25
Han · Was ist Macht?

Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

  • Upload
    others

  • View
    12

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Han · Was ist Macht?

Page 2: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße
Page 3: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Byung-Chul Han

Was ist Macht?

Reclam

Page 4: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 183562005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2017

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-018356-4

www.reclam.de

Page 5: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Inhalt

Vorwort7

Logik der Macht9

Semantik der Macht37

Metaphysik der Macht65

Politik der Macht91

Ethik der Macht118

Literaturhinweise144

Zum Autor149

Page 6: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße
Page 7: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Vorwort

Hinsichtlich des Machtbegriffs herrscht immer noch eintheoretisches Chaos. Der Selbstverständlichkeit desPhänomens steht eine totale Unklarheit des Begriffsgegenüber. Für den einen bedeutet sie Unterdrückung.Für den anderen ist sie ein konstruktives Element derKommunikation. Die juristische, die politische und diesoziologische Vorstellung von der Macht stehen einan-der unversöhnt gegenüber. Die Macht wird bald mitder Freiheit, bald mit dem Zwang in Verbindung ge-bracht. Für die einen beruht die Macht auf dem ge-meinsamen Handeln. Für die anderen steht sie mit demKampf in Beziehung. Die einen grenzen die Macht vonder Gewalt scharf ab. Für die anderen ist die Gewaltnichts anderes als eine intensivierte Form der Macht.Die Macht wird bald mit dem Recht, bald mit der Will-kür assoziiert.

Angesichts dieser theoretischen Konfusion soll einbeweglicher Machtbegriff gefunden werden, der die di-vergierenden Vorstellungen von der Macht in sich zuvereinigen vermöchte. Zu formulieren ist also eineGrundform der Macht, die durch Verschiebung innererStrukturelemente unterschiedliche Erscheinungsformengeneriert. Das vorliegende Buch orientiert sich an die-ser theoretischen Vorgabe. Dadurch soll der Macht zu-mindest jene Macht genommen werden, die auf demUmstand beruht, daß man nicht genau weiß, worum essich eigentlich handelt.1

1 Vgl. Niklas Luhmann, »Klassische Theorie der Macht. Kritik ihrerPrämissen«, in: Zeitschrift für Politik 2 (1969) S. 149–170, hier: S. 149.

Page 8: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße
Page 9: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Logik der Macht

Unter Macht versteht man gewöhnlich die folgendeKausalrelation: Die Macht von Ego ist die Ursache, diebei Alter gegen dessen Willen ein bestimmtes Verhaltenbewirkt. Sie befähigt Ego dazu, seine Entscheidungen,ohne auf Alter Rücksicht nehmen zu müssen, durchzu-setzen. So beschränkt Egos Macht Alters Freiheit. Altererleidet den Willen Egos als etwas ihm Fremdes. Diesegewöhnliche Vorstellung von der Macht wird derenKomplexität nicht gerecht. Das Geschehen der Machterschöpft sich nicht in dem Versuch, Widerstand zubrechen oder Gehorsam zu erzwingen. Die Macht mußnicht die Form eines Zwanges annehmen. Daß sichüberhaupt ein gegenläufiger Wille bildet und demMachthaber entgegenschlägt, zeugt gerade von derSchwäche seiner Macht. Je mächtiger die Macht ist, de-sto stiller wirkt sie. Wo sie eigens auf sich hinweisenmuß, ist sie bereits geschwächt.1

1 So bemerkt Ulrich Beck zu Recht: »Selbstverständlichkeit, Vergessenund Größe der Macht korrelieren positiv. Man kann geradezu sagen:Wo niemand über Macht spricht, ist sie fraglos da, in ihrer Fraglosig-keit zugleich sicher und groß. Wo Macht Thema wird, beginnt ihrZerfall« (U. B., Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neueweltpolitische Ökonomie, Frankfurt a. M. 2002, S. 105).

Die Macht besteht auch nicht in der »Neutralisierungdes Willens«.2

2 Vgl. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975, S. 11 f.: »Faktischmacht [. . .] die Existenz eines Machtgefälles und einer antizipierba-ren Machtentscheidung es für den Unterworfenen gerade sinnlos,überhaupt einen Willen zu bilden. Und gerade darin besteht dieFunktion von Macht: Sie stellt mögliche Wirkungsketten sicher un-abhängig vom Willen des machtunterworfenen Handelnden – ob er

