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Klaus Sander 1 Abb. 1. Hans Spemann, Lithographie aus dem Jahre 1929. 112 Hans Spemann (1869-1941) Entwicklungsbiologe von Weltruf Hans Spemann (1869-1941) war einer der be- kanntesten Biologen seiner Generation [ ll. Sein EinfluB auf die Entwicklungsbiologie und mittelbar auf die Biologie insgesamt war enorm und wirkt noch immer fort, auch wenn dies manchem Kritiker unerklarlich erschien bzw. erscheint [lo]. Ein Zeugnis fur Spemanns Ansehen bei den Fachleuten seiner Zeit ist die funfbandige Festschrift zu seinem 60. Ge- burtstag [2], der das Portrait Abbildung l ent- stammt; nach Anzahl der Beitrage und im Umfang (73 Autoren, iiber 3300 Seiten) durfte sie im Bereich der Biologie einmalig sein. Fur Spemanns Nachwirkung auf die heutige For- schung moge ein Zitat sprechen: "The dis- covery of the organization center in the verte- brate embryo by Spemann and Hilde Mangold in 1924 marked the beginning of a new era in the study of developmental phenomena. We may even state that its effect was so great that this field of study soon acquired the status of a separate discipline in biological research" [ 161. Vor 50 Jahren, im Oktober 1935, wurde Hans Spemann der Nobelpreis fur Medizin und Physiologie zuerkannt (Abbildung 2) - Anlai3 genug, um Personlichkeit und Werk vor ihrem geschichtlichen Hintergrund zu betrachten [8, 11, 25, 281. Leben und Personlichkeit Spemanns Vater war Griinder eines erfolgrei- chen Verlags. Das von ihm herausgebrachte ,,Neue Universum" versorgte in leuchtend ro- ten Banden alljahrlich die ,,reifere Jugend" mit Lesestoff uber ,,die interessantesten Erfindun- gen und Entdeckungen". Vater Spemann legte grogen Wert auf Bildung, aber auch auf hand- werkliches Verstandnis. Ein ahnlich breites Bildungsideal schwebte offenbar seinem Sohn Hans vor, als dieser spater seine Kinder und ihre Freunde in einer eigens geschaffenen ,Ju- gendwerkstatt" handwerklich ausbilden lie& bestarkt wurde er darin durch seine tiefe Freundschaft mit Hermann Lietz, dem Grun- der der beruhmten Landschulheime, die korperliche, handwerkliche und geistige Bil- dung in ausgewogener Mischung zu vermit- teln suchten. Der Abiturient Spemann trat zunachst eine Lehre als Buchhandler an. Beim ,,Schmokern" - einer wesentlichen Voraussetzung fur die Beratung der Kunden - stiei3 er auf Werke von Ernst Haeckel, die sein schon.in fruhen Jahren spurbares Interesse an der Biologie neu und auf hoherer Ebene weckten. Dem fur Gymna- siasten verkurzten Militardienst als ,,Einjahri- ger" folgte die Immatrikulation an der Uni- versitat Heidelberg, allerdings fur Medizin statt der beruflich weniger aussichtsreichen Biologie. Nach dem Physikum ging Spemann, nunmehr ganz der Zoologie verschrieben, als Dokto- rand zu dem nur wenige Jahre alteren Theodor Boveri nach Wurzburg. Dessen erste Experi- mente an Froscheiern faszinierten ihn, aber Boveri. bestand auf einer ,,soliden" Disserta- tion - der Beschreibung der Embryogenese des Fadenwurms Strongylus paradoxus. Ein ursprunglich vorgeschlagenes Thema, die Ent- wicklung der Geschlechtsorgane im Band- wurm, hatte Spemann - wie er Boveri anver- traute - in der Juristenverwandtschaft seiner Braut Klara Binder vollig kompromittiert. Dies blieb ihm dank Boveris Nachgeben er- spart, und er konnte gleich nach der Promo- Biologie in unserev Zeit / IJ. Jahvg. 198J / Nu. 4 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 0-6940 Weinheim, 198J 04J-20JX/8J/0408-0112 $ 02.50/0

Hans Spemann (1869–1941)

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Klaus Sander

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Abb. 1. Hans Spemann, Lithographie aus dem Jahre 1929.

112

Hans Spemann (1869-1941) Entwicklungsbiologe von Weltruf

Hans Spemann (1869-1941) war einer der be- kanntesten Biologen seiner Generation [ ll. Sein EinfluB auf die Entwicklungsbiologie und mittelbar auf die Biologie insgesamt war enorm und wirkt noch immer fort, auch wenn dies manchem Kritiker unerklarlich erschien bzw. erscheint [lo]. Ein Zeugnis fur Spemanns Ansehen bei den Fachleuten seiner Zeit ist die funfbandige Festschrift zu seinem 60. Ge- burtstag [2], der das Portrait Abbildung l ent- stammt; nach Anzahl der Beitrage und im Umfang (73 Autoren, iiber 3300 Seiten) durfte sie im Bereich der Biologie einmalig sein. Fur Spemanns Nachwirkung auf die heutige For- schung moge ein Zitat sprechen: "The dis- covery of the organization center in the verte- brate embryo by Spemann and Hilde Mangold in 1924 marked the beginning of a new era in the study of developmental phenomena. We

may even state that its effect was so great that this field of study soon acquired the status of a separate discipline in biological research" [ 161. Vor 50 Jahren, im Oktober 1935, wurde Hans Spemann der Nobelpreis fur Medizin und Physiologie zuerkannt (Abbildung 2) - Anlai3 genug, um Personlichkeit und Werk vor ihrem geschichtlichen Hintergrund zu betrachten [8, 11, 25, 281.

