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PÄDAGOGIK Paul Mecheril (Hrsg.) unter Mitarbeit von Veronika Kourabas und Matthias Rangger Handbuch Migrations- pädagogik

Handbuch Migrations- pädagogik - ciando.com · weile breit geteilte Diagnose, im Zeitalter der Migration (Castles/Miller 2009). Dass Dass grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen

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Paul Mecheril (Hrsg.)unter Mitarbeit von

Veronika Kourabas und Matthias Rangger

HandbuchMigrations-pädagogik

Mecheril (Hrsg.) unter Mitarbeit von Kourabas und RanggerHandbuch Migrationspädagogik

Paul Mecheril (Hrsg.)unter Mitarbeit von Veronika Kourabas und Matthias Rangger

HandbuchMigrationspädagogik

Dr. Paul Mecheril ist Professor am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky UniversitätOldenburg und leitet dort das Center for Migration, Education and Cultural Studies.

Veronika Kourabas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik an derCarl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Matthias Rangger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik an derCarl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich(ISBN 978-3-407-83189-7).

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfenohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerkeingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulenund sonstigen Bildungseinrichtungen.

© 2016 Beltz Verlag · Weinheim und BaselWerderstraße 10 · 69469 Weinheimwww.beltz.de

Lektorat: Heike GrasHerstellung und Satz: Michael MatlReihengestaltung: glas ag, Seeheim-JugenheimUmschlaggestaltung: Michael Matl

E-Book

ISBN 978-3-407-29478-4

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Inhalt

Paul MecherilMigrationspädagogik – ein Projekt ................................................................................. 8

Grundlegende Theoretisierungen

Hans-Christoph KollerBildung .............................................................................................................................. 32

Karin Amos(Bildungs-)Regime .......................................................................................................... 45

Christiane ThompsonDifferenz ........................................................................................................................... 59

Mechtild GomollaDiskriminierung .............................................................................................................. 73

Alfred SchäferHegemonie ....................................................................................................................... 90

Carsten BüngerKapitalismus ................................................................................................................... 106

Heike GreschkeMedien ............................................................................................................................ 121

Naika Foroutan/Dilek İkizMigrationsgesellschaft .................................................................................................. 138

María do Mar Castro VarelaPostkolonialität .............................................................................................................. 152

6 Inhalt

Migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse

Iman Attia/Ozan KeskinkılıçAntimuslimischer Rassismus ....................................................................................... 168

Micha BrumlikAntisemitismus .............................................................................................................. 183

Louis Henri SeukwaFlucht .............................................................................................................................. 196

Ulrike Hormel/Judith JordingKultur/Nation ................................................................................................................. 211

Rudolf LeiprechtRassismus ....................................................................................................................... 226

Thomas KunzUngleichheit ................................................................................................................... 243

Topoi und Symbolisierungen migrationsgesellschaftlicher Realität

Wassilios Baros/Tanja BaumannFamilienverhältnisse ..................................................................................................... 262

Claus Melter/Stefan SchäfferlingGeschlechterverhältnisse .............................................................................................. 277

Yasemin Karakaşoğlu/Gritt KlinkhammerReligionsverhältnisse .................................................................................................... 294

İnci DirimSprachverhältnisse ......................................................................................................... 311

Nadine RoseSubjektverhältnisse ........................................................................................................ 326

Felder migrationspädagogischen Handelns

Isabell DiehmElementarpädagogik ..................................................................................................... 342

7Inhalt

Martin LückeErinnerungsarbeit ......................................................................................................... 356

Annette SprungErwachsenenbildung ..................................................................................................... 372

Yasemin KarakaşoğluHochschule ..................................................................................................................... 386

Agnieszka CzejkowskaKunstpädagogik ............................................................................................................. 403

Astrid MesserschmidtPolitische Bildung .......................................................................................................... 418

Thomas GeierSchule .............................................................................................................................. 433

Franz HamburgerSozialpädagogik ............................................................................................................. 449

Reflexionen des Normativen

Rainer WinterAnerkennung ................................................................................................................. 466

Clemens DannenbeckInklusion ......................................................................................................................... 480

Paul Mecheril/Oscar Thomas-OlaldeKritik ............................................................................................................................... 493

Albert ScherrMenschenrechte ............................................................................................................. 508

Serhat KarakayaliSolidarität ....................................................................................................................... 522

Die Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 535

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Paul Mecheril

Migrationspädagogik – ein Projekt1

Einleitung

Nicht zuletzt durch die im Beltz-Verlag erschienenen monographischen Lehrbücher»Einführung in dieMigrationspädagogik« (Mecheril 2004) und »BA|MAMigrations-pädagogik« (Mecheril et al. 2010) hat sich die Migrationspädagogik im erziehungs-wissenschaftlichen Raum als ein distinkter, freilich an verwandte Ansätze wie die In-terkulturelle Pädagogik, die Diversitätspädagogik, die Menschrechtspädagogik oderdie Antirassistische Erziehung anschließender approach etabliert. Die migrationspäd-agogische Perspektive ist demnach mit spezifischen Erkenntnis- und Handlungsprä-ferenzen verbunden, auf die in dieser Einleitung in gebotener Kürze einzugehen seinwird. Gleichwohl stellt die Migrationspädagogik aus systematischen wie empirischenGründen ein konstitutiv unabgeschlossenes, sich revidierendes und differenzieren-des, sich fortsetzend präzierendes Projekt dar. Migrationspädagogik lässt sich alsselbstreflexive Such-Bewegung in einem – da es seit einigen Jahren vermehrt Kapitalund Ansehen zu gewinnen gibt – von zunehmenden Distinktionspraktiken geprägtenakademischen, bildungspolitischen und -praktischen Feld fassen. Sie ist eine Such-Bewegung, die sich der eigenen theoretischen Ausrichtungen und Grundlagen wieder Entscheidung für die Auseinandersetzung mit bestimmten empirischen Themenbeständig neu vergewissert. Das auf Einladung undVorschlag des Beltz-Verlages kon-zipierte, mit den Autor/innen dieses Buches in einem von erstaunlich wenig Kopf-,Bauch- und Gliederschmerzen geprägten Zeitraum von etwa anderthalb Jahren reali-sierte und nunmehr vorliegende Handbuch führt diese Bewegung fort.

Ziel dieser Einleitung ist es, über die knappe Auseinandersetzung mit zentralenThemen bzw. empirisch-theoretischen Aspekten aus migrationspädagogischer Per-spektive das allgemeine Anliegen, also Sache wie Ambition des migrationspädago-gischen Projektes zu kennzeichnen. Diese performativ-konstative Kennzeichnungerfolgt in Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen des Feldes Bildung, Pädagogikund Erziehung in der Migrationsgesellschaft.

1 Der vorliegende Beitrag geht auf Abschnitte einiger bereits veröffentlichter Texte zurück, diefür das Anliegen dieses Publikationszusammenhangs überarbeitet wurden: Mecheril/CastroVarela/Dirim/Kalpaka/Melter (2010); Mecheril (2014); Mecheril (2015); Hoffarth/Mecheril(2016); Mecheril (2016).

9Migrationspädagogik – ein Projekt

Migration(sdiskurse)

Bewegungen von Menschen über Grenzen hat es zu allen historischen Zeiten undfast überall gegeben. Migration ist eine universelle menschliche Handlungsform. Da-bei weist Migration eine raum- und zeitbezogene Dimension auf: »Migration meanscrossing the boundary of a political or administrative unit for a certain minimumperiod« (Castles 2000, S. 269). Die Überschreitung von Grenzen, deren soziale Be-deutung nicht schlicht gegeben ist, sondern in komplexen Prozessen hergestellt, be-kräftigt, verhandelt und verändert wird, war hierbei immer ein bedeutender Motorgesellschaftlicher Veränderung und Modernisierung. Die Konsequenzen von grenz-überschreitenden, grenzkonstitutiven und grenzschwächenden Bewegungen könnenmithin als Phänomene untersucht und verstanden werden, in denen neues Wissen,Erfahrungen, Sprachen und Perspektiven in unterschiedliche soziale Zusammen-hänge eingebracht und diese entsprechend neu gestaltet, modernisiert und renoviertwerden.

Auch wenn Migration kein ausschließlich modernes Phänomen darstellt (s. etwaBade et al. 2010), gelten gleichwohl gegenwärtig spezifische Bedingungen: Noch niewaren weltweit so viele Menschen bereit, aufgrund von Umweltkatastrophen, (Bür-ger-)Kriegen und anderen Bedrohungen gezwungen und aufgrund der technologischbedingten Veränderung von Raum und Zeit in der Lage, ihren Arbeits- oder Lebens-mittelpunkt auch über große Distanzen hin zu verändern: Wir leben, so die mittler-weile breit geteilte Diagnose, im Zeitalter der Migration (Castles/Miller 2009). Dassgrenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen für Gesellschaften und Individuenweltweit gegenwärtig eine besondere Bedeutung zukommt, hängt hierbei mit zumin-dest drei Faktoren zusammen:a) mit der auch aufgrund vonMigrationsphänomenen expandierenden programma-

tisch ›modernen‹ Idee, dass Menschen befugt und in der Lage sind, Einfluss aufihr eigenes, nicht zuletzt auch mit dem jeweiligen geographischen, ökologischen,politischen und kulturellen Ort verbundenes Schicksal zu nehmen. Die globaleGegenwart geht auch damit einher, dass Menschen verstärkt deshalb Grenzen po-litischer Ordnungen überschreiten, weil sie nicht nur davon ausgehen, dass siedies können, sondern auch, dass Ihnen dies zusteht2;

2 Migration kann als Versuch verstanden werden, in einem sehr grundlegenden Sinne Einflussauf das je eigene Leben zu nehmen, und stellt damit einen Prototyp moderner Lebensfüh-rung dar – mit all ihren Ambivalenzen, Illusionen und zweifelhaften Nebenfolgen. Sei mutig,bediene Dich Deines Verstandes und befreie Dich aus der Position, die Dir die geopolitischeOrdnung aufgezwungen hat – das ist in einer Referenz an Immanuel Kant gesprochen dasCredo der neuen transnationalen Moderne, die Migrant/innen ohne notwendige Absicht undProgrammatik formen und formulieren. Sie nehmen ihr Schicksal in die eigenen Hände undstellen durch diesen Akt der zuweilen verzweifelten Selbstermächtigung die Legitimität einerin der Einheit der Nationalstaaten ausbuchstabierten postkolonialen Ordnung infrage, die siein erbärmliche, relativ erbärmliche und erbärmlichste Positionen zwingt.

10 Migrationspädagogik – ein Projekt

b) mit der Intensität globaler Ungleichheit (aufgrund vor allem der durch Waffen-technologien ermöglichten Brutalität der modernen Kriege, der Ungleichvertei-lung der Armut und des Reichtums in derWelt sowie der ungleichen ökologischenVeränderungen und damit verbundenen Zerstörung von Lebensgrundlagen), dieangesichts der Qualität der Ungleichheit, der Anzahl der Menschen auf der Weltund des Allgemeinwerdens des Wissens darum, dass es diesen Globus gibt – alsoder zunehmenden Repräsentation der Welt in den Köpfen, Fernseher und Perso-nal Computer der Menschen – noch nie so ausgeprägt war wie gegenwärtig.

a) mit der – in Abhängigkeit von ökonomischen Ressourcen zu denkenden –›Schrumpfung‹ derWelt in der Raum- und der Zeitachse aufgrund transport- undkommunikationstechnischer Entwicklungen und der Bedeutung dieser Tatsachefür die Selbstverständnisse der Menschen, die sich und ihre Möglichkeiten imVerhältnis zu den sich verändernden Zeit- und Raumverhältnissen handelnd deu-ten und zu deuten suchen müssen.

Migration als Überschreitung vonGrenzen geht sowohl mit der Veränderung als auchmit der Bestätigung des Bestehenden einher. Grenzen (beispielsweise nationalstaat-liche) werden im Moment der Überschreitung in besonderer Weise sichtbar und inihrer Geltungsmacht bekräftigt. Oft ist es erst die Überschreitung von Grenzen, dieihre Existenz und Geltung deutlich macht. Zugleich zieht die Überschreitung auchdie Infragestellung der Grenzen und ihrer Gültigkeit nach sich.

Migrationmussmithin als Phänomen der Beunruhigung und auch als Gegenstandvon Diskursen wie auch als Gegenstand politischer und alltagsweltlicher Auseinan-dersetzungen verstanden werden. Der Diskursbegriff (s. mit Bezug auf die ArbeitenvonMichel Foucault einführend etwa Bublitz 2003) ist an dieser Stelle von besondererBedeutung, weil ›Migration‹ sich nicht einfach naturwüchsig ereignet. Phänomeneder Überschreitung von Grenzen werden vielmehr erst durch Diskurse, die hier alsdas Soziale hervorbringende Wissens- und Aussagesysteme gekennzeichnet werdenkönnen, politisch, wissenschaftlich, künstlerisch, pädagogisch, alltagsweltlich alsFlucht, als Mobilität oder als Migration hervorgebracht.

Allgemein bezeichnet der Begriff Diskurs den Fluss von Wissen über etwas. InDiskursen ›fließt‹ Wissen über einen Gegenstand. So gibt es etwa Diskurse überFlucht (mit dem abenteuerlichen Begriff der Flüchtlingskrise; s. Seukwa, in diesemBand), Diskurse über europäische Werte, über Armutsmigration und soziale Un-gleichheit (s. Kunz, in diesem Band), über die Frage, welche Migrant/innen willkom-men und welche gefährlich sind. Der Gegenstand eines Diskurses wird im und vomDiskurs erst hervorgebracht. Das diskursive Wissen ist eines, das soziale Wirklich-keiten schafft, also Zusammenhänge zur Folge hat, die das Handeln von Menschenermöglichen und verhindern. Diskurse erzeugen Gegenstände und zugleich erzeugensie uns, die Wissenden, diejenigen, die aufgrund ihres Wissens, des Gebrauchs ihresWissens und aufgrund des Gebrauchs, den dasWissen von ihnenmacht, zu demwer-den, was sie sind. Diskurse sind insofern doppelt produktiv.

11Migrationspädagogik – ein Projekt

Insofern Macht und Wissen nach Foucault zwei Seiten einer Medaille darstellen,sind Diskurse auch immer machtvoll. Sie ereignen sich in bestimmten Machtverhält-nissen und produzieren zum anderen Machtverhältnisse. Unter Machtverhältnissenkönnen hier Zusammenhänge verstanden werden, in denen Einzelne, aber auch Ins-titutionen und diskursive Praktiken sich so auf ein Gegenüber beziehen, dass dieserBezug Einfluss aufMöglichkeiten des Handelns, in konstituierender, restringierender,negierender oder auch bestärkenderWeise nimmt. Macht ist für Foucault ein ›totales‹Phänomen; sie kommt nicht allein dort vor, wo Repressionen zu beobachten sind,sondern sie ist vielmehr eine konstitutive Dimension des Sozialen und des Symbo-lischen. »Macht wirkt […] nicht primär unterdrückend, sondern erzeugend. Sie istnicht einfach das, wogegen Individuen sich wehren, sondern streng genommen das,was sie zu dem macht, was sie sind« (Bublitz 2003, S. 69). Macht wirkt subjektkons-tituierend, sie macht aus Individuen Subjekte. Der Diskurs als »eines der ›Systeme‹,durch die Macht zirkuliert« (Hall 1994, S. 154), produziert differentielle Handlungs-möglichkeiten. Stuart Hall (1994) schreibt in seinen Überlegungen zu dem Diskursüber ›derWesten und der Rest‹, also zu der speziellenWeise, in der ›derWesten‹, ›derRest‹ und deren Beziehungen repräsentiert sind, dass das Wissen, das ein Diskursproduziert, »eine Art von Macht [konstituiert], die über jene ausgeübt wird, über die›etwas gewusst wird‹. Wenn dieses Wissen in der Praxis ausgeübt wird, werden die-jenigen, über die ›etwas gewusst wird‹, auf eine besondere Weise zum Gegenstandder Unterwerfung […]. Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben also Macht,ihn wahr zu machen, z.B., seine Geltung, seinen wissenschaftlichen Status durch-zusetzen« (Hall 1994, S. 154). Diskurse über migrationsgesellschaftlich als AndereGeltende [in »Migrationspädagogik« (Mecheril et al. 2010) haben wir den Ausdruck›Migrationsandere‹ gewählt] machen die Anderen zu dem, was sie sind, und pro-duzieren zugleich Nicht-Andere. Migrationsdiskurse sind hierbei durchaus nicht be-deutungsähnlich und einwertig, sie konkurrieren miteinander und diese Konkurrenzkann als ein Ringen um symbolische Vorherrschaft oder Hegemonie beschriebenwerden (s. Schäfer, in diesem Band). In diesen Auseinandersetzungen wird insbeson-dere die Frage, ob es eher um gesellschaftlichen, institutionellen und auch identitäts-bezogenen Erhalt oder Umgestaltung geht, kontrovers diskutiert, was mit Bezug aufgesellschaftliche Ordnungen (sowohl im gesellschaftlichen Kontext, der verlassen, alsauch imKontext, der aufgesucht wird) innovative wie restaurative Ergebnisse bewirkt.

Migrationspädagogik ist somit nicht nur an den Bedingungen, Formen und Kon-sequenzen von Bewegungen von Menschen über Grenzen hinweg interessiert, son-dern auch an den Diskursen über Migration, daran also, was geschieht, wenn ›Migra-tion‹ etwa in pädagogischen Feldern thematisch wird.

Migration ist in Hinsicht auf die je relevanten gesellschaftlichen Kontexte (seiendies nun Nationalstaaten, Städte, Regionen oder supranationale Kontexte wie die EU)mit spezifischen Aufforderungen respektive Herausforderungen verbunden. Dabeikann zwischen der Dimension pragmatisch-technischer und moralisch-normativerHerausforderungen durch Migrationsphänomene unterschieden werden. Migrati-onsbewegungen stellen die Funktionalität und Legitimität von gesellschaftlichen In-

12 Migrationspädagogik – ein Projekt

stitutionen und Organisationen (wie der Schule, der Polizei, der öffentlichen Admi-nistration) infrage, da sie dezidiert auf deren Be-Grenztheit – etwa in Bezug auf ihregewissermaßen ordnungsgenerierenden und wirklichkeitsstabilisierenden Funktio-nen und Selbstverständnisse – verweisen.