Diese besagt, daß es angesichts des be-

Page 10: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

stehenden Machtgefälles auf Seiten des Machtunterwor-fenen gar nicht erst zur Bildung des eigenen Willenskommt, denn er muß sich ja ohnehin dem Willen desMachthabers fügen. So dirigiert ihn der Machthaber inder Wahl der Handlungsmöglichkeiten. Es gibt aberMachtformen, die auch über diese »Neutralisierung desWillens« hinausgehen. Es ist nämlich das Zeichen einerhöheren Macht, daß der Machtunterworfene von sichaus gerade das, was der Machthaber will, ausdrücklichwill, daß der Machtunterworfene dem Willen desMachthabers wie seinem eigenen Willen folgt oder so-gar vorgreift. Der Machtunterworfene kann ja das, waser ohnehin tun würde, zum Inhalt des Willens desMachthabers überhöhen und mit einem emphatischen›Ja‹ zum Machthaber ausführen. So gewinnt derselbeHandlungsinhalt im Medium der Macht eine andereForm, und zwar dadurch, daß das Tun des Machthabersvom Machtunterworfenen als dessen eigenes Tun bejahtoder verinnerlicht wird. Die Macht ist also ein Phäno-men der Form. Entscheidend ist, wie eine Handlungmotiviert wird. Nicht ›Ich muß ohnehin‹, sondern ›Ichwill‹ bringt zum Ausdruck, daß eine höhere Macht imRaum ist. Nicht das innere ›Nein‹, sondern das empha-tische ›Ja‹ ist die Antwort auf eine höhere Macht.3 Die

will oder nicht. Die Kausalität der Macht besteht in der Neutralisie-rung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens desUnterworfenen. Sie betrifft diesen auch und gerade dann, wenn ergleichsinnig handeln sollte und dann erfährt: er muß ohnehin.«

3 Setzt man dagegen die Macht mit Zwang und Unterdrückung gleich,so wird sie als die Fähigkeit interpretiert, ›Nein‹ zu sagen. Dabeiwird verkannt, daß ›Ja‹ eigentlich der Ausdruck einer höheren Machtist. ›Ja‹ muß nicht der Ohnmacht entspringen. Vgl. Wolfgang Sofskyund Reiner Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität-Stellvertre-

Logik der Macht10

Page 11: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Kausalität vermag sie nicht angemessen zu beschreiben,denn die Macht funktioniert hier nicht wie ein mecha-nischer Stoß, der einen Körper von seiner ursprüng-lichen Laufrichtung einfach wegdrängt. Sie wirkt viel-mehr wie ein Feld, in dem er sich gleichsam aus freienStücken bewegt.

Das Zwangsmodell wird der Komplexität der Machtnicht gerecht. Die Macht als Zwang besteht darin, ei-gene Entscheidungen gegen den Willen des Anderendurchzusetzen. So weist sie einen sehr geringen Ver-mittlungsgrad auf. Ego und Alter verhalten sich zuein-ander antagonistisch. Ego findet keine Aufnahme inAlters Seele. Mehr Vermittlung enthält dagegen jeneMacht, die nicht gegen den Handlungsentwurf des An-deren, sondern aus ihm heraus wirkt. Eine höhereMacht ist nämlich die, die die Zukunft des Anderen bil-det, und nicht die, die sie blockiert. Statt gegen eine be-stimmte Handlung Alters vorzugehen, beeinflußt oderbearbeitet sie das Handlungsumfeld oder -vorfeld Al-ters so, daß sich Alter freiwillig, auch ohne negativeSanktionen, für das entscheidet, was Egos Willen ent-spricht. Ohne jede Gewaltausübung nimmt der Macht-haber Platz in der Seele des Anderen.

Das Modell der Kausalität vermag komplexe Bezie-hungen nicht zu beschreiben. Schon das organische

tung-Koalition, Frankfurt a. M. 1994, S. 9: »Eine Gesellschaft ohneMacht wäre eine Gesellschaft von Jasagern. Wer sie abschaffen wollte,müßte alle der Fähigkeit berauben, Nein sagen zu können. Denn dasHandeln des einen endet am Widerstand des anderen, seiner unhinter-gehbaren Selbständigkeit und Freiheit, etwas anderes zu tun, als vonihm erwartet wird. Dagegen geht die Macht vor. Sie erweitert die Frei-heit des einen gegen den anderen, indem sie sein Nein bricht, seineFreiheit negiert. Macht ist Freiheit zur Vernichtung von Freiheit.«