Leben und Personlichkeit

Spemanns Vater war Griinder eines erfolgrei- chen Verlags. Das von ihm herausgebrachte ,,Neue Universum" versorgte in leuchtend ro- ten Banden alljahrlich die ,,reifere Jugend" mit Lesestoff uber ,,die interessantesten Erfindun- gen und Entdeckungen". Vater Spemann legte grogen Wert auf Bildung, aber auch auf hand- werkliches Verstandnis. Ein ahnlich breites Bildungsideal schwebte offenbar seinem Sohn Hans vor, als dieser spater seine Kinder und ihre Freunde in einer eigens geschaffenen ,Ju- gendwerkstatt" handwerklich ausbilden lie& bestarkt wurde er darin durch seine tiefe Freundschaft mit Hermann Lietz, dem Grun- der der beruhmten Landschulheime, die korperliche, handwerkliche und geistige Bil- dung in ausgewogener Mischung zu vermit- teln suchten.

Der Abiturient Spemann trat zunachst eine Lehre als Buchhandler an. Beim ,,Schmokern" - einer wesentlichen Voraussetzung fur die Beratung der Kunden - stiei3 er auf Werke von Ernst Haeckel, die sein schon.in fruhen Jahren spurbares Interesse an der Biologie neu und auf hoherer Ebene weckten. Dem fur Gymna- siasten verkurzten Militardienst als ,,Einjahri- ger" folgte die Immatrikulation an der Uni- versitat Heidelberg, allerdings fur Medizin statt der beruflich weniger aussichtsreichen Biologie.

Nach dem Physikum ging Spemann, nunmehr ganz der Zoologie verschrieben, als Dokto- rand zu dem nur wenige Jahre alteren Theodor Boveri nach Wurzburg. Dessen erste Experi- mente an Froscheiern faszinierten ihn, aber Boveri. bestand auf einer ,,soliden" Disserta- tion - der Beschreibung der Embryogenese des Fadenwurms Strongylus paradoxus. Ein ursprunglich vorgeschlagenes Thema, die Ent- wicklung der Geschlechtsorgane im Band- wurm, hatte Spemann - wie er Boveri anver- traute - in der Juristenverwandtschaft seiner Braut Klara Binder vollig kompromittiert. Dies blieb ihm dank Boveris Nachgeben er- spart, und er konnte gleich nach der Promo-

Biologie in unserev Zeit / IJ. Jahvg. 198J / Nu. 4 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, 0-6940 Weinheim, 198J 04J-20JX/8J/0408-0112 $ 02.50/0

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tion 1894 eine gluckliche Ehe eingehen, der vier Kinder beschieden waren.

Nach seiner Promotion - die Prufer waren Boveri, Roentgen und Julius Sachs - arbeitete Spemann zunachst weiterhin beschreibend- embryologisch, nunmehr allerdings am Froschembryo. Endgultig auf sein zukunftiges Werk weist dann das Thema der Probevorle- sung des Habilitanden hin: ,,Kritische Darstel- lung der Versuche iiber Beeinflussung der On- togenese durch Abtrennung oder Totung ein- zelner Blastomeren". In seiner nuchtern- sproden und jede Abstraktion vermeidenden Formulierung ist dieser Titel symptomatisch fur Spemann und sein Wissenschaftsideal - im denkbar grogten Kontrast zur Theorien- freude der vorherigen Generation. Gerade ihr verdankte er jedoch die Ausgangsfrage seines Lebenswerks: ein mehrmonatiger Aufenthalt in Arosa, erzwungen durch drohende Erkran- kung, erschlofi ihm namlich die Entwick- lungs- und Vererbungshypothesen von August Weismann [19]. Die Auseinandersetzung mit diesen Hypothesen tritt uns noch in Spe- manns fruhen Versuchsprotokollen entgegen (Abbildung 3).

In die Wurzburger Zeit fallt der erste vo;

Abb. 2. Die Nobelpreis-Urkunde aus dem Jahre 1935. Grof3e des Originals ca. 37 x 54 cm. Reproduktion G. Mahlke. Fur die Ab- druckgenehmigung danke ich Frau Dr. B. Resch, Darmstadt.

Abb. 3. Spemanns Versuchsplanung fur das Jahr 1900. Die Beziehungen der Median- ebene zur Furchungsebene und mogliche Anderungen der Kerngrol3e sind Fragen, die Weismanns Keimplasmatheorie aufwirft [19]. Original im 2001. Inst. Freiburg.

