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Hans Robert Jauss-Wege Des Verstehens -W. Fink (1994)

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Hans Robert Jauss-Wege des Verstehens

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  • Der Streit der Interpretationen hat im letzten Jahrzehnt dazu gefhrt, die Basis des Sinnver-stehens selbst und damit die Autoritt der Her-meneutik in Frage zu stellen. In dieservornehm-lich theoretisch gefhrten Debatte wurde eine Frage vernachlssigt, mit der dieses Buch ein-setzt - die schlichte Frage, was uns die Beg riffs-geschichte und der Sprachgebrauch vorab von den Leistungen des Verstehens zu erkennen geben. Damit hatte sich zuvor Hans Lipps in seiner hermeneutischen Logik, Karl Lwith in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen und Ludwig Witt.genstein in seiner Theorie der Sprachspiele betat. Das Vorhaben einer lite-rarischen Hermeneutik, die solche Anstze wieder aufnehmen und auf ihrem eigenen Feld - dem sthetischen Sinnverstehen - weiterfh-ren will, setzt voraus, da Hermeneutik keine esoterische Lehre, sondern die Theorie einer Praxis ist. Danach entspringt Verstehen primr nicht-der Beziehung von Subjekt und Objekt, sondern der Interaktion zwischen Subjekten, einem Sich-Entsprechen in der Rede, das ein immer wieder revidierbares Verstndnis her-vorbringt. Literarische Hermeneutik zumal ist von Haus aus nicht monologisch( sondern dialogisch. Sie setzt sich damit von a ler Hermeneutik ab, die das Verhltnis von Verstehen, Auslegen und Anwenden - gleichviel ob durch die Bindung an eine ursprngliche Intention des Textes, an die voluntas auctoris, an die Autoritt einer sakrosankten Schrift oder an die Geltung einer Tradition - auf einen vorgegebenen Sinn fest-legen und damitvereindeutigen will. Dem steht die Auffassung entgegen, da Verstehen -gleichviel ob es um ein Verstehen des Andern in der Rede oder um ein Verstehen von Texten geht - nicht auf einem einzigen, fr alle ver-bindlichen Weg gesucht werden kann, son-dern auf verschiedenen Wegen zu erreichen ist. Insofern entspricht der Titel des Buches der Erfahrung, da es immer wieder neu und anders zu stellende Fragen sind, die ermgli -

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    chen, Zugnge des Verstehens zu erffnen und bisher unerKannte Seiten einer Person oder Ansichten einer Sache aufzudecken. Der erste, systematische Teil beginnt mit einer Rckschau auf die Begriffsgeschichte von Ver-stehen, um von ihr aus die Eigentmlichkeit sthetischen Sinnverstehens zu begrnden. Damit ist keineswegs nur das Verstehen von Literatur und Kunst als einer Welt fr sich gemeint. Das dialogische Prinzip der literari -schen Hermeneutik erstreckt sich auch darauf, wie sthetisches Verstehen, das an die Freiheit der Reflexion appelliert, zwischen verschiede-nen Subsinnwelten der Lebenserfahrung wie Religion, Recht, Politik oder Moral zu vermitteln vermag. Dq~ gilt im besonderen fr das Ver-hltnis von Asthetik und Moral. Ihrer vermeint-lichen Unvereinbarkeit lt sich entgegenset-zen, da die literarische Tradition gegenlufig zur prskriptiven Moral eine explorative Moral entfaltet und ~amit den genuin moralischen Anspruch des Asthetischen aus seinem Verm-gen beBrndet hat, das Verstehen des Andern zu erHnen, aber auch wieder zu problemati -sieren. Die Problematik und Ambivalenz dieser hermeneutischen Moral wird hernach an der Genese und Wi rkung des Dictums: Tout com-prendre, c' est tout pardonner errtert. Der zweite, historische Teil erprobt das herme-neutische Verfahren an einer Beispielreihe, die vom Buch Jona ber die Tradition der Charak-tere, Dante und Shakespeare, Yves Bonnefoy (als Reprsentant moderner Lyrik) bis zu Pavics Chasarischem Wrterbuch (als Reprise des Religionsgesprchs) fhrt. Der dritte, kritische Teil dokumentiert Stellungnahmen: zur Entdek-kung des Individuums in der Renaissance, zum Dekonstruktivismus (Paul de Man), zum New Historicism, zur Epochenschwelle der Postmo-derne, zu George Steiners Theologie der Kunst, zum Verhltnis von musikalischer und literari -scher Hermeneutik und nicht zuletzt zur Reform der Gei steswi ssenschaften.

  • Hans Robert Jau

    Wege des Verstehens

    Wilhelm Fink Verlag Mnchen

  • Umschlagabbildung: Matthias Hollnder: .. DIE TREN- 1987, Gouache auf Papier M x 8S cm

    Die Oeuuche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

    Jau8, Han. Robert: Wep des Vcmehens / Hans Roben JauB. -Mnchen: F'mk., 1994

    ISBN 3-n05-2982-o

    ISBN 3-7705-2982-0 C 1994 Wilhelm Fink Verlag, Mnchen

    HersteUung: Ferdinand Schningh GmbH, Paderbom

  • Inhalt

    Vorw-ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7

    A. Ad dogmaticos: Kleine Apologie der literarischen Hermeneutik

    1. Rckschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen 11 2. Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des

    sthetischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Tout comprendre, c'est tout pardonner . . . . . . .. 49

    B. Hermeneutische Exempel

    4. Das Buch Jona - ein Paradigma der ,Hermeneutik der Fremde' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

    5. Vom Plurale tantum der Charaktere zum Singulare tantum des Individuums. . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

    6. Erleuchtete und entzogene Zeit - eine Lectura Dantis . 147 7. Shakespeare im Horizontwandel der Moderne - eine

    Rezeptionsgeschichte von King Lear. . . . .. .. . . 181 8. Ein Abschied von der Poesie der Erinnerung -

    Yves Bonnefoy: Ce quifut sans furniere. . .. 210 9. Das Religionsgesprch, oder:

    The last things before the last . . . . . . . . . . 251

    c. Kritische Gnge

    10. Zur Entdeckung des Individuums in der Portraitmalerei der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

    1 1. Brief an Paul de Man. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 12. Alter Wein in neuen Schluchen? Bemerkungen zum

    New Historicism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .304

  • 6 Inhall

    13. Die literarische Postmoderne - Rckblick auf eine umstrittene Epochenschwelle . . . . . . . . . . . .. . 324

    14. ber religise und sthetische Erfahrung - zur Debatte um Hans Belting und George Steiner . . . . . . . . 346

    15. Salzburger Gesprch ber musikalische und litera-rische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

    16. Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 402

    Nachweise .... .429

    Autorenregister . .432

  • Vorwort

    Die hier vereinten Schriften aus den Jahren 1985 bis 1993 verknpft die zumeist unausgesprochene oder beilufig gebliebene, nun aber eigens ausgefhrte Absicht einer Apologie. Ich habe mich dieser Redegattung verschiedentlich bedient, als es darum ging, erst die Literaturgeschichte, dann die Literatur des Minelalters und hemach die sthetische Erfahrung zu verteidigen. Der Vorwurf, berholt zu sein, trifft heute nicht selten die Hermeneutik. Wenn ich es darum fr angezeigt halte, ihr Erkenntnisinteresse zu rechtfertigen, bin ich mir durchaus bewut, da Apologie einen theologischen Klang hat. Ist sie doch in der Geistesgeschichte seit dem Frhchristentum vor-nehmlich ein Instrument der Orthodoxie gewesen. Die literarische Hermeneutik hingegen sah sich immer wieder gentigt, die Wahrheit der Dichtung gegen den philosophischen oder theologischen Rigo-rismus zu behaupten. Eine De[ense o[ Poetry - um nur den berhm-ten Titel Sidneys zu nennen - geriet fr die Orthodoxen und Funda-mentalisten aller Lager begreiflicherweise immer wieder unter den Verdacht der Hresie.

    Den will ich gelassen in Kauf nehmen, wenn ich nunmehr die Waf-fen der Widersacher gegen sie selbst wende und behaupte: Herme-neutik war von Haus aus undogmatisch und ist es noch. Wer sie ver-achtet, weil er sie - um vorab die gngigen Vorwrfe zu nennen - fr konservativ, vergangenheitshrig und traditionsglubig, der ,Chi-mre des Ursprungs verfallen, fr unkritisch, affirmativ und -schlimmer noch - fr herrschaftsstabilisierend, fr subjektivistisch, unsystematisch und theorieblind hlt, kann seinerseits in Dogmatis-mus verfallen, ohne zu bemerken, da er in praxi doch selbst von dem zehrt, was er theoretisch ablehnt. Man denke nur an Verfahren der Interpretation und an Spielregeln der Kommunikation, die preis-zugeben das elementare Bedrfnis, in der Situation der Rede den Andern zu verstehen und selbst verstanden zu werden, verleugnen hiee, ein Bedrfnis, das dem Menschen unbestreitbar nun einmal . .

    eigen 1st. Ich werde im ersten Teil dieses Buches vornehmlich dieses Bedrf-

    nis erlutern, ausgehend von einer Frage, die - wie mir scheint - in der hochtheoretisch gefhrten Debatte vernachlssigt wurde: die

  • 8 Vorwon

    schlichte Frage, was uns die Begriffsgeschichte und der Sprachge-brauch vorab von den Leistungen des Verstehens zu erkennen geben. Auf diese Weise hoffe ich, meinen Lesern am klarsten darlegen zu knnen, da Hermeneutik keine esoterische Lehre, sondern die Theorie einer Praxis ist. Ineins damit mchte ich den Gebildeten unter ihren Verchtern zu bedenken geben, ob die modisch gewor-dene Schelte der Hermeneutik nicht stndig Tren einrannte, die in ihrer Geschichte wie in der Praxis des Sinnverstehens oft schon lange geffnet waren.

    Der Titel Wege des Verstehens bedarf heute wohl kaum mehr einer ausfhrlichen Erluterung. Er soll mein Vorhaben von aller dogmati-schen Hermeneutik abrcken, sofern diese das Verhltnis von Verste-hen, Auslegen und Anwenden - gleichviel ob durch seine Bindung an die ursprngliche Intention eines Textes, an die voluntas auctoris, an die Autoritt einer sakrosankten Schrift oder an die Geltung einer Tradition - auf einen vorgegebenen Sinn festlegen und damit verein-deutigen will. Ihm liegt die auch von anderen geteilte Auffassung zugrunde, da Verstehen - gleichviel ob es um ein Verstehen des Andern in der Rede oder um ein Verstehen von Texten geht - nicht auf einem einzigen, fr alle verbindlichen Weg gesucht werden mu, sondern auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Er ent-spricht der Erfahrung, da es immer wieder neu und anders zu stel-lende Fragen sind, die ermglichen, Zugnge des Verstehens zu erffnen und bisher unerkannte Seiten einer Person oder Ansichten einer Sache vor Augen zu fhren.

    Wenn es keinen fr alle verbindlichen Weg der Erkenntnis geben kann, besagt das zunchst, da ein jeder den Weg seines eigenen Ver-stehens suchen, dabei verschiedene Anlufe erproben und Umwege einschlagen mu, die ihm gewi kein anderer ganz ersparen kann: "On ne re~oit pas la sagesse, iI faut la decouvrir soi-meme apres un trajet que personne ne peut faire pour nous, ne peut nous epargner, car elle est un point de vue sur les choses. Dieser Satz, in dem Prousts A Ja recherche du temps perdu gipfelt (Ed. de Ja Pleiade, 11, 219), ist indes die Einsicht einer Rckschau, die zu einem Weg verein-heitlicht, was im Gang des Lebens in einer Vielheit von Zeiten und Wegen ohne ein erkennbares Telos erfahren wurde. Da die ver-meintlich vergebliche Suche in Wahrheit schon die unsichtbare Geschichte einer Berufung war, ist eine profane, doch spte Erleuch-tung des Erzhlers, die ihn erkennen lt, da erst sein Erinnern, wenn es den Weg durch die Zeit wieder beschreitet, den verlorenen Sinn der Vergangenheit in der wiedergefundenen Zeit zu entdecken vermag.

  • Vorwort 9

    Die Erinnerung an das Werk Marcel Prousts, mit dem mein eigener Weg in den Beruf des Philologen begann, soll auch hier mit der Meta-pher von den Wegen des Verstehens anzeigen, da wissenschaftliche Erkenntnis stets den Zufllen des Suchens und Findens wie dem unerwarteten Widerstand des Fremden ausgesetzt ist und dabei Vie-les der Begegnung mit denen verdankt, die uns als Weggefhrten oder auf anderen Wegen zur Seite oder auch entgegen standen. Insofern meint die Metapher des Weges eine Erfahrung geschichtlicher Kon-tingenz und steht damit im strikten Gegensatz zur Metapher organi-scher Entwicklung, dem Bildungsideal einer vergangenen Epoche. Auch dem eigenen Weg der Erkenntnis, zu dem sich die verschiede-nen Wege und Umwege des Verstehens erst in der Rckschau verei-nen, ist nicht alles eigen. Solch vermeintlicher Kontinuitt wider-spricht das Bewutsein, da dieser Weg immer wieder auch anders htte verlaufen knnen, da auch das Verfolgen eines fernen Ziels immer wieder nderungen der Richtung des Fragens erforderte, die nicht immer eigener Wahl, sondern oft auch fremdem Anla, dem Ansinnen einer Antwort auf ein neu gestelltes Problem, entsprangen.