Die Bezeichnungspraxis ›Migrationsgesellschaft‹

Migrationsphänomene gehen wie eingangs bemerkt mit der Thematisierung vonsymbolischen und materiellen Grenzen der Zugehörigkeit einher, die dadurch pro-blematisiert, gestärkt und zuweilen auch überhaupt erst erschaffen werden. Geradeweil Migrationsphänomene gesellschaftliche und institutionelle Wirklichkeiten, so-wohl mit Bezug auf funktionale wie normative Aspekte, infrage stellen, kommt denBegrifflichkeiten und Begriffen, in denen diese Wirklichkeiten beschrieben werden,eine besondere Rolle zu. Begriffe können als Bestandteile von Diskursen verstan-den werden, innerhalb derer sie ihre Bedeutung und damit ihre (Wirkungs-)Machterhalten. Begriffspraktiken verdienen mithin eine besondere Aufmerksamkeit, ins-besondere, wenn wir davon ausgehen, dass Begriffe – nicht zuletzt unter medien-und wissensgesellschaftlichen Bedingungen der Zunahme der Macht der Symbole(s. Greschke, in diesem Band) – nicht nur zutreffende oder weniger zutreffende Aus-drücke und Abbilder gesellschaftlicher Wirklichkeit sind, sondern gesellschaftlicheWirklichkeit herstellen.

Begriffe und Bezeichnungspraktiken sind Werkzeuge der Wahrnehmung. Siesind Instrumente, die eine bestimmte Sicht auf Wirklichkeit ermöglichen, weil siebestimmte Aspekte und Nuancen in den Vordergrund stellen, andere ausblenden.Begriffe wirken zugleich auch auf soziale Wirklichkeiten ein, sie sind soziale Werk-zeuge insofern mit ihnen bestimmte Praktiken verknüpft sind, die soziale Realitätenerschaffen (s. etwa die Beiträge in dem Band »Wie Rassismus aus Wörtern spricht«herausgegeben von Arndt/Ofuatey-Alazard 2011). So werden in und mit Begriffenbeispielsweise Menschen kategorisiert, bestimmte ›Maßnahmen‹ ersonnen und zurVerfügung gestellt, in Begriffen begegnen wir anderen und in Begriffen behandelnwir sie. Begriffe und Bezeichnungspraktiken besitzen schließlich das Potential, Hand-lungsweisen zu erklären, zu begründen und zu rechtfertigen; sie sind damit auchWerkzeuge der Legitimation.

Freilich muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen ›begriffsfreien Ort‹ ge-ben kann, an dem Begriffe und ihre Wirkungen besprochen werden. Wenn, wie hier,über Begriffe nachgedacht wird, dann findet dies immer im Medium von Begriffenstatt, womit bedeutsame Entscheidungen verbunden sind. Hier ist etwa die Rede vonMigrationsgesellschaft (s. auch Foroutan/İkiz, in diesem Band) und nicht von Ein-wanderungs- oder Zuwanderungsgesellschaft, weil der Begriff Migration umfassen-der als der der Einwanderung ist und dadurch einem weiteren Spektrum an Wan-derungsphänomenen gerecht wird. Mit dem Ausdruck Migration ist eine allgemeinePerspektive verbunden, mit der Phänomene erfasst werden, die für die gesellschaft-

13Migrationspädagogik – ein Projekt

liche Wirklichkeit kennzeichnend sind wie beispielsweise die Entstehung von trans-nationalen Zwischenwelten und neuen und Mehrfach-Zugehörigkeiten, Phänomeneder Zurechnung auf Fremdheit, Strukturen und Prozesse alltäglichen Rassismus, Er-schaffung neuer Handlungsformen und Selbstverständnisse.Wichtig ist hierbei, diesePhänomene in dem Sinne als allgemeines Phänomen zu verstehen, als etwa durchMigrationsphänomene ermöglichte neue Handlungsformen und Selbstverständnissenicht allein für als Migrant/innen angesehene Personen relevant sind. Migration ver-ändert gesellschaftliche Kontexte und ihre Menschen.

Einwanderungs- oder Zuwanderungsgesellschaft sind insofern Ausdrücke, diebedeutsame Formen von Migration nicht thematisieren und damit reduktiv Wirk-lichkeit schaffen. Der in Deutschland politisch eingeführte Ausdruck der ›Zuwan-derung‹ ist problematisch, weil er die migrationsgesellschaftliche Wirklichkeit nureingeschränkt thematisiert und beispielsweise Formen der Pendelmigration oderder Auswanderung nicht beachtet. Zudem suggeriert er als Begriff, dass es sich beiMigrationsphänomenen um Phänomene handle, die zusätzlich und additiv zu etwasbereits Bestehenden hinzukämen. Einwanderungsgesellschaft ist ein Begriff, der ineiner bestimmten historischen Situation der Bundesrepublik Deutschland im letz-ten Viertel des 20. Jahrhunderts eine Art politischer Kampfbegriff geworden war unddort eine wichtige Funktion hatte, da er als politischer Gegenbegriff ›von unten‹ zuder lange unverrückbaren Position offizieller Politik, ›Deutschland ist kein Einwan-derungsland‹, eine wichtige Kritik artikulierte. Zugleich aber impliziert der AusdruckEinwanderungsgesellschaft, dass Phänomene der Migration auf den Migrationstypder Immigration beschränkt seien, also jenen Typ, bei dem die transnationaleWande-rung im Wesentlichen als einmalige und unidirektionale Überschreitung einer rele-vanten Grenze gedacht wird, der sich in der Regel Prozesse der Eingliederung in denneuen nationalstaatlichen Kontext anschließen. Dieses Modell beschreibt nun nichtnur einen klassischenWanderungstyp, den der Einwanderung, dasModell wirkt auchinsofern produktiv, als unter der Perspektive Einwanderung die Migrant/in immernur als Immigrant/in erscheint.

Etwa seit Mitte der 1980er Jahre werden in der Migrationsforschung ›neue An-sätze‹ (Pries 2001, S. 32 ff.) mehr und mehr zur Kenntnis genommen, die den Über-gang, der mitWanderungen verbunden ist, nicht als vorübergehendes, transitorischesPhänomen verstehen. Vielmehr machen diese Ansätze auf einen in gegenwärtigenZeiten verbreiteten Typ von Migration aufmerksam, der sich dadurch auszeichnet,dass das faktische und symbolische Wandern eine dauerhafte Existenzform darstellt.Ludger Pries formuliert dies so: »In dem Typus der Transmigration ist Wanderung[…] nicht mehr vorwiegend der – einmalige, zeitlich eng begrenzte – Übergang zwi-schen verschiedenen, örtlich eindeutig fixierten Lebenszusammenhängen. Vielmehrwird Wanderung selbst […] zu einer Daseinsform. Der Lebenszusammenhang, in-nerhalb dessen die individuelle und kollektive Selbstverortung, die soziale Differen-zierung und Integration stattfindet, wird durch pluri-lokale Sozialräume gebildet, diesich über verschiedene Nationalgesellschaften oder gar Kontinente erstrecken kön-nen. Diese pluri-lokalen Sozialräume werden durch die Lebenspraxis von Transmig-

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ranten konstituiert« (Pries 2001, S. 9). Wenn im klassischen Modell der Immigrationdie Erfahrung des Wechsels von Existenzformen kennzeichnend ist, dann ist die zen-trale Erfahrung im Zusammenhang von Transmigrationsprozessen, dass der Wechselselbst, das Pendeln, das faktisch-imaginative Bewegen zwischen Zugehörigkeitskon-texten zur Existenzform geworden ist; nicht nur für einzelne Individuen, sondernzum Beispiel auch für Familien (s. Baros/Baumann, in diesem Band). Diese dauerhaf-ten oder auch zeitlich befristeten Formen und Erfahrungen der Grenzüberschreitungwerden im Ausdruck Einwanderungsgesellschaft nicht wirklich erfasst, womit derAusdruck eher einem Verständnis von Gesellschaft als nationalstaatlichem Containerzuarbeitet. Der hier wirksame Reduktionismus steht hierbei in einer wissenschaft-lichen und politischen Tradition, die kritisch als ›methodologischer Nationalismus‹bezeichnet wurde.

Der Aufstieg der Soziologie, schreibt Ulrich Beck (2005, S. 1), fällt »mit dem Auf-stieg des Nationalstaates, des Systems internationaler Politik und des Nationalismuszusammen«. Dies ist ein historischer Zusammenhang, aus dem sich die »Axiomatikdes ›methodologischen Nationalismus‹ ergibt, nach der Nation, Staat, Gesellschaftdie ›natürlichen‹ sozialen und politischen Formen der modernen Welt sind« (Beck2005, S. 1). Mit dem Begriff des »methodologischen Nationalismus« (Wimmer/GlickSchiller 2002) wird Kritik an jenen Studien und Denkweisen geübt, die das Konzeptder Nation unreflektiert und selbstverständlich als ›natürliche‹ Analyse-, Struktu-rierungs- und Darstellungskategorie des Gesellschaftlichen verwenden. Wenn derNationalstaat als nicht weiter befragte, sondern selbstverständliche Bezugsgröße po-litischer Programme und wissenschaftlicher Untersuchungen fungiert, wird das So-ziale, die Kommunikation und Interaktion von Menschen, ihre Selbstverständnisseund Handlungsweisen gewissermaßen innerhalb der Grenzen individueller Natio-nalstaaten eingeschlossen. Auch normative Referenzen, wie beispielweise Solidaritätwerden dann allein im nationalstaatlichen Format der Gemeinschaft konzipiert (s.Karakayali, in diesem Band). Die Analysen konstruieren so einen Gesellschaftsraum,der in Form eines ›Containers‹ imaginiert wird (Glick Schiller 2010, S. 11). Dieser›Nationalismus‹ zeigt sich auch in der nahezu unbefragten Verwendung dessen, was›Integration‹ genannt wird, eine regulative Größe, die den ›Nationalstaat‹ als bewah-renswerten Zustand, Norm und Anspruch der Disziplinierung sowie Maßstab zurMessung von ›Erfolg‹ setzt.

Wenn also Einwanderung oder Zuwanderung an die Stelle des Ausdrucks Migra-tion rücken, wird ein Teil der Migrationsphänomene nicht mehr thematisch und derNationalstaat in Form eines nach außen abgeschlossenen Containers als selbstver-ständlicher Bezugsraum der Wanderungsbewegungen von Menschen inszeniert, wasInteressen und Positionen dient, die nicht nur auf die Wahrung des jeweiligen Natio-nalstaats, sondern des Prinzips des Nationalstaats zielen. MigrationsgesellschaftlichePhänomene, die nicht ohne weiteres in diesem Format fassbar sind, transnationale,hybride Lebensäußerungen beispielsweise, sind somit einem größeren Risiko derVerwehrung von Anerkennung ausgesetzt (s. auch Winter, in diesem Band).

15Migrationspädagogik – ein Projekt

Der Ausdruck Migrationsgesellschaft impliziert also eine allgemeine Perspektive,mit der die gegenwärtige und historische Vielfalt desWanderungsgeschehens und diewechselseitig konstitutive Dynamik von Grenzformationen und Zugehörigkeitsord-nungen in den Blick kommen. Phänomene der Übersetzung oder Vermischung alsFolge von Wanderungen, der Entstehung von Zwischenwelten und post-nationalenIdentitäten und Bürgerschaftsverhältnissen, Geschlechterverhältnisse als thematischeArena der Konstruktion von natio-ethno-kulturell kodierten Hierarchien (s. Melter/Schäfferling, in diesem Band), der Umstand, dass in immer mehr Staaten die Beibe-haltung der Staatsbürgerschaft auch nach Emigration und Einbürgerung möglich ist,die Auseinandersetzungen um die Frage, wer ›wir‹ sind, die Pluralisierung von kol-lektiven Erinnerungsnarrativen etwa mit Bezug auf die Shoa oder Antisemitismus (s.Brumlik, in diesem Band) oder die zuweilen an rassistische Konstruktionen des undder Anderen anschließende Form der Unterscheidung vonMenschen (s. Leiprecht, indiesem Band) sind einige Themen, die beispielhaft auf das Spektrum der Phänomenehinweisen, die unter der Perspektive ›Migrationsgesellschaft‹ in den Blick kommen.

Die Frage, ob der Ausdruck Einwanderungsgesellschaft oder der der Migrations-gesellschaft angemessener ist, istmithin nicht bloß eine ›akademischeManieriertheit‹,sondern folgenreich: Begriffe sind Werkzeuge der Wahrnehmung, der Herstellungund der Legitimation sozialer Realität – nicht zuletzt in pädagogischen Kontextenund mittels pädagogischer Handlungen.

Migrationsgesellschaftliche Ordnungen und das Anliegen derMigrationspädagogik

Migrationspädagogik orientiert sich an der Idee, dass sich die Grundkategorie deswissenschaftlichen Nachdenkens über migrationsgesellschaftliche Phänomene imVerhältnis von Individuen und Gruppen zu natio-ethno-kulturell kodierten Zuge-hörigkeitsordnungen sowie in der Veränderung dieses Verhältnisses findet (Mecherilet al. 2013).

Der Ausdruck natio-ethno-kulturell (genauer Mecheril 2003, S. 118–251) verweisthierbei zum einen darauf, dass die Konzepte von Nation, Ethnie/Ethnizität (und Ras-sekonstruktionen) sowie Kultur (und Religion) in Wissenschaft und Alltagsverständ-nissen oftmals diffus und zum Teil in unklarer Abgrenzung voneinander Gebrauchfinden. Zum anderen verweist der Ausdruck darauf, dass Konzepte von Nation, Eth-nie/Ethnizität und Kultur sowohl formal durch Gesetze und Erlasse, materiell durchGrenzanlagen und Ausweise als auch sozial durch symbolische Praktiken in durchausverschwommener Bedeutung und Konsequenz hergestellt werden und politisch Ver-wendung finden.

Wenn von Migrant/innen, Ausländer/innen, Pol/innen, von Migrantenkindern,Türk/innen, von Deutschen oder Brasilianer/innen und insbesondere seit 2001 vonMuslim/innen die Rede ist, dann – so die migrationspädagogische Annahme – ist inder Regel nicht allein von ›Kultur‹, ›Religion‹, ›Ethnizität‹ (›Rasse‹) oder ›Nation‹ die

16 Migrationspädagogik – ein Projekt

Rede, sondern es wird ein diffuses undmehrwertiges Zugehörigkeitsregister gezogen.Der Ausdruck natio-ethno-kulturell bringt dies zum Ausdruck und verweist darauf,dass migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen, die Migrationsphäno-mene hervorbringen und zugleich von Migrationsphänomenen hervorgebracht wer-den, von einer variablen, verschwommenen und mehrwertigen ›Wir‹-Einheit struk-turiert werden.

In natio-ethno-kulturell kodierten Zugehörigkeitsordnungen können ›Rasse‹-Konstruktionen Wirkungen entfalten, ebenso Formen religiöser Selbst- und Fremd-adressierungen (s. Karakașoğlu/Klinkhammer, in diesem Band). Studien undAnalysen verweisen auf die Assoziation zwischen nationalen wie kulturellen Zugehö-rigkeitsvorstellungen mit völkisch-rassistischen Bildern (s. Hormel/Jording, in die-sem Band). Der antimuslimische Rassismus (s. Attia/Keskinkılıç, in diesem Band)wurde und wird im ›Westen‹ thematisch zunehmend in öffentlichen Arenen aktiviert,um nationale Zugehörigkeitsthemen zu verhandeln.

Migrationsbewegungen finden im Rahmen von natio-ethno-kulturell kodiertenZugehörigkeitsordnungen statt, aktivieren diese Ordnungen und verändern sie (›Mo-bilität‹ ist eine Bewegungsform, die im Gegensatz zu Migration diese natio-ethno-kulturelle Kodierung nicht notwendig aufweist). Der Bezug auf Zugehörigkeitsord-nungen ermöglicht es, Migration in ihrer Konsequenz für Subjekte und Räume derMigration zu beschreiben und zu untersuchen. Diese Ordnungen werden in kom-plex-dynamischen, gleichwohl eine Trägheit aufweisenden glokalen Prozessen (Ro-bertson 1998) der De-Stabilisierung von Identitäts- und Zugehörigkeitskonzeptensowie Raumverständnissen erzeugt.

Zugehörigkeitsordnungen haben zwar viel mit der Logik nationalstaatlicher Un-terscheidungen zu tun, können aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden. Die The-oretisierung der Verhältnisse von ›global power‹ (Glick Schiller 2010) muss sich aufpolitische, kulturelle und ökonomische globale Interdependenzen beziehen, in derenRahmenMigrationsbewegungen artikuliert und vollzogen werden. Neben diesen glo-balen und supranationalen Verhältnissen, auf die beispielsweise Konzerne und derglobale Fluss des Kapitals einwirken, sind zudem lokale Kontexte, wie Kommunenoder Cities (Sassen 1998), unterhalb des Nationalstaates von Bedeutung.

Die Verortung von Menschen und Lebensweisen als ›Bevölkerung‹ in National-staaten, die Formierung derMenschen und ihrer Bewegungen durch supra-(national)staatliche und außerstaatliche Instanzen werden etwa mit Bezug auf die Ordnungs-schemata ›Sprache‹ (s. Dirim, in diesem Band) oder ›Religion‹ (s. Tezcan 2012; Spiel-haus 2011) geo-territorial artikuliert, fixiert und bestimmt. Menschen und Lebens-weisen werden auf diese Weise nicht nur identifizierbar, sondern tatsächlich auchim territorialen Sinn ver-ortbar: Natio-ethno-kulturell kodierte Differenz weist nichtnur auf Prozesse von Raumkonstruktionen hin, etwa in Form von Kartographien, derErrichtung und Symbolisierung von Grenzen etc., sondern nutzt diese so entstehen-den geographischen Gebilde zur Ordnung und Reg(ul)ierung des Sozialen. Hierfürwerden Personen, Personengruppen, Sprachen und Lebensweisen ›registriert‹, plat-ziert, verortet, zugeordnet, nicht zuletzt begrenzt und mittels der dadurch möglich

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werdenden Abgrenzung und Unterscheidung in einer ganz bestimmten Art undWeise identifizierbar gemacht. Sowohl die Zuweisung eines bestimmten Platzes inder natio-ethno-kulturellen Ordnung, als auch die Fixierung von Gesellschaftlichkeitgenerell in geo-territorialen Kategorien sindMerkmale der Ver-Ortungslogik, um diees im Rahmen der (kritischen) Analyse von Migrationsprozessen geht.

Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft werden etwa von Geschlechter-, Be-hinderungs- und Klassenordnungen und nicht zuletzt auch von natio-ethno-kulturellkodierten Zugehörigkeitsordnungen präformiert. Diese Zugehörigkeitsordnungensind nicht schlichtweg vorhanden, sondern historische und produktive Strukturen,in denen Subjekte Erfahrungen der symbolischen Distinktion und Klassifikation, Er-fahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit sowie biographische Erfah-rungen der kontextuellen Verortung machen. Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Ver-bundenheit können als jene analytisch unterscheidbaren Zugehörigkeitsdimensionenbezeichnet werden, die in jeder Zugehörigkeitsordnung empirisch unterschiedlichgefasst sind (Mecheril 2003). Konzepte, die Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Ver-bundenheit in einem Zugehörigkeitskontext dominant regulieren, haben disziplinie-rende und subjektivierende Funktionen. Mitgliedschaftskonzepte regeln, wer zuge-hörig ist und wer nicht. ›Aufenthaltserlaubnis‹ ist eine formelle Mitgliedschaftspraxis;die häufig an Menschen, die als mit Migrationshintergrund gelten, gerichtete Frage,woher sie kämen, eine informelle Praxis der Kommunikation über Mitgliedschaft.Eine wichtige Voraussetzung für die fraglose Zugehörigkeit von Menschen in sozi-alen Kontexten besteht darin, dass sie nach ihrem eigenen Verständnis sowie nachdem Verständnis bedeutsamer Anderer als Mitglied dieses Zusammenhangs gelten.Zugehörigkeit setzt den symbolischen Einbezug in ein ›Wir‹ auf formeller und infor-meller Ebene voraus. Ihren alltagsweltlichen Sinn gewinnt Mitgliedschaft dadurch,dass bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden, andere verhindertwerden (Wirksamkeit). Jeder Zugehörigkeitsraum ist ein hegemonialer Handlungs-undWirksamkeitsraum. Das in diesem Raum entwickelte und in diesen Raum einge-brachte habituelle Wirksamkeitsvermögen Einzelner bestätigt die Zugehörigkeit oderdie Nicht-Zugehörigkeit des und der Einzelnen. Nehmen wir das Beispiel Sprache:Das Vermögen zu sprechen ist nicht hinlänglich erfasst, wenn man lediglich fragt, objemand eine Sprache spricht. Unter Bedingungen monolingualistischer gesellschaft-licher Kontexte, also solcher Kontexte, für die das weitgehend für legitim gehalteneVorherrschen einer Sprache kennzeichnend ist, wird von konkreten Sprecher/innennoch etwas anderes verlangt. Sie sind gehalten, jene Sprache zu sprechen, die in einemgesellschaftlichen Kontext die dominante Sprech- und Sprachweise darstellt. Aus die-sem Grund heißt es mit Bezug auf Schüler/innen, die als mit Migrationshintergrundgelten, selbst in wissenschaftlichen Studien, nicht selten, ihr ›Sprachvermögen‹ seigering. Dass damit nicht Sprachkompetenz an sich, sondern das Vermögen dieserSchüler/innen, die legitime Sprech- und Sprachweise zu sprechen, gemeint ist, wirdunterschlagen und so werden Machtverhältnisse bekräftigt. ›Sprachinkompetenz‹ ist,in einem totalen Sinn, zumeist nicht gegeben; allerdings nimmt unter Bedingungenvon migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit die Anzahl der Sprachpraktiken

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und -verständnisse zu, die von der dominanten Sprache abweichen und für die einVerhältnis zwischen Sprechvermögen und vorherrschender Sprache charakteristischist, in dem erfahrene und zugeschriebene Fraglichkeit bedeutsam ist: Die Anzahl il-legitimisierter Sprachpraktiken nimmt zu und damit auch die Auseinandersetzung,welche Sprachformen in migrationsgesellschaftlichen Kontexten als legitime, respek-table, anerkannte gelten. Im nicht schlechtesten Fall haben diese Auseinandersetzun-gen eine Erweiterung des Raumes der als legitim geltenden Praktiken zur Folge.

Das dritte analytische Element der Zugehörigkeitsordnung, Verbundenheit, bringtzum Ausdruck, dass das im Begriff der Zugehörigkeit erhellbare Verhältnis zwischenIndividuumundKontext nicht allein eine optionale Beziehung darstellt, sondern auchein Verhältnis, das durch Bindungen ermöglicht wird und sich in Verbundenheitenkonkretisiert. Ralf Dahrendorf hat herausgestellt, dass Lebenschancen eine Funktionvon Optionen und Ligaturen sind. Letztere versteht er als »tiefe kulturelle Bindun-gen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Welt der Optionenzu finden« (Dahrendorf 1994, S. 423). Natio-ethno-kulturell kodierte Verbundenheitbeschreibt ähnliche Zusammenhänge; allerdings nicht in der Beschränkung auf ›tiefekulturelle Bindungen‹, sondern umfassender, da sie, neben emotionaler Bindung, As-pekte moralischer Verpflichtung, kognitiv-praktischer Vertrautheit und nicht zuletztAspekte materieller Gebundenheit einschließt. Die durch Verbundenheit ermöglichtePositionierung eines Individuums ist ein zeitlich strukturiertes Phänomen. Natio-ethno-kulturelle Verbundenheit einer Person bringt zum Ausdruck, dass sie sich aufden Zugehörigkeitskontext eingelassen hat und dass sie in den Zugehörigkeitskontextgewissermaßen eingelassen wurde. Diese Prozesse sind an Vorgaben von Verbunden-heitskonzepten geknüpft. Verbundenheit ist der Zugehörigkeitsaspekt, in dem ange-zeigt wird, dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit die und den Einzelnen in einemVerhältnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Kontext bestimmt.

Der Begriff Zugehörigkeitsordnung bezeichnet jene machtvollen Zusammen-hänge, die durch eine komplexe Form der Ermöglichung und Reglementierung,der symbolischen, kulturellen, politischen und biographischen Einbeziehung undAusgrenzung von Individuen auf diese produktiv Einfluss nehmen. Die Zugehörig-keitsordnung kann man als strukturierten und strukturierenden Zusammenhang be-schreiben, in dem aus Individuen Subjekte werden.

Zugehörigkeitsordnungen profitieren von Migrationsphänomenen einerseits undnähren sich gewissermaßen von ihnen. Zugleich werden sie durch Migrationsphäno-mene irritiert und beunruhigt. Eine konstitutive Beunruhigung besteht etwa darin,dass die Imagination eines natio-ethno-kulturell kodierten ›Wir‹ konstitutiv auf das›Andere‹ angewiesen ist und sich damit nicht aus sich selbst, aus einem essentiellenBegründungszusammenhang heraus stiften lässt. Genau diese Angewiesenheit be-gründet die Krisenhaftigkeit des ›Wir‹, da es an sich und für sich nicht sein kann. DieKrisenhaftigkeit natio-ethno-kultureller Ordnung besteht ferner darin, dass sie alshistorische Erfindung und Konstruktion beständig nach Imaginationspraktiken undperformativen Aufführungen verlangt, was die Unmöglichkeit der endgültigen Fixie-rung der (Bedeutung der) Ordnung anzeigt. Durch die Angewiesenheit auf inszena-

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torische Praktiken – Wir-Rhetoriken (die gerade im Zuge von als kollektive Bedro-hungen inszenierten Bedrohungserfahrungen mobilisiert werden; s. etwa El-Tayeb2011), Fahnen, Hymnen, Sportübertragungen – wird zugleich auch die existenzielleNotwendigkeit fortwährender, mithin verändernder Selbstaufführung und Selbster-findung angezeigt – ein Krisenphänomen.

Die Legitimität und Funktionalität des natio-ethno-kulturell kodierten Wirs wirddurch Migrationsphänomene also infrage gestellt, irritiert und beunruhigt. Weiter-hin stehen auch die Legitimität und Funktionalität institutioneller Routinen etwa dersprachlichen Vermittlung oder der Erinnerung (s. Lücke, in diesem Band) zur Dispo-sition. Schließlich wird der Glaube an die Legitimität und Funktionalität individuellerPrivilegien gestört, etwa das Privileg, nicht nur erwarten, sondern auch beanspruchenzu dürfen, dass die eigene Sprache, auch die Sprache der Anderen ist; eine verborgeneDynamik, die nicht zuletzt durch Einsätze postkolonialer Theorie aufgeklärt und inihrer pädagogischen Konsequenz diskutiert wird (s. Castro Varela, in diesem Band).

Die Schemata und Praktiken, in denen zwischen natio-ethno-kulturell kodiertem›Wir‹ und ›Nicht-Wir‹ unterschieden werden, vermitteln und beeinflussen Erfahrun-gen, Selbstverständnisse undHandlungsweisen aller.Migrationspädagogik ist deshalberstens auf die Analyse und Beschreibung dieser Schemata und Praktiken bezogensowie zweitens an der Analyse der Bedingungen der Möglichkeit der Verflüssigungund Versetzung dieser Schemata und Praktiken interessiert. Migrationspädagogik istalso keine Zielgruppenpädagogik und erst recht keine Ausländer/innen- oder Integ-rationspädagogik, deren vordergründiges Ziel die (assimilative) Veränderung vonMigrant/innen ist. Aus diesem Grund verfehlt und konterkariert der Versuch vonGeorg Auernheimer (2012) in der 7. Auflage seiner »Einführung in die InterkulturellePädagogik«, Migrationspädagogik als Ausdruck neu zu bestimmen, der »das weiteFeld der Integrationshilfen für Migrant/inn/en« bezeichnen soll (Auernheimer 2012,S. 154), das Anliegen jener Migrationspädagogik, die für eine Kritik an migrations-gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen eintritt (dazu Cicek/Shure 2015; Peters2015; Schmidt 2015).

Anders als in pädagogischen Ansätzen, die in erster Linie auf die Förderung derKompetenzen von ›Migrant/innen‹ zielen (Förderung des zum Beispiel als Sprach-kompetenz bezeichneten Vermögens, die hegemoniale Sprache im Standardregisterzu sprechen), geht es mit demmigrationspädagogischen Ansatz um das Erkennen derMacht institutioneller und diskursiver Ordnungen und darüber hinaus darum, dieFrage zu erkunden, wie würdevolle Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen desGegebenenmöglich ist, ohne damit diese Bedingungen bedingungslos zu affirmieren.

Mit der Entscheidung, das Verhältnis Migration und Bildung unter der Perspek-tive Migrationspädagogik zu thematisieren und nicht etwa unter der Frage, wie dieIntegration von Migrant/innen optimierbar sei, richtet sich der Blick auf Zugehörig-keitsordnungen in der Migrationsgesellschaft, auf die Macht der Unterscheidung, dievon ihnen ausgeht sowie die damit ermöglichten und verhinderten Bildungsprozesseund zwar aller, wie auch immer ihre migrationsgesellschaftliche Position und Statussein mögen.

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Pädagogik als Ort der Reproduktion und Veränderungmigrationsgesellschaftlicher Ordnungen

Mit der Perspektive Migrationspädagogik wird eines der grundlegenden Ordnungs-schemata moderner Staaten und gesellschaftlicher Zusammenhänge im Zeichender Kritik (s. Mecheril/Thomas-Olalde, in diesem Band) zum Thema gemacht, istfür diese modernen Staaten und Gesellschaften doch konstitutiv, dass sie in einerkomplexen, nicht immer unwidersprüchlichen und durchaus veränderlichen, natio-ethno-kulturell kodierten Weise zwischen denen, die dazugehören und denen, dienicht dazugehören, unterscheiden. Dem Bildungssystem und dem pädagogischenHandeln kommen hierbei eine wichtige Rolle bei der Bestätigung und Re-/Produk-tion der Unterscheidungsschemata zu, etwa dadurch, dass eine spezielle sozialarbei-terische ›Migrantenarbeit‹ institutionalisiert ist (s. Hamburger, in diesem Band), oderdadurch, dass die Schule optional auf Mechanismen natio-ethno-kultureller Diskri-minierung zurückgreift (s. Gomolla, in diesem Band). Pädagogik besitzt aber prin-zipiell auch die Möglichkeit, diese Schemata und die sie bestätigenden Praktiken zureflektieren, über Alternativen nachzudenken und diese auf denWeg zu bringen. DieAuseinandersetzung mit den Wirkungen natio-ethno-kulturell kodierter Ordnungenauf Menschen, ihre Lern- und Bildungsprozesse sowie auf diese Ordnungen bestä-tigende, diese aber auch verschiebende und womöglich verändernde pädagogischePraktiken, ist Anliegen der Migrationspädagogik.

Die mit postkolonialer (siehe Dhawan/Castro Varela 2015) und transnationalerMigration verknüpften Differenzverhältnisse betreffen alle pädagogischen Bereicheund Handlungsfelder wie Elementarpädagogik (s. Diehm, in diesem Band), Kunstpä-dagogik (s. Czejkowska, in diesem Band), Erwachsenenbildung (s. Sprung, in diesemBand) und alle pädagogischen Handlungsebenen, also Organisationsformen, Metho-den, Inhalte wie auch Kompetenzen pädagogischer Professioneller. Bei der Sicherungund iterativen Produktion und dadurch oft verbundenen ›Vernatürlichung‹ von Zu-gehörigkeitsordnungen spielen pädagogische Institutionen etwa der politischen (s.Messerschmidt, in diesem Band) oder der ›höheren‹ (s. Karakașoğlu, in diesem Band)Bildung eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt die Schule (s. Geier, in diesem Band) stellteinen Ort dar, an dem Individuen in Selbstverständnisse und Selbstpraktiken einge-führt werden, die durch natio-ethno-kulturell kodierte Ordnungen vorstrukturiertsind, die freilich nicht an sich wirksam, sondern mit anderen etwa Geschlechter- undKlassenordnungen intersektional verknüpft sind. Bildungsinstitutionen sind produk-tiv im Hinblick auf die Positionierung von Schüler/innen im migrationsgesellschaft-lichen Raum. Diese Positionierungen und Adressierungen – zum Beispiel als ›Mig-rantin‹ oder ›Nicht-Migrantin‹, ›spracheingeschränkt‹ oder ›sprachfähig‹ – müssenals Wirkungen gesellschaftlicher Unterscheidungspraktiken verstanden werden, diepädagogischen Feldern wie der Schule über- und vorausgelagert sind, in und von Pä-dagogik aber aufgegriffen und bestätigt werden. In schulischen Arrangements lernenSchüler/innen bspw., was es in Deutschland heißt, als ›Nicht-Migrantin‹ oder ›sprach-eingeschränkt‹ zu gelten, und diese Positionierung in das eigene Selbstverständnis zu

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übernehmen. Allerdings wären pädagogische Verhältnisse nicht angemessen verstan-den, würden sie nicht auch im Hinblick auf ihren Beitrag zum Wandel verfügbarerUnterscheidungsschemata betrachtet werden.

Dies sei mit einem kurzen Bezug auf die Darstellung migrationsgesellschaftlicherSachverhalte in Schulbüchern exemplifiziert. Pöggeler (1985, S. 35) stellt bspw. fest,dass die Existenz und die Lebenswelt der »Migrant/innen, Ausländer/innen erst seitEnde der 1970er Jahre in den Schulbüchern thematisiert wird«. Heute ist Migrationdurchaus ein gängiges Thema. So weist bspw. Schissler (2003) im Rahmen des Pro-jekts »Migration in Schulbüchern« amGeorg-Eckert-Institut darauf hin, dass »es […]unzutreffend [wäre,] anzunehmen, dass deutsche Schulbücher das Thema Migrationnicht im Blick hätten« und fügt hinzu, Schulbücher seien besser als ihr Ruf, da derdidaktisch erwünschte Perspektivwechsel von Mehrheitsgesellschaft zu den ›Migran-ten/innen‹ durchaus vorgenommen werde (Schissler 2003, S. 43 f.). Lange und Rößler(2012) stellen in ihrer Untersuchung allerdings fest, dass zwar eine sukzessive Steige-rung der Sensibilität für die ›Bedeutung von Migration‹ aufseiten der Schulbehördenund Verlage zu verzeichnen sei und dass Migration in den meisten, von ihnen un-tersuchten Schulbüchern sowohl als eigenes Thema als auch im Zusammenhang mitanderen auftaucht, quantitativ (Anzahl der Seiten) jedoch im Vergleich zu anderenThemen nur kurz abgehandelt werde. Darstellungen von ›Personen mit Migrations-hintergrund‹ im Kontext Schule seien eher unterrepräsentiert. Gerade zu der Darstel-lungsweise von Personen im Migrationskontext liegen aus der bisherigen Forschungjedoch zahlreiche Ergebnisse vor. Ein über die Jahrzehnte konstant gebliebenes Dar-stellungsmuster scheint die Konstruktion der ›Migrant/innen‹ als ›Fremde‹ und ›An-dere‹ zu sein [s. zuletzt die von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration,Flüchtlinge und Integration in Auftrag gegeben Schulbuchstudie »Migration und In-tegration« (BAMF 2015)]. In unterschiedlichen Studien wird auf eine Dichotomieaufmerksam gemacht: ›Migrant/innen‹ werden als eigene natio-ethno-kulturelleGruppe kodiert und der ›nationalen deutschen Gemeinschaft‹ gegenübergestellt (z.B.bei Höhne/Kunz/Radtke 2005, S. 592; oder auch Lange/Rößler 2012, S. 148) Die dis-kursanalytische Untersuchung von Höhne, Kunz und Radtke hat ergeben, dass die»Fremdheit« des Personenkreises im Verlauf der Zeit sogar kontinuierlich zugenom-men hat – zunächst »Gastarbeiter«, dann »Ausländer« und schließlich »Asylbewer-ber« (Höhne/Kunz/Radtke, S. 598). Zudem konnten die Autoren offenlegen, dass diein den Büchern vorgefundene Figur ›Migranten als Fremde‹ auch in Analysen ande-rer Medien zu finden ist, mithin eine Art nationalen Konsens widerspiegelt (Höhne/Kunz/Radtke 2005, S. 600 f.).

Die Gegenüberstellung der ›Fremden‹, ›Migrant/innen‹ und/oder ›Ausländer/in-nen‹ und der Gesellschaft der ›Deutschen‹ hat eine weitere Dichotomie zur Folge:die Gegenüberstellung von ›Wir‹ und ›Sie‹. Die Konstruktion von ›Wir‹ gründet da-bei auf der Vorstellung eines ethnisch und kulturell homogenen Volkes. In der The-matisierung von Themen wie Heimat, Fremdsein, Zuwanderung und Integration,Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, Fremden- und Ausländerfeindlichkeitoder Rassismus lassen sich zahlreiche Hinweise zur indirekten Konstruktion dieser

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Dichotomie erkennen (Pokos 2011, S. 166 f.). Schwierig an den Vorstellungen vonHomogenität ist zum einen, dass Migration dadurch immer als Ausnahme inszeniertwird (Stöber 2006, S. 77 f.). Zum anderen führen solche Vorstellungen zu einer sichimmer wieder reproduzierenden stereotypen und reduktiven Beschreibung der ›An-deren‹ allein als Träger oder Angehörige einer anderen ›Kultur‹ (Stöber 2006, S. 78).Auch die vermeintlich positive Besetzung als kulturelle Bereicherung referiert aufverwandte Ordnungsmuster und reifiziert Differenz (s. Thompson, in diesem Band).