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mehreren Besuchen in Neapel, wo Hans Driesch wenige Jahre zuvor an der Zoologi- schen Station seine aufsehenerregenden Versu- che am Seeigel-Ei unternommen hatte. Aber weder die Bekanntschaft mit dem beriihmten, an Jahren kaum alteren Forscher, noch sei- ne herrlich durchsichtigen Forschungsobjekte konnten Spemann von den Problemen der Amphibienentwicklung ablenken. Zwar

wechselte er vom Frosch zum Molch, aber dort blieb er zeitlebens ,,an der oberen Urmund- Iippe hangen", wie es ein kritischer Kollege einmal ausgedruckt hat.

Im Herbst 1908 folgte Spemann einem Ruf auf den Zoologie-Lehrstuhl der Universitat Ro- stock. Das anschliefiende Zwischenspiel als Zweiter Direktor des neugegrundeten Kaiser-

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Wilhelm-Instituts fur Biologie in Berlin- Dahlem (1914-1919) endete durch einen Ruf an die Universitat Freiburg i.Br., auf Weis- manns Lehrstuhl und in eine Stadt, wo zu le- ben Spemann und sein Bruder schon als Pennaler beschlossen hatten. ,,Ich bin schon da", vermeldete er dem Bruder lapidar und per Postkarte. Und er blieb da, trotz verlockender Angebote anderer Universitaten. Im Infla- tionsjahr 1923 amtierte er als Rektor, 1936 als Gastgeber einer denkwurdigen Zoologenta- gung. Er war Ehrendoktor der Harvard Uni- versity und der Universitat Cambridge sowie gewahltes Mitglied von mehr als 20 wissen- schaftlichen Akademien in aller Welt. Zum 1. 10. 1936 wurde Spemann emeritiert. Er starb im September 1941 nach Jahren gesund- heitlicher Beeintrachtigung.

Spemanns Personlichkeit schwankt im Urteil der Zeitgenossen - nicht zuletzt wohl, weil er aus intuitiver Abneigung gegen Andere keinen Hehl machte. Einhellig sind hingegen die Mei- nungen uber seine Hingabe an die Forschung als einen ethischen Auftrag - und uber seine Freude an unverblumten, ja gelegentlich sar- kastischen Anmerkungen. Einem zerstreuten Schriftsetzer schrieb er z. B. in die Korrektur- fahnen: ,,Der Text wimmelt so von Fluchtig- keitsfehlern, dai3 ich fragen mochte, ob ich das nachste Ma1 besser bedient werde, wenn ich ein weniger sauberes Manuscript einsende? Sp." Viele Anekdoten kreisen um Spemann. Er selbst notierte in sein Tagebuch: ,,Ich bin durch die Verleihung des Nobelpreises nicht gescheiter, sondern nur bekannter geworden, das scheinen die Leute zu vergessen."

Zwei Hinweise auf Spemanns aufierwissen- 4

schaftliche Interessen mogen diese Skizze ab- schlieRen. Er liebte die bildenden Kunste, Phi- losophie und Literatur; viele Jahre hindurch lud er Freunde und Mitarbeiter regelmaflig zu geselligen Leseabenden ein. DaB Bildung ein Gut ist, auf das alle Anrecht haben, hat er oft betont. Diese Uberzeugung liefl ihn zu einem Forderer der neugestalteten Freiburger Volks- hochschule werden, deren Vorsitz er dann bis zu ihrer Zwangsauflosung im Jahre 1933 fuhrte.

Wissenschaftliches Werk

Vieles von dem, was Spemann erarbeitet und gedeutet hat, findet sich in den einschlagigen Schul- und Lehrbuchern; anderes ist zu ver- wickelt, um in der notigen Kurze dargelegt zu werden. Daher wollen wir den Blick hier nur auf einige vorwiegend zeitgenossische und zum Teil unveroffentlichte Dokumente len- ken, die Spemanns wichtigste Experimente widerspiegeln.

Zwei Diapositive aus Spemanns Nachlafl mogen am Anfang stehen. Sie dienten ihm zur Erlauterung einer 1912 entwickelten Ope- rationstechnik (Abbildung 4). Mit der au- Berst fein kontrollierbaren ,,Spemann-Pipet- te" stanzte und saugte er einen Gewebepfropf aus der schuhloffelformigen Anlage des Zentralnervensystems (Neuralanlage) eines Molchembryos im Neurulastadium heraus. Die Operation schaltet die zukunftige rechte Augenblase aus. Spemann hatte dies schon vor der Jahrhundertwende mit weniger elegaiiter Technik angestrebt, um die bereits von fruhe- ren Forschern vermutete Abhangigkeit der Linsenbildung von der Augenblase (dem

spateren Augenbecher) experimentell zu bele- gen. Fur sein erstes Objekt, den Gras- froschembryo, sowie fur den Molchembryo gelang ihm dies wie erwartet: Auf der Kopf- seite ohne Augenbecher fehlte regelmaaig auch die Linse. Diesen Befund erorterte Spe- mann 1901 [21] im Hinblick auf ,,das Wirbel- tierauge" schlechthin - womit er eine hochst lehrreiche Kontroverse ausloste (s. u.).