    So sind auch die Fragestellungen, aus denen die Themen dieses Buches hervorgingen, nicht allesamt einer Absicht oder Planung des Verfassers zuzuschreiben. In seinen zweiten Teil sind vornehmlich Abhandlungen eingegangen, die fr Kolloquien der Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik verfat wurden. Hier war ich in der glckli-chen Lage, an der ThemensteIlung selbst beteiligt zu sein und meine Anstze in den interdisziplinren Dialog einbringen zu knnen, der in diesem Kreis seit jeher dazu diente, verschiedene Wege des Verste-hens zu erproben. Die Kapitel des dritten Teils hingegen sind aus Vortrgen hervorgegangen, mit denen ich zu Fragen Stellung nahm, die in aktuellen Debatten eine Antwort aus der Sicht der literarischen Hermeneutik herausforderten. Die Anlsse sind den bibliographi-schen Nachweisen (im Anhang) zu entnehmen. Es ist mir durchaus bewut, da ich bei alledem die angeschlagenen Themen keineswegs ausgeschpft habe, von denen manches den Ausbau zu einem eige-nen Buch zu verdienen schien. Doch sehe ich darin keinen Mangel, sondern die Konsequenz einer gesprchsoffenen Hermeneutik, die dazu einldt, schon eingeschlagene Wege des Verstehens weiter zu beschreiten oder zu versuchen, auf anderen Wegen ber sie hinauszu-gelangen. Nur Dogmatiker knnen glauben, ihr Thema ein fr alle-mal ausgeschpft zu haben. Eine Apologie des Verstehens hingegen, die nicht dogmatisch verstanden sein will, kann sich damit beschei-den, mit Paul Valery zu sagen: "Je travaille pour quelqu'un qui viendra apres" (Cahiers, 11 60).

  • A. Ad dogmaticos: Kleine Apologie der literarischen Hermeneutik

    1. Rckschau auf die Begriffsgeschichte von Verstehen

    I.

    Wenn ich die Frage an den Anfang stelle, was die Begriffsgeschichte und der Sprachgebrauch vorab von den Leistungen des Verstehens erkennen lassen, folge ich dabei bereits einer bestimmten Hermeneu-tik: der Hermeneutik der Rede, die vor allem Hans Lipps (nach Karl Lwith) und spter Ludwig Wittgenstein entfaltet haben.

    Don wird der formalen, auf Aussage oder Sachverhalt begrnde-ten Logik eine hermeneutische Logik entgegengesetzt, die bestreitet, da Wahrheit primr an der Aussage hafte, weshalb schon Aristoteles Rat, Bitte oder Frage aus der Logik als ,unwahr' ausgeschlossen hatte. Solche Redeakte oder Sprachspiele lassen ihre Bedeutung - den Logos semanticos - nicht in der Eindeutigkeit eines Begriffs, seiner Definition, sondern in der Verhltnismigkeit und Situationsbezg-lichkeit aller Rede erkennen. Die Verbindlichkeit der Sprache ent-springt nicht der Beziehung von Objekt und Subjekt, einer adaequa-tio rei et intellectus, sondern der Beziehung von Subjekt zu Subjekt, einem Sich-Entsprechen in der Rede, das ein stets revidierbares Ver-stndnis hervorbringt. Verstehen ist primr nicht monologisch, son-dern dialogisch. Mit diesen Prmissen stellt die Hermeneutik der Rede die von der cartesianischen Tradition preisgegebene Prioritt der Mitwelt vor der Objektwelt wieder her.

    Die Hermeneutik der Rede ist gegen die radikale Sprachskepsis poststrukturaler Theorien aufzubieten, sofern diese behaupten, da Hermeneutik die auersprachliche Realitt verfehlen msse, weil alles Verstehen immer schon der vorgreifenden Macht der Sprache, dem anfangs- und endlosen Strom anonymer Diskurse, botmig \ei. Sol-che Skepsis verabsolutiert Sprache als System (langue). Sie verkennt

  • 12 A. Ad dogmaticos

    den Sprach wandel als die andere Dimension von Sprache (parole): das sprachschaffende Bewutsein. das sich in Akten der Rede die Welt im Horizontwandel der Erfahrung, sei es rckschauend. sei es vorgreifend. aneignet. Hier sind wir nicht lnger Gefangene der Spra-che. sondern ihr Souvern. zumal in der Dichtung. sofern sie mgliche Welten - die Mglichkeit. anders sein zu knnen - zu entwerfen ver-mag. Die dichterische Sprache ist dabei - nach Eugenio Coseriu - nicht als ,AbweichungC von einer Normalsprache zu begreifen. Sie stellt vielmehr mit ihrem kreativen Vermgen erst eigentlich die volle Funk-tionalitt der Sprache dar. 1 Das zeigt sich gerade auch in J acob Grimms Deutschem Wrterbuch. Z Dort ist der Groteil der Zeugnisse, die den Bedeutungswandel von Verstehen erfassen, dem Gebrauch in der Lite-ratur entnommen, die in der Tat den hermeneutischen Logos. der in der Sprachgeschichte waltet. am schnsten zu erhellen vermag. Die folgende, primr diese Fundgrube auswertende Betrachtung ergnzt damit aus der Sicht der literarischen Hermeneutik die ltere Problem-geschichte, die KarlOtto Apel- ausgehend von Diltheys Scheidung zwischen Erklren und Verstehen - der Vorgeschichte des wissen-schaftlich-philosophischen Verstehensbegriffs gewidmet hat. )

    11.

    Der etymologische Ursprung von verstehen lt im Lateinischen und im Deutschen zwei Grundfunktionen erkennen. Lat. intelligere (von inter-Iegere: dazwischen lesen, auslesen, unterscheiden) begreift die Bedeutung von verstehen analytisch: nmlich ,der charakteristischen Merkmale unterscheidend innewerden'. 4 Dem stellt Grimm ein germ. instan fr: ,in einem Gegenstand stehen, fuen, zuhause sein', z,ur Seite, das die Bedeutung synthetisch begreift. Es folgt ein sprach-geschichtlicher Schritt von der sinnlichen Anschauung des Stehens (stdn) zur geistigen des Verstehens als ,rings um einen Gegenstand stehen, ihn umstehen, in der Gewalt habenc, dem lat. comprehendere entspricht. Dieser Schritt findet sich gleichermaen in Parallelbil-

    1 E. Coseriu: Thesen zum Thema ,Sprache und Dichtung,e, in: B~ilTiigt ZIIT uxtlinglli-stik, hg. W. Stempel, Mnchen 1971, S. 183-188.

    2 Belege aus dem Artikel Vtnt~hm von Grimms D~"tschnn WTtnbllch sind nicht eigens nachgewiesen. da don unter Lemma oder Automamen leicht zu finden.

    3 .Das Vemehen (eine Problemgeschichle als Begriffsgeschichte)-, in: Archw f;;r B~griflsg~schicht~, Bd. 1 (1955), 142 ff .

    .. Nach K.E. Georges: L.t~inisc:h-tk"tsch~s Sc:h"IVITt~rb"ch. Hannover und Leipzig, 11900. s. v. inlelligo.

  • 1. Rckschau 13

    dungen, wie z. B. im Fall von greifen zu begreifen (fr abstraktes Denken). Der Zusammenhang von sinnlicher und geistiger Anschau-ung wird von dem lat. Synonym sapere und der deutschen Entspre-chung schmackhaft verstehen bewahrt. Ein Beispiel aus der Dich-tung: "Denn werdet ihr wohl recht schmecken und verstehen / was Liebe fr ein Labsal sei" (Lohenstein). Mithin liegt auch geistigem Verstehen noch sinnliche Erfahrung zugrunde. Das hat Hegel auf die schnste Formulierung gebracht: ",Sinn' nmlich ist dies wunder-bare Won, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andere Mal heien wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache". ~ Das sollte den Verfechtem einer ultramodemen sthetik zu denken geben, die glauben, die pure sinnliche Anschauung gegen das begreifende Verstehen, mithin die Sinne gegen den Sinn aufbieten zu knnen. Denn auch der zur jng-sten sthetischen Norm erhobene "Eigensinn der Sinne" vereint noch - wie der Doppelsinn von ,Eigensinn' selbst verrt - sinnliche Wahrnehmung und wahrgenommene Bedeutung.6 Verstehen ist keine abstrakte Sprachhandlung. Das bezeugt in der Wortgeschichte auch die Neubildung einen etwas verstehen lassen (1671) oder zu ver-stehen geben, die ein sinnflliges ,merken lassen, andeuten~ voraus-setzt. Nicht nur auf das Was, immer auch auf das Wie kommt es beim Verstehen an (so in der jngeren Wendung: ,auf eine verdeckte' oder ,auf eine feine Art zu verstehen geben').

    Die Wongeschichte gabelt sich in das Verstehen einer Sache und das Einander-Verstehen von Personen. Fr das erstere: intelligere se in aliqua re verdrngt die Wendung sich verstehen auf seit dem 16. Jahrhundert alle anderen reflexiven Wendungen. Zum Verstehen einer Sache gehrt auch das Sich-Verstndigen. Denn es beschrnkt sich auf einen bestimmten Zweck oder eine meist gegen Dritte getrof-fene Vereinbarung. Sich zu etwas verstehen wurde ursprnglich fr eine Abmachung zwischen Parteien gebraucht. Beim Verstehen zwi-schen Personen wre zu fragen (woran Grimm nicht dachte), ob hier nicht ein biblisches Vorbild aufgenommen wurde. Man denke etwa

    S VorkJII"gr" iibn die Jthrtik, in: Wrrkr (Suhrkamp-Ausgabc), Frankfun 1970, Bd. 13,S.173 .

    .. Der Titel .Entweder der Sinn oder die Sinne. Die Veneidigung der Welt g~en den Imperialismus der Weltbilder- von D. Kamper (in: A,,,grbou - Org." !iir Asthrtik. Heft 4, 1992) ist symptomatisch fr die gegenwrtig so modische WeUe. Hingegen 7-eigt M. Seel, mit welchem Recht vom .Eigensinn der kontemplativen Naturwahr-nehmung- gesprochen werden kann, von der zitienen Hege1stelle ausgehend, die ich anders interpretiere. (Einr sthrtik an Natllr, Frankfun 1991, S. 52 ff.)

  • 14 A. Ad dogmaticos

    an folgende Stellen der Lutherbibel: Gott, dessen Handeln menschli-ches Verstehen bersteigt (" wer will den Donner seiner Macht verste-hen?" J Hiob 26, 14), versteht alle Heimlichkeit (Sir. 42,20); er "ver-steht aller Gedanken Dichten" (1. ehr. 28,9). Was Gott vorbehalten war: "Du verstehest meine Gedanken von ferne" (Ps. 139, 2), bean-sprucht die Dichtung der deutschen Klassik fr das autonome Indivi-duum. So Schiller: "Die einzige, die erste, / die meine Seele ganz ver-steht" (Don Carlos), oder Goethe: "Nur uns armen liebevollen beiden / war das wechselseit'ge Glck versagt, / uns zu lieben, ohn' uns zu verstehen" (An Frau von Stein). Das besagt im Kontext: whrend sonst die vielen, die kaum ihr eigen Herz kennen, nur das kleine Glck erfahren, einander zu lieben, ohne sich zu verstehen, fiele fr das voll-kommene Paar beides ineins, wre ihm dieses hchste Glck, sich im Lieben ganz zu verstehen, nicht aus ueren Grnden verwehrt.

    Hier erreicht die Wortgeschichte ihre idealistische Gipfelbedeu-tung: Verstehen wird zum Inbegriff rein individueller Erfahrung, des Sich-Verstehens im Andern - ein Verstehen, dem allein sich erffnen kann, was sich im individuum ineffabile verbirgt. Oaran lt sich eine Beobachtung anschlieen, die ich in Immermanns Memorabilien 7 fand: "Sonst sagten die Leute, die sich verbinden wollten, zueinan-der: ,Du bist mein Alles, meine Welt, das Ziel jeglichen Wunsches.' Jetzt pflegt der Mann von dem Mdchen seiner Wahl zu rhmen, da sie ihn verstehe. Und so spricht umgekehrt das Mdchen auch." Ein schnes Zeugnis dafr, wie die idealistische Hermeneutik nicht nur die philologische Auslegung von Texten bestimmte, sondern selbst noch in der Lebenswelt von 1840 ihr Echo fand!