Pflege und Kulturalisierung von Differenz in Schulbüchern muss – so ein weiteresErgebnis der Forschung – bedeutsame Folgen für Schüler/innen haben, die in Ihrer›Fremdheit‹ durch das Buch angesprochen werden. Der Einbezug von Differenz kannmithin exkludierende Wirkungen haben; Inklusion ist keine machtfreie Praxis (s.Dannenbeck, in diesem Band). Schulbücher sind ein spezifisches Medium, sie sollenLernprozesse initiieren, daher ›sprechen‹ sie z.T. direkt die Leser/innen, etwa in Formvon Fragen und Aufgabenstellungen, an. »Den anwesenden Migrantenkindern wirdin diesem Arrangement die Rolle derjenigen, die über ›ihre Kultur‹ Auskunft geben«müssen, zugeteilt (Höhne/Kunz/Radtke 2005, S. 602). »Aus welchen Ländern kom-men Kinder in deiner Klasse?« – ›erkundigt‹ sich das Lesebuch Zebra bei den Kin-dern in der 2. Klasse (Eckhoff et al. 2012, S. 87). »Was aber, wenn Ayse – zu Beginnihrer schulischen Karriere noch nicht mit der Rolle des ›Ausländerkindes‹ vertraut –sagt: ›Ich komme aus Deutschland‹?« (Stöber 2006, S. 79 f). Die schulische Situierungder Aufforderung, sich als ›Ausländerkind‹, als ›Migrantenkind‹ darzustellen und zuverstehen, ist eine machtvolle direkte und indirekte Aufforderung der Schüler/innen,sich immigrationsgesellschaftlichen Raum zu positionieren. So trägt Schule dazu bei,dass aus Kindern Schüler/innen ›mit und ohne Migrationshintergrund‹ werden.

Über diejenigen, die Schulbuchwissen täglich in Unterrichtspraxis übersetzen,weiß die Forschung hingegen noch wenig. Die Ergebnisse der Pilotstudie »Migra-tionsbedingte Vielfalt im Unterricht« (2012–2013) am Georg-Eckert-Institut fürSchulbuchforschung weisen darauf hin, dass die Darstellung des Themas Migrationin Schulbüchern »von den meisten Lehrkräften [die durchgängig kaum signifikanteMigrationserfahrungen in ihren Biographien aufweisen] tendenziell schlecht bewer-tet [wurden]. An den Büchern wurden vor allem einseitige oder problemorientierteDarstellungen von Migration kritisiert. In Bezug auf migrationsbedingt heterogeneLerngruppen ist den meisten der Befragten wichtig, dass die Darstellungen frei vonDiskriminierungen und Vorurteilen sind, dass verschiedene Perspektiven zur Gel-tung kommen und dass das Sprachniveau angemessen ist. Aufgrund der ohnehinflexiblen Umgangsweise mit Lehrmaterialien scheint die tendenziell negative Bewer-tung der Lehrwerke jedoch keine große Schwierigkeit für die Lehrenden darzustellen.Als ungeeignet empfundene Schulbuchinhalte werden von den Lehrkräften teilweisemit den SchülerInnen hinterfragt, ergänzt, modifiziert oder kurzerhand übersprun-gen« (Ahlrichs 2015, S. 62).

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Bildung in der Migrationsgesellschaft

Migrationsgesellschaftliche Bildungsregime (s. Amos, in diesem Band) können da-raufhin betrachtet werden, welche explizite oder implizite Idee und Konzeption vonBildung sie vertreten. Das Verständnis von Bildung, das für den migrationspädagogi-schen Ansatz kennzeichnend ist, setzt sich erstens von einer funktionalistisch-instru-mentalistischen Reduktion von Bildung auf kapitalistisch verwertbare Kompetenzen(s. Bünger, in diesem Band) und versteht zweitens Bildung dezidiert als Allgemein-bildung.

Zugehörigkeitserfahrungen sind Phänomene, in denen die Einzelnen ihre Posi-tionen in sozialen Zusammenhängen und darüber vermittelt sich selbst erfahren. Innatio-ethno-kulturell kodierten, migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitserfah-rungen erfahren Einzelne ihre migrationsgesellschaftliche Position. Die Schule, dasJugendzentrum, Einrichtungen der Erwachsenenbildung etc. stellen Orte dar, die In-dividuen in Selbstverständnisse und Selbstpraktiken einführen, die auch durch natio-ethno-kulturell kodierte Ordnungen vorstrukturiert sind. Die Wiederholung undAufschichtung von Erfahrungen kann als Prozess der Subjektivierung (s. Rose, in die-sem Band) untersucht werden, die allgemein die Einfädelung, den Einbezug und dieUnterordnung des Individuums in und unter die Regeln von Ordnungen zum Themamacht. Subjektvierung vollzieht sich nicht alleine und vielleicht auch nicht vorrangigim Denken, sondern allgemeiner in der Praxis und mittels der Praxis des Subjekts,eine Praxis, in der sich das Subjekt konstituiert. Die Macht der Ordnungen wendetsich also nicht gegen das Subjekt, sondern verwirklicht sich durch das Subjekt, dasmittels Ordnungen verwirklicht, sich von diesen durchaus absetzen und diese durch-aus gestalten kann.

Dieser komplexe Zusammenhang kann in einer genuin pädagogischen Traditionund gegenüber dem Subjektivierungsbegriff eher autonome Möglichkeitsräume desSubjekts akzentuierend mit dem Bildungsbegriff in den Blick genommen werden (s.Koller, in diesem Band). Der Begriff der Bildung steht für die empirische und the-oretische Analyse bestimmter Transformationsprozesse. Bildung kann man hierbeiverstehen als die ästhetische und politische Form, die von Menschen gestaltet wird,ein Verhältnis zur Selbst-Unverfügbarkeit ihrer selbst zu finden. Drei Kennzeichendieses Subjekt-Bildungsverständnisses seien markiert:

Bildungsprozesse werden erstens durch Erlebnisse, Ereignisse oder (Krisen-)Er-fahrungen ausgelöst, insbesondere solchen, die zu Irritationen der bisherigen Selbst-und Weltverhältnisse beitragen. Bildung kann als transformatorische Kultivierungund Differenzierung der Selbst- und Weltwahrnehmung bezeichnet werden (Koller2011). In Bildungsprozessen werde ich mithin eine (mir) andere. Dass es sich bei die-sen Transformationsprozessen nicht lediglich um eine ›innerlich‹-selbstbezügliche,psychologisch-therapeutische Auseinandersetzung handelt, sondern diese Auseinan-dersetzung sich auch als Bezogenheit auf allgemeine Topoi ereignet, ist das zweiteMerkmal von Bildung. Wolfgang Klafki (1996) bezeichnet jene ästhetischen undkognitiven Prozesse als (Allgemein-)Bildung, die auf ›epochaltypische Schlüssel-

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probleme‹ der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes bezogen sind. Prozesse derTransformation von Selbst- und Weltverhältnissen werden in diesem Sinne zu Bil-dungsprozessen, wenn sie auf allgemeine Schüsselprobleme und -fragen bezogensind, mithin im Medium des Allgemeinen stattfinden.

Neben dem Bezug auf Fragen und Probleme, die in dem Sinne allgemein sind,als sie sich einer womöglich unbestimmt bleibenden Idee des kulturell oder (welt-)gesellschaftlich Allgemeinen annähern, weisen Erfahrungen dann auf Prozesse vonBildung, wenn diese Erfahrungen drittens im Zusammenhang eines Prozesses derAuseinandersetzung des und der Einzelnen stehen, die ein politisch-ethisches Mo-ment aufweist. Dieses Moment kreist um die Frage: Wie will und kann ich im Rah-men dessen, wie wir leben wollen und können, leben?

Unter diesem Verständnis von (Allgemein-)Bildung fiele Bildungseinrichtungen/-institutionen unter der Voraussetzung, dass sie ihrem Selbstverständnis nach in ers-ter Linie oder zumindest auch ›für Bildung‹, also für das Arrangieren und die Ermög-lichung gerichteter Prozesse der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissenund nicht vorrangig und ausschließlich für die Vermittlung von ›Skills‹, zuständigsind, die zentrale Rolle zu, auf aktuelle (welt-)gesellschaftliche Rahmenbedingun-gen einzugehen und beispielsweise Flucht und Asyl vor der Folie globaler Not undUngleichheit als einen wichtigen (allgemeinen) Bildungsgegenstand zu konzipieren.Hierbei geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen über etwa lokal vermit-telte, globale (glokale; siehe Robertson 1998) Verhältnisse. Sondern es geht vielmehrauch darum, dazu anzuregen, dass die einzelnen Personen sich in ein Verhältnis zudem glokal-epochaltypischen Schüsselproblem ›globale Not und Ungleichheit undihre Wirkung auf Migrationsbewegungen und -diskurse‹ setzen. Hierzu gehört einIn-Beziehung-Setzen zu der relativen Privilegierung europäischer Kontexte; der Situ-ation von geflüchteten Menschen; der historischen, politischen, ökonomischen undökologischen Bedingungen globaler Ungleichheit; den daraus resultierenden Um-ständen, die Menschen dazu bewegen oder zwingen, zu fliehen; der Geschichte des(kommunal-)politischen Umgangs mit Flucht sowie einer kritischen Hinterfragunggegenwärtiger Weltverhältnisse in bspw. menschenrechtlicher Perspektive (s. Scherr,in diesem Band).

Anliegen und Aufbau des Handbuchs

Transnationale Migrationsbewegungen problematisieren die Funktionalität und Le-gitimität institutioneller Routinen und professioneller Habitus – auch und gerade imBildungsbereich. Mit der Migrationspädagogik hat sich im erziehungswissenschaftli-chen und pädagogischen Diskurs eine eigenständige Perspektive etabliert, mit der dasFeld Bildung in der Migrationsgesellschaft macht- und differenztheoretisch reflek-tiert wird. Der Anspruch, dem das vorliegende Handbuch folgt, besteht in zweierlei.Zum einen geht es darum, den Gegenstandsbereich ›Bildung, Erziehung, Pädagogikin derMigrationsgesellschaft‹ so zu behandeln, dass sich im Sinne eines Nachschlage-

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werks systematisch bedeutsame Positionen, Themen und Fragen dargestellt und auchmit Bezug auf Forschungsstand und -desiderate aufbereitet finden. Die Beiträge derAutor/innen im Handbuch geben somit einen differenzierten Einblick in Fragestel-lungen und Themenfelder, die zur Diskussion von Bildungsfragen in der gegenwär-tigen (Migrations-)Gesellschaft von systematisch, aber auch empirisch signifikanterBedeutung sind (wie beispielsweise Rassismus, Erinnerungsarbeit, Solidarität in derMigrationsgesellschaft, Schule und Bildung, Menschenrechte, Medien und Bildung,Hochschule in der Migrationsgesellschaft, Geschlechterverhältnisse in der Migrati-onsgesellschaft). Zugleich stellen die Artikel in diesem Band auch systematische Bei-träge zur Kennzeichnung, Problematisierung undWeiterentwicklung des migrations-pädagogischen Projektes dar. Die Akzent- und Schwerpunktsetzung im Hinblick aufdiese beiden Ansprüche wird in den einzelnen Beiträgen unterschiedlich realisiert.Gleichwohl können alle Artikel als Beiträge zur Systematisierung dessen verstandenwerden, was zu berücksichtigen ist, wenn mit dem Anspruch der Gründlichkeit überBildung in der Migrationsgesellschaft (unter migrationspädagogischer Perspektive)nachgedacht wird.

Das vorliegende Handbuch gliedert sich in fünf Kapitel.

In dem mit Grundlegende Theoretisierungen überschriebenen ersten Kapitel findensich Beiträge, die bedeutsame analytisch-begriffliche Elemente gleichsam des theo-retischen Untergrundes des Nachdenkens über Bildung in der Migrationsgesellschaft(unter migrationspädagogischer Perspektive) theoretisch erkunden und erörtern. DieAusführungen zu diesen analytisch-begrifflichen Elementen [Bildung, (Bildungs-)Regime, Differenz, Diskriminierung, Hegemonie, Kapitalismus, Medien, Migrati-onsgesellschaft, Postkolonialität] sind durchaus interdisziplinär, etwa sozial-, politik-,kultur- und erziehungswissenschaftlich angelegt, was Ausdruck der dezidierten Ori-entierung an dem und auf den jeweiligen Gegenstand ist, der behandelt wird. Es ge-hört zur projektförmigen Form und dem Selbstverständnis der Migrationspädagogik,dass das, was hier als theoretischer Untergrund bezeichnet wurde, nicht abschließendbestimmbar ist, weder das je einzelne Element, noch der Zusammenhang der Ele-mente. Die etwas rutschige und veränderbare Basis der Migrationspädagogik ist weitdavon entfernt, beliebig zu sein, dennoch in dem Sinne unbestimmt, dass sie nichtendgültig definierbar ist; dies kennzeichnet Migrationspädagogik als unabschließ-bare, reflexiv-revisionäre Unternehmung.

Eine Gesellschaftsanalyse, insbesondere eine, die relevant für das Nachdenken überBildungs-, Lern- und Erziehungsprozesse sein will, wird sich mit gesellschaftlichenDifferenz- und Dominanzverhältnissen auseinandersetzen. Denn diese nehmen auf-grund ihrer Geschichte und damit verbundener (bildungs-)institutioneller wie ha-bitueller Sedimentierungen Einfluss auf Welt- und Selbstverständnisse Einzelner.Gesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse operieren mit materiell-sym-bolischen Unterscheidungen, Positionierungen, Platzierungen und Distinktionen. Die

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Beiträge des zweiten Kapitels, das den Titel Migrationsgesellschaftliche Differenz- undDominanzverhältnissen trägt, behandeln spezifische Differenz- undDominanzverhält-nisse (Antimuslimischer Rassismus, Antisemitismus, Flucht, Kultur/Nation, Rassis-mus, Ungleichheit), auch mit Blick auf ihre je historische Dimension sowie mit Bezugauf wichtige empirische Studien und den Forschungsstand. Diese Differenz- und Do-minanzverhältnisse erlangen unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen (dannalso, wenn Ein-, Aus-, Pendel-, oder zirkuläreWanderungen vonMenschen besonderssignifikant sind und der Diskurs über Migration besonders intensiv und wirksam ist)eine besondere Bedeutung und Form, die in den Beiträgen herausgearbeitet wird.

Im Kapitel Topoi und Symbolisierungen migrationsgesellschaftlicher Realität findensich Beiträge, die migrationsgesellschaftlich erörterte Themen behandeln, die, wennman so will, kategorial zum kollektiven Gedächtnis der Migrationsgesellschaft gehö-ren bzw. im dominantenDiskurs, auch aufgrund vonVorstellungsbildern, diemit die-sen Themen zuweilen hartnäckig verbundenen sind, eine signifikante Rolle spielen.Pädagogischen Orten kommt hierbei sowohl bei der Aufrechterhaltung als auch derkritischen Reflexion dieser Topoi und Symbolisierungen eine wichtige Rolle zu. DieTopoi Familie, Geschlecht, Religion, Sprache und Subjekt werden im dritten Kapitelmit Bezug auf den Forschungsstand etwa zu Familien- oder Sprach(en)forschung inderMigrationsgesellschaft behandelt, zugleich geht es aber immer auch um denWelt-und Selbstverhältnisse vermittelnden Effekt der dominanten Symbolisierungen vonFamilien-, Geschlechter-, Religions-, Sprach- und Subjektverhältnissen.

Auch wenn der erziehungswissenschaftliche Fachdiskurs seit etwa Mitte der 1970erJahre mit Nachdruck darauf hingewiesen hat, dass die Berücksichtigung der Migrati-onstatsache eine zentrale Aufgabe von Bildungspolitik, Bildungsorganisation und desHandelns von Pädagog/innen darstellt, hat die intensive Auseinandersetzungmit demThemenfeld Bildung in der Migrationsgesellschaft erst etwa Anfang des 21. Jahrhun-derts begonnen. Dies steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der verspäte-ten Umstellung des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschlandauf ein eher republikanisches Staatsbürgerschaftsverständnis. Durch diese politischeEntwicklung ist es möglich geworden, dass migrationsgesellschaftliche Fragestellun-gen mittlerweile als wichtige Bestandteile erziehungswissenschaftlicher Studiengängeschulischer wie außerschulischer Ausrichtung gelten und pädagogische Professionali-tät in der Migrationsgesellschaft inzwischen in einem doppelten Sinne zu einer Quer-schnitts- und allgemeinen Anforderung geworden ist. Sie ist weder auf einzelne päd-agogische Handlungsfelder beschränkt noch innerhalb der Handlungsfelder allein alsintern differenzierte und spezialisierte Expertise an spezifischen Orten angemessenzu konzipieren und zu denken. Die migrationsgesellschaftliche Realität betrifft allepädagogischen Handlungsorte und kann nicht als Aufgabe einiger weniger Spezia-list/innen konzipiert werden. Dieser Einsicht folgen die Beiträge im Kapitel Felderpädagogischen Handelns. Behandelt werden Elementarpädagogik, Erinnerungsar-beit, Erwachsenenbildung, Hochschule, Kunstpädagogik, Politische Bildung, Schule

27Migrationspädagogik – ein Projekt

und Sozialpädagogik. Es finden sich Überblicke über die Entwicklung der jeweili-gen Felder hin zu der mehr oder weniger geglückten Berücksichtigung der migra-tionsgesellschaftlichen Tatsache sowie eine kritische Auseinandersetzung mit der inallen Feldern tendenziell nach wie vor vorherrschenden reduktiven Behandlung vonmigrationsgesellschaftlichen Verhältnissen als kulturelle Verhältnisse und mit der auf›Migrant/innen‹ zumeist in kompensatorischer Förderperspektive fokussierten Ziel-gruppenpädagogik.

Weil Migrationsphänomene im doppelten Sinne die Grenzen von natio-ethno-kul-turell kodierten Zugehörigkeitsordnungen verdeutlichen, in denen zwischen ›Wir‹und ›Nicht-Wir‹, zwischen innen und außen unterschieden wird, und eine sich oftauch affektiv artikulierende Beunruhigung zur Folge haben, geht es in der Auseinan-dersetzung um migrationsgesellschaftliche Sachverhalte nicht allein um analytischeFragen, sondern ist alltagsweltlich oder politisch auch immer eine normative Dimen-sion berührt. Diese normative Dimension des Gegenstandes wird in pädagogischenZusammenhängen gewissermaßen verdoppelt, sind diese doch grundlegend dadurchcharakterisiert, dass sie sich nicht allein damit auseinandersetzen können, was ist,sondern vielmehr auch eine Vorstellung von dem verfolgen müssen, was sein soll –selbst wenn diese Sollensvorstellung lediglich auf die Konservierung bestehenderVerhältnisse zielt.