Das nachste Dokument ist eine Schautafel (neudeutsch Poster genannt), wie sie Spemann und sein Schuler Otto Mangold seit den zwan- ziger Jahren fur den Unterricht und bei Tagun- gen benutzten (Abbildung 5). Sie zeigt, daB nach Einschnurung und anschliegender Durchteilung des Molch-Eies entweder Zwil- linge entstehen, oder nur ein einzelner Em- bryo, begleitet von einem sackartigen ,,Bauch- stuck". Spemann bemerkte fruh, dag das je- weilige Ergebnis von der Lagebeziehung des Urmundes zur Schnurebene abhangt. Lag die Schlinge symmetrisch zum Urmund, wie auf dem Versuchsprotokoll Abbildung 6 gezeigt, so entstanden Zwillinge, teilte die Schlinge den Urmund nur einer der beiden Eihalften zu, so bildete diese einen ganzen Embryo, die andere jedoch nur ein Bauchstuck. Der letz- tere Befund, obzwar weniger dramatisch als die Zwillingsbildung, war der fur Spemanns spatei-e Forschung wichtigere - zeigte er doch die Bedeutung der Gastrulation fur das Auf- treten der Achsenorgane (Neuralrohr, Chorda, Ursegmente). Gleiches gilt fur ein an- deres, ebenfalls weniger vollkommenes Ergeb- nis. Wurde das Ei nicht vollig durchgetrennt, sondern wie auf Abbildung 6 mit einer Schnurtaille belassen, so entwickelte es sich zum siamesischen Zwilling mit zwei Kopfen

Abb. 4. Links Spemann-Pipette, nach einem Diapositiv aus Spemanns Besitz. Ober das Loch am Schaft wurde ein Stiickchen Gum- mischlauch gestreift. Durch Druck auf die Stelle, die das Loch bedeckt, lafit sich dann das Volumen der Pipette aufs Feinste veran- dern. Rechts Diapositiv aus Spemanns Be- sitz, Grone 8,5 x 10 cm. Es zeigt die Pipetten- spitze und ihren Querschnitt, sowie ein Neurulastadium des Molches, dem die An- lage des rechten Augenbechers mit der Pi- pette herausgestanzt wurde. Fur die Dia- positive danke ich Herrn Prof. H. Ludtke, Darmstad t.

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6 und einem einheitlichen Hinterende. Dies be- ruht auf der Spaltung des nach vorne gerichte- ten Materialstroms im Innern der Gastrula durch die Schniirtaille. Weil der Materialstrom von der dorsalen Urmundlippe ausgeht, nann- te Spemann diese Stelle 1918 das ,,Organisa- tionszentrum" des Embryos.

Zur dritten, Spemanns Lebenswerk kronen- den Versuchsgruppe moge ein personliches Dokument iiberleiten (Abbildung 7). Es zeigt Hilde Mangold, die junge Frau von Otto Man- gold, mit ihrem Sohn im Sommer 1924 [9]. Ihr Leben endete wenige Wochen spater durch einen tragischen Unfall. Als Spemanns Dok- torandin Hilde Proscholdt hatte sie 1921 das entscheidende, von Spemann angeregte Expe- riment gemacht [24], auf das sich das eingangs wiedergegebene englische Zitat bezieht. Otto Mangold hat das beruhmte Experiment in sei- ner didaktisch-grundlichen Weise dargestellt (Abbildung 8). Hilde Mangold verpflanzte Material aus der dorsalen Urmundlippe in eine ,,indifferent&' Umgebung, namlich die zukiinftige Bauchregion eines anderen Em- bryos. Dort entstand daraufhin eine zweite Neuralanlage, begleitet von den iibrigen Be- standteilen des Achsensystems. Spender und Wirt waren unterschiedlich pigmentiert. Erst

Abb. 5. Schautafel mit Schnurversuchen a n Molcheiern. Die Versuche fuhrte Spemann schon u m die Jahrhundertwende aus; die Fotos stammen vermutlich z u m Teil von Otto Mangold aus der Zeit vor 1930. Grofle der Tafel ca. 50 x 65 cm. Original bei Prof. Th. Peters, G i e k n .

Abb. 6. Notizblatt uber einen Schnurver- such beim Teichmolch, 16. Mai 1900. Die mittlere Zeile gibt die Mikroskopvergrofle- rung an, die wegen Verwendung des Zei- chenspiegels zugleich auch die Vergrof3e- rung der Zeichnung bestimmt.

dieser - auf Spemanns amerikanischen Freund Ross G. Harrison zuruckgehende - Kunstgriff brachte die eigentliche Sensation zutage: das zusatzliche Achsensystem war ,,chimarisch" aufgebaut, bestand also zum Teil aus Zellen des Wirtes. Das Wirtsgewebe lie- ferte groi3e Anteile verschiedener Achsenorga- ne, obwohl es ohne den Eingriff zur Bauch- haut geworden ware. Der verpflanzte ,,Orga-

nisator" hatte also die Fahigkeit, indifferentes Zellmaterial zu gemeinsamer Gestaltung eines neuen Individuums anzuregen - ein Befund, der unglaubliches Aufsehen erregte. Spe- manns Interpretation des Geschehens als ,,primare Induktion" hat allerdings, mehr noch als seine Vorstellungen uber die Linsen- induktion, zu anhaltenden Meinungsver- schiedenheiten gefiihrt (s. unten). In deren Ge-

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Abb. 7. Hilde Mangold, geb. Proscholdt, mit ihrem Sohn Christian im Sornmer 1924. Foto Privatbesitz, s. a. [9].

