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HANSADLER - ciando ebooksGnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie ist Herders eigener, aufklärungskritischer Beitrag zur Aufklärung, den wir in seinen Entwürfen bis zu dem

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HANSADLER

Die Prägnanz des Dunklen

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STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT

Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 13

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

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HANS ADLER

DIE PRÄGNANZ

DESDUNKLEN

Gnoseologie -Ästhetik -

Geschichtsphilosophie bei J ohann Gottfried Herder

FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG

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Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüngli-chen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unver-meidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung ge-schuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra phi sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.ISBN 978-3-7873-0961-0ISBN E-Book: 978-3-7873-3045-4

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1990. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, so-weit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleich tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

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Meiner Frau Brigitte

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INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

I. Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie . ... . ...... ............. ................... ........ .............. 1 A. Gottfried Wilhelm Leibniz . .. ........................................................... ...... . . . ........ ... 2 B. Christian Wolff ................... .................... .................................................... . . .......... 1 1 C. Alexander Gottlieb Baumgarten .......... ...... ..... ... . ................................ ........ .... ... 26

II. Herders Ästhetik-Kritik .......... . . . ... ..... . . ... ................................................... . ..... ..... . . . . 49 A. Herders Kritik der Philosophie der "Wortwelten" . ... . . . . . . . . ... . . . . . . . . . .. . . .. . . . . ..... . . .. 49 B. Herders Auseinandersetzung mit Baumgarten .. .... . ..... . .... . ..... .. . . . . . . . .. . . . ... ........ 63

1. Die Aisthesis als Ausgangspunkt . . ..... . . .................................. ... . ... ......... . . .. ..... 63 2. Herders Kritik der "Meditationes" Baumgartens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3 . Herders Kritik der "Aesthetica" Baumgartens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

a) Ästhetik als Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Ästhetik als "bloße Metapher" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 c) Ästhetik als 'bloße Theorie der schönen Wissenschaften' . . ... ........... . . . . . 82

III. Herders Ästhetik-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 A. Zum Konzept der Prägnanz .... . . .... . . ... . ..... . . .... ...... . . ...... ........ . ........ ... ... . . .. .. ......... . 90 B. Haptik und Skulptur, Optik und Malerei ................. ............. .. ........... ........ . . . . . . . 101 C. Poesie - Phantasie und Dichtungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

IV. Herders Entwurf einer Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . 150 A. Der Status der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

1 . Isaak Iselin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 5 1 2 . Voltaire ... . ..... . . .... . . . . . . ...... . ......... . . . . . . . . . .......... ............................. .. . . . . . . ... . .... ..... . . . .. 157

B. Aisthesis und Geschichte .. ... . . . . .. .... .... ................ ....... .. ..... .... . . . ....... . ..... ... . . . . . ........ 162

1 . Geschichtsphilosophie: Von der Faktizität der Fakten ......... . . . . .... ... .... . . . . .. 162 2. Geschichtsphilosophie: Von der Erfahrung der Menschheit ......... ......... . .. 165

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Zur Zitierweise .................................................................................................................. 173 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Quellen ................................................................................................................................ 175 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Namenverzeichnis .... .... . .... .. .. . ... ..... . . ...... ... . . . . . . .. ... .. . . ................. ...... ........ ... . . . ... ..... ......... . .. 184

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VORWORT

Die folgende Untersuchung ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ort des 'Irra­tionalisten' Johann Gottfried Herder innerhalb des Kontinuums der Aufklärung. Die Schulphilosophie hatte in ihrer systematischen Ausprägung durch Christian Wolff einen Grad der Präzision erreicht, der entweder nur systemverträgliche Komplettie­rungen im Detail gestattete oder aber die Problematisierung der eigenen Grundlage hervortrieb, wobei, wie gezeigt werden wird, die Komplettierung selbst durchaus als eine Form der - nicht intendierten - Paradigmenrevision sich erweisen kann. Die Diskussion um die Ratio der Rationalität stellt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht als Problematisierung eines Diskurses durch einen ihm hete­rogenen dar, sondern ist Bestandteil ein und derselben Bewegung. Die Erkenntnis­lehre - seinerzeit unter dem Terminus "Gnoseologie" geläufig - war die Instanz, an der Rationalität sich zu bewähren oder auszubilden hatte, wenn sie im Anspruch aufklärerisch und wissenschaftlich sein wollte. Unsere Darstellung nimmt also ihren Ausgang vom gnoseologischen System der Aufklärung.

Das hierarchische System der Erkenntnisarten und -grade - von der dunklen bis zur intuitiven Erkenntnis - erwies sich schon in seinen unteren Stufen der Differen­zierung als problematisch dann, wenn es auf den erkennenden Menschen bezogen wurde. Der Versuch, die Diskrepanz in einer komplementären Psychologie oberer und unterer Erkenntnisvermögen aufzufangen, offenbarte seine Unzulänglichkeit ab dem Zeitpunkt, zu dem als Antwort auf den Dualismus cartesianischer Prägung die Frage nach der Einheit des Menschen gestellt wurde.

Aus dieser Problemlage heraus entsteht die Ästhetik als Desiderat der Gnoseo­logie. Sie ist in ihren Anfängen diejenige Disziplin der Philosophie, die jene mensch­lichen Erfahrungsbereiche philosophisch zu verarbeiten sucht, welche die Schul­philosophie als ihren nicht weiter eruierbaren Ausgangspunkt oder als ihre Peri­pherie zwar zu benennen, nicht aber zu verarbeiten imstande war. Ästhetik als Desi­derat der Gnoseologie ist also anfangs der Versuch einer Wissenschaft von der Er­fahrung, von den Sinnen, von dem, was dem Intellektualismus der Schulphilosophie 'verworren' und 'dunkel' war. Sie ist nicht originär Kunstlehre oder Lehre vom Kunstschönen, wenngleich das Schöne und die Künste - als Domänen der 'sinnlichen' Erkenntnis - ihre prominenten Gegenstände sind.

