispiel  Schweiz  – Europäische  Identität  auf dem Prüfstein  – Globale Verständigungsmöglichkei‐ten, Frankfurt/Main 1998 S. 272. 

5   Mall, Ram Adhar: Philosophie  im Vergleich  der Kulturen.  Interkulturelle Philoso‐phie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 1. 

6   Vgl. Holzbrecher, Alfred:  ›Vielfalt  als Herausforderung‹,  in: Holzbrecher, Alfred (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunter‐richt, (Didactica nova) Bd. 7, Hohengehren 1999 S. 9. 

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zigen  Sprache  der  Seele. Die Unterschiede  sind  solche  des Akzents,  der geschichtlichen Umstände und der Entwicklungsstufen.«7 Es gibt seit Menschengedenken faktisch keine homogenen und unverän‐

derlichen Kulturgebilde. Kulturen  sind dynamisch und veränderbar.  Ihre Grenzen  sind  fließend,  und  sie  haben  nie  hermetisch  voneinander  abge‐trennt existiert. Kulturelle Wechselwirkung und Entwicklung hat es immer gegeben. Selbst das Studium der Religionsgeschichte belegt dies. Hier  ist zu  beobachten, wie Macht, Glaube, Autorität, Gewalt  und  Liebe  in  ver‐schiedenen Kulturräumen und Gesellschaften  auf unterschiedliche Weise interpretiert und praktiziert werden. Der Mensch ist ein kulturbildendes und bildungsorientiertes Wesen. Bil‐

dung entwickelt und  schafft Kultur als einen offenen Raum,  in dem und aus dem heraus gehandelt wird. Kultur umfaßt die Gesamtheit der Lebens‐ und Organisationsformen sowie den Inhalt und die Ausdrucksformen der vorherrschenden  Wert‐  und  Geisteshaltung.  Sowohl  regionale  als  auch globalisierte Kulturen sind von einer offenen Systematik geleitet, die Zwi‐schenräume  für  Kommunikation  zwischen  diesen  Trägern  schafft.  Der Dialog der Kulturen und Religionen ist ein gutes Beispiel hierfür. Kommu‐nikation macht  somit  den  Kern  der  Kultur  und  das menschliche  Leben selbst  aus. Es  sind  allerdings  nicht  die Kulturen,  die miteinander  reden, sondern es sind immer die Träger dieser Kulturen und Traditionen. Kom‐munikationen scheitern, wenn die Beteiligten sich darüber nicht im klaren sind, daß jeder in einer eigenen Wahrnehmungswelt verharrt.8 Das Konzept der Interkulturalität geht nicht von der Herausbildung der 

Idee einer künftigen ›einheitlichen Menschheits‐ bzw. Weltkultur‹ aus, die den  Prämissen  einer  übergeordneten  Leitkultur  unterliegt.  Unter  dieser Voraussetzung wird zwangsläufig die Assimilation und damit die Einheit‐lichkeit aller Kulturen zugunsten einer einzigen ›Einheitskultur‹ vorausge‐

7   Radhakrishnan, Sarvepalli: Die Gemeinschaft des Geistes. Östliche Religionen und 

westliches Denken, Darmstadt 1952 S. 366. 8   Im  Hinblick  auf  Probleme,  Störungen  und  Bedingungen  der  interkulturellen 

Kommunikation sei grundsätzlich verwiesen auf: Yousefi, H. R.: Toleranz als Weg zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung, in: Wege zur Kommunika‐tion. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, hrsg. v. Hamid H. R. Yousefi u.a., Nordhausen 2006 (19‐48). 

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setzt. Die Unifizierung der Kulturen  ist sowohl  theoretisch als auch prak‐tisch eine Fehlleistung, eine Fehltat, weil Differenzen ausgeblendet werden. Interkulturalität ist und bleibt von einer offenen Systematik der Kulturfor‐men geleitet. Der  Interkulturalität  liegt eine Pluralität zugrunde, die einer geistigen Einheit  – keiner Einheitlichkeit  –  aus der Vielheit der Kulturen den Weg ebnet. Das Eigene und das Fremde suchen zwar das Gemeinsame und  ergänzen  sich,  ohne Differenzen werden  sie  aber  farblos. An dieser Stelle  soll  folgender Arbeitsbegriff  von  Kultur  gelten:  Kulturen  sind  im Kontext  der  interkulturellen  Religionswissenschaft  in  unterschiedlicher Weise und  in unterschiedlichem Ausmaß  in Partialkulturen differenzierte Netzwerke mit lokal unterschiedlichen Dichtegraden. 