    111.

    Sich selbst verstehen tritt bei Goethe an die Stelle der antiken Norm: ,Erkenne dich selbst ("mit dir versuch' erst umzugehen, / und kannst du dich nicht selbst verstehen, / so qul' nicht andre Leute"). Schiller hingegen unterscheidet feiner: "Willst du dich selber erken-nen, so sieh wie die andern es treiben, / willst du die andern ver-steh 'n, blick in dein eigenes Herz. " Hier gabelt sich die Bedeutungs-geschichte in ein solipsistisches Verstehen, bei dem sich das Subjekt selbst gengen will, und ein altruistisches, bei dem sich das Selbst nur ber den Andern zu erkennen vermag. Wie in der Folge das subjekt-

    7 Wnkt. Bd. 5. S. 291.

  • 1. Rckschau 15 zentriene Denken den Vorrang gewann und das Sich-Verstehen im Andern verdrngte, hat Karl Lwith eindrucksvoll dargestellt. Gleichwohl bleibt beiden Bedeutungsrichtungen gemeinsam, da Verstehen auf das Singulare, Individuelle die Welt des Geistes - bezo-gen ist und das Allgemeine, Gesetzhafte - die Welt der Natur - aus-schliet. "Wer hat des irdischen Leibes / hohen Sinn erraten? / Wer kann sagen, / da er das Blut versteht?", fragt schon Novalis. Die hier angezeigte, verhngnisvolle Scheidung von Geist und Natur schlgt sich danach im Gegensatz von Verstehen und Erklren nieder: "Die verstehen nur wenig, die nur das verstehen, was sich erklren lt", bemerkt Marie Ebner-Eschenbach. Verstehen bergreift wohl das Erklren; doch was man intersubjektiv versteht, oder auch, was ,sich von selbst versteht', lt sich oft nicht kausal erklren. Den Grenzfall bringt die Berliner Wendung auf die Pointe: "Det versteh'n sie nich, det versteh ik kaum." Das Triviale, was sich von selbst ver-steht' (hoc per se patet, oder im Jargon: ,Versteh'ste'), wird durch die profunde Einsicht geadelt: "Sag etwas, das sich von selbst versteht, / zum ersten Male, und du bist unsterblich" (Ebner-Eschenbach). Auch was sich von selbst versteht, liegt nicht von Anbeginn auf der Hand; es zu entdecken, erforden Geist, der auszusprechen vermag, was im gesellschaftlichen Leben hinfort gelten soll.

    IV.

    Aus der Wortgeschichte ergeben sich Grundbedeutungen, die sich zwischen den Gegenpolen: etwas verstehen (Verstehen einer Sache) und einander verstehen (Verstehen zwischen Personen) auffchern. Unter ,etwas verstehen' fllt vorab der rationale Begriff des Verste-hens, nmlich das, was der Verstand vermge der Begriffe erkennen kann. Nach Kant: "Erfahrung ist eine verstandene Wahrnehmung. Wir verstehen sie aber, wenn wir sie unter dem Titel des Verstandes uns vorstellen. -. Rationales Verstehen fhn indes nicht sogleich zum Begreifen der Wahrheit einer Sache. Davor hat Lichtenberg eigens gewarnt, als er den Anhngern Kants entgegenhielt: "Ich glaube, so wie die Anhnger des Herrn Kant ihren Gegnern immer vorwerfen, sie verstnden ihn nicht, so glauben auch manche, Herr Kant habe recht, weil sie ihn verstehen. ( ... ) Man sollte aber dabei immer beden-ken, da dieses Verstehen noch kein Grund ist, es selbst fr wahr zu

    8 Zit. nach Apd (wie Anm. 3), S. 1St.

  • 16 A. Ad dogmaticos

    halten. Ich glaube, da die meisten ber der Freude, ein sehr abstrak-tes und dunkel abgefates System zu verstehen, zugleich geglaubt haben, es sei demonstrien. "9

    Auch der Sprachgebrauch selbst zeigt uns Grenzen des rationalen Verstehens an. Denn nicht jede Sache lt sich unmittelbar mit Ver-stehen verbinden. Wir verstehen eine Sprache, einen Text, ein Gesetz (mithin geistige Hervorbringungen), nicht aber ein Ding, wie z. B. einen Baum, einen Ski, oder etwas, was man tut, wie z. B. einen Baum fllen oder Skifahren. Wollen wir ein solches Tun mit Verstehen verbinden, so gebrauchen wir die reflexive Wendung: ,Einer versteht sich auf etwas. ' Sich auf etwas verstehen ist mehr als ein bloes etwas knnen (Grimm: "eine intensivere geistige Ttigkeit"): die Selbstbe-zglichkeit implizien etwas wie Kennerschaft, eine Weise des Tuns, die einer Person eigen ist, sie vor anderen auszeichnet. Das zeigt sich nicht zuletzt beim Verstehen von Musik. Es hat nach earl Dahlhaus10 mit dem sprachlichen Verstehen die Unterscheidung zwischen Voll-zug und Interpretation gemeinsam, zwischen dem unreflektienen Verstehen von etwas als etwas (z. B. einer Sprache, wenn man sie gebraucht) und dem reflektienen Verstehen, in dem man sich Gestalt und Sinn eines Textes gleichsam durch ,bersetzung' begreiflich machen mu. Das Verstehen von Musik geht aber insofern ber sprachliches Verstehen hinaus, als Musik, nherhin absolute Musik, nicht auf ein Etwas auerhalb ihrer selbst referien, sondern nurmehr sich selbst bedeutet. Das besagt: auch das Klangereignis, der tnende Vorgang, ist Trger von Bedeutungen, die adquat zu verstehen nun aber ein Aufnehmen und Interpretieren von nicht Notienem erfor-den. Wenn die musikalische Hermeneutik dieses Erfordernis mit dem Verstehen von Musik als Tonsprache gleichsetzt, nhen sie sich wieder der literarischen Hermeneutik, und zwar nicht nur metapho-risch. Vermag doch auch hier der Interpret die Sprache der Poesie erst angemessen zu verstehen, wenn er zwischen den Wonen lesend (intelligere!), was in der ,Panitur' des Textes nicht ausdrcklich ver-zeichnet ist, Gestalt und Sinn eines Werks zu begreifen sucht.

    Was das Verstehen zwischen Personen betrifft, kann dieses zunchst auch ber eine Sache erzielt werden, wofr wir wiederum eine reflexive Wendung: sich in einer Sache verstehen, gebrauchen. Selbstbezug und Sachbezug knnen dabei verschieden gestuft sein. Fr ein Sich-Verstndigen gengt - der juristischen Herkunft gem

    9 G. ehr. Lichtenberg: GtSilmmtlu ~kt. Hrsg. W. Grenzmann. Baden-Baden, s. d. Bd. 1, S. 439.

    10 Ki4ssischt NruJ rowumtischt MNSiltiisthttilt, Regensburg: Laaber, 1988, S. 318 Ef.

  • 1. Rckschau 17

    - das Einvernehmen fr einen bestimmten Zweck, bei dem alles andere auer Betracht bleiben kann, was die Subjektivitt des Ande-ren ausmacht (politische Verstndigung z. B. pflegt keineswegs -man denke nur an die vielberufene deutsch-franzsische Verstndi-gung - mit sich zu fhren, da sich zwei Nationen oder Kulturen wechselseitig verstehen). Sich verstehen in einer Sache erfordert, "da wir das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen versuchen". Es soll zur "Teilhabe am gemeinsamen Sinn" fh-ren, die "keinen Rckgang auf die Subjektivitt des anderen moti-viert". Solches Einverstndnis in der Sache wre nach H.-G. Gada-mer das Ziel aller Verstndigung und allen Verstehens. 11

    Damit wird indes ein zweites, gleich ursprngliches Interesse in den Hintergrund gerckt: das Verstehen des Andern in seiner Indivi-dualitt und damit das Verstehen seiner selbst im Andern, des Eige-nen im Fremden, woran der literarischen Hermeneutik vornehmlich gelegen ist. Schon in der alltglichen Redesituation kann die Frage nach der Wahrheit einer Sache dahingestellt bleiben, wenn es darum geht, ber eine Sache die Einstellung des Anderen, seine Eigenart, zu verstehen. Das gilt aber auch fr die Erfahrung, die uns das Kunst-werk erffnet. Von ihr sagt Gadamer zu Recht, da sie "den, der sie macht, nicht unverndert lt". 12 Doch nicht jede Erfahrung am Kunstwerk setzt voraus, da sthetisches Verstehen nurmehr aus der Begegnung mit der Wahrheit, die die Kunst ins Werk setzt, hervorge-hen knne. Verstehen, das den Erfahrenden verwandelt, kann auch schon der Begegnung mit der fremden Welt des Andern entspringen. Wenn es im hermeneutischen Geschehen darum geht (wie Gadamer selbst einmal formuliert), "in dem Objekt das Andere des Eigenen und damit das Eine wie das Andere erkennen zu lernen" 11, bedarf es keiner weiteren Instanz, um in der Erfahrung der Kunst zwischen den Horizonten des Einen und des Andern zu vermitteln. Fr die Brcke, die sthetisches Verstehen zwischen Subjekt und Subjekt zu schlagen vermag, gengt die Bereitschaft, die Erfahrung seiner selbst auf die Erfahrung des Andern seiner selbst zu ffnen, in einem Pro-ze wechselseitiger Anerkennung, die der Wahrheit des Andern ihr eigenes Recht belt. Solches Verstehen ist dann aber von der bloen Einfhlung in ein mysterises fremdes Du abzusetzen. Denn was uns sthetische Erfahrung vornehmlich erffnet, ist keine Intuition frem-den Wesens, wie sie mystische Erfahrung beansprucht, sondern der

    11 .. Vom Zirkel des Verstehens". in: Kleine Sehn/un, Tbingen 1977, Bd. 4, S. 24-34. 12 Wahrheit und Methode. Tbingen 1960. S. 95. 13 Wie Anm. 11, S. 34.

  • 18 A. Ad dogmaticos

    uns zugewandte Horizont der Welt eines Andern, der seine Fremd-heit als Mglichkeit eines Anderssein-Knnens verstehen lt.

    Den beiden Weisen des sach- und des personbezogenen Verstehens ist - der Etymologie gem - gemeinsam, da sie im Einzelnen stets ein Ganzes - den Zusammenhang einer Sache oder das Charakteristi-sche einer Person - erfassen wollen. Wie immer auch der Zugang des Verstehens gesucht wird: der Teil und das Ganze bedingen sich stets derart, da ein Vorgriff auf das Ganze, d. h. eine Sinnerwartung, die sich erfllen, aber auch scheitern kann, das Verstehen im Einzelnen bedingt. Da das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne wieder-um aus dem Ganzen zu verstehen sei, nennt die Theorie bekanntlich den hermeneutischen Zirkel, der hier nicht eigens zu errtern ist. Aus der Sicht der Wortgeschichte sei dazu nur so viel bemerkt, da das Ganze einer Sache seine sinnliche Erscheinung mit einbegreifen mu, in der - wie wir am Beispiel von sapere sahen - seine geistige Bedeutung fut. Das zeigt schon die umgangssprachliche Wendung etwas zu verstehen geben, bei der ein umschweifiger, doch sinnflli-ger Ausdruck (,auf eine feine Art') etwas erkennen lassen soll, was direkt zu verstehen sich einer weigern knnte. Denn allem Verstehen ist eigentmlich, da es nicht erzwungen werden kann. Wer Verste-hen verweigert, kann am ehesten noch durch die Rhetorik einer geschickten Einkleidung oder durch die Evidenz eines treffenden Beispiels umgestimmt werden. Erfllt der Zirkel des Verstehens die Erwartung der Teilhabe an einem gemeinsamen Sinn, so vermag er doch ein volles Einverstndnis der Beteiligten letztlich nicht zu garantieren. Allem Verstehen ist eigentmlich, da es einen Rest des Nicht-Verstehens hinterlt. Dazu bemerkte Wilhelm von Hum-boldt: "Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie der Kreis im Wasser, durch die Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle bereinstimmung in Gedanken und Gefhlen zugleich ein Auseinandergehen. "14 Den Antihermeneutikem unserer Tage ins Stammbuch zu schreiben, die der hermeneutischen sthetik vorwerfen, an ein bruch loses Verstehen zu glauben, obschon sie bereits bei Schleiermacher, dem Stammvater der modernen Herme-neutik, htten lesen knnen, "da das Nicht-Verstehen sich niemals gnzlich auflsen will K .IS

    104 Zit. nach M. Frank: Stil in der Philosophie, Stungan: Reclam, 1992, S. 19. 15 Zit. nach M. Frank, H~rm~n~Ntik Nnd Kritik, Frankfun 1977, S. 328.

  • 1. Rckschau 19

    v.