In diese Problemkonstellation tritt Herder ein mit einer Gnoseologiekonzeption, die an der schulphilosophischen Vorgabe ihr Profil gewinnt, um sich gegen sie- und später gegen den Kritizismus - zu wenden. Herder richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf den kruden Bereich der menschlichen Erfahrung und entwirft eine Erkenntnislehre des Dunklen, die das gnoseologisch Kompakte nicht als das peri­phere Unzugängliche, sondern als das in seiner Komplexität Prägnante, Erkenntnis­und Gewißheitsträchtige begreift. Herders Erkenntnislehre ist eine Gnoseologie der Prägnanz, die sich des ganzen Menschen annimmt und Zugang zu allen Erfahrungs­bereichen des Menschen nach Maßgabe seiner Erkenntnisfähigkeiten sucht. Die Äs­thetik in weiterer Bedeutung findet daher seine besondere Aufmerksamkeit, und

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X Vorwort

Kunst und Literatur sind für ihn Manifestationen menschlicher Praxis mit exemp-larischem Charakter.

·

Der gnoseologischen Prägnanz korrespondiert bei Herder die historische. Die Vergangenheit ist 'zukunftsschwanger', und Geschichte wird als zeitliches Phänome­non der Entwicklung Gegenstand einer Geschichtsphilosophie, die der Prinzipien der allgemeinen Ästhetik bedarf. Die Adäquanz dieses 'ästhetischen' Zugangs ergibt sich für Herder aus der anthropologischen Konstitution. Der Mensch ist eine unauf­lösliche Einheit von Leib und Seele, und er ist 'verhüllter sichtbarer Gott', dessen na­türlicher Zweck die entelechische Entfaltung ist. Geschichte der Menschheit ist dementsprechend für Herder die anschauliche Entwicklung der Phänomena, deren Zusammenhang durch die Annahme einer sie hervorbringenden 'Kraft' als ihres Or­ganisations- und Bewegungsprinzips gewährleistet ist. Sie ist Geschichte der Menschheit und Geschichte für die Menschheit, insofern nämlich, als sie den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten zugänglich ist. Diese Verbindung von Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie ist Herders eigener, aufklärungskritischer Beitrag zur Aufklärung, den wir in seinen Entwürfen bis zu dem Punkt vorstellen, an dem die Geschichtsphilosophie als Integrationsebene einer Philosophie der Erfahrung - eben der Ästhetik im weiteren Sinne - deutlich wird.

So sind die Begriffe des Untertitels dieser Untersuchung- "Gnoseologie- Ästhetik - Geschichtsphilosophie" - in dieser Reihenfolge als Hinweis auf deren Fundie­rungsverhältnis in der Abfolge ihrer Bedeutung bei Herder und der Gewichtung in unserer Darstellung in den nachfolgenden Ausführungen zu lesen. Das Zentrum ist die Gnoseologie Herders, die als ästhetische im weiteren Sinne seine Ästhetik im engeren Sinne und seine Geschichtsphilosophie begründet, so daß letztere als eine "genetische Ästhetik der Humanität" (H.J. Schrimpf) lesbar wird. Diese Gewichtung und die Absicht, dieses Konzept im Kontext der rationalistischen Philosophie in Deutschland an seinem polemisch bestimmten Ort aufzusuchen, bedingen eine Enttäuschung von Lesererwartungen, die traditionell im Zusammenhang mit dem Namen Herders geweckt zu werden pflegen. Nicht die Produkte, sondern deren generierendes Prinzip im Denken Herders ist vorzustellen. In dieser Hinsicht ist die vorliegende Untersuchung geschlossen.

Nicht die Provenienz von Elementen Herdersehen Denkens ist vorrangig Thema der Arbeit, sondern seine Konsistenz im Ausgangspunkt und in der beharrlichen Beibehaltung. Und: Nicht die Aspekte einer aesthetica specialis Herders, etwa als Poetik im eingeschränkten Sinne, kommen für sich zur Sprache, sondern nur inso­fern, als sie exemplarisch - von Herder- zur Vorstellung des thematisierten Zusam­menhanges herangezogen werden. Schließlich: Um deutlich werden zu lassen, daß die Vernunft der Schöpfung dem menschlichen Modus der ästhetischen Vernunft für Herder grundsätzlich sympathetisch denkbar ist, kommen Haptik und Optik in ihrer genetischen Konkurrenz, nicht aber akustischer Sinn und mit ihm die Sprache zentral ins Bild1• Der vielberufenen Widersprüchlichkeit und der diffusen Irrationalismus-

1 Vgl. die jüngst erschienene, gründliche und -wie uns scheint - mit unseren Intentionen verträgliche Ar­beit von Ulrich Gaier: Herdcrs Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988 ( = Problemata 118).

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Vorwort XI

Zuschreibung kann nur dann begegnet werden, wenn den 'Widersprüchen' auf der Ebene je konkreter Texte Herders eine text- und situationsübergreifende Integrati­onsebene zugeordnet wird.