Abb. 8. Das ,,Organisator-Experiment" von Hilde Mangold in der Darstellung von Otto Mangold [ll]. Material aus der dorsalen Ur- mundlippe (a, punktiert), das norrnalerweise als Urdarmdach einrollt, wird in die Bauch- region eines Wirtskeirnes verpflanzt (b) und ruft dort eine sekundare Neuralanlage (= Medullarplatte) hervor (e). Der sekundare Rumpf reicht von der Ohranlage bis zur Schwanzknospe (h); der Querschnitt (i) zeigt seinen chimarischen Aufbau (einzelne Organanlagen bestehen aus hellen und dunklen Anteilen).

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folge mui3te Spemann noch selbst - auf teil- weise schmerzhaften Umwegen - erkennen, dai3 das reagierende Wirtsgewebe weit mehr zur Komplexitat der induzierten Entwick- lungsvorgange beisteuert als der transplan- tierte Jnduktor".

Spemanns gewaltiges Werk - sein 300seitiges Buch [23] beruht fast nur auf Ergebnissen sei-

ner eigenen Arbeitsgruppe - hat viele weitere, noch heute fruchtbare Erkenntnisse gebracht. Bei einer derart einflui3reichen Personlichkeit ist es geschichtlich aber auch wichtig, nach ih- ren Schwachen und deren Folgen zu fragen. Es ist bemerlienswert, dai3 seine Neigung Zuni Durchdenken von Alternativen [14] ihn nicht davor bewahrte, in der Linsen-Kontroverse (s. u.) zunachst kompromiBlos auf einev der

beiden theoretisch erorterten Erklarungsmog- lichkeiten zu bestehen; offenbar erschien ihm undenkbar, dai3 beide Alternativen vorkom- men, zumal bei nahe verwandten Arten. Schwieriger zu beurteilen ist der von Zeit zu Zeit geaui3erte Verdacht, dai3 die Induktions- vorstellung und die von ihr ausgeloste jahr- zehntelange Suche nach Induktionssubstan- Zen einen ,,gigantischen Holzweg" darstellten (siehe z.B. das Schlui3kapitel in [16]). Aber auch falls dieser Verdacht zutreffen sollte, hat der ,,Holzweg" die Entwicklung neuer Me- thoden angeregt und damit die Forschung ein gutes Stuck weitergefiihrt. Konkreter stellt sich die Frage, welche Folgen Spemanns Gleichgultigkeit, wenn nicht Abneigung, ge- geniiber der zeitgenossischen Genetik gehabt hat [20,27]. Spemanns Mange1 an genetischem Verstandnis wird nicht nur durch einschlagige Anekdoten belegt, sondern vor allem durch seine Schwierigkeiten mit dem ,,Reaktionssy- stem" bei Induktionsvorgangen. Es dauerte lange, bis er erkannte, dai3 di'e Spezifitat der Reaktion fast ausschliei3lich im ,,Erbschatz" oder, wie er sich noch lieber ausdriickre, im ,,Potenzschatz" der reagierenden Zellen liegt.

Zum Teil mag sein Zogern unbewuBt der ,,Kontrastbetonung" der eigenen Disziplin ge- genuber der von Morgans Schule angefiihrten Genetik gedient haben [20]. Uber die Folgen dieser Zuriickhaltung sind nu'r Vermutungen moglich. Es ist denkbar, dai3 die Dominanz der Spemannschen Denkweise das Aufbluhen der Entwicklungsgenetik undl damit das Ver- standnis fur die erbliche Steuerung von Ent- wicklungsvorgangen zumindest im deutschen Sprachraum erheblich verzogert hat. Seine Schiilerin Salome Gliicksohn wurde zwar ein Pionier der Entwicklungsgenetik (s. [6]) - aber da arbeitete sie schon in Amerika, wo sie wie so viele andere Wissenschaftler Zuflucht vor Hitlers braunen Scharen gefunden hatte.

Konflikte und Kontroversen

Spemanns Arbeiten haben immer grogen Ein- druck, nicht selten aber auch lebhaften Wider- spruch hervorgerufen, und dies bis in die jiingste Zeit hinein. Geschichtlich interessant ist dabei der Umstand, daB die verschiede- nen Kontroversen weitgehend dem gleichen Grundmuster folgten: Spemann veroffentlicht ein bahnbrechendes Experiment, ausgefiihrt an den Embryonen einer bestimmten Amphi- bienart. Aus den Ergebnissen ziehen er oder seine Leser verallgemeinernde SchluBfolge- rungen. Ein anderer Forscher untersucht eine andere Amphibienart und erhalt Ergebnisse,

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die nicht der Erwartung cntsprcchcn. Es fol- gen hofliche Andcutungcn oder auch dezi- dicrte Feststcllungen des Inhalts, die jcwcils andere Seite habe ihre Daten und Beobachtun- gen fehlgedeutct. SchlieGlich stellt sich heraus, dai3 die Ergcbnisse beider Partcien stimmen. Der Vielfalt der Formcn und Verhaltensweisen im Organismcnreich steht namlich cine kaum geringcre Variabilitat dcr Entwicklungswegc gegenuber - eine Tatsache, der sich die mei- sten Biologen unter dem Einflug unzutreffen- dcr Rekapitulationsvorstellungen verschlie- Ben [18]. Innerhalb dieser Vielfalt hat Spe- mann aber mehr als andcre die Prinzipicn ge- funden und begrundet.

