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BerWissGesch 3, 7-22 (1980) Gerhard Baader Berichte zur WISSENSCHAFfS- GESCHICHTE (, Akademische Ycrlagsgcscllschaft 1980 Handschrift und Frühdruck als überlieferungsinstrurnente der Wissenschaften * Summary: Manuscripts and early prints are the two most important instruments of tradi- tion of knowledge in the Middle Ages and in the beginning of modern times. Their history is connected with the history of learning, onwards from antiquity. The fact that neither in antiquity nor in the early Middle Ages medicine had been strictly apart of the liberal arts is reflected by the bad situation of manuscript tradition of medical texts during this period. Up from the beginning of university studies in the end of the 11th century this situation had completely been changed. The new composite manuscripts of the uni- versities reflect the new curricula of the universities, also in medicine. The first prints from the 15th century onwards mostly continue th:is manuscript tradition ofknowledge of the universities. Only new literary fonns, as for instance parnphlets, show new methods of tradition and especially of popularizing of knowledge beyond the universities. Schlüsselwörter: artes liberales, Cassiodor, frühmittelalterliche medizinische Überliefe- rungscorpora, Curricula der Universitäten, Articella, Galenüberlieferung im Mittelalter, zusammengesetzte Handschrift, Pestschriften, Syphilisschriften, Flugschriften. Mittel zur Weitergabe von Informationen, abgekürzt Medien genannt, sind uns heute als Instrumente der Wissensvennittlung selbstverständlich. Mehr noch: sie bestimmen ein- zelne Bereiche der Kommunikation so entscheidend, daß man in der Erziehungswissen- schaft von einer Medienpädagogik, allenthalben von den Massenmedien und ihrer Wir- kungsweise spricht. Eine gesellschaftsbezogene Medienanalyse, eine Medientheorie, die die Manipulierbarkeit durch die Massenmedien hinterfragt, und Anweisungen fur eine emanzipatorische Medienhandhabung haben eine Fülle von Literatur in der Mediendidak- tik enstehen lassen. Zeitung, Illustrierte, Film, Fernsehen und Werbung, also die sogenann- ten Massenmedien, stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. Mit anderen Trägern von Wissensinhalten beschäftigt sich auch die Medienkunde oft nur arn Rande, wenn nicht sogar Medienkritik allein zum entscheidenden Auswalllkriterium für die durch sie behan-

Handschrift und Frühdruck als Überlieferungsinstrumente der Wissenschaften

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Page 1: Handschrift und Frühdruck als Überlieferungsinstrumente der Wissenschaften

BerWissGesch 3, 7-22 (1980)

Gerhard Baader

Berichte zur WISSENSCHAFfS­GESCHICHTE (, Akademische Ycrlagsgcscllschaft 1980

Handschrift und Frühdruck als überlieferungsinstrurnente der Wissenschaften *

Summary: Manuscripts and early prints are the two most important instruments of tradi­tion of knowledge in the Middle Ages and in the beginning of modern times. Their history is connected with the history of learning, onwards from antiquity. The fact that neither in antiquity nor in the early Middle Ages medicine had been strictly apart of the liberal arts is reflected by the bad situation of manuscript tradition of medical texts during this period. Up from the beginning of university studies in the end of the 11th century this situation had completely been changed. The new composite manuscripts of the uni­versities reflect the new curricula of the universities, also in medicine. The first prints from the 15th century onwards mostly continue th:is manuscript tradition ofknowledge of the universities. Only new literary fonns, as for instance parnphlets, show new methods of tradition and especially of popularizing of knowledge beyond the universities.

Schlüsselwörter: artes liberales, Cassiodor, frühmittelalterliche medizinische Überliefe­rungscorpora, Curricula der Universitäten, Articella, Galenüberlieferung im Mittelalter, zusammengesetzte Handschrift, Pestschriften, Syphilisschriften, Flugschriften.

Mittel zur Weitergabe von Informationen, abgekürzt Medien genannt, sind uns heute als Instrumente der Wissensvennittlung selbstverständlich. Mehr noch: sie bestimmen ein­zelne Bereiche der Kommunikation so entscheidend, daß man in der Erziehungswissen­schaft von einer Medienpädagogik, allenthalben von den Massenmedien und ihrer Wir­kungsweise spricht. Eine gesellschaftsbezogene Medienanalyse, eine Medientheorie, die die Manipulierbarkeit durch die Massenmedien hinterfragt, und Anweisungen fur eine emanzipatorische Medienhandhabung haben eine Fülle von Literatur in der Mediendidak­tik enstehen lassen. Zeitung, Illustrierte, Film, Fernsehen und Werbung, also die sogenann­ten Massenmedien, stehen hier im Mittelpunkt des Interesses. Mit anderen Trägern von Wissensinhalten beschäftigt sich auch die Medienkunde oft nur arn Rande, wenn nicht sogar Medienkritik allein zum entscheidenden Auswalllkriterium für die durch sie behan-

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delten Gegenstände wird; auch wenn Medien vor allem als Träger von Wissensinhalten ge­faßt werden, bleiben die ältesten Medienträger von ihnen, nämlich die Handschrift und das Buch, am Rande des Interesses. Und doch muß eine Medienkunde, die vor allem auf die wissenschaftliche Kommunikation hin orientiert ist, und besonders wenn sie wissen­schaftshistorische Aspekte im Auge hat, von der Erforschung der Funktion und der Rolle von Handschrift und Buch bei der Vermittlung von Wissensinhalten ihren Ausgang nehmen.

Sieht man von den Tontafeln des alten Zweistromlandes ab wie auch von den Wachs­und Holztafeln, die eher flir kurzlebige Aufzeichnungen in der Antike benutzt wurden, so wird flir den europäischen Kulturkreis Buchrolle und Codex die verbindliche Form der Wissensvermittlung. Die Buchrolle aus Papyrus, die seit dem 4. bis 3. Jahrtausend in Ägypten bildlich bezeugt ist, wird im Laufe des 4. Jahrhunderts nach Christus durch den aus der Wachs- und Holztafel hervorgegangenen Codex ersetzt; Papyrus als Beschreib­stoff wird in ihm durch das Pergament verdrängt 1. Ansonsten ist die Entwicklung im byzantinischen Raum und im Abendland verschiedenartig verlaufen, sowohl was Stellen­wert und Entwicklung der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als auch was die Geschichte der Handschrift als Träger ihrer Inhalte betrifft. In der griechischen Welt waren die Wissensinhalte der Einzeldisziplinen, trotz aller Trennung in die Fächer der späteren artes liberales und die ßavavaa:L rexvm, stets flireinander offen; die späte Vorstellung eines Kreises von Wissenschaften, in den auch die Medizin einbezogen ist, war nie so eng auf Trivium und Quadrivium wie weitgehend im Abendland beschränkt2•

Die Tätigkeit der alexandrinischen Gelehrten vom 3. Jal1rhundert vor Christus an bedeu­tete darüberhinaus strenge Kontrolle der Texte aller dort gepflegten Disziplinen und -wie zum Beispiel beim Corpus Hippocraticum - Herstellung eines verbindlichen Kanons von Schriften im 2. Jahrhundert nach Christus durch Artemidoros Kapiton, auf den alle uns erhaltenen Handschriften des Corpus zurückgehen 3• Nicht anders erging es Galen. Die Synopse von 16 seiner Schriften wurde im 6. Jaluhundert in Alexandria, wenn nicht auf alexandrinischer Grundlage gar erst in Bagdad zu einem festen Lehr- und überliefe­rungskanon4. In Alexandria und im byzantinischen Raum geht darüberhinaus mit einer solchen Entwicklung die Schaffung von Enzyklopädien, Kompendien und Epitomai5 ein­her. Wenn man auch bei diesen Synopsen und Kommentaren oft von Eintönigkeit und farblosem Schematismus sprechen kann 6, so sorgte diese stete Beschäftigung mit den Tex­ten auch weiterhin fur eine streng geregelte und kontrollierte handschriftliche überliefe­rung dieser Wissensinhalte; dies betraf die gesamten Wissenschaften, von der Logik bis hin zu den augewandten Wissenschaften.

