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Unterrichtsideen Religion 9./10. Schuljahr, 2. Teilband ISBN 3-7668-3718-4 HANS KÜNG: DAS KREUZ UND DIE LOTOSBLÜTE (I) In seinem ganzen Verhalten zeigt Jesus viel Ähnlichkeit mit Gautama: Wie Gautama war Jesus ein Wanderprediger, arm, heimatlos, anspruchslos, der eine entscheidende Wende in seinem Leben erfahren hatte, die ihn zur Verkündigung bewog. Wie Gautama appelliert Jesus an die Vernunft und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, wenngleich nicht mit systematischerwägenden Vorträgen und Gesprächen, so doch mit allgemeinverständlichen, eingängigen Spruchworten, Kurzgeschichten, Gleichnissen, die aus dem jedermann zugänglichen, ungeschminkten Alltag genommen sind Wie für Gautama, so bedeuten auch für Jesus Gier, Macht, Verblendung die große Versuchung, die - so nach den Versuchungsgeschichten des Neuen Testaments - der großen Aufgabe entgegenstand. Wie Gautama war auch Jesus, durch kein Amt legitimiert, in Opposition zur religiösen Tradition und zu deren Hütern, zur fomalistisch-ritualistischen Kaste der Priester und Schriftgelehrten, die für die Leiden des Volkes so wenig Sensibilität zeigten. Wie Gautama hatte Jesus bald engste Freunde um sich, seinen Jüngerkreis und weitere Gefolgschaften. Aber nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihrer Verkündigung zeigt sich eine grundlegende Ähnlichkeit: Wie Gautama trat Jesus wesentlich als Lehrer auf, für beide lag ihre Autorität weniger in ihrer schulmäßigen Ausbildung als in der außerordentlichen Erfahrung einer letzten Wirklichkeit. Wie Gautama, so hatte auch Jesus eine dringende, eine frohe Botschaft auszurichten, die von den Menschen ein Umdenken und Vertrauen forderte: nicht Orthodoxie, sondern Orthopraxie. Wie Gautama wollte Jesus keine Welterklärung geben, übte er keine tiefsinnige philosophische Spekulation oder gelehrte Gesetzeskasuistik; seine Lehren sind keine geheimen Offenbarungen über die Beschaffenheit des Gottesreiches; sie zielen auch nicht auf eine bestimmte Ordnung der weltlichen Rechts- und Lebensverhältnisse. Wie Gautama geht Jesus aus von der Vorläufigkeit und Vergänglichkeit der Welt, der Unbeständigkeit aller Dinge und der Unerlöstheit des Menschen. Wie Gautama sieht Jesus die Wurzel dieser Unerlöstheit in des Menschen Begierden und Süchten, kurz, in der Ichbezogenheit, Ichsucht, Egozentrik. Wie Gautama zeigt Jesus einen Weg der Erlösung aus der Ichsucht, Weltverfallenheit, Blindheit: Eine Befreiung, die nicht durch theoretisches Spekulieren und philosophisches Räsonieren erreicht wird, sondern durch eine religiöse Erfahrung und einen inneren Wandel. Wie bei Gautama werden bei Jesus auf dem Weg zu diesem Heil besondere Voraussetzungen intellektueller, moralischer oder weltanschaulicher Art nicht gemacht. Wie Gautamas Weg, so ist auch der Jesu ein Weg der Mitte zwischen den Extremen der Sinnenlust und der Selbstquälerei, zwischen Hedonismus und Asketismus, ein Weg, der eine neue selbstlose Zuwendung zum Mitmenschen ermöglicht. In: Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel, Ausgabe 14/1994 Aufgaben: 1. Unterstreiche alle Begriffe, mit denen der Verfasser eine Ähnlichkeit Jesu mit Buddha anzeigt! (z. B. Wanderprediger, Lebenswende, Appell an Vernunft etc-) 2. Überprüfe die Darstellung des Verfassers, indem du versuchst, jeder von ihm genannten Ähnlichkeit eine Bibelstelle zuzuordnen! Als Hilfestellung kann dir vielleicht diese Liste von Stellenangaben dienen: Mt 4) 1ff; Mt 5,2; Mt 6,33; Mt 8,20; Mt 11, 18f; Mt 11,25; Mt 23, 1ff; Mk 1, 9ff; Mk 1, 15; Mk, 1, 1,6ff; Mk 4,30ff; Mk 6,3f; Mk 12,18ff; Mk 13, 1ff (insbes. V 31); Lk 12,13ff