Entscheidender Gesichtspunkt ist also durchgängig der Versuch des Aufweises, daß Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie aus der Perspektive eines gnoseologischen Anthropozentrismus in einem plausiblen Verhältnis zueinander ste­hen, nicht aber, wie im einzelnen sich dieser Zusammenhang in der Ausformulierung der Texte der Diskurse artikuliert. Das mag, auf dieser Grundlage, weiteren Unter­suchungen mit präziser philologischer Unterfütterung vorbehalten sein. Insofern ver­steht sich diese Untersuchung als eine grundlegende Skizze zu einer neuen Er­schließung von Herders Werk und - damit - als Beitrag zur erneut virulent gewor­denen Diskussion der Ratio der Rationalität. In dieser Hinsicht ist die folgende Untersuchung offen.

Die Tatsache, daß Herder länger als ein Jahrhundert mehr oder weniger das Schattendasein des ungenannten 'Anregers', des falschverstandenen 'Huma­nitätsphilosophen' und des 'Vaters des Sturm und Drang' geführt hat, hat wohl im wesentlichen zwei Gründe. Der eine ist - schlicht - in nur oberflächlicher Ver­trautheit mit dem Werk Herders gegeben. Der Fragmentcharakter vieler seiner Schriften und sein Präferieren der Um- statt der Ausarbeitung liefern nur scheinbar ein Argument für die Ansicht vom unsystematischen 'Rhapsodisten'. Die prinzipielle, von Herder immer wieder begründete, systematische Verbindung von gnoseo­logischer, ästhetischer und geschichtsphilosophischer Reflexionsebene ist ein roter Faden durch das gesamte Werk. Der andere Grund für die Marginalisierung Herders ist darin zu sehen, daß die Wissenschaftsgeschichte ihn in der Regel deshalb über­sieht, weil - im Licht der Kritischen Philosophie und ihrer Nachfolger - Herder als Theoretiker strikter Observanz nicht gelten konnte. (Aus beiden Gründen sehen wir davon ab, die Forschungsliteratur Revue passieren zu lassen, um uns auch in dieser Hinsicht auf das für unser Vorhaben Relevante beschränken zu können.) Herders ästhetisch fundierte Reformulierung rationalistischer Theorie ist gleichwohl als Pro­blem - nicht nur der ideengeschichtlichen Konstellation des 18. Jahrhunderts - noch nicht abgegolten. Dieses Problem kann - abgekürzt und im Bewußtsein der riskanten Oszillation beider Begriffe - mit der Opposition von Reduktionismus und Holismus bezeichnet werden. Es mag sein, daß diese Virulenz Herders mit ein Grund für eine in den letzten Jahren deutlich beobachtbare quantitative Zunahme der Beschäfti­gung mit Herder ist - unsere Untersuchung versteht sich als ein sachlicher Beitrag dazu.

Diese Untersuchung ist im Dezember 1987 von der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen worden. Den Gut­achtern danke ich für ihre Mühe und die wohlwollenden Anregungen, die ich in der Endfassung berücksichtigen konnte.

Der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts und dem Verlag Felix Meiner danke ich für die Aufnahme in die Reihe "Studien zum achtzehnten Jahrhundert".

Großen Dank schulde ich meinem Freund und Kollegen Heinrich Clairmont, der mit seinem umfassenden Wissensfundus und in seiner kritischen Präzision mich unermüdlich und selbstlos unterstützt hat.

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XII Vorwort

Von der ersten Idee an bis zur Vertretung in den Gremien hat Hans Joachim Sehrimpf diese Arbeit begleitet, gefördert und an ihrem Entstehen als Freund und Lehrer intensiv teilgenommen. In seiner Abschiedsvorlesung definierte er, tongue-in­cheek: "Ein Lehrer ist ein Mensch, der dazu beiträgt, daß es seinen Schülern gelingt, ihn wesentlich zu fördern." Es würde mich freuen, wenn ich ihm in diesem Sinne meinen Dank abstatten könnte.

Für mich nicht zu überschauen ist, was ich meiner Frau Brigitte im Zusammen­hang mit der Entstehung dieses Buches verdanke. Ihr ist es gewidmet.

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I. ÄSTHETIK ALS DESIDERAT DER GNOSEOLOGIE