Diese Kontinuität der handschriftlichen Tradition, im byzantinischen nicht anders als im arabischen Bereich, wird in Byzanz durch die Umschrift der Handschriften aus der Unciale in die Minuskel im 9. Jahrhundert, den sogenannten wmxa:pa:KTT/PWJJ.6c;, nur noch verstärke. Erst die Einnahme Konstantinopels durch die Türken am 29. Mai 1543 änderte diese insgesamt günstige Situation der direkten Kontinuität der griechischen Wissenschaft in Byzanz, wenn sie auch um den Preis der Erstarrung der selbständigen wis­senschaftlichen Entwicklung erkauft worden war. Der Verlust vieler früh- und hochmittel­alterlicher Pergamenthandschriften fuhrt dazu, daß zum Beispiel heute von den meisten Werken Galens die Handschriften der griechischen Originale aus der Zeit vom 15. Jahr­hundert anstammen; diese humanistischen Papierhandschriften sind zu einem nicht gerin­gen Teil in Italien kopiert. Nicht wenige WErke Galens sind nur in solchen Handschriften erhalten, so daß die arabische Überlieferung gerade bei Galen durch die philologische Tätig-

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keit Hurrains ibn Is!Jäq und seiner Schule einen nicht zu vernachlässigenden Träger der handschriftlichen Tradition darstellt. Trotzdem garantiert die direkte Kontinuität der handschriftlichen Überlieferung auch fur die Tradition der Wissensinhalte von Medizin und Naturwissenschaften von Alexandria über Konstantinopel zu den Humanisten eine fur die wissenschaftliche Revolution in der frühen Neuzeit unentbehrliche Grundlage.

Die Entwicklung der Wissenschaften im Abendland ist andersartig geprägt; zwar steht auch Rom im Bann der griechischen Wissenschaft und der gemeinsam mit ihnen gebilde­ten Tex:vat, doch hat sich in der westlichen Reichshälfte die Trennung in artes liberales und angewandte Fertigkeiten negativ ausgewirkt. So stehen die Fächer des Quadriviums Fertigkeiten wie der Architektur, der Medizin, der Landwirtschaft und der Kriegskunst gegenüber. Den Versuchen bei Varro und Celsus Teile von ilmen oder sie ganz in die Fächer der E'YK.lkA.wc; 1Tat8eäx einzubeziehen, steht die klare Beschränkung auf die artes liberales noch bei Martianus Capella gegenüber8. Das bedeutet fur die praktisch orientierten Disziplinen das Entstehen einer Fachliteratur, deren Sprache oft zwischen fachlich und vulgär schwankt9 und die nicht in den Kernbereich römisch-antiker Schul­bildung eingegangen ist. Grammatikerkontrolle einer inhaltlich und schulisch abgesicher­ten handschriftlichen Tradition als Träger von Wissensinhalten wie in Alexandria ist hier in Rom außerhalb der artes liberales nicht zu finden.

Für die Medizin hat diese Situation die schwerwiegendsten Konsequenzen: Soweit sie nicht als griechisch-wissenschaftliche Medizin, vorwiegend von Griechen ausgeübt und durch griechisch abgefaßte Werke repräsentiert, im Gefolge der griechischen Philosophie von der Mitte des 1. Jahrhunderts vor Christus an ihren Standort in den vornehmen Krei­sen Roms finden konnte, galt sie als eine Texv11, die unter den freien Römern meist nur von Handwerkern aus den untersten sozialen Schichten ausgeübt wurde; so stark wirkte sich die Tatsache aus, daß griechische Sklaven, später Peregrine und Freigelassene mit dieser Medizin verbunden wurden 10. So sieht das Bild der Medizin, wie es uns in der west­lichen Reichshälfte in Werken lateinischer Sprache vom 5. Jaluhundert nach Christus ent­gegentritt, anders aus als in Alexandria: nicht, wie zum Beispiel bei der Synopse der 16 Werke Galens, Handschriften als Überlieferungsträger unter strenger Kontrolle, sondern nach dem olme größere Nachwirkung gebliebenen Versuch der Schaffung einer mit den artes vergleichbaren medizinischen Literatur im 5. Jahrhundert ein vulgärlateinisches medizinisches Schrifttum niederen Niveaus, in das zunehmend Volksmedizinisches ein­geht. Im besten Fall übersetzten im Exarchat von Ravenna und seinem Umkreis im 6. Jahrhundert des Griechischen ungenügend mächtige Ärzte fur ihre des Griechischen un­kundigen Kollegen nicht die besten Werke der griechischen Medizin, sondern byzanti­nische Kompendien, Kommentare und Bearbeitungen der griechischen wissenschaftlichen Medizin vom 5. Jahrhundert vor Christus bis zum 2. Jaluhundert nach Christus in ein vulgäres Latein. Schule oder Grammatikerkontrolle als Vorbedingung für einen geord­neten Unterricht und die handschriftliche Überlieferung der ihm zugrundegelegten Texte sind im Gegensatz zu den Fächern der artes der Medizin fremd 11.

Als Gegenbeispiel aus dem Bereich der artes mag Boethius dienen. Seine Bedeutung ist mit der Kennzeiclmung eines neuplatonisch gefarbten Christentums nur unzureichend gekennzeichnet 12• Denn sein wichtigster Beitrag zum Weiterleben antiker Kultur im Mittelalter liegt in der Rezeption des aristotelischen Organon und seiner Bearbeitung durch Porphyrios, Themistios, Simplikios, Ammonios und Theophrast ebenso wie der Fächer des Quadriviums, wie sie von Nikomachos von Gerasa, Ptolemaios, Buklid und Porphyrios behandelt worden waren. Diese Werke werden zu einer der wichtigsten Grund-

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lagen der Wissenschaft des Mittelalters überhaupt; fur das frühe Mittelalter waren sie fast die einzige Quelle flir die Kenntnis platonischer und aristotelischer Philosophie, ja da­rüberllinaus waren sie eine christlich orientierte Zusanunenfassung antiken Denkens. Ihren festen Platz im mittelalterlichen Bildungssystem zeigen nicht nur eine reiche handschrift­liche Überlieferung und Einträge bereits in nlittelalterlichen Bibliothekskatalogen, son­dem auch noch ihr Vorkonunen in der Biblionomia des Richard de Fournival aus dem 13. J allfhundert, also zu einer Zeit, als bereits der arabisierte und zum Teil auch der aus den griechischen Originalen übersetzte Aristoteles zugänglich geworden war. Die Schule hat ftir das Weiterleben dieser Schriften des Boetllius und nicht der Werke des Marius Victorinus zum selben Sujet gesorgt. Diese Schriften des Boetllius stehen das erste Mal in einem durch die interpolierte Fassung von Cassiodors Institutiones flir Vivarium bezeug­ten Codex, jedoch noch neben denen des Marius Victorinus und Ciceros Topik 13

Diese Institutiones des Cassiodor werden überhaupt zum Schlüssel ftir die Rolle der Handschriften als Überlieferungsträger im Abendland. Cassiodor, der ehemalige Kanzler Theoderichs, verfaßte diese Schrift ftir die geistliche und weltliche Bildung der Mönche in dem von ihm 555 gegründeten Kloster Vivarium. In zwei Büchern, den Institutiones divi­narum litterarum und den Institutiones saecularum litterarum, entwirft er einen Leseplan. Was an Handschriften auf diese Weise in die Bibliothek von Vivarium eingegangen war, hatte die Aussicht, die dunklen J allfhunderte besonders das 8. -- zu überleben. Pierre Courcelle hat 1948 diese Bibliothek wenigstens teilweise zu rekonstruieren vermocht, be­sonders im Bereich der Bibelüberlieferung - hier sei nur an Cassiodors Codex grandior erinnert -, der Bibelexegese, der Kirchengescllichte und der Theologie. Im Bereich der säkularen Wissenschaften hat Cassiodor neben dem Trivium die Pllilosophie zum Über­begriff gemacht 14, eingeteilt in Theorie und Praxis. Die theoretische Philosophia inspec­tiva gliedert sich bei il1m wieder in die Philosophia naturalis, doctrinalis und divina, die Philosophia actualis in Philosophia moralis, dispensativa die Ökonomie und civilis. Von allen diesen fUhrt er jedoch außer der im ersten Buch behandelten Theologie nur das Quadrivium, nämlich die Philosophia doctrinalis, aus und befestigt auch damit den anti­ken Bildungskanon der septem artes liberales ftir die abendländische Schule. Boethius ist ftir das Quadrivium sein Hauptgewährsmann, und er legt danlit die Grundlage ftir die reiche handschriftliche Bezeugung dieses Autors im ganzen Mittelalter.

Diese prinzipielle Festlegung auf die artes liberales wird zwar in der karolingischen Renaissance durch die Auflösung des Quadriviums in die in irischer Tradition stehende sechsteilige Physica aufgelockert 15, in der auch die Medizin ihren Platz hat; doch das be­deutet nur das Eingehen des in antiken und frülunittelalterlichen Enzyklopädien ent­haltenen naturkundlichen Wissens in die Bildungsinhalte der frühnlittelalterlichen Schule. Eine Leiden er Pliniushandschrift des 9. J allfhunderts und die Fülle der Isidor- und Hraba­nus-Maurus-Handschriften legen davon Zeugnis ab. Für die Stellung besonders der Medizin außerhalb der artes hat dies jedoch wenig zu bedeuten. Hier ist wieder auf Cassiodor Bezug zu nehmen; denn in Weiterftihrung der Vorschrift Benedikts 16 der Sorge um die kranken Mitbrüder hat Cassiodor von den praktischen Fächern einzig und allein die Medi­zin, und zwar in den Institutiones divinarum litterarum, behandelt und zu ihr Lesean­weisungen gegeben.