Diese doppelte Bedeutung des Normativen macht seine Reflexion erforderlich.Dies erfolgt im letzten Kapitel des vorliegenden Handbuches, wobei zentrale norma-tive Referenzen bzw. normative Reflexionsräume (Anerkennung, Inklusion, Kritik,Menschenrechte, Solidarität) einer Untersuchung unterzogen werden. Die Beiträgebefragen und rekonstruieren bedeutsame Verwendungsweisen des jeweiligen Begriffsauch im Rahmen migrationsgesellschaftlicher Zusammenhänge und verweisen aufdie migrationspädagogische Bedeutung des Begriffs.

Dank

Frank Engelhardt, Verlagsleiter im Bereich Pädagogik/Weiterbildung und Beltz Ju-venta in der Verlagsgruppe Beltz, ist zu danken, nicht nur, weil von ihm die Initia-tive zu der Entstehung dieses Handbuch ausging, sondern weil er die konzeptionelleKlärung des Handbuchs freundlich und hilfreich begleitete. Heike Gras von Beltz istfür das ausgezeichnete Lektorat, aber auch für die sehr angenehme und kompetenteBeratung, Begleitung und Betreuung bei der Manuskripterstellung zu danken.

Den Autor/innen dieses Bandes gebührt ein ausgesprochen großer Dank. Sie ste-hen in recht unterschiedlichen intellektuell-libidinösen Verhältnissen zum migrati-onspädagogischen Projekt: verbunden, indifferent, skeptisch-distanziert und alleszugleich, und haben durch ihre Beiträge wesentliche Impulse der Präzisierung migra-tionspädagogischer Aufgaben, Themen und Perspektiven gegeben. Die Zusammen-arbeit war ausgesprochen angenehm und fruchtbar. Vielen Dank.

28 Migrationspädagogik – ein Projekt

Danken möchte ich in nachdrücklich und in einer ganz besonderen Weise Vero-nika Kourabas und Matthias Rangger, den Oldenburger Mitarbeiter/innen, die das,was im Prozess der Entstehung eines vielstimmigen Manuskripts editorisch erfor-derlich ist (Autor/innen freundlich erinnern, dass es zwar nie zu spät, die Zeit aberdoch schon etwas vorangeschritten ist; Beiträge lesen, korrigieren, Überarbeitungs-vorschläge machen, diese diplomatisch kommunizieren; Literatur prüfen, fehlendezuweilen recherchieren…), außerordentlich kompetent, sehr sorgfältig und überausernsthaft mitgestaltet haben. Danke.

Und Birgit Rommelspacher sei gedacht. Sie ist nicht mehr dazu gekommen, ihrenBeitrag zum Stichwort ›Dominanzkultur‹ zu verfassen, weil ein Tod eilfertig war.Nicht nur ich, auch einige weitere Autor/innen dieses Handbuchs haben Birgit sehrviel zu verdanken, inhaltlich in der empirischen und theoretischen Auseinanderset-zung mit Differenz- und Dominanzverhältnissen, aber auch im ruhigen Zuspruchund der wissenspolitischen Ermutigung.

Birgit Rommelspacher sei dieses Handbuch gewidmet.

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GrundlegendeTheoretisierungen

32

Hans-Christoph Koller

Bildung

Einleitung

Ziel dieses Beitrags ist die Darstellung und Diskussion der Bedeutung, die dem Be-griff ›Bildung‹ im Rahmen einer Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragestel-lungen im migrationsgesellschaftlichen Kontext zukommen kann. Zu diesem Zweckwird zunächst die Funktion des Terminus ›Bildung‹ als Grundbegriff der Erziehungs-wissenschaft skizziert (1.), um dann am Beispiel der Bildungstheorie Wilhelm vonHumboldts genauer auf eine klassische Fassung dieses Begriffs einzugehen und zuerörtern, inwiefern diese Fassung auch unter migrationsgesellschaftlichen Bedingun-gen von Interesse sein kann (2.). Dem schließt sich eine Diskussion der Kritik an, dieder Bildungsbegriff in der jüngeren erziehungswissenschaftlichen Debatte erfahrenhat, um anhand dieser Kritik der Frage nachzugehen, in welcher Weise der Bildungs-begriff weiterentwickelt werden kann, um den Herausforderungen der Migrationsge-sellschaft gerecht zu werden (3.).

Bildung als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft

Bildung gilt in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft trotz zahlreicher kriti-scher Anfragen und Einwände noch immer als wichtiger, ja unverzichtbarer Grund-begriff, da er einen Aspekt oder eine Dimension pädagogisch relevanter Sachverhaltein denMittelpunkt rückt, die von anderenGrundbegriffen nicht erfasst wird. Der Ter-minus ›Bildung‹, so kannman in einer ersten Annäherung sagen, bezeichnet den Pro-zess der Konstitution und Transformation von Subjekten im Zuge einer aktiven undselbsttätigen Auseinandersetzung dieser Subjekte mit der Welt. Anders als beim Er-ziehungsbegriff wird das fragliche Geschehen dabei weder als intentionales pädagogi-sches Handeln im Sinne der absichtsvollen Beeinflussung individueller Entwicklungdurch eine Erzieherinstanz verstanden, noch wird (wie beim Sozialisationsbegriff)die Abhängigkeit dieser Entwicklung von sozialen, kulturellen und ökonomischenRahmenbedingungen betont. Der Bildungsbegriff rückt vielmehr den Prozess (unddas Resultat) einesWerdens ins Zentrum, das sich in der aktiven Auseinandersetzungeines Menschen mit seiner materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt vollzieht,und hebt damit nicht zuletzt die Unverfügbarkeit dieses Geschehens hervor. Bildung

33Bildung

kann insofern vor allem als Selbstbildung begriffen werden – was andererseits abernicht bedeutet, dass dieses Geschehen unabhängig von äußeren Bedingungen bzw.von der Interaktion mit anderen Menschen wäre (zum Folgenden vgl. Koller 2012,S. 9 ff., woraus einige Formulierungen übernommen wurden).

Der Bildungsbegriff wurde im deutschen Sprachraum nach einer längeren Vor-geschichte, die ins Mittelalter und in die christliche Mystik zurückreicht, in bisheute fortwirkenden Fassungen zwischen 1770 und 1830 formuliert und hat in derdeutschen Sozial- und Ideengeschichte weit über die Pädagogik hinaus eine zentraleRolle als Deutungsmuster zur Interpretation individueller und gesellschaftlicherEntwicklungen gespielt (Bollenbeck 1996). Innerhalb der geisteswissenschaftlichenPädagogik, die bis in die 1960er Jahre eine dominierende Rolle im deutschsprachi-gen Raum spielte, kam dem Bildungsbegriff vor allem die Funktion einer normati-ven Leitkategorie zur Begründung und Zielbestimmung pädagogischen Handelnszu (Menze 1983). Diese Funktion wurde im Zuge der von Heinrich Roth propagier-ten ›realistischen Wendung‹ der Pädagogik zu einer modernen Sozialwissenschaftseit den 1960er Jahren nachhaltig in Frage gestellt. Aufgrund seiner ideengeschicht-lichen Verwurzelung im 18. Jahrhundert, so die beiden Hauptargumente der Kri-tiker, sei der Bildungsbegriff weder den Anforderungen moderner Gesellschaftenangemessen noch in methodologischer Hinsicht anschlussfähig an empirische For-schungen, wie sie das neue Wissenschaftsverständnis mit sich brachte. Seit dieserZeit gibt es deshalb immer wieder Stimmen, die entweder den völligen Verzicht aufden Bildungsbegriff oder aber seine Ersetzung durch (vermeintlich) anschlussfähi-gere Termini wie ›Qualifikation‹, ›Identität‹ oder ›Autopoiesis‹ fordern (z. B. Len-zen 1997).

Auf der anderen Seite ist die Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischenTradition in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft trotz dieser Kritik stetswach geblieben, und seit geraumer Zeit lässt sich innerhalb der Disziplin sogar eineArt Renaissance der Bildungstheorie verzeichnen (Hansmann/Marotzki 1988/89;Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006). Unter den an dieser Debatte Beteiligtenherrscht dabei die Einschätzung vor, der Bildungsbegriff sei für die Erziehungswis-senschaft insofern unverzichtbar, als er (oder vielleicht genauer: die Bildungstheorieals Teildisziplin der Erziehungswissenschaft) jenen Ort darstellt, an dem über Legiti-mation, Zielsetzung und Kritik pädagogischen Handelns methodisch reflektiert ge-stritten werden kann und soll (Klafki 2007; Ruhloff 1991).

Wer dieser Einschätzung zustimmt, muss sich freilich die Frage stellen lassen, ob(bzw. inwieweit) die um 1800 entwickelte klassische Fassung des Bildungsbegriffsauch heute noch als Orientierungskategorie für pädagogische Reflexionen brauch-bar ist oder ob dafür nicht eine gründliche Revision erforderlich wäre. Neben vielenanderen gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber der Entstehungszeit des klas-sischen Bildungsgedankens werfen nicht zuletzt jene ökonomischen, technischen,sozialen und kulturellen Prozesse, die etwas pauschal als ›Globalisierung‹ bezeich-net werden und mit der Zunahme weltweiter Migrationsbewegungen einhergehen,die Frage auf, inwieweit ein an spezifisch deutsche Denktraditionen gebundener

34 Grundlegende Theoretisierungen

Begriff geeignet ist, das Nachdenken über pädagogische Herausforderungen derGegenwart anzuleiten oder in welcher Weise dieser Begriff modifiziert, weiterent-wickelt oder gründlich reformuliert werden müsste, um diese Aufgabe erfüllen zukönnen.

Als Ausgangspunkt für eine Diskussion dieser Fragen kann ein Blick auf die Bil-dungstheorie Wilhelm von Humboldts dienen, die wohl die bekannteste Fassung desklassischen Bildungsbegriffs darstellt und im Folgenden auf ihre Bedeutung für dieUntersuchung von Bildungsprozessen unter (migrations)gesellschaftlichen Bedin-gungen der Gegenwart befragt werden soll.

Zum klassischen Bildungsbegriff am Beispiel der BildungstheorieWilhelm von Humboldts

Sowohl von Befürwortern wie von Kritikern einer Orientierung am Bildungsbegriffwird der Terminus »Bildung« auch heute noch regelmäßig mit dem Namen Wil-helm von Humboldt in Verbindung gebracht. Daran ist abzulesen, dass die Fassung,die Humboldt dem Bildungsgedanken gegeben hat, besonders folgenreich war. DieGrundzüge dieser Fassung lassen sich am besten verdeutlichen, wenn man von einerFormulierung ausgeht, in der Humboldts Bildungsbegriff schon früh besonders prä-gnant Ausdruck gefunden hat:

»Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung,sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist diehöchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« (Hum-boldt 1960–81, Bd. I, S. 64)

Sieht man einmal von den Problemen ab, die sich in dem unscheinbaren Wörtchen»und« dieser Formel verbergen (dazu Benner 1990, S. 47 ff.), lässt sich zunächst fest-halten, dass es Humboldt um die möglichst weitreichende (»höchste«) und zugleichum diemöglichst ausgewogene (»proportionirlichste«) Entfaltung aller menschlichenAnlagen geht. Maßstab seines Bildungsdenkens stellen also nicht (wie z.B. immoder-nen Qualifikationsbegriff) die gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Anforderun-gen an das Individuum dar, sondern vielmehr dessen »Kräfte«, d.h. das je individu-elle Entwicklungspotenzial. Entscheidend dabei ist freilich, dass die Entfaltung dieser»Kräfte« Humboldt zufolge nicht im solipsistischen Bezug des Individuums auf sichselbst erfolgen kann, sondern dass der Mensch dazu eines Widerparts, einer »Weltausser sich« bedarf:

»Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person[…] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sichallein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, re-gesten und freiesten Wechselwirkung.« (Humboldt 1960–81, Bd. I, S. 235 f.)

35Bildung

Bildung, verstanden als die möglichst umfassende Entfaltung menschlicher Entwick-lungspotenziale, ist für Humboldt also auf die ihrerseits möglichst umfassende Aus-einandersetzung des Menschen mit der »Welt« angewiesen (zu der neben materiellenund ideellen Gegenständen auch andere Menschen gehören).

Diese beiden Grundgedanken von Humboldts Bildungstheorie, die allseitige Ent-wicklung der »Kräfte« und die »Wechselwirkung« von Ich und Welt, haben weitrei-chende pädagogische und bildungspolitische Folgen, die z.B. in den Schulplänen zumAusdruck kommen, die Humboldt in seiner Amtszeit als Leiter der Abteilung für Kul-tus undUnterricht im preußischen Innenministerium verfasst hat (Humboldt 1960–81,Bd. IV, S. 168 ff.). Sofern es ihm nicht um die Erfüllung äußerer Anforderungen, son-dern um die Entfaltung menschlicher Anlagen geht, kann Bildung nicht ein Privilegeiniger weniger sein, sondern ist prinzipiell als Bildung für alle zu denken (dass undwarum es Humboldt und anderen preußischen Bildungsreformern nicht gelang, die-sen Anspruch politisch zu verwirklichen, steht auf einem anderen Blatt; dazu Herrlitzet al. 2009, S. 29 ff.). Und insofern Bildung die Entfaltung möglichst aller menschlichenKräfte zum Ziel hat, kommt für Humboldt der allgemeinen Bildung ein absoluter Vor-rang gegenüber jeder speziellen (wie z.B. der beruflichen) Bildung zu.

Weniger bekannt als diese beiden Grundgedanken, aber von einigem Interessefür die Frage nach der Bedeutung des klassischen Bildungsdenkens unter migrati-onsgesellschaftlichen Bedingungen ist der Umstand, dass Humboldts Bildungsthe-orie in einem engen Zusammenhang mit einem anderen Schwerpunkt seines Werkssteht, nämlich mit seinen sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Ar-beiten. Humboldts Sprachtheorie, mit der er sich seit etwa 1800 beschäftigte und dienach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1819 zum Mittelpunkt seiner letzten15 Schaffensjahre wurde, setzt genau bei jenem zweiten Theorem seines Bildungs-denkens an, der Auffassung von Bildung als Wechselwirkung von Ich und Welt. Einzentrales Moment dieser Sprachtheorie besteht in der These, dass die Sprache dasentscheidende Medium jener bildenden Auseinandersetzung des Menschen mit derWelt darstellt. Das betrifft sowohl das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, d.h.die welterschließende Aufgabe der Sprache, als auch das Verhältnis zu anderen Men-schen, also die Sprache in ihrer kommunikativen Funktion.

Entscheidend dabei ist, dass Humboldt Sprache nicht abbildtheoretisch bzw. re-präsentationistisch begreift, d.h. nicht als Repräsentation von etwas, was vor bzw. au-ßerhalb der Sprache existieren würde, sondern vielmehr ›konstitutionistisch‹, d.h. alsMedium der Hervorbringung bzw. der Konstitution von Gegenständen und Gedan-ken. Auf treffende Weise kommt diese Auffassung in einer Formulierung zum Aus-druck, in der Humboldt die Sprache als »das bildende Organ des Gedanken« bezeich-net (Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 426). Die Sprache ist für ihn also kein Werkzeug,um bereits fertig vorhandene Gedanken nur noch auszudrücken, sondern vielmehrein »Organ«, in bzw. mit dem diese Gedanken überhaupt erst hervorgebracht werden.Die prägende Kraft, die Humboldt der Sprache im Blick auf das Denken zuschreibt,zeigt sich darüber hinaus in seiner Beschreibung der Sprache als je eigener »Welt-

36 Grundlegende Theoretisierungen

ansicht« (Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 434), der zufolge jede Sprache eine eigeneSichtweise der Welt darstellt, die mit Lautsystem, Wortschatz und Grammatik dieserSprache untrennbar verbunden ist und die Vorstellungs- und Empfindungswelt ihrerSprecher nachhaltig prägt.

Die Aktualität von Humboldts Sprachtheorie rührt nun nicht zuletzt daher, dasssein Interesse dabei nicht einfach der Sprache als solcher gilt, sondern vielmehr denSprachen im Plural. Als Sprachforscher hat sich Humboldt mit einer Vielzahl unter-schiedlicher, auch außereuropäischer Sprachen beschäftigt und dabei insbesonderedie Verschiedenheit der Sprachen in den Mittelpunkt gestellt. Diese Pluralität derSprachen hat im Blick auf die welterschließende Funktion der Sprache eine irredu-zible »Verschiedenheit der Weltansichten« zur Folge (Humboldt 1960–81, Bd. III,S. 20), die Probleme mit sich bringt, aber auch Chancen birgt. Die Probleme zeigensich z.B. dort, wo es um das Übersetzen von einer Sprache in eine andere geht (dakein Wort einer Sprache völlig dem einer anderen entspricht), oder im Blick auf dasVerstehen zwischen den Sprechern verschiedener Sprachen, von dem es einmal beiHumboldt heißt »Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen«(Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 439).

Auf der anderen Seite liegen in der Verschiedenheit der Sprachen aber auch Chan-cen, die vor allem dann zum Vorschein kommen, wenn man Humboldts Sprachthe-orie mit seiner Bildungstheorie in Zusammenhang bringt. Denn wenn Sprache dasentscheidende Medium jener bildenden Wechselwirkung von Ich und Welt darstellt,die Humboldt als Vollzugsform von Bildung begreift, kommt der Verschiedenheitund Vielfalt sprachlicher Weltansichten eine zentrale Bedeutung für die bildendeAuseinandersetzung des Menschen mit der Welt zu:

»Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reich-thum derWelt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erwei-tert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neueArten zu denken und empfinden stehen […] vor uns da.« (Humboldt 1960–81,Bd. V, S. 111)

Humboldt zufolge bereichert also die Vielfalt der Sprachen die bildende Wechsel-wirkung von Ich und Welt, indem sie dem Ich neue Weisen des Denkens und Emp-findens erschließt und so die Grenzen seiner bisherigen Weltansicht erweitert. Inso-weit stellt das Erlernen fremder Sprachen für Humboldt einen, wenn nicht sogar denGrundmodus von Bildung dar, der in der »Gewinnung eines neuen Standpunkts inder bisherigen Weltansicht« besteht (Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 434). Entschei-dend dabei ist, bei dem Wort »Sprachen« nicht nur an Nationalsprachen zu denken,sondern auch an andere Formen sprachlicher Verschiedenheit. Humboldt schreibt:

»Eine Nation hat freilich im Ganzen dieselbe Sprache, allein schon nicht alle Ein-zelnen in ihr […] ganz dieselbe, und geht man noch weiter in das Feinste über, sobesitzt wirklich jeder Mensch seine eigne.« (Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 228)

37Bildung

Neben den Nationalsprachen tragen deshalb auch regionale Dialekte, Fachsprachen,Sozio- und Idiolekte zu jener Verschiedenheit der Art und Weise bei, in der Men-schen mit der Welt in Wechselwirkung treten. Diese Verschiedenheit nun lässt sichvor dem Hintergrund von Humboldts Bildungstheorie insofern als Herausforderungfür Bildungsprozesse begreifen, als mit ›Bildung‹ nicht nur die Entfaltung der bereitsvorhandenenmenschlichen Kräfte und Anlagen gemeint ist, sondern auch die Erwei-terung oder Transformation der je eigenen Weltansicht durch die Konfrontation mitneuen, bislang unbekannten Sprachen.