Struktur und Aufgaben der interkulturellen Religionswissenschaft Auf der Basis  eines  so verstandenen Kulturbegriffs  ist die  interkulturelle Religionswissenschaft  dem  Dialog  zwischen  den  Religionen  verpflichtet und hat stets eine Aufklärungsfunktion zu erfüllen. Es geht um die theore‐tische und praktische Anerkennung, daß auch andere Völker Vernunft und Rationalität besitzen. Hier wird die oft gestellte Frage beantwortet, wozu diese  Art  von  Religionswissenschaft  überhaupt  notwendig  ist.  Dement‐sprechend liegt eine Aufgabe der interkulturell‐religionswissenschaftlichen Aufklärung darin, den selbsterhobenen Universalitätsanspruch der Religi‐onsgeschichte  im Abendland  nicht  nur  ideengeschichtlich,  sondern  auch entwicklungsgeschichtlich  zu hinterfragen und  zu  relativieren, damit  ein Dialog zwischen den Denktraditionen auf gleicher Augenhöhe stattfinden kann. Religionswissenschaft essentialistisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten  Bedingungen  als  relevant  erklären  zu  wollen,  widerspricht dem Kern religionswissenschaftlicher Reflexion selbst. Interkulturelle  Religionswissenschaft  umfaßt  als  ein  human‐  und  kul‐

turwissenschaftliches  Programm  sowohl  Praktische  und  Engagierte  als auch Angewandte Religionswissenschaft.  Sie  ist  zum  einen  bemüht,  gei‐steswissenschaftliche Begriffe  zu  entkolonialisieren, die geschichtlich  stu‐fentheoretisch  gebildet worden  sind,  und  zum  anderen  die  europäisch‐westliche Religionswissenschaft zu säkularisieren, die in vielerlei Hinsicht intern dialogisch und  extern  konservativ und monologisch  agiert. Damit verfolgt  die  interkulturelle  Religionswissenschaft  das  Ziel,  ein  neues Selbstverständnis des Menschen zu entwickeln. 

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Interkulturelle Religionswissenschaft beschränkt sich als offene Systema‐tik  nicht  auf  die  Analyse  der  religiösen Quellen  unter  literarischen  Ge‐sichtspunkten;  sie  hat  auch  ein  undogmatisch,  rein  historisch  erforschter Bezug zu Religionen der Menschheit. Interkulturelle  Religionswissenschaft  distanziert  sich  von  jeglicher  Art 

von  Absolutheitsansprüchen  und  kulturegoistischen  Handlungsweisen. Interkulturelle  bzw.  interreligiöse  Kompetenz  spielt  im  Rahmen  dieses Konzepts eine Schlüsselrolle, die noch zu behandeln sein wird. In der  interkulturellen Religionswissenschaft gilt eine ›orthafte Ortlosig‐

keit‹ wie auch eine ›ortlose Orthaftigkeit‹.9 Ihre Notwendigkeit ist im Pro‐zeß der Globalisierung eine zukunftsgerichtete Neugestaltung der  interre‐ligiösen Gegenwartskultur. Interkulturelle  Religionswissenschaft  wirft  eine  Reihe  von  Problemen 

auf, die eine neue Historiographie erfordern. Zu  ihren wesentlichen Auf‐gaben gehört vor allem die Überwindung einer Denkart, die einen konti‐nentzentrischen  Ausgangspunkt  a  priori  festlegt.  Dieses  unverkennbare Erbe der kolonialistischen Phase der westlichen Geschichte, die mit ande‐ren Kulturen, Religionen und Philosophien selektiv verfährt, ist durch eine interkulturelle Sichtweise zu ersetzen. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt nationale  Identitäten wahr, 

hält die  interkulturelle Weltbürgerlichkeit  für wichtig und  ist  ihrer welt‐bürgerlichen Bedeutung nach dem Weltbegriff verpflichtet. Sie räumt dem sensus numinis, der  für Milliarden von Menschen zentral  ist, den  ihm ge‐bührenden Platz ein. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt an der Gestaltung des Welt‐

friedens  teil und  stellt keine Gebote und Verbote  auf.  Sie untersucht die Erscheinungsformen, vergleicht  sie, klärt die Ursachen von Diskrepanzen und zeigt Wege zur Lösung der Probleme auf. In ihrem Zentrum steht ein rationales und ethisches Bewußtsein, welches dem generellen und essenti‐ellen Religionsverständnis vorausgeht. Wahrheits‐ und Wesensfrage dür‐fen nicht miteinander vermengt werden. Sonst »treten tatsächlich religiöse Denkurteile auf mit erschlichenen Prämissen gegen echte Denkurteile des 