Pierre Courcelles Versuch, auch llier eine Handschrift zu rekonstruieren, die auf Viva­rium zurückgeführt werden kann, hat bereits Augusto Beccaria als "senza fondamento" bezeichnet 17• Doch ist auch ftir die Kenntnis handschriftlicher Überlieferung medizi­nischer Texte im ftühen Mittelalter Cassiodor und Vivarium entscheidend geworden;

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denn aus dieser Cassiodor-Stelle geht hervor, daß nur die vulgärlateinischen Übersetzun­gen und Bearbeitungen griechischer, vor allem byzantinischer Texte des 5. und 6. Jahr­hunders über Vivarium weitergetragen wurden. Zwei von diesen Textgruppen, die Cassio­dor anzeigt, lassen sich noch gut in unseren Handschriften erkennen:

Der sogenannte ,,Herbarius Dioscoridis, qui herbas agrorum mirabili proprietate dis­seruit atque depinxit", ist nicht ein Zeugnis für den unbebilderten langobardischen Dioskurides und schon gar nicht ftir den Pseudo-Dioskurides De herbis femininis, son­dern ein Zeugnis ftir den Herbarius des Pseudo-Apuleius, der in Handschriften des friihen Mittelalters zusammen mit sachlich verwandten Texten, nämlich der pseudo-hippokra­tischen Epistula ad Maecenatem, einem dem Antonius Musa zugeschriebenenDe herba vettonica liber, dem Liber medicinae ex animalibus, pecoribus et bestiis vel avibus des Sextus Placitus und dem pseudo-dioskuridischen Liber medicinae herbis femininis, über­liefert ist. Von diesem sogenannten Herbariencorpus, das am vollständigsten der Codex Londinensis British Museum Additional 8929 aus dem 10. Jahrhundert überliefert, sind Exzerpte im Codex Hertensis 192/I des 9. Jal1rhunderts unter dem Namen des Diosko­rides gestellt 18• Doch nicht nur diese Textgruppe geht auf Vivarium zuriick; olme Zweifel - und darauf hat Malte Stoffregen hingewiesen 19 verbirgt sich unter Cassiodors "Thara­peutica Galieni ad philosophum Glauconem destinata, et anonymum quendam, qui ex diversis auctoribus probatur esse collectus. Deinde Caeli Aureli De medicina" ein ftinf oder sechs Bücher umfassendes Überlieferungscorpus, das mit der vulgärlateinischen Übersetzung der byzantinischen Bearbeitung der galenischen 8EpcxrrEVTUdx rrpoc.; rl\cxVJ<WVCX einsetzt, mit einem Liber tertius fortfährt, als 4. Buch Exzerpte aus Theodorus Priscianus aufweist und als 5. und 6. Buch eine vulgärlateinische Fassung von Schriften des Soran, den sogenannten Aurelius und Esculapius, enthält, dessen letztes Kapitel "De podagra" bisweilen als 6. Buch auftaucht. So ist auch ftir diese handschriftliche Überlieferung medi­zinischer Schriften Cassiodor und Vivarium die Keimzelle; die beiden Überlieferungs­corpora, die durch Cassiodor angezeigt werden, sind feste Überlieferungstypen, die das ganze friihe Mittelalter hindurch unverändert bleiben und die Grundlagen ftir medizini­schen Individualunterricht außerhalb der artes am Rande von Kloster- und Kathedral­schule bilden.

Doch jenseits der von Cassiodor angezeigten handschriftlichen Zeugen lassen sich noch andere Corpusbildungen nachweisen. In einem der wichtigsten Handschriften der friih­mittelalterlichen Medizin, in dem zu Anfang des 10. Jahrhunderts in Montecassino ge­schriebenen Codex Casinensis 9720, ist außer diesen beiden Überlieferungscorpora der Rest einer diagnostisch-prognostischen Schriftengruppe enthalten, die Malte Stoffregen herausgegeben hat, der Brief De pulsis et urinis und die VUlgärlateinische Übersetzung der byzantinischen Puls- und Urinschrift eines Alexandros21• Diese diagnostisch-pro­gnostische Schriftengruppe ist am vollständigsten in dem ebenfalls in Montecassino ge­schriebenen Codex Casinensis 6922 enthalten: neben dem Brief De pulsis et urinis und der Übersetzung der Puls- und Urinschrift des Alexandros finden sich darin ein Liber medicine orinalibus Hermogenis philosophi, die Kurzfassung der pseudo-galenischen Harnregeln, eine Krankheitsprognostik nach dem Auftreten von Hautausschlägen, die sogenannte Capsula eburnea, eine Fieberprognostik, ein diätetischer Kalender und schließ­lich Indicia valitudinum Yppogratis. In einem von einer Hand des 11. Jahrhunderts ge­schriebenen Teils des ansonsten ebenfalls beneventanischen Codex Vaticanus Barberinia­nus Latinus 160 wird die Übersetzung der Puls- und Urinschrift des Alexandros einge­rahmt durch pseudo-galenische Harntraktate, die jüngere Fassung der pseudo-galenischen

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Harnlehre und die Langfassung der pseudo-galenischen Harnregeln23. Schließlich ist eine vierte geschlossene überlieferungsgruppe im Codex Casinensis 97 enthalten; diese Hand­schrift setzt an1 Anfang verstümmelt ein mit einer Gruppe von Lehrbriefen und Kurztrak­taten, die Veit Scherer in seiner Ausgabe der Epistula de ratione ventris vel viscerum zu­sammengestellt hat; sie finden sich mehr oder weniger vollständig in sieben frühmittel­alterlichen Handschriften, darunter wieder im Codex Vaticanus Barberinianus Latinus 16024.

Von diesen Briefen, Kurztraktaten und Fragesan1mlungen eisagogischen, prognosti­schen, deontologischen, anatomischen, physiologischen, chirurgischen, diätetischen und allgemein nosalogisch-therapeutischen Inhalts, die nur das literarische Genos vereint, ist ein deontologischer Lehrbrief, "Interea moneo te", auch in einem zweiten überlieferungs­corpus solcher Kurztraktate und Lehrbriefe enthalten, in dem die Lehrbriefe klar über­wiegen und das überhaupt das ältere der beiden Briefcorpora zu sein scheint. Es ist, wie Walter Wiedemann zeigen konnte 25, in sechs Handschriften mehr oder weniger vollständig überliefert. Diese Briefsan1mlung25 , wie sie im Codex Parisinus Latinus 11219 ausdrück­lich bezeichnet wird und deren geschlossene Konzeption der Codex Bruxellensis 3701-15 durch seine durchgehende Zählung beweist, ist ebenso bunt wie die im Codex Casinensis 97 enthaltene, was den Inhalt betrifft.

Zwei weitere Überlieferungscorpora sind wieder stärker inhaltlich orientiert, nämlich gynäkologischer beziehungsweise diätetischer Art. Für das gynäkologische Schriften­corpus mag hier der Ende des 9. Jahrhunderts in Nord- oder Mittelitalien geschriebene Codex Laurentianus pluteus 73,1 26 stehen, der unter den Namen der Cleopatra gestellte gynäkologische Schriften enthält, die in die verwickelte überlieferung der hippokra­tischen rvvcw<eia gehören, darüberhinaus neben anonymen Schriften der sogenannte Muscio, die Gynaecia des Vindician, die Gynaecia des Theodorus Priscianus und ein der Cleopatra zugeschriebenes Pessar. Für das diätetische überlieferungscorpus sei auf den Codex Hafniensis Gamle Kgl. Samling 165327

, eine beneventanische Handschrift des 11. J aluhunderts, hingewiesen, die neben mehreren anonymen diätetischen Traktaten vor allem das pseudo-galenische Alphabeturn ad Paternianum und die hippokratisches Gut widerspiegelnde Diaeta Theodori enthält.

In allen diesen Fällen, ob es sich um das Herbariencorpus, das sich an die übersetzung der byzantinischen Bearbeitung von Galens 8epanevnKa npoc:, rf.,avKwva an­schließende Überlieferungscorpus, um die beiden Briefcorpora, um das diagnostisch­prognostische, das gynäkologische oder diätetische überlieferungscorpus handelt, sind die Handschriften, die diese festen Textgruppen enthalten, als Medien der Vermittlung von medizinischem Wissen das ganze frühe Mittelalter hindurch in nicht geringer Anzahl nachzuweisen. Die in ihnen enthaltenen Texte sind meist vulgärlateinische Brechungen bereits bereits weitgehend reduzierter Inhalte antiker Medizin, oft auf byzantinischer Grundlage.