Spcmanns erste Kontroversc, von bciden Par- teicn im Zusammenhang dargestcllt [15, 231, folgte diesem Grundmustcr am deutlichsten. Mit scinen neuartigcn Expcrimcnten belcgt Spemann 1901 [21], dai3 die Epidermis dcs Grasfrosches (Rana fusca) keinc Linse bildet, wenn ihr der Kontakt mit dem Augenbccher vorcnthaltcn wird. Emanucl Mencl in Prag findet kurz darauf, dai3 miggebildcte Forcl- lenkopfe die Augenlinse auch in Abwesenhcit der Augenblase bildcn (,,freic Linsenbildung") und Spemanns Deutung fur ,,zu cng und nicht allgemein". Spemann unterstellt 1903, dai3 Mencl die vielleicht nur vorubergehend ausge- bildcte Augenblase ubersehen habe, Mencl gibt zu bcdenken, Spemann konnc die Linscn- anlage durch Hitzcwirkung geschadigt ha- bcn - bei seinen fruheren Versuchcn hattc Spemann die zukunftige Augenblase namlich nicht ausgestanzt (Abbildung 4), sondern mit cincr erhitzten Nadcl zerstort. Spemann fiihlt sich hingegcn durch den Amerikaner Warren H. Lewis bestatigt, der 1903 als erster die Au- genblase vcrpflanzte und sah, dai3 sie bei Rand sylvatica am neucn Or t - in der Hals- odcr Rumpfregion - eine Lime induzierte. Mencl kontert mit Daten dcr Amerikanerin Helen D. King, die 1905 bei Rand palustris freie Linscn crhielt. Spcmann erklart die Kingschen Ergeb- nisse fur nicht voll bewciskraftig, entschliegt sich aber zur Ubcrprufung am Tcichfrosch (Rana esculenta) und verbessert zuvor seine Operationstechnik. Da er das Ergebnis zu kenncn glaubt, arbeitet er das Material erst nach einem halben Jahr auf - und findet freie Linsen in fast jedcm Fall [22]. Mencl trium- phiert und schrcibt dies Spemanns neuer, schonender Tcchnik zu [15], aber Spcmann wendet alte und ncue Technik auf beide Arten an, und der Unterschicd bleibt: die Epidermis von R. fusca braucht zur Linsenbildung den Kontakt mit dcm Augenbecher, die von R. es- culenta nicht. Zwei Jahrzehntc spater ist durch

die Arbciten vieler Forscher offcnkundig, dag bciden Modi wciteren Amphibien-Arten ZU-

gcordnet werden konncn - der Axolotl z. B. kann freic Linscn bildcn, die meisten Molchc konnen es nicht [23]. Heute weig man, daR auch die ,,freicn" Linscn durch Induktion ent- stehcn; allerdings geht der auslosende Reiz nicht von dcr Augenblase aus, sondern von bc- stimmtcn Rcgioncn dcs Urdarmdaches, die der Epidermis auf fruheren Stadien anliegen. Diese Induktionswirkung gibt cs auch beim Molch. Sic wird aber von Mesenchymzellen aus der Neuralleistc unterdriickt; schaltet man diesc aus, bildct regelmagig auch der Molch freie Linscn [12]. Spemann hatte also cin grundlcgendes und inzwischen fur die Ent- wicklung auch vielcr andercr Organe belegtes Prinzip cntdeckt, hatte abcr die Viclschichtig- keit der Entwicklungsvorgange anfangs unter- schatzt. Er schrieb spater einmal: ,, . . . aber die Antworten, wclche die Natur auf meine im- mer tiefcr dringenden Fragcn gab, enthielten immcr grogere Ratsel, als ich selbst bci der Frage erwartet hatte" [25, S. 2741.

Nach dcm gleichcn Grundmuster entwickcl- ten sich auch andere Kontroversen, z. B. iiber die Notwcndigkeit odcr Entbchrlichkeit der primaren Induktion und, im Zusammenhang damit, ubcr den Anlagenplan bei vcrschiedc- ncn Amphibiengruppcn (erortcrt z. B. in [5]). Bcgonnen hattcn sic abcr schon mit den Un- tcrsuchungen von Goerttler 1926 [7]. Fur die heute wichtigste Amphibienart, den Krallen- frosch Xenopus, heigt es in der jungstcn Ver- offentlichung: ,,These results lend unequivo- cal support to Spemann's theory of neural in- duction which has recently been questioned" ~ 7 1 .