    Verstehen kann nicht erzwungen, nicht verordnet und auch nicht eingehandelt werden; es entzieht sich kausaler Erklrung und logi-scher Argumentation. Wie Marie Ebner-Eschenbach zu Recht bemerkte, versteht nur sehr wenig, wer nur das versteht, was sich erklren lt. Die Umgangssprache bewahrt die Unterscheidung zwi-schen Verstehen und Erklren, obschon die Erkenntnistheorie die im 19. Jahrhundert herausgebildete Kluft zwischen verstehenden und erklrenden Wissenschaften heute weithin fr berbrckt hlt. Verste-hen hat mit dem sthetischen Urteil das Moment der Freiwilligkeit, der nur zumutbaren Beipflichtung, gemeinsam. Selbst das Sich-Ver-stehen in einer Sache setzt noch - wie Gadamer gegen Derrida hervor-hob - den guten Willen zu verstehen voraus. 16 Auch wer miversteht, wollte vorab verstehen. Woraus folgt: Verstehen schliet die Mglich-keit des Miverstehens ein. Was jenseits des Verstehens liegt, kenn-zeichnet eine Sphre der Indifferenz, der Selbstgerechtigkeit, des exklusiven Anspruchs auf Wahrheit, letztlich der blanken Durchset-zung von Gewalt. Dort endet, wer sich dialogischem Verstehen entzie-hen und allein auf den ,agonalen Diskurs' setzen will, wie Fran~ois Lyotard, der paradoxerweise selbst durchaus verstanden werden will, wenn er den unvermittelbaren Dissens als ultima ratio anpreist. 17 Ich brauche hier nur an den Fundamentalismus unserer Tage zu erinnern, in dem wiedererstanden ist, was die Aufklrer noch ,Fanatismus' nannten. Verstehen erfordert Toleranz, die - mit Adorno zu sprechen - "den besseren Zustand ( ... ) als den denken sollte, in dem man ohne Angst verschieden sein kann" .18 Selbst noch in der Polarisierung von Freund und Feind ist eine Kultur des Konflikts denkbar, sofern dieser die kommunikative Form eines "GegenseitigkeitshandeIns" bewahrt. 19 Hermeneutik in ihrer modernen Gestalt ist denn auch -nach Odo Marquard "als Replik auf den tdlichen Streit um das abso-lute Verstndnis der Heiligen Schrift" - entstanden und im 18. Jahr-hundert zur selbstndigen Disziplin erhoben worden: "Als Replik auf den Brgerkrieg um den absoluten Text neutralisiert die Hermeneutik absolute Texte zu interpretablen und absolute Leser zu sthetischen. "20

    16 In: Text und Interpretation, hg. Ph. Forget, Mnchen 1984, S. 59 H. 17 Le differend, Paris 1983. 18 Minim4 Moralia, Nr. 66, Franfurt 1951. 19 Dazu J. und A. Assmann : Kultur und Konflikt, Frankfurt 1990, S. 11~8. 20 Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwonist-, in:PH IX, S. 586/7.

  • 20

    VI.

    A. Ad dogmaticos

    Da Verstehen im Unterschied zu Erklren ein Moment der Billigung oder Zustimmung erfordert, involviert letztlich auch die franzsi-sche Sentenz: ., Tout comprendre, c'est tout pardonner. " Ihre intri-kate Zweideutigkeit ist nicht zu verkennen. Zum einen will sie besa-gen, da einander verzeihen zu knnen vor allem erfordere, den Andern zu verstehen, und zwar ganz zu verstehen, was einschliet, ihn als moralische Person voll anzuerkennen. Fr den Akt des verste-henden Verzeihens ist dann nicht lnger eine dritte Instanz vonnten: er tritt an die Stelle des einseitigen Gnadenerlasses einer gttlichen oder weltlichen Autoritt. Das Diktum setzt offenbar die erlangte Mndigkeit des aufgeklrten Brgers voraus. Gewi kann man dem Andern auch verzeihen, ohne ihn zu verstehen. Doch mte ihn dies nicht beschmen, weil es ihn unbesehen gelten lt und damit die Achtung der moralischen Integritt seiner Person verletzt? Jene Ach-tung, deren Gegenstand der Einzelne in seiner Partikularitt oder -nach Simone Weil- "die Anerkennung seines Vermgens der Zustim-mung oder Ablehnung" ist. 2\ Wie schon gesagt, kann Verstehen nicht erzwungen, nicht verordnet und auch nicht eingehandelt werden. Verstehen zumal, das Verzeihen herbeifhrt, entzieht sich kausaler Begrndung und logischer Argumentation, wie das sthetische Urteil, mit dem es das Moment der Freiwilligkeit, der nur zumutba-ren Beipflichtung gemeinsam hat.

    Zum andern wird die Sentenz aber moralisch hchst fragwrdig, wenn sie besagen sollte, da die Toleranz des Verstehens keine Grenze kenne, mithin alles hinnehmen und verzeihen msse. Zur Toleranz, einem Ideal, dem erst die Aufklrung zum Sieg verhalf, bemerkte Goe-the: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorbergehende Gesinnung sein: sie mu zur Anerkennung fhren. Dulden heit beleidigen. "22 Dem lt sich mit Peter Winch hinzufgen: "Da man alles versteht, braucht nicht zu heien, da man alles verzeiht; womglich wird die Emprung dadurch noch gesteigert. "2) Anders steht es beim Grenzfall

    21 Zit. nach P. Winch: Versuchen zu verstehen, Frankfun 1992, S. 243. 22 Maximen und Reflexionen, SW (Anemis), Bd. 9, S. 614. 23 Wie Anm. 21. S. 265. -Schon Max Weber betonte zu Recht: nwederbedeutet ,alles ver-

    stehen' auch .alles verzeihen', noch fhn berhaupt vom bloen Verstehen des fremden Standpunkts an sich ein Weg zu dessen Billigung. Sondern mindestens ebenso leicht. oft mit weit hherer Wahrscheinlichkeit. zu der Erkenntnis, da, warum und worber, man sich nicht einigen knne- (Gesammelte Aufstze zur Wissenschaftslehre, Tbingen !1982, S. 503). Wenn Verstehen, wie ich meine. vom Anbeginn die Zumutung der Billi-gung implizien, zeigt der im Folgenden errterte Grenzfall. da eine unzumutbare Bil-ligung bewirken kann, dem Unverzeihlichen jegliches Verstndnis zu verweigern.

  • 1. Rckschau 21

    des Holocaust, zu dem Winch vllig zu Recht bemerkt, "da hier etwas vorliegt, was in gewissem Sinne nicht zu ,verstehen' ist, wenn wir unser Gefhl fr das, was menschliches Leben ist, behalten wol-len" . 24 Diese Grenze des Verstehens, fr die Winch eine Erklrung schuldig bleibt, lt sich meines Erachtens auf das Moment der Billi-gung zurckfhren, an der sich alles Verstehen scheidet. Verstehen kann dann unangemessen erscheinen, wenn eine unmenschliche Handlung das moralische Ma bloer Mibilligung bersteigt oder mit purer Emprung nicht abzutun ist. Wer vermchte zu sagen, da er das Unmenschliche von Folter, Inquisition, Erpressung, Vernich-tung des Gegners oder Genozid, verstehe'? Es mag sein, da sich sol-che Erscheinungen zwar historisch oder psychologisch durchaus ,erklren' lassen. Doch das besagt dann keineswegs, da man damit den Folterknecht, den Inquisitor oder Mrder in seinem Handeln auch schon ,verstanden' htte. Auch die poetische Fiktion wahrt diese Grenze: wenn sie - wie im Falle der Fleurs du MaP5 - es sich herausnimmt, das Bewutsein im Bsen vorstellbar zu machen und damit unser Verstehen zu erweitern, impliziert solches Verstehen kei-neswegs eine Rechtfertigung des Bsen, sondern fordert unser mora-lisches Urteil heraus.

    VII.

    Wenn moralische Billigung oder Mibilligung allem Verstehen eine Grenze setzen kann, folgt daraus, da das Verstehen nicht von Haus aus einvernehmlich ist, mithin Hermeneutik nicht per se affirmativ oder unkritisch sein mu. Es war schon davon die Rede, da Verste-hen - dem Anschein der Praxis entgegen - sich nicht einfach von selbst ergibt (weshalb Marie Ebner-Eschenbach zu Recht den rh-men wollte, der zum ersten Mal erkennt, etwas verstehe sich von selbst). Darum forderte Schleiennacher, die strengere Praxis der Hermeneutik habe davon auszugehen, "da sich das Miverstehen von selbst ergibt und da Verstehen auf jedem Punkt mu gewollt und gesucht werden". 26 Zu bestreiten, da Verstehen gesucht werden mu und gefunden werden kann. kennzeichnet seit jeher dogmati-sche Selbstberhebung oder ideologische Unbelehrbarkeit - den blinden Glauben, allein im Besitz der Wahrheit zu sein.

    24 Wie Anm. 21. S. 227. 25 Dazu nher in Kap. 2. S. 40 ff. 26 Hn-mmtllti/t. hg. H. Kimmerle. Heidelberg 1959. S. 86 (S 16).

  • 22 A. Ad dogmaticos

    Das berhmteste Beispiel ist das dunkle Jesuswort in Markus 4, 10-12: "Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die drauen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, auf da sie mit Augen sehen und nicht erkennen und mit Ohren hren und nicht verstehen, damit sie nicht etwa umkehren und ihnen vergeben werde." Sollte Jesus tatschlich dem elitren Hochmut einer Jnger-schaft auf Kosten aller Nichterwhlten das Won geredet haben? Die biblische Hermeneutik hat denn auch das rgernis der sogenannten ,Verstockungslehre' auszurumen versucht, indem sie eine andere bersetzung fr den Schlu des Zitats vorschlug. Sie lautet: ,,(die) mit Ohren hren und doch nicht verstehen, es sei denn, da sie umkehren und Gott ihnen vergebe" . 27 Nicht verstehen und nicht ver-standen werden wollen, die zwanghafte Selbsttuschung des Sektie-rertums, ist vom Miverstehen zu scheiden. Bleibt doch im Miver-stehen die Mglichkeit, einander letztlich doch zu verstehen, immer noch bewahrt. Das schnste Beispiel dafr ist so bekannt, da ich es nur zu erwhnen brauche: die Kalendergeschichte Kannitverstan von Johann Peter Hebel. Der deutsche Handwerksbursche, der die hollndische Antwort auf seine Fragen als den Namen eines Herrn Kannitverstan miversteht, kommt "auf dem seltsamsten Umweg ( ... ) durch den Irnum zur Wahrheit": "Und wenn es ihm wieder ein-mal schwer fallen wollte, da so viele Leute in der Welt reich seien, und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein groes Haus, sein reiches Schiff, und sein enges Grab. " Auch wenn Hebels Venrauen auf eine pretablierte Harmo-nie des Verstehens unserer Zeit abhanden gekommen ist, bleibt der Hermeneutik doch die kritische Aufgabe, Miverstehen, das beider-seits unerkannten Voruneilen zu entspringen pflegt, aufzuklren und zu prfen, ob sich ber die erkannte Differenz hinaus nicht doch noch eine Chance finden lt, sie zu beheben, zum Beispiel sich in einer gemeinsamen Sorge um die Zukunft zu verstndigen.

    VIII.

    Hermeneutik in ihrer modemen Gestalt ist Hermeneutik der Alteri-tt. Sie stand seit Schleiermacher vor einem Problem, das sich erst mit dem Sieg des Historismus, dem Ende der fraglosen Geltung von Tradi-tionen, in voller Schrfe gestellt hat: das Verstehen von Fremdheit, sei

    27 NachJ. Jeremias: Die GkichnissejesII, Grungen 1958, S. 11.

  • 1. Rckschau 23 es die eines ferngerckten Textes, sei es die einer anderen Person. Ein-ander verstehen meinte hinfort - wie schon das Schillerzitat bezeugt-: sich selbst im Andern zu verstehen. Solches Verstehen kann sich damit begngen, im Andern das eigene Selbst wiederzuerkennen. Dann han-delt es sich um eine ,laxere Praxis, whrend eine ,strengere Praxis erfordert, da Verstehen nicht einfach das Eigene im Andern besttigt finden darf, sondern bereit sein mu, den Andern in seiner Andersheit und zugleich als Instanz anzuerkennen, die gerade im Widerstand des Femen oder Fremden das Eigene neu zu verstehen erlaubt.