Logik der Macht 11

Page 12: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Leben entzieht sich dem Verhältnis der Kausalität. ImGegensatz zum leblosen, passiven Ding läßt der Orga-nismus die äußere Ursache nicht einfach ohne eigenesHinzutun bei sich zur Wirkung kommen. Vielmehrreagiert es selbständig auf die Ursache. Diese Fähigkeitzur eigenständigen Antwort auf die äußere Veranlas-sung kennzeichnet gerade das Organische. Ein leblosesDing antwortet dagegen nicht. Das Besondere des Le-bendigen besteht darin, die äußere Ursache abzubre-chen, zu verwandeln und etwas Neues bei sich begin-nen zu lassen. Das Lebendige ist z. B. auf die Nahrungzwar angewiesen, aber sie ist nicht die Ursache seinesLebens. Wenn hier überhaupt von der Ursache dieRede sein kann, so ist es das Lebendige selbst, das dieMacht hat, das ihm Äußere zur Ursache für bestimmteorganische Vorgänge erst zu machen. Diese sind alsokeine einfache Wiederholung der äußeren Ursache imInneren. Sie sind vielmehr eigene Leistungen, eigeneEntscheidungen des Lebendigen. Es reagiert selbstän-dig aufs Äußere. Die äußere Ursache ist nur eine dervielen möglichen Veranlassungen, die vom Lebendigenselbst zur Ursache bestimmt wird. Sie wird vom Le-bendigen nie bloß passiv erlitten. Die äußere Ursachekommt ohne Leistung oder Entscheidung des Innerennie zur Wirkung. Es gibt keine unmittelbare Verlänge-rung des Äußeren ins Innere wie bei der Übertragungder Bewegungsenergie von einem Körper auf den ande-ren. Die Kategorie der Kausalität ist noch weniger ge-eignet, das geistige Leben zu beschreiben. Die Komple-xität des geistigen Lebens bedingt die Komplexität desMachtgeschehens, das nicht ins lineare Verhältnis vonUrsache und Wirkung zu übersetzen ist. Sie unterschei-

Logik der Macht12

Page 13: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

det die Macht von der physischen Gewalt, bei der dieeinfache Kausalität von Kraft bzw. Stärke und Wirkungzu erreichen wäre. In dieser Komplexitätsreduzierungbestünde wohl der Vorteil der physischen Gewalt.

Das komplexe Machtgeschehen läßt sich ferner miteinfacher Arithmetik nicht angemessen beschreiben.Eine geringere Gegenmacht kann der Übermacht emp-findliche Schäden zufügen. Dadurch fällt auch einemschwachen Gegner viel Bedeutung, somit viel Machtzu. Auch bestimmte politische Konstellationen könneneiner schwachen Partei oder Nation viel Macht verlei-hen. Und komplexe Interdependenzen sorgen für dieReziprozität der Macht. Ist Ego etwa auf die Mitarbeitvon Alter angewiesen, so entsteht eine AbhängigkeitEgos von Alter. Ego kann seine Forderungen nichtmehr ohne Rücksicht auf Alter formulieren und durch-setzen, denn Alter verfügt über die Möglichkeit, aufden Zwang von Ego etwa mit der Kündigung seinerMitarbeit zu reagieren, die auch Ego in eine schwierigeLage bringen würde. So kann Egos Abhängigkeit vonAlter von diesem als eine Machtquelle wahrgenommenund eingesetzt werden. Auch die ganz Schwachen kön-nen ihre Ohnmacht in Macht umschlagen lassen, indemsie geschickt von den kulturellen Normen Gebrauchmachen.

Zu berücksichtigen ist ferner die vielfache Dialektikder Macht. Das hierarchische Machtmodell, wonach dieMacht einfach von oben nach unten ausstrahlt, ist un-dialektisch. Je mehr Macht ein Machthaber hat, destomehr ist er etwa auf die Beratung und Mitarbeit derUntergebenen angewiesen. Er kann zwar viel befehlen.Aber aufgrund der wachsenden Komplexität geht die

Logik der Macht 13

Page 14: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

faktische Macht auf seine Berater über, die ihm sagen,was er befehlen soll. Die vielfachen Abhängigkeiten desMachthabers werden für die Untergebenen zu Macht-quellen. Sie führen zur strukturellen Streuung derMacht.

Hartnäckig hält sich die Meinung, die Macht schließedie Freiheit aus. Dies ist jedoch nicht der Fall. EgosMacht erreicht gerade in der Konstellation ihr Maxi-mum, in der Alter sich freiwillig seinem Willen fügt.Ego drängt sich nicht Alter auf. Die freie Macht ist keinOxymoron. Sie besagt: Alter folgt Ego in Freiheit. Wereine absolute Macht erreichen will, wird nicht von derGewalt, sondern von der Freiheit des Anderen Ge-brauch machen müssen. Sie wird in dem Moment er-reicht, in dem die Freiheit und die Unterwerfung ganzzusammenfallen.