Die Versuche, Grundwerke antiker Medizin selbst dem frühen Mittelalter zugänglich zu machen, hatten - sieht man von den hippokratischen Aphorismen ab -nur geringen Erfolg. Nur sie waren zusammen mit einem byzantinischen Kommentar dazu, wie schon Augusto Beccaria28 zeigte, vom 8. bis 11. Jahrhundert wirklich verbreitet, in den Zentren des Hippokratismus des frühen Mittelalters, in Nord- und Mittelitalien und in Frankreich, besonders in seinen östlichen und südlichen Teilen. Diese Aphorismen wurden vielfach gelesen, wie uns Richer von Reims 29 bezeugt, wenn man auch ihren fueoretischen Charak­ter durchaus erkannte. Ansonsten sind wichtige Werke der antiken Medizin spärlich über-

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liefert und kaum bekannt. So besitzen wir zum Beispiel nur drei frühmittelalterliche Celsushandschriften und von einer vierten haben wir Kunde 30

• Ein Corpus von Überset­zungen hippokratischer und galenischer Schriften, letztere mit byzantinischen Kommen­taren dazu versehen, ist, wie ebenfalls Augusto Beccaria31 erkannte, fast ausschließlich in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts erhalten, dem Codex Ambrosianus G 108 Infe­rior, dessen Vorlage aus dem Raum von Ravenna stammte und mit einem Archiater Agnellos und einem Arzt Simplikios in Verbindung gebracht wird. Von einer erfolgrei­chen Wirksamkeit der Handschrift als Medienträger kann man hier ebensowenig sprechen, wie bei einigen wichtigen Kompendien der antiken Medizin. Der langobardische Diosku­rides ist nur in drei Exemplaren 32 bezeugt, und zu einem davon, das sich in Chartres be­fand, kam man von weither.

Günstiger war die Situation bei den byzantinischen Kompendien der Medizin, die dem Abendland in vulgärlateinischen Übersetzungen bekannnt waren, wie die der Therapeu­tika des Alexander von Tralles und der Werke des Oreibasios33

• Auf diesem geringen Wissen fußende, im frühen Mittelalter im Abendland verfertigte lateinische Kompendien der Medizin, wie das im Codex Phillippicus 179034 und im Codex Samgallensis 751 ent­haltene, hatten meist nur lokale Verbreitung und Bedeutung.

Doch gerade in dieser Zeit ist vom Vorhandensein oder Fehlen handschriftlicher Über­lieferung das Niveau der Medizin abhängig; der Codex als Träger medizinischer Wissens­inhalte bestimmt dies, ganz gleich, ob es sich um frühmittelalterliche Überlieferungs­corpora, Übersetzungen byzantinischer Kompendien oder neuartige eigene Zusammen­stellungen antiken Guts handelt. Vier Beispiele aus Italien, Frankreich und dem Raum nördlich der Alpen seien hier noch angeftihrt und damit auch drei Zentren frühmittel­alterlicher Medizin verdeutlicht:

Der bereits erwähnte, in Montecassino im 10. Jahrhundert geschriebene Codex Casi­nensis 9720 umfaßt außer den bereits behandelten Überlieferungscorpora die Überset­zung der hippokratischen Aphorismen mit dem Kommentar Galens dazu und die Über­setzung der Therapeutika des Alexander von Tralles. Daß solche große Kompendien ur­sprünglich selbständige Überlieferungsträger waren, zeigt uns die zweite der hier vorge­stellten Handschriften, der Codex Andegavensis 457 35 des 9. Jahrhunderts, der fast nur die Übersetzung der Therapeutika des Alexander von Tralles enthält. Der von Walter Wiedemann ausfuhrlieh behandelte Codex Parisinus Latinus 11219 36 ist in Westfrankreich um die Mitte des 9. Jahrhunderts geschrieben; neun Teile sind deutlich voneinander ge­trennt. Es sind dies neben anderem zwei Komplexe: frühmittelalterliche Überlieferungs­corpora, wie das Briefbuch, sowie diätetische und gynäkologische überlieferungsgruppen, aber auch neuartige frühmittelalterliche Kompendien, von denen gleich zwei darin ent­halten sind. Der Codex Sangallensis 759 37 des 9. Jahrhunderts ist in seiner Gesamtheit nichts anderes als eine Zusanunenstellung eines sonst nicht bezeugten Kompendiums, das verschiedenartige Elemente vereinigt.

Montecassino, Westfrankreich und St. Gallen sind Zentren ärztlichen Lebens in dieser Zeit; doch auch die aus ilmen stammenden Handschriften als Träger medizinischen Wissens legen Zeugnis ab vom geringen Stand medizinischen und naturkundlichen Wis­sens in dieser Zeit: Verdünnte hilialte antiker Wissenschaft in sprachlich unbefriedigender Form werden ohne schulische Tradition und Kontrolle am Rande ihrer zentralen Auf­gaben von Kloster und Kathedrale weite1übermittelt. Dazu paßt, daß die mittelalterlichen Handschriftenkataloge nur selten die Medizin als eigene Rubrik kennen; und auch dann werden diese Handschriften unorganisch nach der Theologie und der artes gewissermaßen als Anhang angeftihrt.

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Einen neuen Aspekt bekonunt die Bedeutung der Handschrift auch im naturkund­lichen und medizinischen Bereich nach dem Beginn eines universitären oder quasi-univer­sitären Unterrichts in diesen Fächern im Abendland; ftir die Medizin bedeutet das: seit der Schule von Salerno38• Dies ist mit einem Rezeptions- und Assimilationsprozeß antiker Wissenschaft im arabischen Gewande, von arabischer Wissenschaft und schließlich von antiker Wissenschaft aufgrund der griechischen Originale verbunden und gibt auch der Handschrift als Träger der neuen Inhalte dieser Wissenschaften einen Stellenwert, wie er ihr im frühen Mittelalter nur im Bereich der artes zugekonunen war. Die curricula dieser Fächer, wie sie allenthalben an den Universitäten und ihren Vorläufern auftreten, begin­nen, Unterricht und Lehrangebot eine klare Form zu geben. Für die Handschrift als Trä­ger der neuen Wissensinhalte bedeutet dies eine bisher unbekannte Vereinheitlichung. Nicht in Spätantike oder im frühen Mittelalter ausgebildete Überlieferungsformen der geringen Überreste antiker Wissenschaft in sprachlich und sachlich unbefriedigender Form werden in ihnen tradiert, wobei Auswahl und Zusammenstellung der einzelnen fest gewor­denen Überlieferungsträger - sieht man von den artes ab - vom individuellen Interesse des Einzelnen abhing oder durch die zur Abschrift zur VerfUgung stehenden Vorlagen be­stimmt war; jetzt waren es die neuen universitären Bedürfnisse, die daftir Sammelband­schriften bestinunter Zusammensetzung entstehen ließen, die oft durch Jahrhunderte un­verändert blieben und das Grundgerüst der Ausbildung waren.

Für die Medizin sind dies seit Salerno die sogenannten Articella-Handschriften 39. Der ftir seine Zeit nicht mehr fortschrittliche Lehrplan aus der noch voruniversitären medizi­nischen Ausbildung in Paris aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, wie er uns durch Alexan­der Neckam bezeugt ist40, zeigt uns dieses Lehrcorpus ebenso wie die Handschriften selbst. Die von Constantinus Africanus zu Ende des 11. Jahrhunderts ftir Salerno aus dem Arabischen in eine neuartige lateinische Fachsprache übersetzten Werke sind das Rück­grat dieses propädeutischen Unterrichts weit über Salerno hinaus: l)unain ibn Isl].äqs eigene Einleitung in die Ars parva Galens, die hippokratischen Aphorismen mit dem Kom­mentar Galens dazu, das Prognostikon des Hippakrates mit dem Kommentar Galens dazu, die Ars parva Galens, oft mit dem Konunentar Ibn Ri<;lwäns versehen, häufig auch die Übersetzung des hippokratischen Regimen acutorum mit dem Konunentar Galens. Hinzu treten stets zwei im 11. Jahrhundert in Salerno aus dem Griechischen ins Latei­nische übersetzte byzantinische diagnostische Schriften, der Urintraktat des Theophilos Protospatharios und die Pulslehre des Philaretos; sie gehen nicht nur inhaltlich über die oft primitiven Puls- und Urinschriften des frühen Mittelalters weit hinaus, sondern sind auch von deren Vulgärlatein weit entfernt. Es ist die neuartige lateinische Fachsprache, die alle diese Werke, ob sie aus dem Arabischen oder aus dem Griechischen stanunen, kennzeichnet, die dem Mittellatein iluer Zeit verpflichtet ist und damit die Kraft zur Abstraktion besitzt41•

Diese Eingangsliteratur in das klassische Schrifttum um mit Heinrich Schipperges zu sprechen42