    Verstehen in der Dialektik des Eigenen und des Fremden war das heute oft verkannte Prinzip idealistischer Bildung. Es setzt den Bruch mit der sthetik der Nachahmung voraus. Die Antike ist - so Fried-rich Ast - hinfort klassisch, "weil sie aus einer fremden Welt zu uns redet", nicht also, weil sie uns zeitlose Vorbilder vor Augen stellte. 2 Oder Hlderlin (im Brief an Bhlendorf): "Aber das Eigene mu so gut gelernt sein, wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich." Von Peter Szondi am treffendsten kommentiert: "Die Griechen sind dem hesperischen Dichter unentbehrlich, weil er in ihrer Kunst dem eigenen Ursprung als einem Fremden begegnet. "29 Verstehen setzt den "sittlichen Schmerz" des Schlers voraus, "dem seine unmittelbare Welt der Gefhle entfremdet wird"; es erfordert einen Durchgang durch das Fremde, durch den allein Bildung erlangt werden kann. 50 Hegel in der ersten seiner Nrnberger Gymnasialre-den, in der das Wort Entfremdung zum ersten Mal fllt und sogleich zur "Bedingung der theoretischen Bildung" erhoben wird. lO

    Verstehen als Dialektik des Eigenen und des Fremden impliziert die Frage, wie das Fremde berhaupt angeeignet werden kann. Wre das Fremde eines Textes oder einer Person schlechterdings fremd, so wre es auch nicht versteh bar. Es bedarf also einer Brcke des Verste-hens, die auf verschiedene Weise bestimmt werden kann: aus dem bergreifenden Horizont einer Tradition oder Kultur, beim Fehlen derselben durch sprachliche Universalien oder durch anthropologi-sche Grundstrukturen, im zwischenmenschlichen Umgang durch typisierbare soziale Rollen, Redegattungen oder Handlungsmuster. Alteritt lt sich im Bereich der Knste leichter vermitteln, weil das sthetische per se auf ein 5innverstehen angelegt ist, das die Kontin-genz situationsgebundener Erfahrung wie das ins Ritual verschlos-sene Sakrale bersteigt.

    28 Zit. nach G. Buck: R;;cItw~g~ AllS tkr Entfr~"ng, Mnchen 1984, S. In. 29 Hldnlin-SlluJim, FrankIun 1967, S. 98. 30 Dazu G. Buck (wie Anm. 28), S. In Ef. (vgl. Heget, WW 4,321).

  • 24 A. Ad dogmalicos Das sthetische Sinn verstehen wird gemeinhin vom Verstehen

    eines Textes abgeleitet. Es setzt die aus der antiken Rhetorik stam-mende Theorie vom Zirkel des Verstehens voraus. Gadamer hat den henneneutischen Zirkel von Ganzem und Teil, die sich wechselseitig bestimmen, durch eine weitere Bestimmung ergnzt - durch den " Vorgriff der Vollkommenheit" , der alles Verstehen leite. JJ Ob Gada-mer diese fr das sthetische Sinnverstehen evidente Prmisse auch fr die philosophische Henneneutik geltend machen kann, mge diese selbst entscheiden. Der literarischen Henneneutik ist das Postulat der Vollkommenheit aus der sthetik vertraut, aus der es in die Henneneutik eingewandert sein drfte. Es lt sich auch anthro-pologisch herleiten, wenn man die faszinierende Macht des Imagin-ren aus einem elementaren Bedrfnis erklrt - dem Bedrfnis nach einer Vollkommenheit, die Mangel und Not des endlichen Lebens bersteigt und die zu reprsentieren Religionen und Knste schon frh in Wettstreit traten. )2

    Der Vorwurf, Gadamers Vorgriff der Vollkommenheit sei schierer Idealismus, wird seiner Intention nicht gerecht. Denn die These, "da nur das verstndlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt" , bestimmt den Vorgriff nherhin durch die Struk-tur der Frage, durch das Offenlegen von Mglichkeiten. Der Vorgriff der Vollkommenheit erfordert primr eine grundstzliche Suspen-sion der eigenen Vorurteile, die Bereitschaft, erst einmal nach dem sachlichen Recht der Meinung des Andern zu fragen, an welcher der eigene Standpunkt ennessen, korrigiert und neu bestimmt werden kann. Das so verstandene dialogische Verstehen aber geht am Ende schwerlich in der vollkommenen Einheit von Sinn auf, die das her-meneutische Verfahren antizipierte. Der gefundene Sinn kann viel-mehr selbst wieder problematisch werden und offene Fragen hinter-lassen. Auch gelingendes Verstehen schliet stets die Mglichkeit ein, da der Text auch wieder anders verstanden werden kann. Insofern unterliegt auch Gadamers Vorgriff der Vollkommenheit einer Her-meneutik der Alteritt.

    II Vom Zirkel des Ventehens (wie Anm. 1 t), S. 10. l2 S. Vf.: .Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginren, in: f, S. 294-302.

  • I. Rckschau 25 IX.

    Die literarische Hermeneutik hat hier nur einzuwenden, da der Vorgriff der Vollkommenheit zwar der Alteritt des ferngerckten Textes angemessen ist, fr das Verstehen des Andem von Subjekt zu Subjekt - sei es sthetisch vermittelt, sei es in der Redesituation gesucht - nicht generell bentigt wird. Wie schon die Alltagsrhetorik zeigte, kann das Interesse, den Andern als Subjekt zu verstehen, ganz auf seine Selbstprsentation gerichtet bleiben, ohne nach der objekti-ven Geltung seiner Argumente zu fragen. 33 Desgleichen kann die letztlich metaphysische Frage nach der Wahrheit, die sich in der Kunst manifestiert, suspendiert bleiben, wenn ein Kunstwerk primr als Zugang zum Horizont des Andern, zu seiner subjektiven Erfah-rung von Welt, verstanden werden soll. Dann ist die Sinnerwartung nicht auf die Vollkommenheit, sondern auf das kontingente Sosein des Andern gerichtet. Dann erffnet sthetisches Verstehen die von Marcel Proust am treffendsten formulierte Mglichkeit, "de voir l'univers avec les yeux d'un autre, de cent autres, de voir les cent uni-vers que chacun d'eux voit, que chacun d'eux est". 34

    Gewi ist diese Leistung des sthetischen Verstehens spten Datums. Sie setzt die historische Wende zur Emanzipation der Indi-vidualitt voraus, die sich literarisch explizit wohl zuerst bei Mon-taigne anzeigt. Die ltere, antike wie mittelalterliche Literatur stand auf ihrem Hhenkamm noch ganz im Bann einer inhrenten Ideali-sierung, die - wie etwa die heroische oder bukolische Dichtung zeigt - nur die reine Scheidung zwischen gut und bse, edel und gemein zulie. Die Barriere des Vollkommenheitspostulats, das die hfische Lyrik auf die Spitze trieb, stand der Erfassung des Mitmenschen in der kontingenten, unvollkommenen Gestalt seiner Individualitt entgegen. Nur ausnahmsweise, wie etwa im Briefwechsel zwischen Abaelardus und Heloisa, kndet sich ein neues Verhltnis zum Andem an, das beansprucht, ihn jenseits aller Nonnen und Ideale als Subjekt zu schtzen und zu verstehen - in seiner Singularitt, die ihr eigenes Ma enthlt. Es ist ein Ich-Du-Verhltnis, das Montaigne fr seine Freundschaft mit La Boetie auf die berhmte Formel gebracht hat: "Et si on me presse de dire pourquoy je l'aimais, je sens que cela oe se peut exprimer qu'en respondant: parce que c'etoit luy, parce que

    33 Nach W.-D. Stempel: "Bemerkungen zur Kommunikation im Alltagsgesprch-, in: PH XI, S. 151-170.

    34 A '" rech""he au temps perau. Ed. de la Gerbe, Bd.12, S. 69.

  • 26 A. Ad dogmaticos

    c'etoit moi. "lS Damit ist die Aura der Individualitt an die Stelle der Aura der Vollkommenheit getreten.

    Wenn die Ich-Du-Beziehung im Einander-Verstehen keinen Vor-griff der Vollkommenheit bentigt, besagt das nicht, da hier schon reine ,Einfhlung' genge und keinerlei Brcken des Verstehens erfordert wren. Ein Verstehen des Andern in seiner Individualitt kann sehr wohl ber eine gemeinsame Sache, aber auch in einem Rol-lenverhltnis gewonnen werden, wie es in der Alltagskommunika-tion gang und gbe ist. Nur drfen Ego und Alter dann nicht auf ihre Rolle fixiert bleiben, sondern mu die mgliche Rollendistanz einge-nommen und als Spielraum genutzt werden, um das su bjektive Ver-hltnis zur vorgegebenen Rolle wechselseitig zu interpretieren. Da die reziproke Interpretation des Verhaltens in Rollen dazu fhren kann, den Andern durch seine Rolle hindurch als Individuum zu ent-decken und sich selbst im Andem neu zu verstehen, zeigt die drama-tische Dichtung - dazu braucht nur an Marivaux, Kleist oder Girau-doux erinnert zu werden - auf das Schnste. Im Spiegel der Dichtung kann das typisierte Netz sozialer Rollen so aufgenommen und in der Reziprozitt der Perspektiven transparent gemacht werden, da eine Ebene des Einander-Verstehens erreicht wird, die sich der Determi-nation der sozialen Rollen entzieht: eine Beziehung von Ich und Du, in welcher das Du gegenber dem Ich keine Rolle mehr ist. Wenn der Soziologe bezweifeln mu, ob es ein Jenseits zum Rollenverhalten gibt, das Gegenstand seiner Wissenschaft sein knnte, darf der Lite-raturwissenschaftler diese Frage bejahen. An diesem Punkt - und nicht allein an diesem - werden sthetisches Verstehen und soziologi-sche Analyse komplementr. 16

    x.

    Am Problem des Fremdverstehens, wie es uns in der soziologischen Anthropologie begegnet, wird deutlich, wie sehr die klassische Her-meneutik - und mehr noch die poststrukturale Theorie - auf das Textverstehen fixiert ist, dessen ungeachtet, da dieses spten Datums ist, weil es den Proze der Verschriftlichung auf dem langen Weg von den ersten Manifestationen der sthetischen Erfahrung zu ihrer Objektivation im Kunstwerk voraussetzt. Die Metapher von der Welt als Text ist so sehr zu einer passe-partout-Formel geworden,

    35 Essais I, xxviii. 36 S. Vf.: .. Soziologischer und sthetischer Rollenbegriff-. in: PH VIII, S. 599 ff.

  • 1. Rckschau 27

    da Umbeno Eco sehr zu Recht daran erinnern konnte: "Das Mittel-alter ime. als es die Welt als Text verstand. die Moderne im. wenn sie den Text als Welt betrachtet".)7 Die imposante Geschichte des Topos: .die Welt als Buch' - als Buch der Offenbarung. als Buch der Natur. als Buch der Geschichte - hinterlt die Frage. wie anders wohl ein Sich-Verstehen im Andern zu denken wre, das sich noch nicht an der ,Lesbarkeit der Welt' orientieren konnte.

    Um wenigstens eine erste Vorstellung von anthropologischen Grundstrukturen zu geben, die Fremdverstehen ermglichen, mchte ich eben noch einen jngsten Ansatz von Thomas Luckmann referieren.)1 Er geht dahin, elementare Transzendenzen der Erfah-rung auszumachen, die sich vom alltglichen zum aueralltglichen Bereich der Lebenswelt erstrecken. Die dabei anvisiene "Protosthe-tik" geht von der Unterscheidung zwischen ich-bezogenen und ich-berschreitenden Erfahrungen aus und skizzien drei Ebenen kleiner, mittlerer und groer Transzendenzen, die auch fr eine Proto-Her-meneutik der Alteritt einschlgig sind. Ich zitiere: "Die Grenze zum Anderen kann nicht endgltig berschritten werden. das ,Auen' des anderen verkrpen ein ,Innen', das als solches nicht unmittelbar erfahren werden kann. Aber wir knnen uns sozusagen ber die Grenze die Hnde reichen: miteinander singen, tanzen, lieben, strei-ten, prgeln. Das knnen wir, solange das lebensweldiche Prinzip der Reziprozitt der Perspektiven, der Venauschbarkeit der Stand-punkte fr uns Gltigkeit behlt" (5. 13). Demgegenber kenn-zeichnet die groen Transzendenzen eine Abkehr vom alltglichen Handeln, um Wege in andere Wirklichkeiten einzuschlagen, deren Erinnerung in Symbolen verkrpen oder in ritualisienen Handlun-gen bewahrt, kanonisiert und zu selbstndigen Sinn welten erhoben werden kann: "Sowohl religise wie sthetische Erfahrungen haben hier ihren gemeinsamen Ursprung" (5. 14).

    XI.

    Hlt man sich den Befund der Begriffsgeschichte vor Augen, der mir dazu diente, die vielfltigen Leistungen des Verstehens im Lichte einer Hermeneutik der Rede zu beschreiben, so erscheint die in den letzten Jahrzehnten ausgerufene Krise der Hermeneutik als eine

    37 Der Streit der Interprelationen, Konstanz ]987, S. 29. 38 .Universale Strukturen menschlicher Erfahrung - historische Formen- (aus einem

    noch ungedruckten Ms. zilien).