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Unterrichtsideen Religion 9./10. Schuljahr, 2. TeilbandISBN 3-7668-3718-4

HANS KÜNG:DAS KREUZ UND DIE LOTOSBLÜTE (I)

In seinem ganzen Verhalten zeigt Jesus viel Ähnlichkeit mit Gautama:Wie Gautama war Jesus ein Wanderprediger, arm, heimatlos, anspruchslos, der eine entscheidendeWende in seinem Leben erfahren hatte, die ihn zur Verkündigung bewog.Wie Gautama appelliert Jesus an die Vernunft und die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, wenngleichnicht mit systematischerwägenden Vorträgen und Gesprächen, so doch mit allgemeinverständlichen,eingängigen Spruchworten, Kurzgeschichten, Gleichnissen, die aus dem jedermann zugänglichen,ungeschminkten Alltag genommen sindWie für Gautama, so bedeuten auch für Jesus Gier, Macht, Verblendung die große Versuchung, die -so nach den Versuchungsgeschichten des Neuen Testaments - der großen Aufgabe entgegenstand.Wie Gautama war auch Jesus, durch kein Amt legitimiert, in Opposition zur religiösen Tradition undzu deren Hütern, zur fomalistisch-ritualistischen Kaste der Priester und Schriftgelehrten, die für dieLeiden des Volkes so wenig Sensibilität zeigten.Wie Gautama hatte Jesus bald engste Freunde um sich, seinen Jüngerkreis und weitereGefolgschaften.Aber nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihrer Verkündigung zeigt sich eine grundlegendeÄhnlichkeit:Wie Gautama trat Jesus wesentlich als Lehrer auf, für beide lag ihre Autorität weniger in ihrerschulmäßigen Ausbildung als in der außerordentlichen Erfahrung einer letzten Wirklichkeit.Wie Gautama, so hatte auch Jesus eine dringende, eine frohe Botschaft auszurichten, die von denMenschen ein Umdenken und Vertrauen forderte: nicht Orthodoxie, sondern Orthopraxie.Wie Gautama wollte Jesus keine Welterklärung geben, übte er keine tiefsinnige philosophischeSpekulation oder gelehrte Gesetzeskasuistik; seine Lehren sind keine geheimen Offenbarungen überdie Beschaffenheit des Gottesreiches; sie zielen auch nicht auf eine bestimmte Ordnung derweltlichen Rechts- und Lebensverhältnisse.Wie Gautama geht Jesus aus von der Vorläufigkeit und Vergänglichkeit der Welt, derUnbeständigkeit aller Dinge und der Unerlöstheit des Menschen.Wie Gautama sieht Jesus die Wurzel dieser Unerlöstheit in des Menschen Begierden und Süchten,kurz, in der Ichbezogenheit, Ichsucht, Egozentrik. Wie Gautama zeigt Jesus einen Weg der Erlösungaus der Ichsucht, Weltverfallenheit, Blindheit: Eine Befreiung, die nicht durch theoretischesSpekulieren und philosophisches Räsonieren erreicht wird, sondern durch eine religiöse Erfahrungund einen inneren Wandel.Wie bei Gautama werden bei Jesus auf dem Weg zu diesem Heil besondere Voraussetzungenintellektueller, moralischer oder weltanschaulicher Art nicht gemacht.Wie Gautamas Weg, so ist auch der Jesu ein Weg der Mitte zwischen den Extremen der Sinnenlustund der Selbstquälerei, zwischen Hedonismus und Asketismus, ein Weg, der eine neue selbstloseZuwendung zum Mitmenschen ermöglicht.In: Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel, Ausgabe 14/1994

Aufgaben:

1. Unterstreiche alle Begriffe, mit denen der Verfasser eine Ähnlichkeit Jesu mit Buddha anzeigt! (z.B. Wanderprediger, Lebenswende, Appell an Vernunft etc-)

2. Überprüfe die Darstellung des Verfassers, indem du versuchst, jeder von ihm genanntenÄhnlichkeit eine Bibelstelle zuzuordnen!Als Hilfestellung kann dir vielleicht diese Liste von Stellenangaben dienen:Mt 4) 1ff; Mt 5,2; Mt 6,33; Mt 8,20; Mt 11, 18f; Mt 11,25; Mt 23, 1ff; Mk 1, 9ff; Mk 1, 15; Mk, 1,1,6ff; Mk 4,30ff; Mk 6,3f; Mk 12,18ff; Mk 13, 1ff (insbes. V 31); Lk 12,13ff