Die Macht, die über die Befehle wirkt, und dieMacht, die auf der Freiheit und Selbstverständlichkeitberuht, sind jedoch nicht zwei einander entgegenge-setzte Modelle. Sie sind nur der Erscheinung nach ver-schieden. Auf eine abstrakte Ebene gehoben, offenba-ren sie die ihnen gemeinsame Struktur. Die Macht befä-higt Ego dazu, im Anderen bei sich selbst zu sein. Sieerzeugt eine Kontinuität des Selbst. Ego realisiert beiAlter seine Entscheidungen. Dadurch kontinuiert sichEgo in Alter. Die Macht verschafft Ego Räume, dieseine sind, in denen er trotz der Präsenz des Anderenbei sich selbst zu sein vermag. Sie befähigt den Macht-haber dazu, im Anderen zu sich zurückzukehren. DieseKontinuität kann sowohl durch Zwang als auch durchGebrauch der Freiheit erreicht werden. Im Falle desGehorchens, das in Freiheit erfolgt, ist das Kontinuum

Logik der Macht14

Page 15: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

des Ego sehr stabil. Es ist mit Alter vermittelt. Die er-zwungene Kontinuität des Selbst ist dagegen aufgrundder mangelnden Vermittlung zerbrechlich. Aber in bei-den Fällen verhilft die Macht Ego dazu, sich in Alter zukontinuieren, in Alter bei sich selbst zu sein. Wird dieVermittlung auf Null reduziert, so schlägt die Macht inGewalt um. Die reine Gewalt versetzt Alter in eine ex-treme Passivität und Unfreiheit. Es findet keine innereKontinuität zwischen Ego und Alter statt. Gegenübereinem passiven Ding ist keine Macht im eigentlichenSinne möglich. So sind Gewalt und Freiheit die beidenEndpunkte einer Macht-Skala. Eine steigende Vermitt-lungsintensität generiert mehr Freiheit bzw. mehr Ge-fühl der Freiheit. So ist die Erscheinungsform derMacht durch deren innere Vermittlungsstruktur be-dingt.

Die Macht ist ein Phänomen des Kontinuums. Sieverschafft dem Machthaber einen weiten Raum desSelbst. Diese Logik der Macht erklärt, warum der totaleMachtverlust als ein absoluter Raumverlust erfahrenwird. Der Leib des Machthabers, der gleichsam eineganze Welt ausfüllte, schrumpft auf ein ärmliches StückFleisch zusammen. Der König hat nicht nur einen na-türlichen Körper, der sterblich ist, sondern auch ei-nen politisch-theologischen Körper, der seinem Reichgleichsam koextensiv ist. Beim Machtverlust wird er aufdiesen kleinen, sterblichen Körper zurückgeworfen.4

4 Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studiezur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990.

Sowird der Machtverlust als eine Art Tod erlebt.

Es ist ein irriger Glaube, daß die Macht nur hem-mend oder zerstörend wirkt. Schon als Kommunika-

Logik der Macht 15

Page 16: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

tionsmedium sorgt die Macht dafür, daß die Kommuni-kation in einer bestimmten Richtung zügig fließt. DerMachtunterworfene wird dazu gebracht (aber nichtnotwendig dazu gezwungen), die Entscheidung, d. h.die Handlungsselektion des Machthabers anzunehmen.Die Macht ist die »Chance«, »die Wahrscheinlichkeitdes Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektions-zusammenhänge zu steigern«.5

5 Luhmann, Macht, S. 12.

Sie steuert oder lenktdie Kommunikation in eine bestimmte Richtung, in-dem sie die mögliche Diskrepanz zwischen dem Macht-haber und dem Machtunterworfenen hinsichtlich derHandlungsselektion aufhebt. So leistet sie die »Über-tragung von Handlungsselektionen von einem Ent-scheidungspunkt auf andere«, damit »die unbestimm-te Komplexität menschlicher Handlungsmöglichkeiteneingeschränkt«6

6 Niklas Luhmann, »Macht und System. Ansätze zur Analyse vonMacht in der Politikwissenschaft«, in: Universitas. Zeitschrift fürWissenschaft, Kunst und Literatur 5 (1977) S. 473–482, hier: S. 476.

wird. Die kommunikative Führung derMacht muß nicht repressiv erfolgen. Die Macht beruhtnicht auf der Unterdrückung. Als Kommunikations-medium wirkt sie vielmehr konstruktiv. So definiertLuhmann die Macht als einen »Katalysator«. Katalysa-toren beschleunigen den Eintritt von Ereignissen oderbeeinflussen den Verlauf von bestimmten Vorgängen,ohne sich dabei selbst zu verändern. Dadurch erzeugensie einen »Zeitgewinn«. Auch in dem Sinne wirkt dieMacht produktiv.