  • 28 A. Ad dogmaticos

    kleine Episode in ihrer langen, mit der Bibelexegese und Homer-interpretation einsetzenden Geschichte. In dieser hat sich das ele-mentare Bedrfnis nach Sinnbildung und Sinnverstehen in unerahn-ter Flle entfaltet. Verstehen, nach Heidegger eine Grundbestim-mung des menschlichen Daseins, hat sein Vermgen im Horizont-wandel geschichtlicher Erfahrung allmhlich entfaltet und dabei immer wieder andere Mglichkeiten zwischenmenschlicher Kom-munikation ergriffen, erprobt, normiert und institutionalisiert. Die Weisen sach- oder personbezogenen Verstehens sind in der alltgli-chen wie in der sthetischen Erfahrung unverloren und nicht schon dadurch berholt, da auf der Ebene poststrukturaler Theorien her-meneutische Fragen ausgeklammert oder als obsolet angesehen wer-den. Wenn die - von Heidegger selbst eingeleitete - Absetzung vom Logozentrismus der Metaphysik und vom subjektzentrierten Den-ken des Idealismus seit den sechziger Jahren der gemeinsame Nenner fr die Hermeneutikkritik ist, dann ist den Gebildeten unter ihren Verchtern, von Jacques Derrida, Paul de Man, Michel Foucault bis zu Fran~ois Lyotard, auch gemeinsam, da sie bei der generellen In-fragestellung allen Sinnverstehens geflissentlich die im Umgang mit Texten wie zwischen Personen gebildeten und historisch bewhrten Formen des Verstehens bersehen, die nicht anzuerkennen sich auch ein dezidierter Anti-Hermeneut kaum leisten knnte, sobald er die Spielwiese seiner Theorie verlt und sich der Erfahrung aussetzt, die wir im Leben mit anderen machen. Er wre gleichermaen unfhig, sich nach einem Weg zu erkundigen, einen Gru von einer Drohge-brde zu unterscheiden, geschweige denn eine rhetorische Frage zu erkennen)' oder sich auf eine Argumentation einzulassen.

    Ich habe deshalb meine Apologie nicht wie blich auf der Ebene einer rein theoretischen Auseinandersetzung gefhrt, sondern auf Beispielen aus der Praxis des Sinnverstehens aufgebaut, durch die sich - wie ich hoffe - schon mancher Vorwurf erbrigt hat, der in Unkenntnis der Begriffsgeschichte des Verstehens an die falsche Adresse - an einen Phantasie-Gegner, genannt Hermeneutik -gerichtet war. Doch scheint mittlerweile der dogmatische Wider-stand gegen die Hermeneutik dahingeschmolzen zu sein. Im Blick darauf mchte ich aus der Theoriedebatte des letzten Jahrzehnts wenigstens noch schlaglichtanig hervorheben, da Paul Rica:ur den Streit zwischen Ideologiekritik und Hermeneutik nachhaltig zu schlichten wute, da Karlheinz Stierle die Kluft zwischen Semiotik

    39 S. dazu meine Kritik in: E. S. 422 ff.

  • 1. Rckschau 29

    und Hermeneutik mit dem Vorschlag zu berbrcken suchte, die Fragerichtung der Rezeptionssthetik als komplementr zu der Fra-gerichtung der Intertextualitt anzusehen, und da in den USA ein neuer Historismus die dekonstruktivistische Welle auffing, um eine neue, geschichtsbezogene sthetik der Alteritt zu entwickeln. 40 Damit haben sich der klassischen Tradition der Hermeneutik gewi weitere Horizonte des Verstehens erffnet. Zwischen den Horizon-ten des Verstehens zu vermitteln, erfordert knftig nicht allein, nach den Bedingungen und Mglichkeiten von Fremdheitserfahrung zu fragen, sei es im Verstehen des historisch Fernen, sei es im Verstehen des kulturell Fremden. Es erfordert auch, Brcken ber die Grenzen der Sinn welten der Religion, der Philosophie, des Rechts wie der Politik zu schlagen und ihren verschiedenen hermeneutischen Zugang im Dialog der Disziplinen zu erproben.

    Fr beide Aufgaben scheint mir die literarische Hermeneutik unentbehrlich zu sein. Ist sie doch von Haus aus dialogisch und grenz-berschreitend zugleich, sofern es ihr darum geht, nicht nur eine Sache, sondern auch das Eigene im Fremden und damit den Andern im Horizont seiner eigenen Welt zu verstehen. Sie kann damit als Korrektiv zur Hermeneutik anderer Disziplinen dienen, sofern es diesen primr um das Verstehen einer Sache, eines Arguments, eines Rechtsfalls oder - theologisch - einer Botschaft geht. Daran zu erin-nern, da dies nicht genug ist, um dem Bedrfnis aller Kommunika-tion, zu verstehen und verstanden zu werden, voll zu gengen, war die Absicht dieser Betrachtung.

    40 P. Riccrur: "Hermeneutique et critique des ideologies", in: Archivio di Filosofra, 1972, Heft 2/3, S. 1>-61; K. Stierle: Dimensionen des Verstehens - Der Ort der lite-raturwissenschaft, Konstanz 1990 (Konstanzer Universittsreden, Bd. 174); zum New Historicism S.u. Kap. 12.

  • 2. Hermeneutische Moral: der moralische Anspruch des sthetischen

    I.

    "Das Moralische versteht sich immer von selbst. Es gibt wohl kaum ein geflgeltes Won, das so unglaubhaft geworden wre wie dieser Satz, den der Held in Friedrich Theodor Vischers Auch Einer stndig im Munde fhn. In einer Zeit wie der unsrigen, in welcher ,Moral' einen schon so altvterlichen Klang angenommen hat, da nichts naiver zu sein scheint, als nach der ,Moral von der Geschicht' zu fragen; einer Zeit, in der die Devise: ,Du darfst, was du willst" als Ideal nicht-repressiver Verantwortung gegenber sich und anderen disku tien wird; in der sich vielerorts eine Regression in ethnischen Partikularismus oder religisen Fundamentalismus abspielt, bei der jede Gemeinschaft sich ihre eigene Moral der Selbstverwirkli-chung zubilligt; einer Zeit schlielich, in der selbst noch die Univer-salitt der Menschenrechte als eine bloe List der repressiven Ver-nunft verpnt werden kann - in einer solchen Zeit drfte kaum einer noch vertreten wollen, da sich das Moralische von selbst verstehe. Schon gar nicht im Bereich des sthetischen, das seine Unschuld im Dienst totalitrer Herrschaft verloren hat, so da seine Verschwi-sterung mit dem Moralischen, die sich in einer mehrtausendjhrigen Tradition der Devise: utile dulci fraglos wie von selbst verstand, post festum berhaupt in Zweifel gezogen wurde. Dies mag er-klren, warum heute Literatur und Kunst der jngsten, postmoder-nen Moderne fast schon obligat durch die Freisetzung von allem moralischen Anspruch definiert wird: eben darin - wie unlngst zu hren - "in der Entfaltung einer Freiheit von und jenseits ethisch-politischer Verantwortung bestehe der Sinn der modernen Gestalt des sthetischen. I

    Demgegenber soll dieses Kapitel historisch und henneneutisch begrnden, warum die jngsten Debatten ber Ethik und sthetik, insbesondere die t 992 im Forum Humanwissenschaften der Frank-

    1 Christoph Menke: .. Unbequeme Kunst der Freiheit-, in: Frank/Mn" RMndsch"", S. Mai 1992, Nr. l00i. S. 16.

  • 2. Henneneutische Moral 31

    fuTter Rundschau gefhne2, wie auch schon der.~richer Literatur-streit von 1967, die moralische Problematik des Asthetischen verein-seitigt, wenn nicht gar zu Unrecht verabschiedet haben. In diesen Debatten wird Moral durchweg auf ihre prskriptive Bedeutung reduziert und dabei der weitere Sinn des Begriffs ignoriert, den seine Geschichte eindrcklich bezeugt. Dieser ist zu entnehmen}, da der Begriff Moral als bersetzung von griechisch ethike auf Ciceros Neuprgung philosophia moralis zurckgeht und seither im Span-nungsverhltnis von prskriptiv wertender Sinnvorgabe und von deskriptiv interpretierender Sinnermittlung steht. Ist die prskriptive Moral in der Tradition der klassischen Ethik auf die Frage des Guten im Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft gerichtet, so fragt die deskriptive, besser gesagt: explorative Moral nach der Eigentmlich-keit menschlichen Verhaltens (lateinisch moralis ist von mores, Sitten, abgeleitet). Antwortet die erstere auf die Frage: ,Was soll ich tun?" mit imperativischen Maximen, um die Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu sichern, so fragt die letztere: ,Wie ist das Verhal-ten der Andern zu beurteilen?', um der R-ealitt fremden Willens gerecht zu werden. Erwartet die prskriptive Moral, da eine Maxime von jedermann bernommen werden kann, so verlangt die explorative Moral, sofern sie auf das vielfltig Besondere bezogen ist, keine allgemeine Geltung, sondern die Unterscheidung des Eigenen vom Fremden wie auch die Erprobung der Vereinbarkeit eigener mit fremden Normen des Handeins.

    Das Spannungsverhltnis zwischen normativer und explorativer Moral bestimmt in der europischen Tradition durchgngig das Ver-hltnis des sthetischen zum Moralischen. Gewi konnte auch hier die Literatur wie alle Knste in prskriptiver Funktion der Aufrecht-erhaltung und Legitimierung herrschender Ordnungen dienstbar gemacht werden. Dann schien ihre sthetische Form bruch los in ihrem didaktischen Sinn aufzugehen. Dem Topos ,historia docet' stand die Erwartung, da aus der Kunst wie aus der Geschichte zu lernen sei (auf die rhetorische Formel gebracht: docere - delectare-movere) wie selbstverstndlich zur Seite. Die Trennung von delectare

    2 Unter dem Titel: Ethik IIna sthrtilr, Beiuge von Rdiger Bubner, Christoph Menke. Wilhelm Schmid. Joseph Frchtl. Andreas Kuhlmann. Birgit Recki. Manin Seel, in wchentlicher Folge ab 21. April 1992. Ferner: D~ AlttNtt tks sthrti-schrn. Hannover Sept. 1992. nach der Rezension von Ulrich Greiner. DIE ZEIT. 11. Sept. 1992. Nr. 38. und: Tllnnrl ;;bt1'at1' Sprrr. Berlin April 1993. nach der Rezension von Thomas Rietzschel. FAZ. 28. April 1993 Nr. 98, S. 33.

    3 S. dazu den Anikel Moral im Historischrn Wrtt1'buch at1' PhiJosoph~, hg. J. Ritter. Basel/Stuttgan 1984, Bd. 6. Sp. 149.

  • 32 A. Ad dogmalicos

    und prodesse, mit der das Schne dem Ntzlichen und Lehrhaften entgegengesetzt wurde, machte sich erst spt geltend, zu einer Zeit, als auch das Prinzip ,historia docet' in Frage gestellt wurde. Der Historismus und die autonome sthetik treten in der Aufklrung zugleich und nebeneinander hervor.

    Die Literatur und die Knste haben sich indes nicht erst mit dem Erlangen ihrer Autonomie der prskriptiven Moral entzogen. Ihre Geschichte stand immer schon in der Ambivalenz von Botmigkeit und Insubordination. Das sthetische konnte sowohl moralische Lehren verbildlichen, exemplifizieren und beglaubigen, als auch - im Schutze der Fiktion - das Selbstverstndliche ihrer Geltung in Frage und zur Disposition stellen. Das zeigt schon das Diktum in Vischers Auch Einer. Denn die schrullige Figur, der es in den Mund gelegt ist, erregt gerade darum Aufsehen, weil sich das Moralische fr alle andern nicht mehr von selbst versteht. Wie problematisch es ist, die-sen Satz zu venreten, kommt denn auch gleich zutage, wenn sich der einzige, der ihn noch oder wieder venritt, in den Widerspruch ver-strickt, da er die Anerkennung seiner Maxime, auch wenn er in bester Absicht handelt, oft nur mit brachialer Gewalt erzwingen kann. Auch mu er von Anbeginn eingestehen, da sie nur im "obe-ren Stockwerk des Lebens" realisierbar sei, whrend er im unteren in einem stndigen "Kriegszustand mit dem Bagatell" - mit der durch den Roman berhmt gewordenen "Tcke des Objekts" - verbleibe. 4

    Das sthetische, hier in der literarischen Form des Komischen, macht das Moralische in seiner Problematik erst eigentlich ansichtig. Im sthetischen hn das Moralische auf, selbstverstndlich zu sein. Hier wird kein normatives Wissen besttigt oder verordnet, sondern ein neues Verstehen erffnet, das erforden, sich selbst ein morali-sches Uneil zu bilden und zu venreten. Im sthetischen ist die Fik-tion in ihrem eigenen Recht, wenn sie immer wieder aufzudecken oder als Mglichkeit zu erproben vermag, was sich nicht von selbst versteht, weil es sich der prskriptiven Moral wie dem rechtlich nor-mienen Verhalten entzieht: nmlich die Vielfalt der Sitten und damit ein Verstehen des Fremden, der Welt in den Augen der Andern, aber auch die Erfahrung des Privaten, das Eigenrecht, anders zu sein, und damit die Bildung eines Selbstverstndnisses, das sich mehr und mehr aus institutionellem Zwang freizusetzen sucht.