Auf einer wenigcr rationalen Ebenc als diesc Kontroversen verlief und vcrlauft ein weltan- schaulicher Konflikt, der sich an Spemanns Neigung zur Umschreibung komplexer Sach- vcrhalte in vitalistisch gepragter Ausdrucks- wcise entzundet. Spcmanns ,,Vitalismus" war abcr nicht von jencr Art, die durch Annahme besondcrer und letzlich unerforschlicher Lc- bcnskrafte das Fernziel der naturwissenschaft- lichen Analyse der Lebcnsvorgangc in Frage stellt. Er war vielmehr Ausdruck seiner Er- kcnntnis, dai3 die Komplexitat manchcr Le- bensvorgangc das Auflosungsvermogen der jeweils verfugbaren naturwissenschaftlichen Methoden uberstcigt - die gleiche Erkenntnis Iai3t ubrigens hcutige Entwicklungsbiologen in bestimmten Fragen zur Computcrsimula- tion statt zur molekularbiologischen Analyse grcifen. Dan diesc Erkcnntnis Spemann und

seine Schuler nicht vom Forschcn abhielt ist offcnkundig, und so mui3 auch der hcutige ,,Mechanist" zugeben: "Although some of these proposals had a distinct vitalistic ring, they were nonetheless based on sound and re- peated observation" [26].

Der Vitalismus-Vorwurf wird aber wohl nicht verstummen - bictet er doch kleinercn Gei- stern die Moglichkeit, pauschal am Nachruhm einer ungemcin erfolgreichcn Personlichkeit zu kratzcn. Auch auf anderen Gcbicten wird dies von Zeit zu Zeit versucht [IO]. Vor allem Spemanns politische Haltung wurde wicder- holt ins Zwielicht gcstellt, wenn auch nur auf dcr Basis anckdotischer Indizicn. Dcshalb soil sic hicr mit wenigen Worten umrissen wcrdcn. Als Kind eincr Zeit, die die Griindung des Deutschen Nationalstaates als ein spates und langersehntcs Gleichzichen mit den benach- bartcn Nationen begriigte, war Spcmann ver- standlicherweise deutsch-national cingestellt. Den Weg von dort zum Nationalsozialismus hat er im Gegcnsatz zu vielen andercn aber nicht bctrcten. Vortragc mit vcrfanglich klin- genden Titeln wie ,,Die Wissenschaft im Dicnste der Nation" (zum Studententag 1938) fielen crsichtlich nicht nach dem Geschmack der braunen Machthaber aus, und Spcmann mokiertc sich in Schreiben an den amticren- den Rcktor uber die Gebrauche der ncuen Zeit - allcrdings ohne offen zu opponiercn. An die jungen, auch im Bereich ihrer Wissenschaft der poiitischen Vcrsuchung ausgcsetzten Fach- kollegen aber wandtc er sich 1936 mit warnen- den Wortcn: ,,Die Wcge, die sie cinschlagen, konnen nicht zu ncu, die Gedanken, welche sie hervorbringen, konnen nicht zu rcvolu- tionar sein. Nur einc Schrankc ist ihncn ge- setzt. Sie mussen sich bewahren an dcnselbcn Kriterien der Wahrheit, dencn wir Alten uns beugen mugten. Den Fclsen der Wahrheit konnen wir nicht von seiner Stelle ruckcn, wohl aber konnen wir an ihm scheitern" [ll].

Wurzeln des Erfolgs

Spemann war nicht der crste, der Amphibien- eier schnurte oder die dorsale Urmundlippc verpflanzte. Warum verknupfte und verknupft man diese bahnbrechenden Experimcnte dcn- noch zuerst rnit scinem Namen? Zum einen wohl, weil seine Untersuchungen bcispiellos grundlich waren. Er selbst hat seinen Vorgan- gern einmal vorgehalten, dai3 Jeider die aus kleinen Zahlen gezogenen Schlussc nicht da- durch an Sicherheit gewinncn, dai3 die Errei- chung sclbst dicser kleincn Zahlen cine schwierige war". Zum anderen hatte Spemann

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Abb. 9. Die ,,Institutskutsche", Federzeich- nung von Spemanns genialem Schiiler Jo- hannes Holtfreter aus dem Jahre 1920. Spe- mann (auf dem Kutschbock) lenkt die Prak- tikantenschar des Instituts, als Antreiber betatigen sich drei nachmals beriihmte Assistenten (links im Vordergrund: Bru- no Geinitz, Fritz Baltzer und Otto Man- gold). Unter den Rossern traben, ebenfalls mit personlich gepragten Gesichtsziigen, drei zukiinftige grol3e Entwicklungsbiolo- gen, namlich Viktor Hamburger, Hilde Proscholdt und Holtfreter selbst. Fur die Genehmigung zum Abdruck danke ich Herrn Prof. Holtfreter, Rochester/NY.

den Vorteil, seine spateren Versuche vor einem erheblich erweiterten Kenntnishintergrund deuten zu konnen. So wui3ten zum Beispiel weder Warren H. Lewis 1907 noch Spernann selbst im Jahre 1918, daB die von ihnen verpflanzten Urmundlippen kein zukiinfti- ges Neuralmaterial enthielten; den Neural- rohrstiicken, die am Einpflanzungsort ent- standen, maBen daher beide keine besondere Bedeutung zu. Hingegen hatte, als Hilde Proscholdt das Experiment 1921 wieder auf- nahm, Walter Vogt kurz zuvor gezeigt, dai3 die Neuralanlage aus einem Bereich weit abseits der Urmundlippen entsteht. Erst daraus (und durch die Pigmentmarkierung, s. Abbildung 8) ergab sich, dai3 das neugebildete Neuralrohr etwas Besonderes darstellt.