Wir gehen davon aus, daß die Ästhetik im achtzehnten Jahrhundert als neue philo­sophische Disziplin nicht eine Summe von Theorien verschiedener Künste und auch nicht eine Kunstlehre ist, sondern daß sie an der Peripherie der Erkenntnislehre ent­steht. Dementsprechend ist nicht nachzuzeichnen, was im 18. Jahrhundert und früher an theoretischen Äußerungen zu den Künsten im einzelnen fixiert worden war, zumal hierzu eine breite Forschungsliteratur vorliegt. Unsere Absicht ist vielmehr, aufzuzeigen, wie - von Descartes über Leibniz und Wolff bis hin zu Baumgarten- die Rolle der Sinnlichkeit am Rande der Begriffs- und Erkenntnislehre an Gewicht ge­winnt und wie diesem Zuwachs an Bedeutung theoretisch Rechnung getragen wor­den ist. Es ist zur Rechtfertigung dieses Vorgehens wichtig, darauf hinzuweisen, daß das, was ab 1735 mit dem Begriff "Ästhetik" bezeichnet wird, keineswegs auf den Be­reich der Künste eingeschränkt war. Die Leistung der Sinne hat in ihrer Anerkennungsgeschichte den Weg vom Störfaktor über den des Problems bis hin zu einem der konstitutiven Elemente des Humanitätskonzepts durchlaufen. Das ist in seinen weiten Ausmaßen aber nur faßbar, wenn mit dem Begriff der "Ästhetik" das anthropologische Datum der Aisthesis mitgedacht wird. Eben dieses ist der Fall bei den Erkenntnislehren, von denen die Rede sein wird. Weil es um den Weg der Ästhetik von der Peripherie der Gnoseologie in Richtung auf deren Zentrum geht, ist es wichtiger, den Ort der Aisthesis in den Metaphysiken aufzusuchen, als etwa de­tailliert die von Baumgarten in Teilen ausgearbeitete "Aesthetica" selbst zu analy­sieren, zumal auch hierzu zum Teil Vorzügliches aus der Forschung vorliegt. Herder als Teilnehmer an der Diskussion um die Ästhetik war zwar auch intensiv mit Problemen der Künste befaßt, aber doch immer so, daß er die Künste im Rahmen der Artikulationsmöglichkeiten des Menschen überhaupt zu situieren bestrebt war. Auch ihm als Zeitgenossen der noch recht frischen Auseinandersetzungen um die Ästhetik im weiteren Sinne war an einer eigenen und eigenständigen Entwicklung seiner Vorstellungen von der Rolle der Sinnlichkeit gelegen. Wie bei vielen anderen Gegenständen, die ihn beschäftigt haben, so kann man auch hier den Eindruck ge­winnen, daß er die "Aesthetica" Baumgartens nicht als Werk sich zur Analyse vorge­nommen hat, sondern den allgemeinen Zuschnitt des Werkes zum Anlaß für seine Kritik und eigene Fortentwicklung nahm. Dieses Vorgehen Herders ist nicht nur pragmatisch der ihm eigenen produktiven Ungeduld zuzuschreiben, es ist auch ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Ästhetik für ihn weniger als System, sondern mehr als Problem interessant war, das er im allgemeinen Rahmen, der weit über die Kunst und Kunstphilosophie hinausreicht, einer Lösung zuführen wollte. Anders ge­sagt: Herder geht wie Baumgarten das Problem der Aisthesis, wenn nicht mit glei­chen Voraussetzungen und Intentionen, so doch mit einem vergleichbaren Interesse an. Die Frage, die sich für ihn, wie für viele seiner Zeitgenossen stellte, lautete: Was trägt die Sinnlichkeit zur Erkenntnis bei und wie bestimmt sie den Menschen?

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2 Ästhetik als Desiderat der Gnoseologie

A. Gottfried Wilhelm Leibniz

Descartes hatte für die Erkenntnislehre grundsätzliche Vorgaben gemacht, die die weitere Diskussion geprägt haben. In seinem "Discours de la Methode" stellte er die allgemeine Regel auf, "que les choses que nous conceuons fort clairement et fort di­stinctement, sont toutes vrayes."1

Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung als Wahrheitskriterium sind eine spe­zifische Leistung des Verstandes. Nur dieser vermag Sicherheit über die Dinge und Sachverhalte zu geben. Wiederholt und mit Nachdruck warnt Descartes vor den trü­gerischen Leistungen der Sinne und der Einbildungskraft, die nur der Vermittlung verworrener und dunkler Ideen fähig seien: " ... nous ne nous deuons iamais laisser persuader qu'a l'euidence de nostre raison. Et il est a remarquer que ie dis, de nostre raison, & non point, de notre imagination ni de nos sens."2 Klarheit und Deutlichkeit definiert Descartes an anderer Stelle folgendermaßen: "I'appelle claire celle [sc. connaissance] qui est presente & manifeste a vn esprit attentif [ ... ]. Et distincte, celle qui [ ... ] est tellerneut precise & differente de toutes !es autres, qu'elle ne comprend en soy que ce qui paroit manifesterneut a celuy qui Ia considere comme il faut. "3

Da Gott nicht die Ursache für die Irrtümer der Menschen ist4 und alles, was wir deutlich erkennen, auch wahr ist, ist die Vernunft als Erkenntnisinstanz der Wahr­heit in ihren Leistungen evident. Die Regel, daß alles klar und deutlich Erkannte wahr sei, "n'est assure qu'a cause que Dieu est ou existe, & qu'il est vn estre parfait, & que tout ce qui est en nous vient de Juy. D'ou il suit que nos idees ou notions, estant des choses reelles, & qui vienent de Dieu, en tout ce en quoy elles sont claires & distinctes, ne peuuent en cela estre que vrayes. En sorte que, si nous en auons as­sez souuent qui contienent de Ja faussete, ce ne peut estre que de celles, qui ont quelque chose de confus & obscur, a cause qu'en cela elles participent du neant, c'est a dire qu'elles ne sont en nous ainsi confuses, qu'a cause que nous ne sommes pas tous parfaits.''5

Descartes' Erkenntnislehre findet ihre eigene Begründung im theologischen Rahmen, und es ist nicht zufällig, daß Fragen der Erkenntnis bei ihm eng im Zu­sammenhang mit dem Gottesbeweis abgehandelt werden, so eng, daß die Erkennt­nislehre selbst Bestandteil des Gottesbeweises ist6, denn die Idee Gottes ist "Ia plus vraye, Ja plus claire & la plus distincte de toute celles [sc. idees] qui sont en mon es­prit.'0

Nachdem im Jahre 1683 Antoine Arnaulds Schrift "Traite des vraies et fausses idees" erschienen war, griff Leibniz die Frage nach der Wahrheit der Ideen auf und

1 Descartes: Discours de Ia Methode (1637). In: D. : Oeuvres. Publiees par Charles Adam et Paul Tannery. Bd. 6. Paris 1902, S. 33.