    Auf dieser Ermglichung eines nicht schon vorgezeichneten, von Regeln ableitbaren Sinnverstehens beruht das eigentmliche Verhlt-

    .. Fr. Th. Vischer: ANCh Ein~r, Slullgan/Berlin 1919, S. 21/23.

  • 2. Hermeneutische Moral 33

    nis, in dem seit der Antike das sthetische zum Moralischen stand. Daraus entsprang letztlich seine evidente Leistung fr die Selbst be-hauptung des Humanen, Partikularen und Individuellen gegen den Absolutheitsanspruch des Allgemeinen, gegen den Dogmatismus letzter Wahrheiten wie gegen den Formalismus herrschender Gesetze. Dazu gehrt ein lange Zeit ungeschriebenes, erst in der Renaissance kanonisiertes Gesetz der Poetik: das Postulat der poeti-schen Gerechtigkeit, die wieder einlsen sollte, was das moralische Empfinden in einer inhumanen Wirklichkeit, die sich gleichgltig ber das Schicksal von Gut und Bse hinwegsetzt, nicht hinnehmen will. Angesichts der Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit, Gesetz und Moral, zwischen faktisch vorherrschenden und mora-lisch gerechtfertigten Normen, hat die Literatur auf ihre Weise immer wieder den Anspruch des moralischen Gewissens geltend gemacht. Wenn heute das Prinzip der Gerechtigkeit wieder vielfach gegen den Formalismus des Rechts aufgeboten wird, ist die philosophisch gefhrte Debatte an diese unausgeschpfte Leistung der Literatur zu erinnern. Ist doch das Postulat der poetischen Gerechtigkeit in der Tradition kaum, aber auch in der Moderne selten verletzt worden. Und wo es doch geschah, wie wohl zuerst bei Shakespeare (man denke an King Lear!)\ so nicht, ohne den Zuschauer mit der morali-schen Problematik von Gut und Bse zu konfrontieren.

    11.

    sthetisches Sinnverstehen appelliert an die Freiheit der Reflexion. Es ist durch Freiwilligkeit ausgezeichnet, kann es doch weder er-zwungen, noch verordnet, noch eingehandelt werden. Freiwilligkeit meint dabei keineswegs pure Freiheit von aller Moral und ethisch-politischer Verantwortung, sondern die im Umgang mit den Knsten ermglichte Freiheit, das Moralische im menschlichen Zusammenle-ben zu beurteilen und zu vertreten. Dieser moralische Anspruch des sthetischen macht sich auch schon in der vorautonomen, vermeint-lich immer nur dienstbaren Kunst geltend. Blickt man auf die Geschichte klassischer Werke zurck, so zeigt sich, da in ihrer Rezeption moralische Beurteilung stets im Vordergrund stand. Ob der Krieg der Griechen gegen die Trojer gerecht war, ob der Mensch nur ein Spielball im Walten der Gtter sei, ob Achilles oder Hektor

    5 S. dazu meine Rezeptionsgeschichte von King Lear. Kap. 7.

  • 34 A. Ad dogmaticos als Vorbild gelten knne - solche Fragen des moralischen Urteils haben die Rezeption der /lias strker bewegt als Fragen der poeti-schen Form! Nicht allein die Verletzung poetischer Regeln, sondern vor allem der Bruch mit der herrschenden gesellschaftlichen Moral hat die Gemter im Falle des Tartuffe, der Nouvelle HeLolse, der Lei-den des jungen Werthers, der Madame Bovary oder der FLeurs du MaL leidenschaftlich erregt und ffentliche Skandale, wenn nicht gar gerichtliche Verfolgung ausgelst.

    Der moralische Anspruch des sthetischen ist auch mit der prokla-mierten Autonomie der Knste, mit der Doktrin des L ~rt pour L~rt und selbst noch in den Manifesten der Avantgarden des 20. J ahrhun-derts keineswegs hinfllig geworden. Wer ihn heute lauthals verneint, scheint nicht zu wissen, was er damit preisgibt. Will man sich dabei auf Kants Scheidung der Geltungsbereiche des Moralischen und des sthetischen berufen, so ist daran zu erinnern, da diese Scheidung nicht Kants letztes Wort in der Sache gewesen ist. Denn er hat in der Kritik der UrteiLskraft seine Lehre vom Exempel in einer Weise revi-diert, die wieder erlaubt, eine Brcke vom sthetischen zum Morali-schen zu schlagen. Was das autonome Kunstwerk betrifft, das man heute gegen eine wie es scheint uferlose sthetisierung der Lebenswelt wieder aufbieten will, ist daran zu erinnern, da dieses mit der stheti-schen Freiheit von aller sozialen und religisen Bindung vom mndi-gen Brger zugleich gefordert hat, sich ein Urteil ber den Gegenstand zu bilden und es mitzuteilen. Die Binsenwahrheit, da sich ber Geschmcker nicht streiten lasse, wird durch das autonome Werk Lgen gestraft. Seine Rezeption zeigt, da sich gerade hier ber das sthetische wie ber das Moralische trefflich streiten lie. Die Forde-rung, da das autonome Werk aus sich selbst zu verstehen sei, schliet keineswegs aus, sondern ein, da sthetische Erfahrung die Mglich-keit zu erffnen vermag, die wirkliche Welt anders zu sehen und damit sich selbst im Andern neu zu verstehen. Auch autonome Kunst "zeigt uns, was wir kennen, so wie wir es nicht kennen" . 6

    Daraus folgt dann aber auch - so meine These -, da sich die eigen-tmliche, nicht prskriptive Moral des sthetischen aus seinem Ver-mgen begrnden lt, Verstehen zu erffnen, zu vertiefen und zu problematisieren. Die moralische Beurteilung ist dem sthetischen darum nicht erst nachtrglich aufgesetzt. Sie ist nicht erst in Hand-lungsanweisungen konkretisierbar, die als direkte ,Moral von der Geschichte' zu fordern ein Rckfall in die didaktische Vereinnah-mung der Knste wre. Die implizite Moral des sthetischen ist im

    6 Rdiger Bubner (wie Anm. 2).

  • 2. Henneneutische Moral 35

    Akt des Verstehens selbst schon angelegt, sofern dieses in seiner Frei-willigkeit ein Moment der Billigung oder Zustimmung erfordert, die einem Kunstwerk erteilt, aber auch versagt werden kann. stheti-sches und moralisches Urteil schlieen sich derart nicht mehr aus, sondern spielen ineinander. Diese These soll in dem umrissenen Kontext dieses zweite, problemgeschichtliche Kapitel nunmehr an einer Reihe von Beispielen erlutern. Dabei wird sich die Frage nach der Ambivalenz und den Grenzen des sthetischen Verstehens stel-len. Denn wenn dieses eine explorative Moral impliziert, die Verste-hen erffnet und dem moralischen Urteil anheimstellt, so kann es dieses auch schon insgeheim prjudizieren und den Anschein erwek-ken, als ob das sthetische Urteil von sich immer schon das moralisch Gute verbrge. Auf diese Problematik waren wir schon im Blick auf jene Maxime gestoen, die insbesondere der Kritik an der vermeintli-chen Verantwortungslosigkeit des sthetischen wie an der vermeint-lich von Haus aus affirmativen Hermeneutik Vorschub geleistet hat: die dubiose Sentenz: "Tout comprendre, c'est tout pardonner. " Deren ungeklrter Herkunft und Rezeptionsgeschichte soll das dritte Kapitel eigens nachgehen.

    III.

    Das sthetische als von Grund auf amoralisch und verantwortungs-los anzuklagen, weist auf berhmte Ahnen, Platos Verweisung der Dichter aus dem idealen Staat wie auf die Kunstfeindschaft der Kir-chenvter, zurck. Emil Staiger hat diese Anklage im Zricher Lite-raturstreit in eine Laudatio temporis acti umgewandelt. Fr ihn scheidet die Dichtung vor und nach Goethes Tod kurzerhand ihr Ver-hltnis zur Moral. Whrend es danach "eine ber die ganze Welt ver-breitete Legion von Dichtern gibt, deren Lebensberuf es ist, im Scheulichen und Gemeinen zu whlen"', sei den Dichtern vergan-gener Zeiten eine sittliche Gesinnung selbstverstndlich gewesen, die allein ihr Werk berdauern lie. Ihren Beistand gegen den Bildungs-verfall der nachgoethischen Moderne herbeizurufen heie, das mora-lische Gebot fr den Dichter zu erneuern, der nicht nur im eigenen, sondern zugleich im Namen der Menschengesellschaft sprechen drfe und sich "mit den Gesetzen, die Ordnung und Dauer verbr-gen, einverstanden erklren" msse (S. 92).

    7 Zitien nach der Wiedergabe der Debatte in: Spracht im ltchnischtn Ztiulttr. 22 (1967).

  • 36 A. Ad dogmaticos

    An Staigers Provokation brauchte kaum erinnert zu werden, htte sie nicht auf den Nenner gebracht, was auch weiterhin die konserva-tive Kritik an der amoralischen Moderne bestimmte: die Verwechs-lung prskriptiver Moral mit dem implizit moralischen Anspruch des sthetischen. Danach wre das moralische Gebot fr den Dichter in der Tradition des Klassischen vorgezeichnet; seine Autoritt soll Dauer und Ordnung, die Aufrechterhaltung wahrer Humanitt in einer aus den Fugen geratenen Welt, verbrgen. Dem widersprach Max Frisch mit dem ironischen Argument, das so formulierte moralische Gebot wrde in Moskau offizis nicht minder begrt als in Zrich - offizis, denn es gefiele den Regierungsmnnern, Erziehungsdirektoren und Staatspreistrgern der Sowjetunion, nicht aber den Schriftstellern, die unter Stalin lange im Kerker waren. Vor allem aber gefiele der Gedanke, "da es die Aufgabe der Literatur ist, der jeweils herrschen-den Gesellschaft ein heiles Leitbild zu dichten, und da im brigen die jeweils herrschende Gesellschaft entscheidet, was sittlich sei" (S. 108).

    Dem ist hinzuzufgen, da das Klassische keineswegs von Anbe-ginn klassisch erschien. Das sthetische hat vielmehr seine Dauer ver-brgende, autoritative Gestalt erst in dem Mae erhalten, wie es einer Tradition kanonisch einverleibt wurde. Was Staiger den Dichtem der Modeme vorwirft: ihre negative sthetik, trfe gleichermaen die Klassiker der Weltliteratur, die sich durchaus ,unsthetischer' Mittel wie des Schrecklichen, des Niedrigen, des Hlichen, des Frivolen, ja selbst des Obsznen bedienten, ohne darum als unmoralisch angese-hen zu werden - Autoren wie schylus oder Seneca, Dante oder Boc-caccio, Villon oder Rabelais, Montaigne oder Diderot, die im Kanon Staigers schwerlich einen Platz behaupten drften, nhme man ihn beim Wort. Da es immer schon das moralische Gebot der Dichtung gewesen sei, Ordnung und Dauer zu verbrgen, ist die retrospektive Illusion des Klassischen. Wo immer das sthetische sich seiner Dienst-barkeit entzog, hat es seine Autonomie dafr eingesetzt, dem herr-schaftlichen Anspruch der Moral einen verstehenden Zugang zum Moralischen entgegenzusetzen. Die implizite, nicht prskriptive Moral des sthetischen appelliert an das moralische Gefhl. Sie macht institutionalisierte Normen und moralische Prinzipien diskutierbar, bringt ihre Widersprche in der Kasuistik des alltglichen Lebens zum Vorschein und fordert damit Urteil, Beipflichtung oder Mibilligung heraus. So vermag sich im sthetischen eine ungebundene Moral gegen die Bevormundung durch Erziehung, Justiz und Religion zu wehren und dabei das Eigenrecht des Menschen zu behaupten, sein natrliches, soziales und geistiges Dasein auch ohne transzendente Begrndung innerweltlich zu regeln. Darum konnte Christoph

  • 2. Henneneutische Moral 37

    Menke zu Recht sagen: "Die sthetische Freiheit bricht den Schein von, und Anspruch auf, Absolutheit, die sich die ethische Haltung der Verantwortung in ihrer Alternativlosigkeit von innen her zu-spricht."8 Er bersah dabei lediglich, da dies keine Entdeckung unserer Moderne ist, sondern immer schon die Leistung der poeti-schen Fiktion war, wie schon an der griechischen Tragdie - man denke nur an die Antigone - gezeigt werden knnte. Statt dessen mchte ich den moralischen Anspruch des sthetischen an weniger bekannten Beispielen erlutern.