Daran anknüpfend lässt sich die Frage nach der Aktualität von Humboldts Bil-dungstheorie erörtern. Als aktuell bedeutsam erscheint vor allem die Anerkennungder tatsächlichen Vielfalt humaner Möglichkeiten, d.h. menschlicher »Kräfte«, indi-vidueller Charaktere und verschiedener Sprachen oder Sprechweisen – auch wenndiese bei Humboldt tendenziell in einer ursprünglichen oder anzustrebenden Ganz-heit aufgehoben scheint, die jede radikale Differenz ausschließt. In Bezug auf eineaktuelle Neufassung des Bildungsbegriffs ließe sich von Humboldt zudem der Ge-danke übernehmen, dass Bildung in der Erweiterung und Umgestaltung der bishe-rigen »Weltansicht« eines Individuums besteht und dass dafür die Begegnung unddialogische Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Sprechweisen eine ent-scheidende Voraussetzung darstellt (Koller 2003).

Zur Kritik am klassischen Bildungsbegriff und zur Bedeutung vonBildung unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen

Der klassische Bildungsbegriff, wie er hier am Beispiel Humboldts vorgestellt wurde,wirkt zwar wie erwähnt bis heute fort, ist aber in unterschiedlichen Zusammenhän-gen auch zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen geworden, die im Blickauf die Frage nach der Bedeutung von Bildung im migrationsgesellschaftlichen Kon-text von Interesse sind.1

Die normative Dimension des Bildungsbegriffs

Einen Bezugspunkt solcher Kritik stellt die explizite oder implizite Normativität desBildungsbegriffs dar. Unabhängig davon, wie ›Bildung‹ in den verschiedenen bil-dungstheoretischen Konzeptionen jeweils konkret bestimmt wird, kommt diesem

1 Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf diejenigen Kritikpunkte, die für die Fragenach der Bedeutung des Bildungsbegriffs unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungenvon besonderem Interesse sind. Ein wichtiger Kritikpunkt wird dabei ausgeklammert: derVorwurf, der klassische Bildungsbegriff sei aufgrund seiner Verwurzelung in der idealisti-schen Philosophie kaum anschlussfähig an empirische Forschung. Zu dieser Kritik und ei-nem Versuch, Bildungstheorie und (qualitativ-)empirische Bildungsforschung einander an-zunähern vgl. Koller 2012, S. 137 ff.

38 Grundlegende Theoretisierungen

Begriff – bzw. der Bildungstheorie als auf diesen Begriff bezogener Teildisziplin – wiebereits erwähnt die Funktion zu, innerhalb der Erziehungswissenschaft einen Ort fürdie methodisch reflektierte Diskussion über die Begründung, Zielsetzung und Kri-tik pädagogischen Handelns bereitzustellen. In diesem Sinne lässt sich ›Bildung‹ alsBezeichnung für das Ziel begreifen, das durch pädagogisches Handeln bewirkt oderzumindest ermöglicht werden soll – bzw. (gemäß der Doppelbedeutung vieler deut-scher Wörter auf ›-ung‹) für den Prozess der Bewegung auf dieses Ziel hin. Insofernenthält der Bildungsbegriff eine normative Dimension, die sich in der Formel zusam-menfassen lässt, dass Bildung sein soll bzw. dass mit diesem Begriff ein pädagogischwünschenswerter Prozess bezeichnet wird.

Das wirft freilich die Frage auf, wie diese implizite oder explizite Normativitätdes Bildungsbegriffs begründet werden kann. Zur Dringlichkeit dieser Frage trägtnicht nur die verbreitete Skepsis gegenüber philosophischen Letztbegründungsversu-chen bei, sondern auch die ›postmoderne‹ Diagnose eines irreduziblen Widerstreitsnormativer Orientierungen (Lyotard 1989), für den die soziokulturelle Pluralität vonMigrationsgesellschaften ein besonders auffälliges Beispiel darstellt. Auch wenn das»Normproblem der Pädagogik« nach wie vor als ungelöst gelten muss (Ruhloff 1979),kann die Frage nach einer Begründung normativer Orientierungen für pädagogischesHandeln nicht einfach als unwissenschaftlich abgetan oder in die Moralphilosophieausgelagert werden. Dabei zeichnet sich zwar keineswegs eine allgemein akzeptierteAntwort, wohl aber eine Tendenz zu ›schwachen‹ ethischen Begründungen ab, diemiteinem Minimum an Bestimmungen auszukommen versuchen (Nohl 2006, S. 112 ff.;Koller 2016).

Bildung – ein spezifisch deutsches Konzept?

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die spezifisch deutsche Semantik des Bildungsge-dankens. Mangels entsprechender Äquivalente ist das Wort ›Bildung‹ kaum oder nurschwer in andere Sprachen übersetzbar – besonders deutlich im Englischen, wo sichÜbersetzungsversuche wie »self-formation«, »self-cultivation« oder Richard RortysVorschlag »edification« (Rorty 1979, S. 360) nicht durchsetzen konnten. Das legt denVerdacht nahe, dass die Bildungssemantik einen deutschen ›Sonderweg‹ darstellt, derfür andere kulturelle bzw. diskursive Traditionen blind ist und deshalb unter migrati-onsgesellschaftlichen Perspektiven als obsolet erscheint.

Auf der anderen Seite ist in jüngerer Zeit gerade in der angelsächsischen philoso-phy of education ein verstärktes Interesse am Bildungsbegriff zu beobachten (Jour-nal of Philosophy of Education 2002; Educational Philosophy and Theory 2003).Das kann als Indiz dafür verstanden werden, dass der Bildungsbegriff gerade unterden Bedingungen einer zunehmenden Sensibilität für kulturelle Pluralität an Rele-vanz gewinnt – eine These, die durch die oben beschriebene Verbindung zwischenHumboldts Bildungsbegriff und seinem sprachphilosophischen Interesse an Mehr-sprachigkeit und Sprachenvielfalt zusätzliche Nahrung erhält. Anders formuliert:

39Bildung

Wenn dem Bildungsbegriff auch in migrationsgesellschaftlichen Kontexten nochBedeutung zukommen soll, dann könnte eine entsprechende Neufassung des Be-griffs von Humboldts Verständnis von Bildung als Erweiterung bzw. Transforma-tion etablierter »Weltansichten« durch die Auseinandersetzung mit anderen Spra-chen profitieren.

Bildung – ein naturwüchsig-harmonischer Prozess?

Einen weiteren Ansatzpunkt für Kritik am klassischen Bildungsgedanken stellt Hum-boldts Auffassung von Bildung als Entfaltung von »Kräften« dar, die ein harmoni-sches »Ganzes« zum Ziel hat. Ungeklärt bleibt dabei, wer oder was eigentlich denAnstoß zu Bildungsprozessen in diesem Sinn gibt. Humboldt neigt dazu, Bildung alsProzess gleichsam naturwüchsiger Entfaltung menschlicher Anlagen zu denken, derzwar auf entsprechende förderliche Bedingungen wie die »Mannigfaltigkeit von Situ-ationen« angewiesen ist, aber ansonsten einemDrang seines »innere[n]Wesen[s]« zufolgen scheint (Humboldt 1960–81, Bd. I, S. 64 und 237). Nimmt man die sprachthe-oretischen Überlegungen zu Bildung als Auseinandersetzung mit fremden Sprachenund Weltansichten hinzu, so stellt sich die Frage, ob für das Zustandekommen einessolchen Geschehens bereits die mehr oder minder zufällige Konfrontation mit eineranderen Sprache genügt, sei es nun eine fremde Nationalsprache, die Fachsprache ei-ner bislang unbekannten Wissenschaft oder der Idiolekt eines anderen Individuums.Oder bedarf es besonderer Anlässe bzw. Herausforderungen, sich auf eine fremdeSprache undWeltansicht einzulassen? Nicht unter allen Bedingungen, so wäre einzu-wenden, sind Menschen dazu bereit bzw. in der Lage, neue Sprachen zu erlernen undsich auf diese Weise in fremde Weltansichten »hineinzuspinnen«, wie eine einschlä-gige Metapher Humboldts lautet (Humboldt 1960–81, Bd. III, S. 434). Was aber kannMenschen dazu veranlassen, ihre eigeneWeltansicht in Frage zu stellen und sich einerneuen zu öffnen – bzw. was führt im entgegengesetzten Fall dazu, dass sie sich neuenSprachen und Weltsichten verschließen?

Eine Antwort auf solche Fragen versucht das Konzept transformatorischer Bil-dungsprozesse zu geben, das von Rainer Kokemohr, Winfried Marotzki und Hans-Christoph Koller in kritischer Anknüpfung an die Bildungstheorie Humboldtsentwickelt wurde (Kokemohr 2007; Koller 2012). Als Anstoß oder Auslöser für Bil-dungsprozesse gelten dort Krisen- und Fremdheitserfahrungen, mit denenMenschenkonfrontiert werden, wenn sie auf Probleme stoßen, die mit den ihnen zur Verfügungstehenden Mitteln nicht mehr angemessen bearbeitet werden können. Es dürfte aufder Hand liegen, dass solche Krisen- und Fremdheitserfahrungen unter migrations-gesellschaftlichen Bedingungen vermehrt gemacht werden, und zwar keineswegsnur von Menschen, die selber migrieren, sondern auch von Nicht-Migranten, derenetabliertes Welt- und Selbstverhältnis im Zuge von Migrationsprozessen ebenfalls inFrage gestellt werden kann.

40 Grundlegende Theoretisierungen

Entscheidend daran ist der Gedanke, dass Bildung – auch und gerade untermigra-tionsgesellschaftlichen Bedingungen – nicht einfach als naturwüchsig-harmonischerEntfaltungsprozess, sondern vielmehr als konflikthaftes und krisenartiges Gesche-hen verstanden werden muss. Das wird noch deutlicher, wenn man danach fragt, inwelchem Verhältnis zueinander die verschiedenartigen Sprachen und Weltansichtenstehen, aus deren Verschiedenheit Humboldt zufolge Bildungsprozesse hervorgehen.Bei Humboldt erscheint dieses Verhältnis trotz aller Betonung der Differenz (z.B.im Blick auf die Übersetzungs- und Verstehensproblematik) letztlich als wechselsei-tige Ergänzung innerhalb eines harmonischen Ganzen. Angesichts der zahlreichenGegenwartsdiagnosen einer zunehmenden Pluralität unterschiedlicher Sprachen,Wertorientierungen oder Lebensstile kann das Verhältnis sprachlich strukturierterWeltansichten zueinander heute nicht mehr so harmonisierend gedacht werden. Umdas Verhältnis der pluralen Elemente zueinander zu begreifen, scheint vielmehr einanderes, stärker am Dissens als an harmonischer Ergänzung orientiertes Theorie-modell erforderlich zu sein, wie es etwa in Jean-François Lyotards Konzeption des»Widerstreits« vorliegt (Lyotard 1989). Aus dieser Perspektive betrachtet hat Bildungweniger mit harmonischer Ergänzung zu tun als mit der Anerkennung irreduziblerVerschiedenheit und dem Offenhalten des Widerstreits (Koller 2012, S. 87 ff.).

Bildung und ihre gesellschaftlichen Bedingungen

Einen wichtigen Schwerpunkt der Kritik am Bildungsbegriff stellt schließlich derVorwurf dar, Humboldt habe ebenso wie andere Vertreter des klassischen Bildungs-denkens die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bildung vernachlässigt undz.B. nicht oder viel zu wenig danach gefragt, welche ökonomischen Voraussetzungengegeben sein müssen, um die »höchste und proportinirlichste Bildung« menschlicherKräfte zu ermöglichen, bzw. wer aufgrund welcher gesellschaftlichen Bedingungenvon solcher Bildung ausgeschlossen bleibt.

So wurde klassischen Bildungstheorien etwa zurecht vorgeworfen, dass in ihrenKonzepten zwar stets von der Bildung des Menschen die Rede war, aber doch kaum re-flektiert worden sei, dass der Zugang zu solcher Bildung faktisch bis ins 20. Jahrhundertweitgehend nur für Männer bestanden habe. Und unter den Bedingungen gegenwärti-gerMigrationsgesellschaften wäre Ähnliches – nicht erst seit PISA, aber dadurch in denFokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt – für den gesellschaftlich je nach sozialerHerkunft undMigrationshintergrund höchst ungleich verteilten Zugang zu schulischer,beruflicher und universitärer Bildung zu sagen (Diefenbach 2010).

Eine Antwort auf diese Kritik stellen die verschiedenen neueren Versuche dar, amBildungsbegriff festzuhalten, ihn aber so zu reformulieren, dass er den gesellschaftli-chen Rahmenbedingungen von Bildung besser Rechnung trägt. Zu diesen Versuchenzählen etwa Wolfgang Klafkis Vorschlag einer zeitgemäßen Neubestimmung allge-meiner Bildung in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen(Klafki 2007) oder Helmut Peukerts Neufassung des Bildungsbegriffs (Peukert 2015),

41Bildung

die beide auch auf die Herausforderungen der Migrationsgesellschaft bezogen wer-den können.

Wolfgang Klafki bestimmt Bildung in kritischer Anknüpfung an Bildungstheoriender klassischen Epoche von 1770 bis 1830 als »Zusammenhang dreier Grundfähig-keiten«, nämlich der Fähigkeiten zu Selbstbestimmung, zu Mitbestimmung und zuSolidarität (Klafki 2007, S. 52). Als »Allgemeinbildung« wird Bildung dabei in dreifa-cherWeise gefasst, nämlich als »Bildung für alle«, als »Bildung imMedium des Allge-meinen« und als »Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen undFähigkeiten« (Klafki 2007, S. 53 f.). Der Bezug zu den gesellschaftlichen Rahmenbe-dingungen von Bildung ergibt sich dabei vor allem aus der zweiten Bestimmung, alsoals »Bildung im Medium des Allgemeinen«, mit der Klafki die inhaltliche Dimen-sion von Allgemeinbildung zu beschreiben versucht. Bildungsinhalte werden dabeinicht durch die Festlegung eines Wissenskanons bestimmt, sondern vielmehr durchden Bezug auf gesellschaftliche Schlüsselprobleme, die von der »Friedens-« und der»Umweltfrage« über das Problem »gesellschaftlich produzierte[r] Ungleichheit« biszu den Chancen und Gefahren neuer Medien reichen (Klafki 2007, S. 56 ff.). Allge-meinbildung bedeutet für Klafki dabei die Entwicklung eines Bewusstseins solcherSchlüsselprobleme sowie der Fähigkeit und der Bereitschaft, an deren Bewältigungmitzuarbeiten. Auch wenn das Thema Migration in dem1985 erstmals publiziertenText Klafkis nur im Verweis auf die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit »zwi-schen Ausländern […] und der einheimischen Bevölkerung« auftaucht (Klafki 2007,S. 59), kann doch vermutet werden, dass die mit diesem Thema verbundenen Fragenmittlerweile zu den von Klafki als »epochaltypisch« bezeichneten Schlüsselproble-men gehören und dass Bildung sich deshalb in der Bereitschaft und Fähigkeit zeigenmüsste, an der Bearbeitung der mit Migration verbundenen Herausforderungen undProbleme unter Beachtung der Prinzipien von Selbstbestimmung, Mitbestimmungund Solidarität mitzuwirken.

In vergleichbarer Weise lassen sich auch Helmut Peukerts Bemühungen um eineNeufassung des Bildungsbegriffs als Versuch begreifen, auf die Herausforderungenzu reagieren, die mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden sind. Zudiesen Entwicklungen rechnet Peukert vor allem die selbstzerstörerischen Tendenzenunserer Zivilisation in ökonomischer und militärisch-politischer Hinsicht, aber auchdie weltweite Tendenz einer zunehmenden Exklusion großer Teile der Weltbevölke-rung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Angesichts dieser Herausforde-rungen reicht für Peukert die Berufung auf den klassischen Bildungsbegriff nicht aus,zumal dieser – statt zur Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen beizutragen –im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Instrument der Reproduktion verfestigterGesellschaftsstrukturen und einemMittel sozialer Distinktion geworden sei, mit des-sen Hilfe sich das (Bildungs-)Bürgertum von den ungebildeten sozialen Schichtenabzugrenzen versucht habe. Vor diesem Hintergrund plädiert Peukert für eine Neu-bestimmung des Bildungsbegriffs, die Bildung als ein transformatorisches Geschehenversteht, das auf gesellschaftliche Krisenerfahrungen reagiert, die »wenn wir sie wirk-lich zulassen, unsere bisherigen Weisen des Umgangs mit Wirklichkeit und unser

42 Grundlegende Theoretisierungen

Selbstverständnis sprengen«. »Wollen wir solche Erfahrungen wirklich aufnehmen«,so Peukert weiter, verlange dies »eine Transformation der grundlegenden Strukturenunseres Verhaltens und unseres Selbstverhältnisses« (Peukert 2015, S. 101), als welcheBildung deshalb zu verstehen sei. In Anknüpfung an diese Überlegungen begreift dasoben bereits erwähnte Konzept transformatorischer Bildungsprozesse Differenz- undFremdheitserfahrungen,mit denenMigrierte wie Nicht-Migrierte im Zuge weltweiterMigrationsbewegungen zunehmend konfrontiert werden, als einen typischen Anlassfür solche Transformationen der Welt- und Selbstverhältnisse und damit für Bildungin dem von Peukert entwickelten Sinn (Kokemohr 2007; Koller 2012).

Bildung und/oder Subjektivierung?