2 Descartes: Discours, S. 39. 3 Descartes: Les Principes de Ia Philosophie [1647; lat. Version 1644) . In: D.: Oeuvres. Publiees par

Charles Adam et Paul Tannery. Bd. 9 (2. Teil]. Paris 1904, S. 44. Hervorh. von mir; HA. 4 Vgl. Descartes: Les Principes, S. 37f. s Descartes: Discours, S. 38. 6 Vgl. Descartes: Les Principes, S. 38. 7 Descartes: Meditations ( 1647; lat. Version 1641). In: D.: Oeuvres. Publiees par Charles Adam et

Paul Tannery. Bd. 9 (l.Teil] . Paris 1904, S. 39.

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Gottfried Wilhelm Leibniz 3

faßte seine Überlegungen in dem kurzen, stark konzentrierten Aufsatz "Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" {1684) zusammen8•

In einem einzigen Satz gliedert Leibniz Stufen der Erkenntnis auf, die, soweit sie sich nicht gegenseitig ausschließen, eine Abfolge gradueller Vervollkommnung der Erkenntnis darstellen: "Est ergo cognitio vel obscura vel c/ara, et clara rursus vel con­fusa vel distincta, et distincta vel inadaequata vel adaequata, item vel symbolica vel intuitiva: et quidem si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est."9

Bis zu diesem Punkt lassen sich gegenüber Descartes zwei Veränderungen fest­stellen. Zum einen vermehrt Leibniz die Zahl der unterscheidenden Merkmale der Erkenntnis. Waren es bei Descartes vier {klar, deutlich, dunkel, verworren), so sind es nun bei Leibniz acht. Zum anderen definiert Leibniz alle acht Termini, während bei Descartes nur zwei explizit definiert worden waren. Prinzipiell aber unterscheidet sich das Schema Leiboizens von den Ausführungen Descartes' dadurch, daß eine Ab­stufung von der klaren bis zur intuitiven Erkenntnis vorgenommen wird. In diesem Sinne ist das cartesische Modell durch Diskontinuität, das Leibnizsche durch Konti­nuität gekennzeichnet.

Da der oben zitierte Satz Leiboizens sehr komprimiert und inexplizit ist und da diese Gliederung der Erkenntnisgrade und -arten für die weitere Argumentation bis hin zu Herder (und über ihn hinaus) wichtig ist, soll er- Leiboizens eigenen Ausfüh­rungen folgend - ausführlicher erläutert werden.

Im folgenden ist zunächst grundsätzlich von einem zusammengesetzten Gegen­stand der Erkenntnis die Rede. Dieser zusammengesetzte Gegenstand ist ein Gan­zes, das aus Teilen besteht. Diese Teile können wiederum zusammengesetzte Ganze sein, die ihrerseits aus Teilen bestehen, bis zu dem Grenzfall der einfachen, nicht weiter analysierbaren Teile. Ein Teil eines Ganzen ist in der Terminologie Leib­nizens ein "Merkmal" (nota) oder ein "Element". Ein Merkmal eines Ganzen ist also in zweifacher Hinsicht 'Teil' eines Ganzen: es ist Teil des Ganzen insofern, als es die Konstitution des Ganzen bedingt und insofern, als es selbst innerhalb des konstitu­ierten Ganzen bedingt ist. Diese Unterscheidung bestimmt das Leibnizsche Modell

8 Leibniz' Schriften werden zitiert nach: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leib­niz. Hrsg. von C.J. Gerhardt. 7 Bände. Hildesheim, New York 1978 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875-1890). Im folgenden wird abgekürzt zitiert: G mit Angabe der Bandzahl in römischer Ziffer. -Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684). In: G IV, S. 422-426. Daß die Leib­nizschen "Meditationes" von grundlegender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Erkenntnislehre (und von daher auch für die Ästhetik) waren, ist vielfach hervorgehoben worden. Vgl. z.B. Ernst Cassi­rer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 2. Bd. Darmstadt 1974 ( = Nachdruck der 3. Aufl. 1922), S. 131 und 140. - Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923 u.d.T. "Kants Kritik der Urteilskraft. Ihre Geschichte und Systematik. l.Bd.). Darmstadt 1975 ( = Reprografischer Nach­druck der 2., durchgesehenen Auflage 1967), S. 198. - Gerold Ungeheuer: Sprache und symbolische Er­kenntnis bei Wolff. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hrsg. von Werner Schneiders. Harnburg 1983 ( = Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 4), S. 89. - Louis Couturat: La Logique de Leibniz d'apres les documents inedits. Nachdruck der Ausgabe Paris 1901. Hitdesheim 1961, S. 197. - Joachim Krueger: Christian Wolff und die Ästhetik. Berlin 1980 geht allzu vage davon aus, daß Leibniz die auf Descartes zurückgehende Unterscheidung von klarer, deutlicher, dunkler und verworrener Erkenntnis "übernom­men' habe (S. 36). Bereits der erste Satz der "Meditationes" macht programmatisch klar, daß eine 'Übernahme' für Leibniz grundsätzlich nicht in Frage kommen konnte.

9 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 422.

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von der zweiten Differenzierung seiner Erkenntnisstufen an. Die Berücksichtigung der Unterscheidung ist unerläßlich zur präzisen Bezeichnung der Analyseebenen.

Leibniz nennt denjenigen 'Begriff (notio) dunkel {obscura), der nicht zureicht, ein Ganzes als Ganzes zu erkennen und von anderen Ganzen zu unterscheiden. Dementsprechend wäre auch die Erinnerung daran derart vage, daß der Gegenstand nicht wiedererkannt werden könnte. Leibniz führt diese Art von 'Erkenntnis' nicht weiter aus.