Luhmann beschränkt die Macht auf jene kommuni-kative Konstellation, in der ein mögliches ›Nein‹ desMachtunterworfenen gleichsam in der Luft liegt. Der

Logik der Macht16

Page 17: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Bedarf an Macht als Kommunikationsmedium entstehtangesichts einer Unwahrscheinlichkeit der Annahmeder Handlungsselektion, nämlich eines kommunikati-ven Engpasses.7

7 Vgl. Luhmann, Macht, S. 13: »Nur wenn und soweit Güter knappsind, wird der handelnde Zugriff des einen zum Problem für andere,und diese Situation wird dann durch ein Kommunikationsmediumgeregelt, das die Handlungsselektion des einen in das Miterleben an-derer überführt und dort akzeptierbar macht.«

Die Macht soll das ›Nein‹, das immermöglich ist, in ein ›Ja‹ umwandeln. Im Gegensatz zu je-ner negativen Konzeption der Macht, die immer ›Nein‹sagt, besteht die Funktion des Kommunikationsmedi-ums Macht darin, die Wahrscheinlichkeit des ›Ja‹ zu er-höhen. Das ›Ja‹ des Machtunterwofenen muß nicht ju-bilatorisch sein. Aber es ist auch nicht notwendig einEffekt des Zwanges. Die Positivität oder Produktivitätder Macht als »Chance« erstreckt sich auf den breitenZwischenraum zwischen Jubel und Zwang. Der Ein-druck, die Macht sei destruktiv oder hemmend, ent-steht dadurch, daß nur in der vermittlungsarmen Kon-stellation des Zwanges die Aufmerksamkeit eigens aufdie sich aufdrängende Macht gelenkt wird. Wo dieMacht dagegen nicht als Zwang auftritt, wird sie kaumoder wenig als solche wahrgenommen. Sie geht gleich-sam in der Zustimmung unter. Das negative Urteil überdie Macht entspringt also einer selektiven Wahrneh-mung.

Max Weber definiert die Macht wie folgt: »Macht be-deutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehungden eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzu-setzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«8

8 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Tübingen51976, S. 28.

Dann

Logik der Macht 17

Page 18: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

bemerkt er, daß der Begriff »Macht« soziologisch»amorph« sei. Der soziologische Begriff der »Herr-schaft«, die garantiert, »für einen Befehl Fügsamkeit zufinden«, sei dagegen ein »präziserer«. Diese Einschät-zung ist nicht unproblematisch. »Amorph« ist dieMacht in soziologischer Hinsicht gewiß nicht. DieserEindruck entspringt nur einer beschränkten Wahrneh-mungsweise. Eine ausdifferenzierte Welt produziert in-direkte, still wirkende, weniger offensichtliche Macht-grundlagen. Auf deren Komplexität und Indirektheitgeht der Eindruck zurück, die Macht wirke »amorph«.Im Gegensatz zur Herrschaft des Befehls tritt dieMacht nicht offen in Erscheinung. Die Macht derMacht besteht ja gerade darin, daß sie auch ohne denausdrücklichen »Befehl« Entscheidungen und Hand-lungen bewegen kann.

Die Macht ist der Freiheit nicht entgegengesetzt. Esist gerade die Freiheit, die die Macht von der Gewaltoder vom Zwang unterscheidet. Auch Luhmann kop-pelt die Macht an die »soziale Beziehung«, »in der aufbeiden Seiten anders gehandelt werden könnte«.9

9 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktio-nalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 117.

BeiHandlungen unter Zwang bildet sich demnach keineMacht. Selbst das Gehorchen setzt eine Freiheit voraus,denn es ist immer noch eine Wahl. Die physische Ge-walt dagegen vernichtet auch die Möglichkeit des Ge-horchens. Sie wird passiv erlitten. Das Gehorchen hatmehr Aktivität und Freiheit als das passive Erleiden derGewalt. Es findet immer vor dem Hintergrund einerAlternative statt. Auch der Machthaber muß frei sein.Sähe er sich nämlich durch eine Sachlage gezwungen,

Logik der Macht18

Page 19: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

eine bestimmte Entscheidung zu treffen, dann hättenicht er, sondern, wenn überhaupt, die zwingendeSachlage Macht. Er wäre ihr passiv ausgeliefert. DerMachthaber muß frei sein, um ein bestimmtes Verhal-ten wählen und durchsetzen zu können. Er muß zu-mindest in der Illusion handeln, daß seine Entschei-dung tatsächlich seine Wahl ist, nämlich in der Illusion,daß er frei ist.