Im personlichen Bereich hatte Spemann - wie so mancher groi3e Biologe, allen voran Charles Darwin - den Vorteil, dai3 ein wohl- habendes Elternhaus ihn in den entscheiden- den Lebensabschnitten finanzieller Sorgen enthob. Wichtiger aber war die Personlichkeit. Schon Boveri hatte dem Vater seines Dokto- randen brieflich gemeldet: ,,Ich kenne viele Zoologen und habe auch manche als Schiiler unter den Handen gehabt; aber ich wiigte kei- nen, dem man ein so giinstiges Prognosticon

fur die Zukunft stellen konnte" [ I l l . Neben ausgepragt analytischem Denkverniogen, ma- nuellem Geschick und groi3er Selbstdisziplin besaB Spemann offenbar die Gabe und Nei- gung zur Menschenfiihrung - die groi3e Zahl seiner Schiiler, die nach seiner eigenen Aus- sage wesentlich zu seinen Erfolgen beigetra- gen haben, belegt dies (Abbildung 9).

Der wissenschaftstheoretische Ansatz, dem Spemann bei seinen Forschungen zu folgen glaubte, unterschied sich grundlegend vom vie1 moderner anmutenden Ansatz August Weismanns [19]. Spemann schreibt: ,,Ah Vor- bild schwebte mir dabei die Arbeitsweise des Archaeologen vor, der aus Bruchstucken, die allein er in der Hand halt, ein Gotterbild wie- der zusammenfiigt. Er mu8 an das Ganze glauben, das er nicht kennt; aber er darf nichts nach eigenem Gedanken gestalten. Er mug so weit Kunstler sein, daB er den Plan des hohen Meisters schrittweise nachschaffen kann; aber sein oberstes Gebot ist es, die Bruchflachen heilig zu halten. Nur so darf er hoffen, seine Funde an ihrem richtigen Ort einsetzen zu konnen" (Abbildung 10). Mag diese Vorstel- lung (wie Darwins "true Baconian prin- ciples'') auch ein gut Teil Selbsttauschung ent- halten, so war sie doch als Abkehr von den

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Page 8: Hans Spemann (1869–1941)

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Abb. 10. Szene aus dem Farbfilm einer fikti- ven Spemann-Vorlesung, die der kaliforni- sche Embryologe Richard M. Eakin im Rah- men seiner biologiegeschichtlichen Vor- tragsserien zu halten pflegte [3, 41. Eakin hatte fur ein Jahr am Freiburger Institut ge- arbeitet und ging Spemann bei der Abfas- sung der englischen Ausgabe seines einzigen Buches zur Hand [4, 231. Die Szene zeigt ,,Spemann" bei der Erlauterung des Vorbilds fur seine Arbeitsweise.

Spekulationen der vorigen Generation ver- standlich - und publikumswirksam war sie auch (siehe Abbildung 10).

Spemanns Ruhm in der breiteren Offentlich- keit hatte noch mindestens zwei weitere Wur- zeln. Dai3 der Experimentator aus einem zukiinftigen Lebewesen deren zwei hervorge- hen lie& beeindruckte den Laien zutiefst - und dies um so mehr, wenn z.B. der Futter- neid zwischen den Kopfen siamesischer Zwil- linge nahelegte, dai3 das Experiment auch zwei ,,Seelen" statt einer schaffen konnte. Hinzu kam, dai3 Spemann seine Gedanken in hochst eingangige Worte zu fassen wui3te - gepragt von seiner ungewohnlichen Fahigkeit, das Zugangliche meisterhaft zu analysieren und sich zugleich das ,,tiefe, ehrfurchtige Stau- nen" [25] uber die ans Wunderbare grenzen- den Lebensvorgange zu bewahren. Diese Fahigkeit trug seinen Ruhm uber den Bereich der Wissenschaft hinaus und lafit ihn bis heute nachklingen.

D a n ksagung

Margrit Scherer, Susanne Rau und Gudrun Mahlke danke ich fur technische Hilfe, Profes- sor Dr. Jane Oppenheimer, Dr. Dieter Zissler und Franz Kremp fur hilfreiche Kritik.

Literatur

[l] Aus einer internationalen Umfrage unter Zoologen gingen 1966 Thomas H. Morgan und Hans Spemann mit weitem Abstand als bedeutendste Zoologen der ersten Jahrhun- derthalfte hervor. Fur Einzelheiten siehe [131. [2] Wilhelm Roux' Archiv (1929), Bande Nr.

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[8] V. Hamburger (1969) Hans Spemann and the organizer concept. Experientia 25,

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Anschrift: Prof. Dr. Klaus Sander, Institut fur Biologie I (Zoologie), Albertstr. 2 la , D-7800 Freiburg.

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