Klar {clara) nennt Leibniz hingegen diejenige Erkenntnis (cognitio), die derart genau ist, daß ein Ganzes als Ganzes erkannt und wiedererkannt und somit auch von einem anderen ähnlichen Ganzen unterschieden werden könnte. In bezug auf die Ideen schreibt Leibniz später in seinen "Nouveaux Essais" unter Berufung auf seine "Meditationes": "Je dis donc qu'une Idee est claire lorsqu'elle suffit pour reconnoistre Ia chose et pour Ia distinguer .. .''10• Diese Art von Erkenntnis führt Leibniz weiter aus.

Eine klare Erkenntnis heißt verworren (confusa) dann, wenn ein Ganzes als Gan­zes erkannt, unterschieden und wiedererkannt werden kann, und zwar "simplici sen­suum testimonio, non vero notis enuntiabilibus"n. Handelt es sich - wie Leibniz spä­ter ausgeführt hat - um sinnliche Qualitäten äußerer Objekte, so sind die Ideen da­von - als innere Objekte des Denkens- verworren und da "Nostre connoissance ne va pas au dela de nos idees [ .. . ] ny au dela de Ia perception de leur convenance ou dis­convenance"12, ist auch sie verworren, genauer: klar (in bezug auf das Ganze) und verworren (in bezug auf die Teile des Ganzen). Diese Verworrenheit ist- mit nicht Leibnizschem Wort gesprochen - anthropologisch bedingt, weil sie aus der Beschaf­fenheit der "notions des sens particuliers"13 resultiert, die mit den klaren und deutli­chen Vorstellungen des "sens commun" im "sens interne [ ... ] qu'on appelle l'imagination" vereint sind.14 Dieser verworrenen Erkenntnis als der sinnlichen Spezi­fikation der klaren Erkenntnis kommt nach Leibniz - das ist gegenüber Descartes festzuhalten- eine ihr eigentümliche Leistung zu15.

10 Leibniz: Nouveaux Essais sur l'Entendement humain (1704 abgeschlossen, 1765 zuerst publiziert). In: G V, S. 39-509, hier: S. 236. Eine "Idee" wird definiert als "un objet immediat interne, et ( ... ) cet objet est une expression de Ia nature ou des qualites des choses." (S. 99). Eine "Idee" ist also nicht "Ia fonne de Ia pensee" (ebd.). Erkenntnis wird bestimmt als "Ia perception de Ia Iiaison et convenance ou de l'opposition et disconvenance, qui se trouve entre deux de IZOS idees" (S. 337), wobei Erkenntnis im enge­ren Sinne, nämlich als "connoissance de Ia verite" (a.a.O., S. 338), mehr als zwei Ideen umfassen kann und über die Beziehung zwischen den Ideen hinaus deren Widerspruchsfreiheit, d.h. deren Möglichkeit miteinbeziehen muß. - Vgl. im übrigen hierzu die präzisen Ausführungen von Rudolf Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre. Berlin 1952 ( = Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1646-1946. Hrsg. von E. Hoch­steUer. Lieferung 7.), besonders S. 5f.

11 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 422. 12 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 356. 13 Leibniz an die Königin Sophie Charlotte von Preußen. Lettre touchant ce qui est independanl des

Sens et de Ia Matiere (1702). In: G VI, S. 501. 14 Ebd. 15 " ... dans ce sens Ia confusion qui regne dans !es Idees, pourra estre exemte de bläme, estant une

imperfection de nostre nature ... ", sagt Theophile/Leibniz in den "Nouveaux Essais" (G V), S. 237. - In anderer Perspektive und terminologisch abweichend behandelt Leibniz die klare Erkenntnis getrennt von der verworrenen in seiner "Theodicee". Vgl. Leibniz: Essais de Theodicee sur Ia bonte de Dieu, Ia liberte de l'homme et l'origine du mal ( 1710) . In: G VI, S. 288f. - Vgl. auch Cassirers Kritik an Lotze, der bei Leibniz eine "Nichtachtung dessen, was Gefühl und Wille Eigenthümliches besitzen", finden zu

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Deutlich (distincta) heißt ein klarer Begriff (notio) dann, wenn ein Ganzes als Ganzes erkannt, unterschieden und wiedererkannt werden kann, zusätzlich aber die dieses Ganze von anderen Ganzen unterscheidenden Merkmale als Ganze auf­gezählt werden können. Mit dieser Aufzählung von Merkmalen ist eine Nominalde­finition gegeben, die zwar gestattet, zwei Dinge qua Aufzählung von Merkmalen voneinander zu unterscheiden, nicht aber gestattet, eine Aussage über deren Mög­lichkeit zu machen. Hier lag der eigentliche Anlaß für Leibniz, mit seinen "Medita­tiones" der Behauptung Descartes', daß alles, was klar und deutlich erkannt werde, auch wahr sei, entgegenzutreten. Da die klare und deutliche Erkenntnis allein nichts über die Wahrheit des Erkannten aussagt, müssen die Klarheit und Deutlichkeit so durch Kriterien ergänzt werden, daß auch die Realität des Erkannten verbürgt ist. Das geschieht mit der Bestimmung der adäquaten und der intuitiven Erkenntnis, denen aber noch die inadäquate und die symbolische Erkenntnis vorausliegen. Es ist im Zusammenhang mit der klaren und deutlichen Erkenntnis hier noch notwendig, hervorzuheben, daß die Gewinnung der unterscheidenden Merkmale ein Analy­seprozeß ist, mit anderen Worten: um die Stufe der klaren und deutlichen Erkenntnis zu erreichen, bedarf es einer gewissen Zeit, und es muß eine gewisse Gedächtnislei­stung erbracht werden.