Ein neueres Argument im Streit um den Bildungsbegriff ist die von Jan Masscheleinund Norbert Ricken vertretene These, dass dieser Begriff auch deshalb problematischsei, weil er zur Kritik an Machtzusammenhängen eingesetzt werde, in die er selbstverstrickt sei (Masschelein/Ricken 2003; Ricken 2006). Damit wird das ältere Motivder Bildungskritik aufgegriffen, das sich gegen die Verwendung des Bildungsbegriffsals Instrument sozialer Distinktion richtete, mit dem das sogenannte Bildungsbür-gertum sich von anderen gesellschaftlichen Klassen abzugrenzen versucht hat. DieseKritik wird dabei insofern zugespitzt, als sich Masschelein und Ricken zufolge dieMachtzusammenhänge, in die der Bildungsbegriff verstrickt ist, nicht auf die gesell-schaftliche Dominanz einer Klasse über andere beschränken, sondern – im Sinne vonMichel Foucaults Machtbegriff – sämtliche Formen der ›Führung‹ von Individueneinschließlich der Selbst-Führung betreffen. ›Bildung‹, so das zentrale Argument, istdemzufolge unweigerlich beteiligt an dem, was Foucault und Judith Butler ›Subjek-tivierung‹ nennen, d.h. an der Unterwerfung von Individuen unter Machtmechanis-men, die Subjekte im Sinne von handlungsfähigen Individuen allererst hervorbrin-gen, ihre soziale Existenz aber zugleich an bestimmte Bedingungen binden (Foucault1994; Butler 2001). Paul Mecheril hat herausgearbeitet, dass und wie Subjektivierungin diesem Sinne als grundlegender Mechanismus der »Subjekt-Bildung in der Migra-tionsgesellschaft« gelten kann, in dem die Entstehung subjektiver Handlungsfähigkeitan die Unterwerfung unter migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen ge-koppelt wird (Mecheril 2014; als empirische Studie vgl. Rose 2012).

Trotz der hohen Plausibilität dieser Kritik scheint der Schluss problematisch, denMasschelein und Ricken daraus ziehen, wenn sie vorschlagen, auf den Bildungsbe-griff in erziehungswissenschaftlichen Kontexten gänzlich zu verzichten (Massche-lein/Ricken 2003, S. 149 ff.). Stimmt man der Einschätzung zu, dass zu den Aufgabenerziehungswissenschaftlicher Reflexion auch die Diskussion über Begründung, Ziel-bestimmung und Kritik pädagogischen Handelns gehört, so ist der Bildungsbegriffinsofern unverzichtbar, als es eines systematischen Orts sowie einer zentralen Ka-tegorie bedarf, an dem bzw. mit deren Hilfe diese Diskussion geführt werden kann.Diesen systematischen Ort stellt nach klassischem Verständnis die Bildungstheorie

43Bildung

dar, und die zentrale Kategorie, um die sich diese Diskussion dreht, ist eben der Bil-dungsbegriff. Diese Einschätzung betrifft allerdings nur die disziplinäre Stellung undFunktion des Bildungsbegriffs, nicht seine inhaltliche Ausgestaltung, d.h. die kon-krete Art und Weise, in der jeweils versucht wird, die Ziele pädagogischen Handelnszu bestimmen. Insofern ist Rickens Kritik zuzustimmen, dass viele Fassungen desBildungsbegriffs von Humboldt bis heute stärker in Machtzusammenhänge und Pro-zeduren der Subjektivierung verstrickt sind, als von ihnen selbst reflektiert wird, undzwar insbesondere dann, wenn sie Bildung mehr oder weniger explizit als Gegenten-denz zu Macht bzw. Machtverhältnissen begreifen – etwa als Emanzipation, Befrei-ung, Autonomisierung usw.

Doch die kritische Auseinandersetzung mit solchen Zusammenhängen enthebtdie erziehungswissenschaftliche Reflexion nicht der Aufgabe, die Maßstäbe solcherKritik zu begründen und dafür Begriffe zu verwenden, die ihrerseits zu einer Ori-entierung pädagogischen Handelns beitragen können – also genau die Funktion zuerfüllen, die traditionell dem Bildungsbegriff zugesprochen wurde. In diesem Sinneerscheint der Bildungsbegriff – oder ein funktionales Äquivalent – als systematischunverzichtbar für erziehungswissenschaftliche Reflexionen auch unter migrationsge-sellschaftlichen Bedingungen.

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45

Karin Amos

(Bildungs-)Regime

Einleitung

Anders als von ›Educational Governance‹ ist von Bildungsregimen in der erzie-hungswissenschaftlichen Diskussion noch nicht sehr lange die Rede. Dies zeigt einkurzer Vergleich: Während zu ›Educational Governance‹ bereits eine lange undeinschlägige Reihe erschienen ist, unter anderem unter maßgeblicher Beteiligungvon Thomas Brüsemeister, Herbert Altrichter und Martin Heinrich, listet eineRecherche zum Stichwort ›Bildungsregime‹ in einer einschlägigen erziehungswis-senschaftlichen Datenbank (FIS Bildung; letzte Recherche Dezember 2015) ledig-lich fünf Treffer auf. Bis auf eine (Radtke/Amos 2007) wurden alle anderen dortgenannten Regime-bezogenen Publikationen nach 2010 veröffentlicht (z. B. Par-reira do Amaral 2011, 2012; Große Hüttmann/Schmid 2011). Eine eingehendereBetrachtung illustriert, dass die Diskussion um Regime zwar prinzipiell interdis-ziplinär ausgerichtet ist – an ihr beteiligen sich die Soziologie, die Ökonomie, dieErziehungs- und auch die Geschichtswissenschaft –, sie wird jedoch maßgeblichim politikwissenschaftlichen Bereich der Internationalen Beziehungen geführt. Da-rüber hinaus wird deutlich, dass zwei politikwissenschaftliche Traditionslinien dieRegime-Diskussion prägen: die Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung (GroßeHüttmann/Schmid) und der Bereich der Internationalen Beziehungen (Parreirado Amaral; Radtke/Amos). Auch wenn sich zu ›Governance‹ weit mehr Literaturfindet als zu ›Regime‹, so sind beide Forschungsperspektiven doch eng miteinan-der verbunden. Tatsächlich ist in ihrem Schnittfeld die politikwissenschaftlicheBildungsforschung seit Jahren gut etabliert, unter anderem im Bremer Sonderfor-schungsbereich »Staatlichkeit im Wandel«, in Publikationen im Umfeld des inter-disziplinären Tübinger Promotionskollegs »International-vergleichende Forschungzu Bildung und Bildungspolitik im Wohlfahrtsstaat« und selbstverständlich in denForschungen einzelner Wissenschaftler_innen; zu nennen sind hier unter anderemMarius Busemeyer, Rita Nikolai, Michael Dobbins und Josef Schmid. Einschlägigedeutsche Politikwissenschaftler, die zu Regime im Kontext der Internationalen Be-ziehungen forschen oder geforscht haben, sind unter anderem Klaus Dieter Wolf,Volker Rittberger, Andreas Hasenclever und Michael Zürn. Auch wenn Bildunghier nicht im Zentrum des Interesses steht, so wird doch die Beziehung zwischen›Global Governance‹ und der Regime-Forschung sehr deutlich. Warum ›Bildung‹

46 Grundlegende Theoretisierungen

aus dieser Perspektive bislang eher ausgeblendet wurde und welche Einsichten sichergeben, wenn sie berücksichtigt wird, hat vor allem der ErziehungswissenschaftlerMarcelo Parreira do Amaral gezeigt (2011, 2012).

Kurz und knapp formuliert geht es in den beiden zentralen Regime-Forschungs-richtungen um Folgendes: In Anlehnung an die bekannte Unterscheidung des däni-schenWissenschaftlers Gosta Esping Andersen, der zwischen ›drei Welten des Wohl-fahrtsstaats‹ differenzierte, geht es um die Frage, ob sich analog zur Sozialpolitik auchdie Bildungspolitik nach nationalstaatlicher Systematik typologisieren lasse und wel-che Beziehungen zwischen Sozial- und Bildungspolitik bestehen (die ja nicht in allenLändern so deutlich unterschieden sind wie in Deutschland). Diese Forschungsrich-tung ist auch in internationalen Verbundprojekten gut vertreten; exemplarisch seienhier nur genannt: das bereits abgeschlossene Projekt »GOETE – Governance of Edu-cational Trajectories« unter der Leitung von Andreas Walther oder das ERC-Projektvon Marius Brusemeyer »INVEDUC – Investing in Education in Europe: Attitudes,Politics, Policies«.

In der Regime-Forschung im Bereich der Internationalen Beziehungen geht es da-gegen um Fragen der politischen Problemlösung in grenzüberschreitenden Belangenwie ›Umwelt‹ oder den Umgang mit Kernwaffen. Anders als in der VergleichendenWohlfahrtsstaatsforschung wird hier nicht vomNationalstaat und dessen Eigenheitenaus gedacht, sondern von der politischen Aufgabe her, die sich nur konzertiert undunter wesentlicher Beteiligung von Internationalen Organisationen adressieren lässt.Die Übertragung dieser Perspektive auf Bildung ist dagegen relativ neu und vor allemdas Verdienst Frank-Olaf Radtkes und Marcelo Parreira do Amarals.

Schließlich sollte im hier in Rede stehenden Kontext auch darauf verwiesen wer-den, dass der Regime-Begriff vor allem im Sinne seiner Verwendung in der Verglei-chenden Wohlfahrtsstaatsforschung zunehmend auch in die MigrationsforschungEinzug gehalten hat, auch hier ist zunehmend von Migrationsregimen die Rede (soetwa in den Forschungen um Andreas Pott an der Universität Osnabrück).

Als erster Ausgangspunkt lässt sich also festhalten, dass der politikwissenschaftli-che Regime-Begriff zunehmend interdisziplinär verwendet wird, dass sich zwischenzwei Varianten unterscheiden lässt – International Vergleichende Wohlfahrtsstaats-forschung und Internationale Beziehungen – und dass beide zur Erforschung derpolitischen Gestaltung von Bildung, aber auch von Migration verwendet werden. Indieses komplexe Feld soll eine Schneise geschlagen werden, die mit einer Klärungdes Begriffsfeldes beginnt und die beiden Regime-Perspektiven, Regime im Sinne derVergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung und Regime im Sinne der ErforschungInternationaler Beziehungen, kurz vorstellt, um schließlich in einem dritten Schrittden Begriff der Bildungsregime zu erläutern und in einem vierten die Verbindungzur erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung und dem vor allem von PaulMecheril (2004) in die Diskussion gebrachten Begriff der Migrationspädagogik her-zustellen und hier besonders seine Anmahnung einer kritischen Perspektive (2013)mit der analytischen Regime-Perspektive zu verbinden.

47(Bildungs-)Regime

Gouvernementalität, Governance und Regime

Der folgende Abschnitt beginnt mit einer kurzen historischen und systematischenBetrachtung grundlegender Zusammenhänge, um sich dann den analytischen For-men: Governance und Regime zuzuwenden.

Die Problematik von Regierung und Regulierung als Phänomen modernerGesellschaft

Von ›Regime‹, ›Steuerung‹, ›Lenkung‹ und ›Governance‹ wird mit Blick auf die Bil-dungssysteme und ihre Organisationen in einem losen Sprachgebrauch schon sehrlange gesprochen – und zwar immer dann, wenn Formen der Ordnungsbildung undder Regulierung gemeint sind. ›Governance‹ leitet sich vom lateinischen ›gubernare‹ ab,was so viel bedeutet wie: ein Schiff lenken, steuern. Zu den Definitionen von ›Regime‹stellt Marcelo Parreira do Amaral (2011, S. 106) fest, dass ›Regime‹, ähnlich wie ›guber-nare‹ oder ›governance‹, eine Verwandtschaft zu ›Regiment‹ oder ›Regierung‹ aufweise.Zu den Feldern, in welchen ›Regime‹ eine Rolle spielen, nennt er Diätvorschriften,Grammatik, Jurisprudenz, Amtsdauer und schließlich – nach der Französischen Re-volution – die Staatsregierung. Auch wenn dieWurzeln des Begriffs antiken Ursprungssind, so verweist die Übertragung von einem engen nautischen auf einen breiten poli-tischen Kontext, der von der Lenkung der politischen Geschicke bis hin zum Umgangmit dem eigenen Körper, von der Abwendung von Krankheit bis zur Erziehung derKinder reicht, auf ein allgemeines Regierungsproblem, das seit dem 17. Jahrhundertverstärkt traktiert wird. Diese sehr heterogenen Bereiche haben eines gemeinsam: Siebeziehen sich auf die für die Moderne charakteristischen und aufeinander abgestimm-ten Techniken und Formen des Umgangs mit der Bevölkerung, für dieMichel Foucaultbekanntlich den Begriff der Gouvernementalität prägte, den er in den späten siebzigerJahren in seinen Vorlesungen am Collège de France entwickelte (2006, 2009). Unter-füttert und bestätigt werden die Analysen Foucaults nicht zuletzt auch durch Einträgein einschlägigen Lexika und Wörterbüchern, etwa zu ›Regierung‹ im Deutschen Wör-terbuch von Jakob undWilhelm Grimm. So wird der von Foucault präzise untersuchteZusammenhang zwischen Theologie (christlicher Pastorale), Politik und Pädagogiknicht zuletzt auch dadurch illustriert, dass die Schriften führender Aufklärungspäd-agogen wie Joachim Heinrich Campe (der unter anderem auch als Privatlehrer Wil-helm von Humboldts tätig war) oder Ernst Christian Trapp als wichtige Quellen derGrimm’schen Kompilation zu ›Regierung‹ und ihren Komposita fungieren. FoucaultsThese ist bekanntermaßen die, dass das Problematisch-Werden von Regierung mit derInstitutionalisierung moderner Staatlichkeit in Europa in Zusammenhang steht. Abdem 16. Jahrhundert beginnen sowohl der koloniale Ausgriff als auch die Neuregelungdes Verhältnisses von Staat, Bevölkerung und Territorium, die ab dem 19. Jahrhundertzur flächendeckenden Etablierung des Nationalstaats führen sollten, der mittlerweileals nahezu alternativlose Organisationsform von Gesellschaften erscheint, obwohl die

48 Grundlegende Theoretisierungen

Fiktion einer homogenen, dauerhaft ansässigen und durch keine wesentlichen Ab- undZuwanderungen geprägten demographischen Basis zunehmend unhaltbar ist. Die fürGesellschaften westlicher Prägung konstitutiven Elemente, die Trias Theologie, Politikund Pädagogik, haben sich in ihren Bedeutungsgehalten und ihren Manifestationen,aber auch in ihrer Konstellation und der Dynamik ihrer Relationen im Laufe der Zeitstark verändert. So wurde der theologische Bezug der Fremd- und Selbstführung imZuge der Aufklärung imZeitalter des aufstrebenden Bürgertums sowohl ideen- als auchrealgeschichtlich zunehmend säkular gewendet, ist aber keinesfalls verschwunden. ImGegenteil: Pastorale Techniken der ›sanften Führung‹ sind zentraler Bestandteil aktu-eller Subjektivierungsformen. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist also das Zu-sammenspiel von Gouvernementalität, Governance und Regime von großem Interesse,weil nur so die Frage nach den Beziehungen von System- und Organisationssteuerungeinerseits und den Formen der Subjektvierung andererseits in hinreichend komplexerWeise adressiert werden kann.

Governance – nationale und transnationale Dimensionen

Das Problematisieren der Gleichsetzung von Politischer Regierung mit Staat ge-schieht im deutschsprachigen Raum unter der politikwissenschaftlichen Perspek-tive des (global) Governance-Ansatzes und ist verbunden mit Namen wie RenateMayntz und Fritz Scharpf, aber auch Michael Zürn, Andreas Hasenclever oder Hel-mut Willke. Dabei befasst sich Renate Mayntz vor allem mit den staatlichen Verän-derungen innerhalb von Gesellschaften, mit dem Abtreten staatlicher Kompetenzenan nicht-staatliche Akteure, die mit neuen Steuerungsformen und neuen Steuerungs-instrumenten, in neuen Akteurskonstellationen und neuen kollektiven Problemlö-sestrategien agieren und deren Interaktionen kurz gefasst eher als netzwerkförmigorganisiert denn hierarchisch strukturiert beschrieben werden, wie etwa in folgenderDefinition verdeutlicht:

»das Gesamt aller nebeneinander bestehender Formen kollektiver Regelung ge-sellschaftlicher Sachverhalte: von der institutionalisierten zivil-gesellschaftlichenSelbstregelung über verschiedene Foren des Zusammenwirkens staatlicher undprivater Akteure bis hin zum hoheitlichen Handeln staatlicher Akteure.« (Mayntz2004, S. 66)

Mayntz spricht hier die zentralen Komponenten dieser analytischen Perspektive an:die Bedeutung der Akteure und die aus ihren Interaktionen resultierenden komple-xen Vernetzungs- und Interdependenzmuster. Wie die verschiedenen Akteure mitei-nander interagieren, hängt wiederum damit zusammen, in welchen institutionellenRahmen sie eingebettet sind. Akteure, im Sinne der Governance-Perspektive, orien-tieren ihre Handlungen an den Organisationen, deren Mitglieder sie sind. Deshalbsind die Formen ihrer Interaktionen und die Mechanismen ihrer Handlungsmodi

49(Bildungs-)Regime

nicht beliebig, sondern folgen institutionalisierten Vorgaben (Benz 2006; Lange/Schimank 2004; Schimank 2007). Der Unterschied zwischen der Betrachtungsweisevon Renate Mayntz und Kollegen einerseits und Vertretern des global Governance-Ansatzes andererseits liegt darin, dass Wissenschaftler wie Helmut Willke, die einesoziologische Betrachtungsweise in die Analyse von politischen Prozessen einbrin-gen, die Luhmann’sche Differenzierungstheorie zur Analyse von globalen Gover-nance-Prozessen und globalen Strukturbildungen von Governance nutzen und dabeieinen weltsystemtheoretischen Zugang veranschlagen. Je nach Perspektive (innerge-sellschaftlich oder weltgesellschaftlich) verändert sich die ›Skalierung‹ der zu unter-suchenden Prozesse. Die inter- oder transnationale Ebene wird entweder systema-tisch einbezogen oder eher nicht.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Governance-Perspektive unter-sucht, wie sich gesellschaftliche Regelungs- und Regierungsaufgaben, die vormalsstaatlich bestimmt waren, verändern; wer mit welchen Formen und mit welchenMit-teln, in welchen Konstellationen zu welchen Zwecken und mit welchen InteressenEinfluss nimmt und wie sich die Gestaltungs- und Steuerungsprozesse vollziehen.Es liegt in der Natur des Gegenstands, dass sich – wie bereits angedeutet – politik-wissenschaftliche, soziologische und ökonomische Perspektiven treffen und auf dieUntersuchung konkreter Fragen angewendet werden, um die komplexen Koordina-tions- und Abstimmungsprozeduren zu erforschen. Dabei zeigt sich, dass das hierin Rede stehende Geschehen nicht länger klassisch im Sinne eines hierarchischenTop-down-Prozesses geradlinigerMachtverhältnisse und rechtlicher Regelungen undWeisungsbefugnisse zu verstehen, sondern eher als Netzwerk oder – um mit einerDenkfigur Gilles Deleuzes zu sprechen – ›rhizomatischer‹ Prozess aufzufassen ist. Dieso entstehenden Strukturen oder Figurationen sind gleichzeitig auch flüchtiger, weildie Akteure nicht dauerhaft kooperieren müssen, sondern dies u.U. nur mit Blickauf ein jeweils zu lösendes Problem tun oder weil sich die Akteurskonstellationenund ihre Kooperationsmodi verändern. Neben der Beforschung von Akteuren undHandlungslogiken, -formen und -instrumenten sind, das sollte die Unterscheidungzwischen einer weltsystemischen und einer eher auf die Grenzen des Nationalstaatsbezogenen Forschung zeigen, auch die Ebenen der Interaktionen von Interesse. DieMehrebenen-Perspektive oder Mehrebenen-Analyse, die eng mit der Governance-Forschung und, da beide einen engen Zusammenhang bilden, auch mit der Regime-Forschung assoziiert ist, bezieht sich darauf, dass moderne politische Prozesse nichtallein auf einer Ebene, zentral oder föderal, untersucht werden können, sondern inkomplexen Wechselbeziehungen stehen zu anderen Analyseeinheiten, die entwe-der ›oberhalb‹ oder ›unterhalb‹ der als Standard und politisch maßgeblich gesetztenEbene, in der Regel nationale Gesellschaften, betrachtet werdenmüssen. Dabei durch-dringen sich die Ebenen vielfach wechselseitig. Welche Skalierung aber veranschlagtwird, hängt entscheidend davon ab, ob die Betrachtung des Nationalstaats als zentraleEntscheidungsebene imMittelpunkt steht oder nicht; oder, in anderenWorten, ob dieneuen Ordnungsbildungen innerhalb nationalstaatlich verfasster gesellschaftlicherGrenzen oder außerhalb derselben verortet sind. Dies ist der wesentliche Unterschied

50 Grundlegende Theoretisierungen

zwischen einer Governance-Perspektive, die Ordnungsbildung innerhalb etabliertergesellschaftlicher Grenzen veranschlagt, und einer Governance-Perspektive, die ehervon weltgesellschaftlichen Prozessen ausgeht.