In jeder Kommunikation ist es prinzipiell offen, obdie Entscheidung von Ego von Alter akzeptiert oderabgelehnt wird. Die Macht von Ego erhöht aber dieWahrscheinlichkeit, daß Alter den Entscheidungen vonEgo Folge leistet. So faßt Luhmann die Macht als einKommunikationsmedium auf, das die Wahrscheinlich-keit der Annahme der Entscheidung von Ego bei Altersteigert. Dieses Machtmodell verbindet zwar die Machtmit der Idee der Freiheit. Aber die Machtbeziehung isthier immer an die Vermeidung einer negativ bewertetenSituation gebunden. Diesen Sachverhalt macht ein Bei-spiel von Luhmann deutlich: »A droht B mit einem fürbeide negativ bewerteten physischen Kampf. SeineMacht beruht darauf, daß er den Kampf weniger nega-tiv bewertet als B, und darauf, daß es für beide Seiteneine zweite, weniger negativ bewertete Kombinationvon Alternativen gibt, die beide wählen können. Diegrößere Chance, zu bestimmen, was geschieht, fällt insolchen Lagen dem zu, dessen Alternativenkonstella-tion die größere Elastizität hat, so daß er Lagen nochakzeptieren kann, die dem anderen schon zu unange-nehm sind.«10

10 Luhmann, »Macht und System«, S. 476. Vgl. ebd.: »Die Drohungmit dem direkten Konflikt oder mit physischer Gewalt ist zwar

Logik der Macht 19

Page 20: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

insofern ein sehr effektives Machtmittel, als sie kontextunabhängigist. Aber für komplexe Vorgänge ist sie zu grob. Ein System, dasnur die Gewalt als Machtmittel kennt, ist arm an Differenzierun-gen und nur zu einer geringen Produktivität fähig. Ein komplexesSystem ist auf fein strukturierte Steuerungs- bzw. Machtmechanis-men angewiesen. Die bloße Muskelkraft hilft da wenig. In einemkomplexen System entstehen Konstellationen, in denen indirekte,weniger offensichtliche Machtmittel viel effektiver funktionieren alsDrohungen mit Gewalt.«

Luhmann koppelt die Macht also an eine negativeSanktion (z. B. Entlassung oder Androhung von ande-ren Nachteilen). Für die Machtausübung muß Egoüber die Möglichkeit verfügen, kraft einer negativenSanktion Alter unter Druck zu setzen. Die negativeSanktion ist eine Handlungsmöglichkeit, die beide Sei-ten, d. h. Ego und Alter, vermeiden möchten, Alteraber dringender als Ego. Falls etwa die Entlassung vonAlter nicht diesen, sondern Ego empfindlicher träfe,könnte sie von Ego nicht als Machtmittel eingesetztwerden. In diesem umgekehrten Fall wird die Mög-lichkeit der Kündigung zur Machtquelle von Alter. InLuhmanns Worten heißt dies: »Die negative Sanktionist nur eine bereitgehaltene Alternative – eine Alterna-tive, die im Normalfall, auf den die Macht aufbaut,beide Seiten lieber vermeiden als aktualisieren möch-ten. Die Macht ergibt sich dann daraus, daß derMachthaber die Ausführung der negativen Sanktioneher in Kauf nehmen könnte als der Machtunterwor-fene. Gerade weil sie nicht benutzt wird und solangesie nicht benutzt wird, gibt die Möglichkeit der Ver-hängung negativer Sanktionen Macht. Daher ist dieMacht am Ende, wenn sie provoziert werden kann.Die Ausübung physischer Gewalt ist keine Anwen-

Logik der Macht20

Page 21: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

dung von Macht, sondern Ausdruck ihres Scheiterns[. . .].«11

11 Luhmann, Soziologische Aufklärung 4, S. 119.

Luhmanns Theorie der Macht ist in vielen Punktenproblematisch. Fürs Machtgeschehen ist es zunächstnicht unbedingt erforderlich, daß beide Seiten die Rea-lisierung der negativen Sanktion vermeiden wollen.Verfügt der Machthaber etwa über die Möglichkeit, denUntergebenen ohne weiteres durch einen anderen zuersetzen, so muß er im Gegensatz zum Machtunter-worfenen die Realisierung der Sanktion, d. h. die tat-sächliche Entlassung nicht fürchten. Für die Bildung ei-ner Machtbeziehung muß also nicht jene Alternativevorliegen, deren Realisierung beide Seiten vermeidenmöchten. Es genügt, daß nur eine Seite sie vermeidenwill. Diese Asymmetrie reduziert die Macht des Macht-habers nicht notwendig. Sie stattet ihn womöglich mitgrößerer Macht aus. Mehr Macht bedeutet hier für denMachthaber mehr Freiheit. Er ist frei, weil der Anderefür sein Handeln keine Grenze mehr darstellt.