Im Unterschied zu den bisher beschriebenen Erkenntnisstufen geht es bei den drei folgenden Stufen nicht mehr um die Beziehung zwischen einer Sache als Ganzer und den Merkmalen als ihren Teilen, sondern - die klare und deutliche Erkenntnis des Ganzen und seiner zureichend kennzeichnenden Merkmale ihrerseits als Ganze vorausgesetzt - um die Relation der Merkmale als Ganze zu den sie konstituierenden Merkmalen. In einer Art rekursiver Regelanwendung tauchen die Grade der Er­kenntnis einer Sache als Ganze auf der Ebene der Merkmale wieder auf, und zwar so, daß der Grad der Erkenntnis des Ganzen als zusammengesetztes Ganzes ge­steigert wird.

Eine klare und deutliche Erkenntnis heißt dann inadäquat (inadaequata), wenn Merkmale selbst - jetzt als zusammengesetzte betrachtet - klar, aber verworren er­kannt werden. Hier wird sehr deutlich, daß das Modell Leibnizens ein Stufenmodell ist. Obwohl die klare und deutliche Erkenntnis eine analytisch, rational-diskursiv ge­wonnene Erkenntnis ist, kann in ihr - und das ist bei der menschlichen Erkenntnis nach Leibniz die Regel16 - ein Anteil verworrener und dunkler Erkenntnis enthalten sein17• Später, in seinen "Nouveaux Essais", hat Leibniz in anderem Zusammenhang

können meinte. Ernst Cassirer: Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Unverän­derter fotomechanischer Nachdruck der 1. Auflage Marburg 1902. Bildesheim 1%2, S. 460.

16 Vgl. z.B. Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423: " ... cujus [sc. cognitionis adaequatae) exemplum perfeeturn nescio an homines dare possint ... ".

17 Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre, S. 6f. moniert - zu Unrecht, wie ich meine -, daß Leibniz auch die inadäquate Erkenntnis als Grad der deutlichen Erkenntnis ansetze, denn, so Zocher, ein Ver­worrenes dürfe es "bei eigentlicher Gliederung des Nurdistinkten" (S. 6) nicht geben. Hier wird deutlich, warum die oben vorgenommene, nachdrückliche Unterscheidung der Analyseebenen - Ganzes als Gan­zes, Ganzes als aus Teilen als Ganzen bestehend, Teile als Ganze usw. - wichtig ist. Zochers Miß­verständnis beruht darauf, daß er 'das' Deutliche schon als gegeben annimmt, wenn nur das Ganze deutlich ist. Diese Annahme ist aber zweideutig, weil das Deutliche von Leibniz, wie oben dargelegt, in zweierlei Hinsicht gradualiter betrachtet wird. So können im deutlichen Ganzen sehr wohl verworrene Teile enthalten sein. Diese Verworrenheit auf der Ebene der Merkmale ist wiederum zweideutig. Merk-

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diese graduelle Abstufung offensiv in einem weiteren Rahmen vertreten, offensiv insofern, als er im philosophischen Zusammenhang ein Bild vom Menschen skizziert, das die gesamte Spanne von den unmerklichen Perzeptionen bis zu den klarsten Er­kenntnissen als anthropologisch konstitutiv auffaßt. Auf die Frage Philalethes', der, als Sprachrohr l..ockes', wissen möchte, wie man denn gewiß sein könne, daß die Seele immer 'denke', antwortet Theophile: "Je ne say s'il ne faut pas plus de con­fiance pour nier qu'il se passe quelque chose dans l'ame, dont nous ne nous apperce­vions pas; car ce qui est remarquable doit estre compose de parties qui ne le sont pas, rien ne sauroit naistre tout d'un coup, la pensee non plus que le mouvement."18

Das hier ironisch dem Gegner vindiziert'! "größere Vertrauen" ist natürlich dem Sprecher Theophile selbst zuzusprechen, da er in diesem Zusammenhang gegen die These argumentiert, daß keine anderen als nur die wahrgenommenen Perzeptionen in der Seele seien. Es ist also die inadäquate Erkenntnis menschlich in dem Sinne, daß physiologische und psychologische Fakta und die metaphysisch begründete Un­vollkommenheit ihr Grenzen setzen.19 So ist schon diese Stufe der Idee keine ad­äquate "expression de la nature ou des qualites des choses"20, und insofern kann man sagen, daß die inadäquate Erkenntnis hinter der "Gegenstandsgemäßheit"21 zurück­bleibt.

Adäquat nennt Leibniz eine klare und deutliche Erkenntnis dann, wenn das Ganze und seine Teile klar und deutlich erkannt werden. Sie ist Resultat der "analy­sis ad finem usque producta"22, die bis zu den "notions primitives"23 reicht. Dieser Grad der Erkenntnis geht einerseits über die Nominaldefinition hinaus, da die so weit vorgetriebene Analyse nicht nur die Konstitution der Teile, sondern auch deren Konstellation zueinander erfaßt. Die Konstellation der Teile zueinander muß aber auf dieser Erkenntnisstufe die Konstellation des Erkenntnisgegenstandes der Idee abbilden. Das heißt, Widerspruchsfreiheit und Möglichkeit der Vorstellung, und so­mit die Wahrheit der Idee, sind in der adäquaten Erkenntnis mitenthalten. Da alle Elemente klar und deutlich erkannt werden, wird darüber hinaus die Möglichkeit nicht a posteriori, sondern a priori erkannt. Denn: "perducta enim analysi ad finem, si nulla apparet contradictio, utique notio possibilis est."24

Nun sind aber die ersten Möglichkeiten "ipsa absoluta Attributa DEI"25• Für die menschliche Erkenntnis bezweifelt Leibniz die Möglichkeit der vollkommenen Ad­äquatheit. Wir, so meint er, begnügten uns vielmehr damit, "notionum quarundam

male können - bezogen auf das begrenzte Erkenntnisvermögen des Menschen - notwendig verworren sein, nämlich dann, wenn sie nur dem einfachen Zeugnis der Sinne zugänglich sind. Und sie können vorläufig oder willkürlich verworren gehalten werden, nämlich dann, wenn sie grundsätzlich einer weitergehenden rational-diskursiven Analyse zugänglich sind.