Zwei theoretische Varianten von ›Regime‹

In diesemAbschnitt sollen die beiden erwähnten Varianten der Regime-Theorien vordem Hintergrund der Darstellung von (global) Governance näher dargelegt werden.Die Regime-Theorie im Sinne des Sprachgebrauchs in den Internationalen Beziehun-gen ist vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen eher mit der global Gover-nance-Perspektive kompatibel und bezeichnet Regime in der mittlerweile klassischenDefinition von Stephen Krasner:

»implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making proceduresaround which actors’ expectations converge in a given area of international rela-tions. Principles are beliefs of fact, causation, and rectitude. Norms are standardsof behavior defined in terms of rights and obligations. Rules are specific prescrip-tions and proscriptions for action. Decision-making procedures are prevailingpractices for making and implementing collective choice.« (Krasner 1983, S. 2)

Der Begriff der Internationalen Institution wird in »übergeordneter Bedeutung ge-nutzt und umfasst […] Konventionen, Internationale Organisationen, Regimes undNetzwerke« (Parreira do Amaral 2011 S. 96). Die Gemeinsamkeit dieser Institutio-nen liegt darin, »dass sie aus einem Set von Normen und Prinzipien bestehen, die alsHandlungsorientierung in bestimmten Situationen der internationalen Beziehungendienen« (ebd.). Traditionell sind dies Fragen, die den globalen Klimawandel, also dieUmweltpolitik oder den Umgang mit Kernwaffen, betreffen. Mit Blick auf den letzt-genannten Fall wäre der Kernwaffensperrvertrag Beispiel für ein internationales po-litisches Regime.

Aufgrund der großen Gemeinsamkeiten zwischen Governance- und Regime-For-schung ist in der Literatur auch von Governance-Regimen die Rede (Kehm-Lanzen-dorf 2005; Parreira do Amaral 2011, S. 94 f.).

Für die Regime-Theorie im Bereich der Internationalen Beziehungen ist zudembedeutsam, dass diese systematisch und sehr prominent die Rolle der Internationa-len Organisationen berücksichtigt und sich vor allem auf die Klärung solcher Fragenbezieht, die nicht aus nationaler Sicht alleine beantwortet werden können. Daher istes, unabhängig von dem hier zur Diskussion stehenden speziellen Fall der Bildungs-regime, unabdingbar, darauf zu verweisen, dass die inter-, supra- oder transnationaleEbene zunehmend an Bedeutung gewinnt (zu dieser Unterscheidung vgl. Parreia doAmaral 2011, S. 63–73).

Die andere Traditionslinie von Regime bezieht sich auf die Vergleichende Wohl-fahrtsstaatsforschung und geht auf den dänischen Politikwissenschaftler Esping An-

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dersen zurück, der zwischen drei klassischen Wohlfahrtsstaatstypen, die ebenfalls alsRegime bezeichnet werden, unterschied: dem liberalen, dem konservativ-korporatis-tischen und dem demokratischen, die in einer Graphik der Bundeszentrale für politi-sche Bildung (2009) wie folgt dargestellt wurden.

LiberalerWohlfahrtsstaat

- Ermunterung privater Wohlfahrt- Limitierte Sozialleistungen für Niedriglohngruppen- Strenge Anspruchsvoraussetzungen

Konservativ-korporatistischerWohlfahrtsstaat

- Erhaltung von Status- und Gruppenunterschieden- Erhaltung traditioneller Familienstrukturen- Untergeordnete Rolle von Betriebs- und Privat-

leistungen

SozialdemokratischerWohlfahrtsstaat

- Universale Leistungen- »Gleichheit höchsten Standards statt Gleichheit der

Minimalbedürfnisse«- Identische Rechte für Arbeiter, Angestellte und Beamte

Quelle: Bolkovac, Martin (2007): Sozialpolitik im internationalen Vergleich; http://www.voegb.at/bildungsangebote/skripten/sr/SR-02.pdfLizenz: Creative Commons by-nc-nd/2.0/deBundeszentrale für politische Bildung, 2009, www.bpb.de

Abb. 1: Typen des Wohlfahrtsstaates

Auf der Grundlage von und inWeiterentwicklung des EspingAndersen’schenModellswird auch darüber nachgedacht, wie sich ost- oder südeuropäische Wohlfahrtsstaats-systeme charakterisieren lassen, die sich dem Original-Schema nicht fügen. Zudemliegt es nahe, diese Heuristik auch auf ›Migration‹ anzuwenden und danach zu fragen,wie offen oder restriktiv Länder mit Zuwanderung umgehen, welche Rechte sie denZugewanderten gewähren und wie diese mit den nationalen Identitätskonstruktionenzusammenhängen. Von hier aus lässt sich sehr leicht die Brücke schlagen zu PaulMecherils (2003) bekannter Begriffsprägung des »natio-ethno-kulturellen« Zusam-menhangs.

Die beiden ›Welten‹ der Bildungsregimeforschung – InternationalVergleichende Bildungsforschung und Internationale Bildungspolitik

Festzuhalten ist, dass es bei ›Bildungsregimen‹ in der Perspektive der InternationalenBeziehungen um Fragen der Ordnungsbildung, um politische Gestaltung in Zeitengeht, in welchen der Nationalstaat nicht mehr die allein maßgebliche Ebene der Re-gulierung bildet, mithin auch inter-, supra- oder transnational agierende Akteure indie Betrachtung einbezogen werden müssen. Aus der Perspektive der VergleichendenWohlfahrtsstaatsforschung betrachtet, geht es darum, zu fragen, ob sich eine ähnlicheSystematikwie die derWohlfahrtsstaatsregime auch für die Bildungssysteme feststellen

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lässt. Der Unterschied zwischen beiden Perspektiven liegt also auch für ›Bildung‹maß-geblich darin, ob der Nationalstaat als wesentliche Bezugseinheit gesehen wird, ob dieRegime aus der jeweiligen Logik der gesellschaftlichen Traditionen betrachtet werdenoder ob sie eher aus neuen Ordnungsbildungsprozessen erklärt werden, welche nichtallein in nationalstaatlich souveränemHandeln begründet sind. Folglich lässt sich vonhier aus auch leicht die Brücke schlagen zu politikwissenschaftlichen Debatten um»Postdemokratie« (Crouch 2008) oder der »Postnationalen Konstellation« (Habermas1998). Für den Bildungsbereich ist diese Perspektive in der Tat ungewöhnlich, weil dieGestaltung öffentlicher Bildung in Form von staatlichen Schulsystemen lange Zeit alsKernstück nationalstaatlichen Handelns, als wesentlicher Bestandteil nationaler Infra-strukturpolitik gesehen wurde und daher ausschließlich hier verankert war – ungeach-tet der Frage, ob es sich um zentralistische oder föderale Systeme handelte.

Zwischenstück – die ›Bildung‹ der Bildungssysteme und ihrer Regime

›Bildung‹, daran sei kurz erinnert, ist ein äußerst schillernder Begriff, der agonaleBedeutungen in sich vereint. Sowohl in der individuellen, auf das Subjekt, als auchin der institutionalisierten, auf Organisation bezogenen Bedeutung, hat ›Bildung‹eine Spannung inne zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Affirmationund Kritik; Bildung als kontinuierlicher Prozess ebenso wie als Transformation (Kol-ler 2011; Heydorn 1970). Diese Reibungen sind keine zu beseitigende Störfaktoren,sondern der Dynamik moderner Gesellschaften eingeschrieben. Je mehr die (Selbst-)Reflexionsprozesse avancierter Gesellschaften zunehmen, desto evidenter sind dieWidersprüche. So fällt auf, dass Bildungsungleichheit inzwischen Dauerthema ist,das, wenn es angesichts der bestehenden Bedingungen schon nicht gelöst, so dochpermanent prozessiert werden muss. Es ist nun aber nicht zu bestreiten, dass die ago-nalen Beziehungen von ›Bildung‹ und Bildungssystemen (Einpassung des Individu-ums in bestehende Verhältnisse und kritisches Verhalten zu denselben; Fortbestandder Gesellschaft bei gleichzeitigen Zugeständnissen an die institutionalisierten Not-wendigkeiten des Neuen und der Kritik) sowie die Spannung zwischen einer natio-nalen (traditionell auf Mitgliedschaft in einem gesellschaftlichen Kollektiv zielende)und einer inter- oder transnationalen (eher auf gesellschaftlich de-kontextualisiertenkompetenzbasierten Mitgliedschaftskonstitution ausgerichtete) Gestaltung bislang inder Regime-Forschung noch nicht hinlänglich Berücksichtigung fanden. Insbeson-dere das Verhältnis zwischen Schule als konstitutivem Element der spezifisch natio-nalen Zugehörigkeits- undMitgliedschaftskonstruktionen (Mecheril 2004; 2013) undals gleichzeitigem Teil einer internationalen Dynamik ist in seiner eigentümlichenSpannung bislang wenig systematisch berücksichtigt.

Um dies noch etwas genauer auszuführen: Bildung als Bildungssystem hat ebensoAnteil an der Regulierung der Bevölkerung wie andere national- bzw. wohlfahrts-staatlichen Systeme. Analog zu Esping-Andersens (1999) Unterscheidung von wohl-fahrtsstaatlichen Systemen lässt sich also davon sprechen, dass auch Bildungssysteme

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auf unterschiedliche Regime verweisen, die wiederum mit den besonderen gesell-schaftlichen Bedingungen in Zusammenhang stehen, mit deren jeweiligen Traditio-nen und ›Pfadabhängigkeiten‹. Für die weiteren Überlegungen ist also festzuhalten:Der klassische Ausdruck dieses Regierungs- und Regulierungsverhältnisses in derHochmoderne ist der Staat mit ›seinem‹, i. e. einem öffentlichen, staatlich kontrollier-ten, organisierten und finanzierten Bildungssystem und den zugehörigen Organisati-onen, den Schulen und Hochschulen, die gestuft und nach Schularten unterschiedendas Bildungssystem ausmachen. In dieser klassischen Form lässt sich mit Blick auf dieBildungssysteme der verschiedenen Länder durchaus von Bildungsregimen sprechen,weil eine historisch und international vergleichende Betrachtung zeigen kann, dasssich die Stufungen, internen Differenzierungen, die Bedingungen der schulischenProgression durchaus unterscheiden. Andererseits ist aber zunehmend von einemInternationalen Bildungsregime (verkürzt als PISA-Regime bezeichnet) die Rede.Dieses kann seine Wirkung nur aufgrund von Dekontextualisierung entfalten unddissoziiert Kompetenzen von Inhalten. Diese Unterschiede sind allerdings als vorder-gründig anzusehen, da sie die enge Verklammerung der Ebenen nicht in den Blicknehmen und verkennen, dass die Kompetenzmodellierungen nicht per se der inter-nationalen Ebene zuzurechnen sind.

Bildungsregime – ihre nationale und internationale Einbettung

Das neo-institutionalistische Konzept einer ›world polity‹ oder Weltkultur verweistdarauf, dass die Organisation von Bildung in der modernen Form als öffentlicheSchule weltweit verbreitet ist und in zentralen Merkmalen übereinstimmt (Meyer/Ramirez 2003). Hierzu zählen geregelte Formen der Lehrerbildung, bestimmte Proze-duren bei der Entwicklung von Curricula und Lehrmaterialien, die Etablierung einesverbindlichen staatlich beaufsichtigten Noten- und Zeugnissystems, die Unterschei-dung und Stufung von Schulformen, die Definition der Bedingungen für Versetzungund Wiederholung usw. Dieser universalen Kennzeichen ungeachtet unterscheidensich Bildungssysteme jedoch gravierend voneinander. Die Spezifik ihrer Institutio-nalisierung hängt ab von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und vom jeweiligenBegründungszusammenhang, von der Rationalisierung der jeweiligen Praxis. Um derBedeutung von Diskursen bei der Prägung von Institutionen Rechnung zu tragen, hatVivien Schmidt den Begriff des Discursive Institutionalism (2008) geprägt.

Justin Powell (2009) hat das komplexe Gefüge aus Semantiken und Praktiken fürden Bereich Förderschule sehr klar dargelegt und unterscheidet zwischen segregie-renden, separierenden und integrativen Systemen. Das deutsche Förderschulwesenentspricht dem klassischen segregierten Typus. Schülerinnen und Schüler werden un-terschieden als für die Regelschule geeignet oder als nicht für die Regelschule geeignetund, sollten sie als nicht geeignet diagnostiziert worden sein, je nach Beeinträchti-gung dann einem bestimmten Typus von Förderschule überstellt. Nicht an allen För-derschulen lässt sich ein qualifizierter Schulabschluss erwerben, und das System ist so

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ausdifferenziert, dass sich in der Tat von einem Parallelsystem zur Regelschule spre-chen lässt. Schüler und Schülerinnen, welche Förderschulen besuchten, wurden, auchdas ist aufschlussreich, in den PISA-Studien nicht mitberücksichtigt. SeparierendeSysteme sind solche, in welchen Kinder mit Beeinträchtigungen zwar im gleichenGebäude unterrichtet werden wie die ›Regelschulkinder‹, aber in eigenen Klassen; in-tegrierte Systeme schließlich sind solche, die keine Formen der Besonderung kennen.Die Frage, ob und welche Form der besonderen Beschulung etabliert wird, steht ineinem komplexenWechselverhältnis zu den Rationalisierungen als den die Praktikenbegleitenden legitimierenden Semantiken. Im Falle des deutschen Bildungssystemsspielt der Begabungsbegriff eine zentrale Rolle. Er wird traditionell zur Legitimie-rung der Allokationen von Schülerinnen und Schülern zu bestimmten Schulformengenutzt (zur Theorie der Schule, Fend 2006). Die Narrationen, die sich um den Be-gabungsbegriff angelagert haben, sind sehr wirkmächtig und kritikresistent. So wirdder frühe Entscheidungszeitpunkt zwar häufig beklagt, nicht aber die Zuweisung ansich. Die aktuellen Diskussionen um ›Inklusion‹ zeigen nun, dass es sich hierbei umein das deutsche Bildungssystem besonders herausforderndes Konzept handelt, dasdie Logik des deutschen Bildungsregimes irritiert. Ob überhaupt und wenn ja, wie essich angesichts der internationalen Vorgaben verändert, ist eine noch offene Frage. Injedem Falle ist mit diesem Beispiel die These Marcelo Parreira do Amarals angespro-chen, dass hier ein Bildungsregime im Entstehen begriffen sei, dass sich aus der fes-ten Einbettung in den nationalen Kontext löst. Er spricht in diesem Zusammenhangvon einer Dynamik, die »aus der Emergenz neuer bildungspolitischer Akteure, ausinstitutionalisierten Prinzipien und Normen sowie neuer sozialer Kontexte resultiert.«(Parreira do Amaral 2011, S. 196, Hervorhebung im Original).

UmMissverständnissen entgegenzuwirken: Die Tatsache, dass auch die internati-onale Dimension, sei es in Form von Internationalen Organisationen, sei es in Formvon wechselseitiger Beobachtung (national)staatlicher Praktiken und Programme,bei der Gestaltung der Bildungspolitik eine Rolle spielt, ist nicht neu. Die Etablie-rung nationalstaatlicher Bildungssysteme geschah vielmehr vor dem Hintergrundintensiver gegenseitiger Beobachtung. Von Anfang an interessierte man sich für diePraktiken ›woanders‹, um sich so Anregungen für die Verbesserung der eigenen zuholen. Beispiele hierfür sind der Pestalozzianismus, der Herbartianismus, die Päda-gogiken Maria Montessoris oder John Deweys, um nur einige zu nennen. Auch derEinfluss internationaler Organisationen ist nicht neu. Als frühes Beispiel sei hier nurgenannt die von der OECD – auch als Reaktion auf den Sputnik Schock – propagierteHumankapitalentwicklung in Form von größerer Bildungsbeteiligung. Diese bildeteden Hintergrund für das berühmteWort von Georg Picht: »die Deutsche Bildungska-tastrophe« (1964), auch wenn dieser Hintergrund im Kontext der Diskussionen zurBildungsreform der sechziger und siebziger Jahre selten gewürdigt wird. Seit dieserZeit, der Konsolidierung des ausdifferenzierten Bildungssystems der Nachkriegszeit,zirkulierten international auch verstärkt bildungspolitische Programme, so beispiels-weise die Kompensatorische Erziehung zur Milderung negativer Effekte sozialerHerkunft, die in die jeweiligen nationalen Systeme eingepasst wurden. Mitimportiert