Die Machtbeziehung setzt, genau besehen, nichteinmal eine einseitige Vermeidungsalternative voraus,nämlich die Alternative, die nur der Machtunterwor-fene vermeiden will. Nimmt Alter die Entscheidungvon Ego an, so muß diese Zustimmung nicht ausFurcht vor einer negativen Sanktion erfolgen. Das ›Ja‹von Alter kann die Entscheidung von Ego als solchebejahen, und zwar ohne jeden Seitenblick auf die Ver-meidungsalternative. Die Macht von Ego gipfelt gera-de in diesem emphatischen ›Ja‹ von Alter zu Ego, daskeinen Hauch von ›Na ja‹ enthält. Für Luhmann dage-

Logik der Macht 21

Page 22: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

gen beruht die Machtausübung immer auf einem ›Naja‹. Nicht bloßes Einverständnis, sondern Enthusias-mus und Begeisterung ruft der mächtige Machthaberhervor.

Die Macht steigt Luhmann zufolge proportionalzur wachsenden Dichte von Handlungsalternativen:»Die Macht des Machthabers ist größer, wenn ermehr und verschiedenartigere Entscheidungen zumachtmäßiger Durchsetzung auswählen kann; und sieist außerdem größer, wenn er dies gegenüber einemPartner tun kann, der seinerseits mehr und verschie-denartigere Alternativen besitzt. Macht steigt mitFreiheiten auf beiden Seiten, steigt zum Beispiel in ei-ner Gesellschaft in dem Maße, als sie Alternativen er-zeugt.«12

12 Luhmann, Macht, S. 9 f.

Es ist gewiß ein Zeichen von Freiheit undMacht, daß Ego zur machtmäßigen Kommunikationeine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten besitzt.Und von Egos Macht zeugt auch, daß Alter trotz at-traktiver Handlungsmöglichkeiten, über die er nochverfügt, der Selektion von Ego folgt. Aber die Frei-heit, die Alter aufgrund seiner breiten Handlungs-spielräume hat, steigert nicht notwendig die Machtvon Ego. Sie kann sie sogar destabilisieren. Das Ge-fühl der Freiheit auf Seiten des Machtunterworfenenhängt nicht von der Anzahl von Alternativen ab, überdie er verfügt. Entscheidend ist vielmehr die Strukturoder die Intensität des ›Ja‹, das Alter Ego entgegen-bringt. Die Emphase des ›Ja‹, die ein Gefühl der Frei-heit generiert, ist unabhängig von der Menge derHandlungsmöglichkeiten.

Logik der Macht22

Page 23: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

Luhmann geht von der Annahme aus, »daß dieMacht des Vorgesetzten auf seine Untergebenen unddie Macht der Untergebenen auf ihre Vorgesetzten sichdurch Intensivierung der Beziehung gleichzeitig stei-gern lassen«.13

13 Niklas Luhmann, »Klassische Theorie der Macht. Kritik ihrer Prä-missen«, in: Zeitschrift für Politik 2 (1969) S. 149–170, hier: S. 163.

Er bezieht sich dabei auf einen Ansatzder Unternehmensführung, der mit dem hierarchi-schen Modell der Einflußnahme bricht: »Die Leitervon sehr produktiven Abteilungen haben ein anderes,besseres Führungssystem als diejenigen von wenigproduktiven Abteilungen. Dieses bessere System si-chert dem Chef mehr Einfluß, indem es auch den Un-tergebenen mehr Möglichkeiten zur Einflußnahmebietet.«14

14 Rensis Likert, Neue Ansätze der Unternehmensführung, Bern/Stuttgart 1972, S. 63.

Der Vorgesetzte büßt, wird seine Entschei-dung von den Untergebenen nicht voll akzeptiert, vielan Einfluß ein, denn der Einfluß auf Entscheidungenfällt mit dem Einfluß auf tatsächliche Ausführungendurch Untergebene nicht zusammen. Es ist durchausmöglich, daß der Vorgesetzte, der autoritär entscheidet,nur wenig Einfluß auf die Ausführungsvorgänge hat.Dies besagt jedoch nicht, daß die Möglichkeit der Ein-flußnahme durch die Untergebenen dem Vorgesetztenmehr Einfluß oder gar mehr Macht sichert. Der Ver-such des Vorgesetzten, unter Androhung der Kündi-gung oder einer anderen negativen Sanktion seine Ent-scheidung durchzusetzen, steigert seine Macht gewißnicht. Er erzeugt ja eine Machtbeziehung, die aufgrundgeringer Vermittlung zerbrechlich ist. Er gewönnemehr Macht, wenn die Untergebenen seine Entschei-