    IV.

    Eine Schwelle zwischen institutioneller und explorativer Moral zeigt sich zum Beispiel im Hervortreten einer Gattung an, die mit einer neuen literarischen Form zugleich einen eigenen moralischen Anspruch erhob: die Novelle. Es ist das Decameron, eine Schp-fung des Humanisten Boccaccio, der sich nicht scheute, bisher als niedrig angesehene Exempla, Mirakel, Mrchen und Schwnke durch eine Kunst der Umerzhlung zu nobilitieren, die deren Muster nunmehr in Zeit und Ort zu lokalisieren wie ihren vorent-schiedenen Sinn zu problematisieren wute. Boccaccios Novelle setzt sich gleichermaen vom Idealismus der heroischen Dichtung wie von der direkten Moral lehrhafter Dichtung ab. Ihre Handlung ist zumeist kasuistisch: sie verstrickt die Betroffenen wie die Leser in einen Konflikt von Normen, den am Ende eine unerhrte Bege-benheit zu lsen scheint, aber doch nur in der Weise, da schon die folgende Novelle den nchsten Kasus und mit ihm die Frage auf-wirft, nach welcher Norm diese Begebenheit moralisch zu bewer-ten sei. So wendet sich die prosaische Novelle der eigenen Zeit in ihrer alltglichen Wirklichkeit zu, deren "Subjekt stets die Gesell-schaft und deren Objekt die Form der Diesseitigkeit berhaupt ist, die wir Kultur nennen". 9 Boccaccio nutzt die sthetische Lizenz, auch Unschickliches - das erotisch Frivole der alten Schwnke -vorbringen zu drfen, wenn es auf schickliche Weise gesagt wird und Anla geben kann, ber die Natur des Menschen, seine Freiheit zu lieben, sein Recht auf irdisches Glck im Spiel und Widerspiel

    8 Wie Anm. 2 (FR, 5. Mai 1992. S. 16). 9 Nach Erich Auerbach, dessen frhe Schrift: Die Technik der Frhrenaissancenovelle

    in Italien und Frankreich, Heidelberg 1921 (hier S. 1). ich fr immer noch unber-holt halte.

  • 38 A. Ad dogmaticos

    von Fortuna, ein Gesprch zu fhren. Denn Boccaccios Novelle ist bekanntlich eine Gattung des Gesprchs, gefhrt von einer Gruppe, die damit den Schrecken der Pest zu entgehen suchte. Sie ist Konver-sation als Form der "leidenschaftlichen Betrachtung des irdischen Lebens" 10 und damit als sthetische Form ganz auf das Moralische gerichtet, das sich an dieser Epochenschwelle in der Tat nicht mehr von selbst verstand.

    V.

    Dasselbe Verhltnis des sthetischen zum Moralischen treffen wir am Beginn der Neuzeit bei der Entstehung der von Montaigne geschaffenen literarischen Form des Essay an. Hier wird, nach der Erfindung des Buchdrucks, die Freisetzung des profanen Lesers von der bislang institutionsgebundenen Lektre vollzogen, in einer Form, die stndig Texterfahrung und Selbsterfahrung, das groe Erbe der Antike mit dem subjektiven Horizont der eigenen Welt, vermittelt. Das kanonische Wissen einer sakrosankten berliefe-rung wird in dieser produktiven Rezeption (um nicht zu sagen: einem grandiosen ,creative misreading') der beginnenden Neuzeit frei verfgbar gemacht. Indem Montaigne die Exempla der klassi-schen Autoren nicht einfach kommentiert, sondern meditierend aufeinander bezieht und sie nicht selten gegeneinandersteIlt, wird die zeitlose Wahrheit der moralischen Sentenzen angefochten und der historische Abstand zwischen Antike und Moderne, aber auch die Fremdheit verschiedener Kulturen, ansichtig gemacht. Aus der Widersprchlichkeit der Handlungen anderer gewinnt Montaigne seine Selbsterkenntnis: eine neue Einsicht in das durchschnittliche und doch nicht fixierbare Wesen der eigenen wie der fremden Indivi-dualitt. So wurde der Essay dank seiner literarischen Form, die erlaubt, die Bewegung der Gedanken im Schreiben selbst zu erfas-sen, zum Medium einer unabschliebaren Selbsterprobung, die in ihrer Flle und Authentizitt beispiellos war. Dabei fhrte die mora-lische Reflexion zu einer neuen Sicht der "humaine condition", die in Frankreich die modeme Tradition der Moralistik erffnet hat, aus der hernach - folgt man Gerhard Hess, Odo Marquard und Hans

    10 Ebd., S. 3; s. S. 20 zum Recht der Liebesmoral: .. da jedes Wesen, nach seiner kr-perlichen und geistigen Anlage, lieben und zurckweisen darf, wen es will, und da die gesetzlichen Bindungen dieser Freiheit nachstehen.

  • 2. Henneneutische Moral 39

    Blumenberg - die Anthropologie als jngste philosophische Diszi-plin hervorging. 11

    Die literarische Erscheinung der Moralistik ist eine der strksten Karten fr meine These. Wer bestreitet, da das sthetische genuin mit dem Moralischen verschwistert sein kann, mu vergessen haben, da es vornehmlich das mit den literarischen Formen der Moralistik - dem Aphorismus, der rhetorischen Figuren, dem Charakterpor-trait, der Anekdote - erffnete Verstehen war, in dem sich der Proze der Selbstentdeckung und Selbstbefreiung des Menschen aus den Bindungen von Wissen und Glauben vollzog, die ihm das Lehrge-bude der Philosophie und der Theologie auferlegt hatte. Die Mora-listik zeigt uns den Weg, auf dem der Mensch in der beginnenden Neuzeit dazu gelangt ist, seine innerweltliche Erfahrung als eine ,terra incognitaC zwischen Natur und Geist, zwischen Vernunft und Offenbarung zu entdecken und damit eine Lcke im klassischen System von Physik, Metaphysik und Ethik zu besetzen. Es zeichnet die Moralisten der franzsischen Klassik dabei aus, da sie nicht geradewegs zur Selbstbesttigung menschlicher Autonomie voran-schritten, sondern als "Meister der Seelenprfung" mit dem spezi-fisch moralistischen Gestus des Enthllens die Zwiespltigkeit men-schlichen Handeins ans Licht zogen und dabei - mit Nietzsehe zu sprechen - "ins Schwarze der menschlichen Natur" trafen. 12 Die deutsche Klassik kennt merkwrdigerweise nichts dergleichen, was zum Vergessen der moralistischen Tradition in der jngsten deut-schen Debatte beigetragen haben mag, obschon sie im Werk Nietz-sches, spter in Adornos Minima moralia und zuletzt in den Schrif-ten von Roland Barthes wieder aufgelebt ist.

    VI.

    Gleichwohl hat auch die idealistische sthetik der autonomen Kunst keineswegs jeden moralischen Anspruch preisgegeben. Auch die Literatur der deutschen Klassik war nicht von Anbeginn eine Flucht in das autonome Reich des Schnen, sondern als bestimmte Negation

    11 Zu G. Hess s. meine Wrdigung in: KonstAnur UniT/mU;;tsr~d~n, Nr. 151, Kon-Stanz 1985, S. 7-19; O. Marquard: ,.Zur Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropologie' ... in Coll~gu.m philosophiam" hg. E. W. Bckenfrde et al . BaseV Stuugan 1965. S. 227; H. Blumenberg: WirJrlKhJr~iu", in timen ",ir kbm, Stungan 1981, S. 109.

    12 M~nschlich~s. Allzl4menschliches. 136.

  • 40 A. Ad dogmaticos einer bestehenden Ordnung, der Herrschaft des Ancien Regime, hervorgetreten. Verstand sie sich doch als "sthetische Revolution" mit dem utopischen Ziel, durch sthetische Bildung den Staat der Freien und Gleichen herbeizufhren, bevor sie im 19. Jahrhundert dem Verdacht der politikfernen affirmativen Kultur verfiel. J) Daran zu erinnern erscheint auch heute wieder geboten, weil die jngste Debatte offensichtlich das Miverstndnis einer aller Praxis enthobe-nen, rein sthetischen Kunst weitertrgt. Der Beginn dessen, was auch Goethe in der Rckschau auf seine Anfnge die "deutsche lite-rarische Revolution" nanntel4, lt sich am besten an Goethes Wer-ther (1774) und an Schillers Die Schaubhne als moralische Anstalt (1784) erlutern. Um mit Schillers Programmschrift zu beginnen, wird dort der stolzeste Anspruch formuliert, den die brgerliche ffentlichkeit im Namen der Moral gegen die herrschende Autoritt von Staat und Religion erheben konnte: "Die Gerichtsbarkeit der Bhne fngt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt. " Literatur als Instanz der aufgeklrten brgerlichen Moral habe nun mehr die Bildungsgeschichte der Menschheit zu vollenden, zu einer Zeit, in der "Religion fr den grten Teil der Menschen nichts mehr ist", in der "ihre Gemlde von Himmel und Hlle zernichtet" sind und in der politische Gesetze "nur Wirkungen hemmen, die den Zusammenhang der Gesellschaft auflsen" . U

    An der neu erhobenen Forderung poetischer Gerechtigkeit hat sich auch der Streit ber Goethes Werther angesichts seiner berwl-tigenden Wirkung entzndet. 16 Hier war zugleich eine sthetische und eine gesellschaftliche Norm im Spiel: das Faszinosum der Wer-thermode und das Tabu des theologisch wie juristisch verpnten Selbstmords. Auf die erstere hat sich Lessings Kritik bezogen, der "eine kleine kalte Schlurede" fr notwendig erachtete, denn sonst drfte der Leser "die poetische Schnheit leicht fr die moralische nehmen und glauben, da der gut gewesen, der unsere Teilnehmung so stark beschftigt". Dieses Miverstndnis ist nicht nur der naiven Rezeption nicht aufgeklrter Leser geschuldet. Es setzt vielmehr eine sthetische Norm von skularer Geltung voraus, die Goethe preis-gab: die Erwartung einer platonisierenden sthetik, da aus poeti-scher Schnheit fraglos moralische Wahrheit hervorgehe. Danach

    13 S. dazu Vf. in: SE, S. 82 H.; ferner den.: .. Das kritische Potential sthctj5cher Bil-dung-, in: Die ZNJrNnft an- ANfltliinmg, hg. J. Rsen et al., Frankfun 1988, S. 221 ff.

    14 In DichtNng Nna W.hTh~it, SW (Artemis), Bd. 10, S. S36. IS G~uam",~lu WvJr~, Berlin 19S5, Bd. 8, S. 98 ff. 16 Nherhin und zur Dokumentation s. Vf. in: E, S. 320 ff. und Kap. 11 E.

  • 2. Henneneutische Moral 41

    schien die empfindsame Darstellung der Leiden des jungen Werthers seine "Krankheit zum Tode" wie selbstverstndlich zu rechtfertigen und "Bewunderung und Liebe" fr seinen Charakter zu erlauben. Im Bruch mit dieser Erwartung war die Literatur der franzsischen Aufklrung Goethe schon vorangegangen. Sie hatte die klassische Ineinssetzung von sthetischer und moralischer Vollkommenheit -so in Diderots Neveu de Rameau - in Frage gestellt. Sie hatte das Fas-zinosum des Bsen offen thematisiert und den Verbrecher, den die klassische Tragdie nur als Gegenfigur zulie, in seinem eigenen Schicksal interessant und literaturfhig gemacht. Die noch unver-standene Neuerung in Goethes Werther lag darin, da hier der auf-geklrte Leser als Instanz des sthetischen Urteils zugleich ber das moralische Problem dieses Falls, ber Recht und Unrecht der Leiden des brgerlichen Individuums, befinden sollte, ohne lnger auf die Evidenz des sittlich Wahren im Schnen vertrauen zu drfen.

    Der junge Goethe war andererseits seinen Kritikern voraus, die im Werther wenn nicht den direkten moralischen Fingerzeig, so doch die augenscheinliche Verwirklichung poetischer Gerechtigkeit ver-miten. So Bodmer, der Goethe vorhielt: "Ein poetischer Schpfer sollte doch in seiner Welt, das ist in seiner Geschichte, strafen, da er es in der knftigen Welt nicht kann, wie der wahre Schpfer." Bod-mer hat hier verkannt, da Goethe den letzten Schritt zur stheti-schen Autonomie damit vollzog, da er das Bedrfnis nach Gerech-tigkeit auf dieser Welt in der poetischen Fiktion seines Bchleins nicht mehr durch Schuld und Strafe abgelten wollte. Vielmehr suchte er dieses Bedrfnis dadurch zu befriedigen, da er dem Leser das Ver-stehen der Leiden Werth