- wird nun sehr bald, nämlich bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts, von salernitanischen Magistri konunentiert. Paul Oskar Kristeller43 hatte schon 1958 Hand­schriften, die eine Konunentierung des Maurus zeigen, beibringen können. Dies ist der Einzug der fast gleichzeitig (bei Anselm von Canterbury) in der Theologie sich ent­wickelnden scholastischen Methode mit ihrer Tendenz, Glauben und Ratio in Einklang zu bringen, in die Medizin; denn Maurus steht hier nicht allein: Paul Oskar Kristeller hat 197644 neben Maurus ftir die salernitanischen Magistri Bartholomaeus und Musandinus, aber auch noch ftir die Folgezeit solche Konunentare dieser Articella - wie diese Text­gruppe in Frühdrucken heißt -nachweisen können und eine vorläufige Liste von Hand-

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schriften des 12. bis 14. Jahrhunderts zusammengestellt. Im Studienplan des Alexander Neckam40 von 1190 finden sich noch weitere von Constantinus Africanus übersetzte Werke, die seitdem ihren unbestrittenen Platz in der medizinischen Ausbildung hatten: große Kompendien wie der Kitab al-malaki, die sogenannte Pantegni des Ibn al-'Abbas, die große Diätetik des Ishaq al-Isra'ill und Handbücher wie die Fieber- und Urinschrift des Ishaq al-Isra'lll und d~s Viaticum des Ibn al-Gazzar. Von ihnen werden die Werke des IsJ;taq ~-Isra'1Il und des Ibn al-Gazzar in der handschriftlichen Tradition in Pariser Hand­schriften39 auch mit der Articella verbunden. Das bis 1350 in Paris konstant gebliebene Gerüst der medizinischen Studien und der ärztlichen Ausbildung, das sich - wie Eduard Seidler nachwies45

- auch an der erst seit 1213 nachweisbaren medizinischen Fakultät nicht änderte, beweisen diese Handschriften in klarer Weise und sind somit unschätzbare direkte Zeugnisse der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit.

Dies gilt nicht nur fur die hier behandelte Medizin; es sei hier nur kurz auch auf die Aristotelesrezeption im Abendland verwiesen. Die Rezeption des neuen Aristoteles, so­wohl des direkt aus dem Griechischen übersetzten wie des durch arabische Vermittlung über Toledo vermittelten, setzt seit etwa 1120 ein und ist um 1300 abgeschlossen46. Wie­der mag ein Blick auf Paris hilfreich sein; denn die Vorherrschaft von artes und Theologie an der Pariser Universität, wo ftir die neue Philosophie kaum Platz war, ließ es noch 1210 in Paris zu einem Verbot der naturphilosophischen Schriften des Anstoteies kommen, das um 1234 jedoch nicht mehr bestanden zu haben scheint47• Diese Entwicklungen spiegeln, wie Martin Grabmann 1939 aufzeigte48, auch die Handschriften wider. Wieder ist es, nicht anders als bei der Articella, die zusammengesetzte Handschrift, die dominiert: Diese Aristoteles-Codices enthalten vorwiegend arabisch-lateinische oder griechisch-lateinische Übersetzungen oder eine Mischung beider Übersetzungsformen, die oft nebeneinander gestellt werden. Doch ein anderes Ordnungsprinzip wird ftir diese Sammelbandschriften um vieles wichtiger, nämlich das nach dem Sujet der aristotelischen Schriften selbst. Im 12. Jahrhundert überwiegen Handschriften mit logischen Schriften, noch in Verbindung mit den Schriften und Übersetzungen des Boethius, zu denen von Anfang des 13. Jalu­hunderts an ethische Schriften treten, die sehr bald aber auch ein eigenes Überlieferungs­corpus bilden. Die "Libri naturales", zu denen auch die Metaphysik gerechnet wird, tre­ten als letzte thematisch gegliederte Handschriftengruppe hinzu; und dies entspricht auch den Pariser Verhältnissen mit dem langen Verbot ihrer Lektüre. Martin Grabmann48 hat auch darauf hingewiesen, daß vom 13. Jahrhundert an alle diese Handschriften meist Folioformat haben, um Platz flir Glossierung und Kommentierung zu lassen. Die Liste der Bücher der Bibliothek der Pariser medizinischen Fakultät49, ohne eine Spur von den "Libri naturales" des Aristoteles, zeigt klar den Standort des Studiums dieser Werke an der Artistenfakultät 50, wenn es auch um 1350 den Baccalaurei der Medizin schon ge­stattet war, das 4. Buch der Metereologica und De animalibus des Aristoteles zu lesen und zu interpretieren51 ; an den norditalienischen Universitäten dagegen, zum Beispiel in Bologna, gehörten die "Libri naturales" damals schon zum selbstverständlichen Vorle­sungsstoff.

In der Pariser Bücherliste von 1395, die unser erstes Zeugnis fur ein neues, nicht kon­stantinisches Curriculum in der Medizin ftir Paris ist, findet sichjedoch ein anderer Autor, der auch schon längst anderswo fester Vorlesungsstoff geworden war, nämlich Galen49•

Dessen Sammelbandschriften sind flir Lynn Thorndike 52 der Prototyp der zusammenge­setzten Handschrift als Wissensträger von Texten universitären Zuschnitts überhaupt.

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Auch die Galenrezeption im europäischen Spätmittelalter ist zweigeteilt, arabo-latei­nisch, vor allem durch die übersetzerschule von Toledo von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts an 53, und griechisch-lateinisch, vor allem vertreten durch übersetzer wie Burgundia von Pisa aus der zweiten Hälfte des 12. Jaluhunderts 54 und durch Niecola da Reggio und seine Mitarbeiter am Hof der Anjous im 14. J ahrhundert55. Ebenso wie bis­weilen von einzelnen italienischen und besonders Bologneser Magistri der Medizin die übersetzungen Burgundias zitiert werden, stehen diese, wenn auch seltener, in den Curricula der Universitäten neben denen der toletanischen der arabo-lateinischen Tradi­tion, die Vorrang zu haben scheinen. In vergleichbarer Weise stehen bei der überlieferung des lateinischen Galen im Abendland einander zwei Typen der zusammengesetzten Hand­schrift gegenüber: Das sind zunächst Handschriften, wie sie zum Beispiel in drei identi­schen Handschriften Pariser Provenienz vorliegen, dem im Verzeichnis der Bücher der Pariser medizinischen Fakultät von 1395 bezeugten Codex der Pariser Universitätsbiblio­thek 125, dem Codes Camotensis 294 und dem Codex Oxoniensis Balliol College 231 aus dem 13. oder dem Beginn des 14. Jahrhunderts, sowie in zwei norditalienischen Hand­schriften, wie den Codices Malatestiani D XXIII 1 und D XXV 1/2 des 14. Jahrhun­derts56, die -- entsprechend den Curricula der Universitäten übersetzungen Burgundias von Pisa aus dem Griechischen mit denen der toletanischen übersetzerschule aus dem Arabischen verbinden. Anders sieht es bei einem anderen Handschriftentyp aus, wie er zum Beispiel in zwei Galenhandschriften, dem Codex Malatestianus S V 4 und S XXVII 4 aus dem 14. Jahrhundert, erhalten ist 57• Diese enthalten nur übersetzungen Galens durch Niecola da Reggio aus dem Griechischen. Es ist nur eine seiner übersetzungen, nämlich die von Galens IlEpt' J1CXPCXO'JlOÜ, in das Curriculum der Universitäten eingegangen. Da­rüberlrinaus hat Robert Weiss 1950 gezeigt55, daß bei den übersetzungen des Niecola eindeutig humanistische und nicht praktisch-medizinische Interessen im Vordergrund standen. So zeigen bei der Überlieferung des lateinischen Galen die zusammengesetzten Handschriften bereits in der Form ihrer Zusammenstellung zwei verschiedene überliefe­rungstypen und sind somit Träger verschiedener Wissensinhalte.

Nicht nur alte überlieferungsverhältnisse kurrikularer Form, nicht nur durch den Autor - Aristoteles oder Galen - bestimmte Zusammenhänge können die Zusammen­setzung einer Handschrift bestimmen, sondern auch ein gemeinsames Sujet. So sind uns durch den Katalog einer Studienbibliothek in Richard de Founivals Biblionomia58 nicht nur eine Articellahandschrift und Galen in sieben Codices bezeugt, sondern auch eine chi­rurgisch-gynäkologische Handschrift, in der wahllos frühmittelalterliche Texte und uni­versitäres Gut miteinander vermengt sind, nicht anders als in dem für privaten Gebrauch eines Arztes in Frankreich um 1180 zusammengestellten heute verschollenen Codex Salernitanus59 .