Logik der Macht 23

Page 24: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

dung mit trügen. Seine Macht steigt jedoch nicht da-durch, daß die Untergebenen mehr Einfluß auf ihn aus-üben. Die Intensivierung der gegenseitigen Einfluß-nahme mag die Effizienz des Unternehmens erhöhen.Aber sie steigert nicht die Macht der Akteure. So kanndie Dezentralisierung der Macht zu mehr Produktivitätführen. Die Beziehung intensiviert sich außerdem nichteinfach durch eine Verstärkung gegenseitiger Einfluß-nahme. Die Intensivierung der Beziehung wird eherdurch gegenseitiges Vertrauen oder gegenseitige Aner-kennung erreicht. Außerdem reduziert auch das Ver-trauen die Komplexität, was den Entscheidungsprozeßpositiv beeinflußt. Produktivitätssteigernd ist geradedie kommunikative Atmosphäre von Vertrauen undAnerkennung, die aber mit der Atmosphäre der Machtnicht identisch ist. Die Intensivierung der Beziehungvergrößert nicht einfach die Summe der Macht. Nichtüberzeugend ist also die These Luhmanns, daß dieMacht des Vorgesetzten und die der Untergebenendurch intensive Beziehung sich gleichzeitig steigernließen.

Die Macht ist außerdem mit dem Einfluß nichtgleichzusetzen. Der Einfluß kann machtneutral sein.Ihm wohnt nicht die machttypische Intentionalitätinne, die ein Kontinuum des Selbst ausbildet. Ein Un-tergebener, der etwa aufgrund seiner besonderenKenntnisse viel Einfluß auf den Entscheidungsprozeßzu nehmen vermag, muß nicht viel Macht besitzen. DieMöglichkeit der Einflußnahme mündet nicht von sichaus in ein Machtverhältnis ein. Sie muß erst in dies um-gemünzt werden.

Luhmann schreibt zur physischen Gewalt: »Macht-

Logik der Macht24

Page 25: Han · Was ist Macht? · Han · Was ist Macht? Byung-Chul Han Was ist Macht? Reclam. RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18356 2005 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße

bildung steht in einem ambivalenten Verhältnis zurphysischen Gewalt. Sie benutzt Gewalt gleichsam imIrrealis, nämlich unter der Voraussetzung, daß Ge-walt nicht angewandt wird. Die Gewalt wird virtuali-siert, wird als negative Möglichkeit stabilisiert.«15

15 Luhmann, »Macht und System«, S. 477.

DerRechtsstaat verfügt zwar über die Möglichkeit einerGewaltanwendung, die bei Verletzung der Rechtsord-nung aktiviert wird. Sie bedeutet jedoch nicht, daß derRechtsstaat auf der Gewalt oder auf einer anderen ne-gativen Sanktion beruht. Das Schielen auf die möglicheVerhängung der negativen Sanktion oder auf eine mög-liche Gewaltanwendung ist keine Bedingung fürs posi-tive Machtgeschehen. Man vermeidet das Verbrechen inerster Linie nicht aus Furcht vor der Strafe, sondernaus Anerkennung der Rechtsordnung, d. h. aus demGrund, daß das Recht mein Wille, mein eigenstes Tun,meine Freiheit ist. Hinter dem Gesetz steht gewiß dasSchwert.16

16 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahr-heit 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 171.

Aber es beruht nicht auf ihm. Und wer nurkraft negativer Sanktion seine Entscheidung durchzu-setzen vermag, hat wenig Macht. Daß eine Organisa-tion über wenige Sanktionsformen verfügt, sagt nichtsdarüber, wieviel Macht sie tatsächlich besitzt. Machtlo-gisch ist eine mächtige Organisation denkbar, die aberkeine einzige negative Sanktion kennt. Die Bindung derMacht an die negative Sanktion nimmt auch Luhmanndie Sensibilität für die Möglichkeit einer freien Macht.

Die zunehmende Komplexität einer Organisationkann auch dazu führen, daß sie sich von den handeln-den Personen ganz ablöst und sich zu einer anonymen

Logik der Macht 25