9   Mall, R. A.: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 20. 

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wissenschaftlichen Denkens.«10  Religion wird  hier  gesehen  als  »erlebnis‐hafte Begegnung mit dem Heiligen und  antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.«11 Dieser doppelte Aspekt verbindet alle Religionen. »Von daher kann die Religion des anderen im Kern verstanden werden  und  sollte  das Verstehen  des  anderen  das Zusammenleben  und Zusammenwirken der Religionen stimulieren.«12 Für die interkulturelle Religionswissenschaft  ist die Kategorie des Heili‐

gen konstitutiv13: »Es ist die Frage«, stellt Hans Jonas (1903‐1993) fest, »ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründ‐lichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind.«14 William James (1842‐1910) argumentiert in dieselbe Richtung und kritisiert darüber hinaus eine reine philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft. Wir müssen uns nach James mit der Tatsache abfinden, »daß der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserleb‐nisse  zu  demonstrieren,  absolut  hoffnungslos  ist.«15  Die  Kategorie  des Heiligen läßt sich im interkulturellen bzw. interreligiösen Kontext verdeut‐lichen:  Buddhismus,  Judentum, Christentum,  Islam  und  die Zande  (dar‐über später) können als Beispiel angeführt werden. »Das Heilige in diesen Religionen bildet  in verschiedener Weise  ihren Kern. Während der Budd‐hismus vom Nirvana ausgeht und das  Judentum von  Jahwe,  ist  Jesus als 

10  Mensching,  Gustav:  Das  religiöse  Urteil.  Ein  Beitrag  zur  Wesensfrage,  in: 

Sozialistische Monatshefte, 28. Jg., Bd. 58, Berlin 1922 (520‐521), S. 521. 11  Mensching, Gustav: Die Religionen und die Welt. Typen  religiöser Weltdeutung, 

Bonn 1947 S. 17. 12  Tröger, Karl‐Wolfgang: Das Heilige als interreligiöse Kategorie, Mit Rudolf Otto im 

Gespräch,  in: RIG, Bd. 7, Neue Herausforderungen  für den  Interreligiösen Dia‐log, 2002 (92‐101), S. 98. 

13  Zur Kategorie des Heiligen  in der Religion, Philosophie und Religionswissen‐schaft vgl. Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff  im Denken Gustav Menschings. Eine interkulturelle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 27‐41. 

14  Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Kritik für die technologi‐sche Zivilisation, Frankfurt/Main 1989 S. 57. 

15   James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschli‐che Natur, Frankfurt/Main 1997 S. 447. 

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Gottesgestalt für das Christentum, Allah für den Islam und Orakel, Magie und  Hexerei  für  die  sogenannten  primitiven  Kulturen  wesentlich.  Dies verhält sich mit allen anderen Religionen, Weisheitsreligionen oder religiö‐sen Vorstellungen nicht anders, die an ›Etwas‹ glauben, was für sie ›heilig‹ ist.  Das  Heilige  kann  neben magischen  Vorstellungen  auch  auf  Gegen‐stände  bezogen  sein. Deshalb  kann  von der  ›unbestimmten Bestimmung des Heiligen‹ gesprochen werden, die je nach Vorstellung anders ausfallen wird.«16  Religionsverstehen  kommt  im  Symbolverstehen  zum Ausdruck, welches das Wesen der Religionen erfaßt. Eine interreligiöse und interkulturelle Orientierung sieht in dem Heiligen 

das verbindende Glied unter den Religionen, das für den Dialog unerläß‐lich ist. Damit trägt sie dazu bei, durch den Dialog zu besseren Einsichten über das Eigene und das Fremde zu verhelfen und ein besseres Miteinan‐der in Gang zu bringen. Überlieferte Unterscheidungen, voreilige Identifi‐zierungen  und Unterscheidungen,  die  häufig  zu  Polarisierungen  führen, werden nicht mehr kritiklos akzeptiert. Im Kontext des Interkulturellen gilt es die Frage zu beantworten, ob wir 

berechtigt sind, eine ›Superkultur‹ bzw. ›Superreligion‹ zu fördern, die den Anspruch erhebt, bestehende kulturelle bzw.  religiöse Vorstellungen und Handlungsweisen zu ersetzen? Diese Frage ist kurz und deutlich mit nein zu beantworten. Interkulturelle Religionswissenschaft  schafft  einen  integrativen Rahmen 

zur Zusammenstellung der Ursachen von Vorurteilen und praktiziert eine parallele Heranziehung der  kulturspezifischen  und  kulturübergreifenden Themen. Um Religionen zu verstehen, genügt es nicht, eine reine textuelle und philologische Orientierung zu pflegen. Das war die traditionelle Form der Religionswissenschaft.  Im Kontext des  Interkulturellen bzw.  Interreli‐giösen geht es vielmehr darum, die religionsgeschichtliche Entstehung, die Gesamtheit der Lehre  samt  ihrer Soziologie und verbunden mit  ihrer  so‐

16  Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff im Denken Gustav Menschings. Eine interkultu‐

relle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 225. Diese unbestimmte Bestimmung läßt zu, daß die Lehre Buddhas nicht als ein onto‐theologischer Be‐griff aufgefaßt wird. Auch wenn Mensching trotz aller Differenzen das Überlap‐pende unter den Religionen hervorhebt und es als das Heilige bezeichnet, darf es nach buddhistischem Verständnis nicht ontologisiert werden.