Neben dieser zusammengesetzten Handschrift, die - sieht man von dem zuletzt er­wähnten Codex Salemitanus ab - fast ausschließlich aus dem universitären Curriculum und seinen Veränderungen herzuleiten ist und damit typischer Medienträger fur die Vor­bereitung der Vorlesung ist, stehen andere Sammelhandschriften, die von der Seite der Rezipienten her erstellt wurden. Bereits bei Handschriften einzelner universitärer Texte, wie der Augenheilkunde des Salernitaners Benvenuto Grapheo aus dem 13. J aluhundert, hat man entdeckt, daß sie so weit voneinander abweichen, daß man dies nur aufgrund differenzierender Vorlesungsnachschriften erklären kann. Lynn Thorndike 60 hat darüber­hinaus festgestellt, daß es einen Typus der zusammengesetzten Handschrift universitärer Provenienz gibt, der in der Tradition der poetischen Florilegien steht, die Peciae, wo aus

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ungebundenen Exemplaren von Grundwerken nach Bedarf von den Studenten Kopien hergestellt wurden. Handschriften solcher und älmlicher Herkunft, oft fur die Praxis be­stimmt, bestimmen besonders die alchemistischen Schriften und machen deren Identifi­zierung oder die Erstellung von kritischen Texten gerade in der Alchemie zu einem schwierigen Problem.

Diesen zusammengesetzten Handschriften der verschiedensten Formen stehen ebenfalls seit dem Beginn der universitären Entwicklung - nicht anders als in der frühmittelalter­lichen Medizin Handschriften gegenüber, deren Inhalt jeweils ein oder mehrere große Kompendien des Arabismus bietet. Dabei hängt es wieder nur vom Eingehen dieser Werke in die Curricula der einzelnen Universitäten ab, wann Handschriften dieser Form Träger der Wissensinhalte neben der zusammengesetzten Handschrift werden. So gibt es in Paris solche Handschriften von den konstantinischen Pantegni des cAli ibn al-'Abbas, der Diätetik des Isl].aq al-Isra'111 und des Viaticum des Ibn al-Gazzar bereits in seiner voruni­versitären Periode, während Avicenna-Handschriften späterer Provenienz sind, entspre­chend dem ersten Beleg fur die Verwendung dieses in Toledo übersetzten und dann alles beherrschenden Autors in der Medizin in Paris im Jahre 13306 \ lange nachdem dieses Werk zum Beispiel in Bologna schon zum unbestrittenen Lehrgegenstand gehört hatte.

Das alles zeigt, daß in der universitären Periode des hohen und späten Mittelalters noch weniger als im frühen Mittelalter die Handschrift in der Überlieferung der Naturwissen­schaften und ihrer Erschließung häufig alles andere als ein beiläufiger oder zufallig zusam­mengesetzter Traditionsträger war. Sicher hat es zu allen Zeiten auch in diesem Bereich Miszellaneenhandschriften gegeben. Doch die Bildungskonzepte der Universitäten waren zu mächtig, als daß sie nicht diesen einzigen Medienträger nach ihren Vorstellungen ge­formt und ihren Konzepten untergeordnet hätten. Diese Tatsache spricht auch aus dem Katalog einer Studienbibliothek aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, wie er in Richard de Fournivals Biblionomia vor uns steht 58

. Die Theologie, die in den mittelalterlichen Bib­liothekskata}ogen stets den Anfang gemacht hatte, steht am Schluß; den Anfang bildet die Philosophie, das heißt das Curriculum der Artistenfakultät, die artes. Es sind dies die Fächer des Triviums und des Quadriviums, aber dann die Libri physici und metaphysici, die Libri ethici, verschiedene philosophische Werke und schließlich die Dichter, jeweils als eigene areola. Zwischen Philosophie und Theologie sind die scientiae lucrativae einge­reiht, Medizin, weltliches und kanonisches Recht, also die Fächer der medizinischen und juristischen Fakultät. Die hier aufgeftihrten Handschriften spiegeln die kurrikularen Wis­sensinhalte der Einzelf:icher wider, und nur sie hatten die Chance, durch den Medienträ­ger Handschrift in derart fester Form überliefert zu werden, daß ihr Weiterleben garantiert war.

Der Frühdruck hat diese Situation zunächst nicht prinzipiell geändert. Während früh­mittelalterliche Handschriftentypen, wie zum Beispiel das Herbariencorpus, keinen Ein­gang in die Frühdrucke fanden, so ist zum Beispiel die Articella seit 1476 als Inkunabel bezeugt, ja sie trägt in ihrer zweiten Auflage 1483 zum ersten Mal den Titel Artisella Hippocratis 39• Von den zusammengesetzten Handschriften haben nicht nur die Articella bald Eingang in die Frühdrucke gefunden, auch die lateinische Übersetzung der Werke Galens wurde in der Zusammensetzung, wie sie uns aus der Sammelbandschrift von Tex­ten vor allem toletanischen Ursprungs bereits geläufig ist, zuerst 1490 gedruckt 62• Dane­ben stehen Drucke der großen Kompendien: Der alphabetische Dyascorides, das heißt die alphabetische salernitanische und um Arabisches angereicherte Fassung dieses antiken pharmakopoietischen Kompendiums, geht nicht nur in das voruniversitäre Pariser Curri-

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culum der Medizin bei Alexander Neckam und im Gegensatz zu seiner frühmittelalter­lichen Vorlage in eine Unzahl von Handschriften ein, sondern wird auch als Inkunabel 1479 gedruckt63• Der erst um 1330 in Paris bezeugte Canon des Ibn STna wurde nach dem ersten Druck nur des dritten Buches, wohl fur Universitätsbedürfnisse 1472 in Italien, seit 1473 als Gesamtwerk immer wieder neu aufgelegt64• Pharmakopoietische Werke, wie der sogenannte Serapion oder das Colliget des Ibn Rusd wurden 1473 beziehungsweise 1482 das erste Mal gedruckt65

.

Früh treten auch thematisch gegliederte Frühdrucke auf, die in dieser Fonn nicht handschriftlich bezeugt sind. Das gilt sowohl fur den Bereich der Pharmakopoiie und Pharmazie wie fur den der Chirurgie. Die pharmakopoietischen Schriften des Pseudo­Mesue wurden 1471 66 zum ersten Mal gedruckt; sie wurden systematisch erweitert, zu­erst um das offizielle Rezeptbuch von Salerno, das Antidotarium Nicolai, dann vor allem um ein Quid pro quo, um den sogenannten Servitor, das ist der pharmazeutische Teil des medizinischen Kompendiums des Abu '1-Qasim, Kommentare zum Mesue, zum Anti­dotarius magnus, dem Vorgänger des Antidotarium Nicolai, und zum Antidotarium Nicolai selbst. Berühmt ist die Collectio chirurgica Veneta 67 ; diese Juntine, die 1497 zuerst bei Locatellus in Bergamo erschienen war, hat il1re endgültige Form erst 1546 erreicht. Neben den Hauptwerken der fUhrenden Parmeser und Bologneser Chirurgie von 1200 an enthielt sie arabistisches Gut, wie die toletanische Übersetzung der wich­tigen Chirurgie aus dem medizinischen Kompendium des Abu '1-QasTm und die Chirur­gie des Guy de Chauliac. So dienen diese Frühdrucke zunächst ebenso wie die Universi­tätshandschriften des hohen und späten Mittelalters dem Weiterleben der Autoritäten des Mittelalters in alter, das heißt in einer der Zusammensetzung der Handschriften ver­pflichteten, Zusammensetzung oder in neuer, nach deren Vorbild geformter Form. Daß auch die Werke derMagistri des 15. Jahrhunderts in sie Eingang finden, paßt in das Bild. Sie stehen damit in der klaren Tradition der Handschrift, auch oder gerade was ihre Funk­tion als Vermittler von Wissensinhalten angeht.

Viel anders wird dies auch zunächst nicht bei Pestschriften68 und Syphilistraktaten69:

Gentile da Folignos Consiliumcontra pestilentiam liegt 1472/73 ebenso gedruckt vor wie die 1497/98 in Wien erschienene A morbo Gallico praeservatio des Wien er Humanisten Bartholomaeus Stäber, dem jedoch keine handschriftliche Vorstufe mehr vorausgeht

Fast zur selben Zeit taucht aber ein neues Element auf, nämlich Einblattdrucke. Als Beispiel mögen die Pestblätter genannt werden, die vor allem Pestregeln oder Gebete an die Pestheiligen enthalten, wie sie zum Beispiel aus der 1485 in Leipzig gegründeten Offi­zin des Martin Landsberg aus Würzburg hervorgegangen sind. Das Gebet gegen die Platern malafrantzosa ist 1500 in Wien anonym erschienen; und dies zeigt, daß dieser neue Über­lieferungsträger auch fur die Medizin und Naturwissenschaft Bedeutung gewinnt. Er reiht sich an die Tradition des Einblattholzschnitts ein, der Heiligenbilder und Kreuzigungs­darstellungen als Votivbilder für die bürgerliche Kultur des Spätmittelalters bereitstellte. Als reformatorische und gesellschaftskritische programmatische Kampfmittel in Form der Flugschriften ist der Einblattdruck am bekanntesten geworden; doch er wird auch ein Instrument zur Popularisierung der neuen, auch die Medizin revolutionierenden Wissenschaft der frühen Neuzeit und fur die Werbung fur sie. Hier sei nur an das be­kannte Paracelsus-Flugblatt mit der Ankündigung seiner Basler Vorlesungen oder an das Flugblatt mit dem Bildnis des Paracelsus von Augustin Hirschvogel erinnert. Mit Texten dieser Art sind wir jedoch nicht mehr weit vom Reklamezettel entfernt, wie ihn der Theriakl1ändler mit sich führte. Solche Werbetraktake, die im landessprachlichen Bereich,

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wie Thomas Holste 70 zeigte, schon vor 1400 entstanden sind, haben auch erst mit dem Einblattdruck ihre volle Wirksamkeit entfaltet.