18 Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 107. 19 Es ist klar, daß der im vorigen Zitat dargelegte Sachverhalt über die Stufe der inadäquaten Er-

kenntnis hinausgeht. "' Vgl. oben, Anm. 10. 21 Zocher: Leibniz' Erkenntnislehre, S. 6. 22 Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423. Zl Leibniz: 'Discours de Metaphysique' (1686; 1846 zuerst publiziert. Der Titel entstammt einem

Brief Leibnizens], G IV, S. 449. "' Leibniz: Meditationes, G IV, S. 425. 21 Ebd.

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realitatem experientia didicisse, unde postea alias componimus ad exemplum natu­rae."26 Wenn die klare und deutliche Erkenntnis der Elemente Widerspruchsfreiheit und Verträglichkeit aufweist, dann ist die in Rede stehende Idee wahr, genauer: dann haben wir überhaupt eine Idee im engeren Sinne. Denn: zwar kann über Un­mögliches geredet werden, etwa in figmenta utopica, eine Idee davon gibt es aber nicht27•

Es gibt noch einen pragmatischen, beziehungsweise anthropologischen Grund da­für, daß die adäquate Erkenntnis - zusammengesetzter Dinge - dem Menschen kaum zugänglich ist. Die Analyse der einzelnen klaren und deutlichen Elemente braucht Zeit, gleichzeitig müßte auch, um die Klarheit und Deutlichkeit einer einfacheren Stufe nachzuweisen, die Deutlichkeit der komplizierteren Stufen präsent gehalten werden. Menge und Art der Elemente müßten also im Verlauf der Analyse gegen­wärtig sein28• Die Menge der Merkmale und die zeitliche Dauer des Analyseprozes­ses als Überforderung des Geistes und des Gedächtnisses veranlaßt Leibniz zur Einsetzung zweier weiterer Stufen der Erkenntnis.

Eine klare und deutliche Erkenntnis nennt Leibniz symbolisch (symbolica) dann, wenn bestimmte zusammengesetzte Merkmale oder Merkmalkomplexe nicht - wie bei der adäquaten Erkenntnis - bis zur Stufe der einfachen, unanalysierbaren Ele­mente zerlegt werden. In heutigen Termini könnte man von diesen Komplexen als "black boxes"29 sprechen. Der Unterschied zur inadäquaten Erkenntnis besteht darin, daß diese unanalysiert beibehaltenen Komplexe analysiert werden könnten, dieses aber aus Zeitgründen und aus Gründen der Überschaubarkeit, beziehungsweise des begrenzten Fassungsvermögens des menschlichen Gedächtnisses unterbleibt30• Man kann die symbolische Erkenntnis als pragmatische oder als anthropologisch bedingte Abbreviatur31 der adäquaten Erkenntnis auffassen. Das Problem dieses Erkenntnis­grades liegt darin, daß statt der Ideen Symbole, zum Beispiel Worte oder Zahlzei­chen, in die Analyse eingehen und somit das Risiko zum Irrtum gegeben ist32• Jeden­falls ermöglicht die Abbreviatur der symbolischen Erkenntnis bei komplizierten Sachverhalten, das Ganze im Auge zu behalten.

26 Ebd. v " . . . l'art des descriptions peut Iomber ( . . . ] sur !'impossible." Leibniz verweist in diesem Zusammen­

hang auf Romane, Märchen, Groteskes in der Malerei u.a. Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 338. - An anderer Stelle schreibt Leibniz: '' ... il est manifeste que nous n'avons aucune idee d'une notion quand eile est impossible." Leibniz: 'Discours de Metaphysique', G IV, S. 450.

28 Vgl. dazu, bezogen auf "Beweise": Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 340. 29 Leibniz nennt diese Erkenntnisstufe auch "cognitio caeca", blinde Erkenntnis. Vgl. Leibniz: Medi­

tationes, G IV, S. 423. 30 In seinem sogenannten 'Discours de Metaphysique' unterscheidet Leibniz nicht zwischen einem -

bezogen auf das begrenzte Fassungsvermögen des Menschen - notwendig in distinkten Vorstellungen enthaltenen Anteil verworrener Erkenntnisse und einem willkürlich eingesetzten Anteil verworrener Erkenntnisse. Er spricht dort von "connoissances suppositives", nicht von symbolischer Erkenntnis. Vgl. G IV, S. 450.

31 Bezogen auf seine eigens eingeführte Terminologie mißverständlich, spricht Leibniz von Worten, "quorum sensus obscure saltem atque imperfecte menti obversatur". Leibniz: Meditationes, G IV, S. 423. "Obscure" ist hier offenbar eher 'umgangssprachlich' verwendet worden.

32 Vgl. zum Verhältnis Wort - Idee - Wahrheit: Leibniz: Nouveaux Essais, G V, S. 377f., sowie Leib­niz: Dialogus (1677], G VII, S. 190-193. Zum Verhältnis Idee - Bild vgl. Nouveaux Essais, G V., S. 242 bis 244.