Dieser neue Medien träger, der in seiner Funktion der Popularisierung der Wissenschaf­ten und Werbungszwecken diente, steht neben dem Buch, das in der Nachfolge der Hand­schriften steht und wenigstens noch ein J al1rhundert mit ilmen parallel läuft, als Träger der Wissensinhalte der neuzeitlichen Wissenschaft. Humanisten sind es, die sich dieses Mediums nun bedienen, um die neuzeitlichen, auf der neuerlichen Rezeption der antiken Wissenschaft fundierenden neuen Erkenntnisse zu vermitteln. Das bedeutet zunächst Zu­strom der griechischen Originale, auch oder besonders in Naturwissenschaft und Medizin. Die griechische Erstausgabe der Schriften des Corpus Hippocraticum in Venedig 1526 und die des Galen 1525, beides Aldinen, aufgrundder neuerschlossenen griechischen Original­handschriften, machen den Weg frei, den mittelalterlichen arabisierten Galen mit neuen Augen zu sehen. Die Erkenntnis, daß es sich bei Galens Anatomie um Tieranatomie han­delt, läßt einen Mitarbeiter an der Aldine, den großen Andreas Vesal, zum Schöpfer der neuzeitlichen Anatomie werden. Das Erscheinen seiner Fabrica humani corporis, 1543 bei J ohannes Oporinus in Basel, mit den Holzschnitten des Tizianschülers Stephan von Kalkar versehen, ist ihre Geburtsstunde 71 ; die Wirkung dieses anatomischen Atlas ist je­doch ohne das neue Medium Buch undenkbar.

* Vortrag gehalten am XVII. Symposium der Gesellschaft ftir Wissenschaftsgeschichte: "Medien und Formen der Wissenschaftsvermittlung" am 25.5.1979 in Berlin

1 Vgl. L. Santifaller: Beiträge zur Geschichte der Beschreibstoffe im Mittelalter mit besonderer Be­rücksichtigung der päpstlichen Kanzlei. 1. Teil: Untersuchungen. Graz/Köln 1953 (Mitteilungen des Instituts ftir Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 16,1) und B. Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979 (Grundlagen der Ger­manistik 24), S. 19-54.

2 Vgl. H. Fuchs: Enkyklios Paideia. In: Reallexikon ftir Antike und Christentum. Hrsg. von T. Klauser, Bd 5, Stuttgart 1962, Sp. 373-375.

3 Vgl. H. Diller: Stand und Aufgaben der Hippokratesforschung. Jb. Akad. Wiss. Lit. Mainz 1959, S. 271-273; enthalten in: Antike Medizin. Hrsg. von H. Flashar. Darmstadt 1971 (Wege der For­schung, Bd 221), S. 29-31, und H. Diller: Kleine Schriften zur antiken Medizin. Berlin/New York 1973 (Ars medica III 3), S. 89-91.

4 Vgl. dazu zusammenfassend M. Ullmann: Die Medizin im Islam. Leiden/Köln 1970 (Handbuch der Orientalistik I, Erg.bd. 6,1), S. 35-68.

5 Vgl. dazu J. Opelt: Epitome. In: Reallexikon ftir Antike und Christentum. Hrsg. von T. Klauser. Bd 5, Stuttgart 1962, Sp. 954 f.

6 Vgl. M. Stoffregen: Eine frühmittelalterliche lateinische Übersetzung des byzantinischen Puls­und Urintraktats des Alexandros. Text-Übersetzung-Kommentar. Med. Diss. FU Berlin 1977, S. 226.

7 Vgl. D. Harlfinger: Die Textgeschichte der pseudo-aristotelischen Schrift IIEPI ATOM.QN rPAMv1.\1N. Ein kodikologisch-kulturgeschichtlicher Beitrag zur Klärung der Überlieferungsverhältnisse im Corpus Aristotelicum. Amsterdam 1971, S. 39 f.

8 Vgl. H. Fuchs (wie Anm. 2), Sp. 387-390, und G. Baader: Die Anfänge der medizinischen Aus­bildung im Abendland. In: Settimaue di studio del Centro italiano di studi sull' alto medioevo 19. Spoleto 1972, S. 674 f.

9 Vgl. G. Baader: Lo sviluppo dellinguaggio medico nell' antichita e nel primo medioevo. Atene e Roma N.S. 15 (1970), S. 4-7.

1° Vgl. G. Baader: Der ärztliche Stand in der römischen Repulik. In: Acta Conventus XI "Eirene" Varsoviac 1968. Warszawa 1971, S. 12-17.

11 Vgl. G. Baader (wie Anm. 8), S. 676, und G. Baader (wie Anm. 9), S. 11-14. 12 Vgl. G. Baader: Die Entwicklung der medizinischen Fachsprache im hohen und späten Mittel­

alter. In: Fachprosaforschung. Acht Vorträge zur mittelalterlichen Artesliteratur. Hrsg. von G. Keil und P. Assion. Berlin 1974, S. 91 f.

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20 Gerhard Baader:

13 Vgl. P. Courcelle: Les lettres grecques en occident de Macrobe a Cassiodore. Paris 1948 (Biblio­theque des ecoles fran<:;aises d'Athenes et de Rome 159), S. 355.

14 Vgl. P. Courcelle (wie Anm. 13), S. 321-325. 15 Vgl. B. Bischoff: Eine verschollene Einteilung der Wissenschaften. In: B. Bischoff: Mittelalter­

liche Studien. Bd 1, Stuttgart 1966, S. 273-288; siehe dazu G. Baader (wie Anm. 8), S. 608 f. 16 Bened. reg. 36; vgl. G. Baader(wie Anm. 8), S. 677 f. 17 Vgl. A. Beccaria: I codici di medicina del periodo presalernitano (secoli IX, Xe XI). Rom 1956

(Storia e letteratura 5 30), S. 35, Anm. 1; siehe dazu M. Stoffregen (wie Anm. 6), S. 10-13. 18 Vgl. G. Baader (wie Anm. 8), S. 691-694. 19 Vgl. M. Stoffregen (wie Anm. 6), S. 14 f.; siehe auch G. Baader (wie Anm. 8), S. 694-697. 20 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 297-303. 21 Vgl. M. Stoffregen (wie Anm. 6), S. 71-123. 22 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 293-297; siehe dazu G. Baader und G. Keil: Mittelalterliche

Diagnostik. Ein Bericht. In: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift flir Heinz Goerke zum 60. Geburtstag. Hrsg. von C. Habrich, F. Marguth und J. H. Wolf unter Mitarbeit von R. Wittern. München 1978 (Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften. Medizinhistorische Reihe, Bd 7/8 ), S. 126 f.

23 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 324-331; siehe dazu G. Baader und G. Keil (wie Anm. 22), S. 127.

24 Vgl. V. Scherer: Die "Epistula de ratione ventris vel viscerum". Ein Beitrag zur Geschichte des Galenismus im frühen Mittelalter. Zahnmed. Diss. FU Berlin 1976, S. 7 -30a.

25 Vgl. W. Wiedemann: Untersuchungen zu dem frühmittelalterlichen medizinischen Briefbuch des Codex Bruxellensis 3701-15. Zahnmed. Diss. FU Berlin 1976, S. 46-81.

26 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 277-281; siehe dazu G. Baader (wie Anm. 8), S. 687 Anm. 104.

27 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 119-124. 28 Vgl. A. Beccaria: Sulle tracce di un antico canone latino di lppocrate e di Galeno II. ltalia medio­

evale e umanistica 4 (1961), S. 1-75. 29 Richer. Rem. hist. 4,50; vgl. dazu G. Baader (wie Anm. 8), S. 703 f. 30 Vgl. G. Baader: Überlieferungsprobleme des A. Cornelius Celsus. Forschungen und Fortschritte

34 (1960), s. 215-218. 31 Vgl. A. Beccaria: Sulle tracce di un antico canone latino di Ipprocrato e di Galeno I. Italia medio-

evale e umanistica 2 (1959), S. 8-20; siehe dazu G. Baader (wie Anm. 8), S. 685-687. 32 Vgl. G. Baader (wie Anm. 8), S. 691. 33 Vgl. G. Baader (wie Anm. 8), S. 689-691. 34 Vgl. G. Baader: Der Berliner Codex Phillipp. 1790, ein frühmittelalterliches medizinisches Kom-

pendium. Medizinhistorisches Journa/1 (1966), S. 150-155. 35 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 125 f.; siehe dazu M. Stoffregen (wie Anm. 6), S. 25 f. 36 Vgl. W. Wiedemann (wie Anm. 25), S. 100-109. 37 Vgl. A. Beccaria (wie Anm. 17), S. 384-386. 38 Vgl. P. 0. Kristeller: The school of Salerno. Bulletin for History of Medicine, Baitimare 17

(1945), S. 138-194 und G. Baader: Die Schule von Salerno. Medizinhistorisches Journal 13 (1978), s. 124-145.

39 Vgl. G. Baader: Handschrift und Inkunabel in der Überlieferung der medizinischen Literatur. In: Buch und Wissenschaft. Beispiele aus der Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Im Auftrag des Driburger Kreises, hrsg. von E. Schmauderer. Düsseldorf 1969 (Tech­nikgeschichte in Einzeldarstellungen, Nr. 17), S. 24-28.

40 Sacerdos ad a/tare 59-65. Veröffentlicht in C. H. Haskins: A Iist of text-books from the close of the twelfth century. In: C. H. Haskins: Studies in the history of medioeval science. Cambridge/ Mass. 1924, S. 374 f.; siehe dazu E. Seidler: Die Heilkunde des ausgehenden Mittelalters in Paris. Studien zur Struktur der spätscholastischen Medizin. Wiesbaden 1967 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 8), S. 5 f., 43-46; und G. Baader (wie Anm. 39), S. 23 f.

4 1 Vgl. G. Baader (wie Anm. 12), S. 96-110. 42 Vgl. H. Schipperges: Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter.

Wiesbaden 1964 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 3), S. 33 f., und denselben: Arabische Medizin im lateinischen Mittelalter. Berlin, Heidelberg und New York 1976 (Sitzungsberichte der Heidel­berger Akademie der Wissenschaften, Math.-naturw. Klasse 1976/2), S. 102.

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43 Vgl. P. 0. Kristeller: Nuove fonti per la medicina salernitana del secolo XII. Rassegna storica Salernitana 18 (1958), S. 61--65; denselben: Beiträge zur Schule von Salerno zur Entwicklung der scholastischen Wissenschaft. In: Artes liberales. Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Hrsg. von J. Koch. Leiden und Köln 1959 (Studien und Texte zur Geistesge­schichte des Mittelalters, Bd 5), S. 84-90; denselben: Fonti per Ia medicina del secolo XII. Salerno 1 (1967), Heft 1, S. 19-26.

44 Vgl. P. 0. Kristeller: Bartholomaeus, Musandinus und Maurus of Salerno and other early com­mentators of the "Articella", with a tentative Iist of texts and manuscripts. Italia medioevale e umanistica 19 (1976), S. 58--87.

45 Vgl. E. Seidler (wie Anm. 40), S. 43-49. 46 Vgl. H. Schipperges (wie Anm. 42/a), S. 55-84, und denselben (wie Anm. 42/b), S. 103. 47 Vgl. E. Seidler (wie Anm. 40), S. 82-86. 48 Vgl. M. Grabmann: Methoden und Hilfsmittel des Aristotelesstudiums im Mittelalter. München

1939 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Abteilung 1939/5).

49 Chartularium universitatis Parisiensis. Collegit H. Denifle auxiliante A. Chatelain. Bd 4, Paris 1897, Nr. 1723, S. 10; vgl. dazu E. Seidler (wie Anm. 40), S. 50 und G. Baader: Zur Anatomie in Paris im 13. und 14. Jahrhundert. Medizinhistorisches Journal 3 (1968), S. 41.

50 Vgl. E. Seidler (wie Anm. 40), S. 83-86. 51 Vgl. E. Seidler (wie Anm. 40), S. 50. 52 Vgl. L. Thorndike: The problern of the composite manuscript. In: Miscellanea Giovanni Mercati

VI. Rom 1946 (Studie testi 126), S. 96--98. 53 Vgl. den Index von M. Steinschneider: Die europäischen Übersetzungen aus dem Arabischen bis

Mitte des 17. Jahrhunderts. Wien 1904/05 (Sitzungs berichte der Wiener Akademie der Wissen­schaften 149/4 und 151/1) s. v. Galen; siehe dazu H. Schipperges (wie Anm. 42a), S. 89-92.

54 Vgl. C. H. Haskins: North-Italian translators ofthe twelfth century. In: C. H. Haskins (wie Anm. 10), S. 206-209; siehe dazu die Einleitung von R. J. Durling zu seiner Ausgabe von Burgundia of Pisa's translation of Galen's IIEPI KPA:EE.I1N "De complexionibus". Berlin und New York 1976 (Ars medica IV 1), bes. S. XXV -XXX.

55 Vgl. R. Weiss: The translations from the Greek of the Angevin court of Naples. Rinascimento 1 (1950), s. 184--226.

56 Vgl. G. Baader: Die Bibliothek des Giovanni Marco da Rimini. Eine Quelle zur medinischen Bil­dung im Humanismus. In: Studia codicologica. Hrsg. in Zusammenarbeit mit J. Dummer, J. Irmscher und F. Paschke von K. Treu. Berlin 1977 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd 124), S. 60-64,87-89.

57 Vgl. G. Baader (wie Anm. 56), S. 76-82, 89-91. 58 Hrsg. von L. Delisie in: L. Delisle: Le cabinet des manuscrits de la Bibliotheque Nationale. Bd 2,

Paris 1874, S. 532-535; vgl. dazu E. Seidler: Die Medizin in der "Biblionomia" des Richard de Fournival. Sudhaffs Archiv 51 (1967), S. 46-48 und G. Baader (wie Anm. 49), S. 41. Siehe dazu auch Paul Glorieux: Etudes sur la "Biblionomia" de Richard de Fournival. Recherehes de theolo­gie ancienne et medü!vale 30 (1963), 205-231, und Richard R. Rouse: The early library of the Sorbonne, I. Scriptorium 21 (1967), 48-50.

59 Vgl. K. Sudhoff: Die Salernitaner Handschrift in Breslau. Ein Corpus medicinae Salerni. Sudhaffs Archiv 12 (1920), S. 101-148; H. Wölfe!: Das Arzneidrogenbuch Circa instans in einer Fassung des XIII. Jahrhunderts aus der Universitätsbibliothek Erlangen. Math.nat. Diss. Berlin 1939, S. VI; G. Baader/G. Keil (wie Anm. 22), S. 131.

60 Vgl. L. Thorndike (wie Anm. 52), S. 93-95. 61 Vgl. E. Seidler (wie Anm. 40), S. 49 f. 62 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 31 f. 63 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 28 f. 64 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 32 f. 65 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 35 f. 66 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 33 f. 67 Vgl. G. Baader (wie Anm. 39), S. 37 f. 68 Vgl. A. C. Klebs: Geschichtliche und bibliographische Untersuchungen. In: Die ersten gedruckten

Pestschriften. München 1926, S. 1-84; siehe dazu auch G. Baader: Die Pestschriften des Johann Lang(e) aus Wetzlar (1412-1430). Deutsche Apotheker Zeitung 119 (1979), S. 718-722.

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22 Gerhard Baader:

69 Vgl. K. Sudhoff: Graphische und typographische Erstlinge der Syphilisliteratur aus dem Jahre 1495 und 1496. München 1912 (Alte Meister der Medizin und Naturkunde, IV); denselben: Zehn Syphilisdrucke aus dem Jahre 1495-1498. Mailand 1924 (Monumenta medica 3); G. Baader (wie Anm. 39), S. 45.

70 Vgl. T. Holste: Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung. Pattensen/Han. 1976 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, Bd 5), S. 88-114 und denselben: Vom Dosis-Problem zum Arzneimittelbegleitschein. Wege der Vulgarisierung bei der Theriakdiskussion. Medizinhistorisches Journa/13 (1978), S. 171-185.

71 Vgl. G. Rath: Andreas Vesal im Lichte neuer Forschungen. Wiesbaden 1963 (Beiträge zur Ge­schichte der Wissenschaften und der Technik, Heft 6); siehe dazu auch G. Baader (wie Anm. 49), S. 53 und denselben (wie Anm. 56), S. 97.

Privatdozent Dr. Gerhard Baader Institut für Geschichte der Medizin der Freien Universität Berlin Augustastraße 3 7 D-1000 Berlin 45