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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 1/41

Inhaltsverzeichnis

1.  GRUNDSÄTZLICHE THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN ................................3 

1.1.  Akkordaufbau und Symbolschrift ..........................................................................3 

1.1.1.  Die gebräuchlichsten Drei- und Vierklänge....................................................7 1.1.2.  Weniger gebräuchliche Akkorde ....................................................................7 

1.2.  Tensions (Chord Extensions) ...............................................................................8 

1.2.1.  Tensiontabelle................................................................................................9 1.2.2.  Allgemeine Merksätze zur Anwendung von Tensions .................................12 1.2.3.  Spezielle Merksätze zur kombinierten Anwendung von Tensions beim

Dominantseptakkord..................................................................................14 1.3.  TONLEITERN .....................................................................................................15 

1.3.1.  Die symmetrischen Skalen...........................................................................23 1.3.2.  Die pentatonischen Skalen ..........................................................................25 

2.  SYSTEMATISCHE HARMONIELEHRE ...................................................................26 

2.1.  Die diatonische Harmonik in "Dur"......................................................................26 

2.1.1.  Einige Anmerkungen zum Thema "Kadenz" ................................................31 2.1.2.  Modifizierung einer vorgegebenen Akkordprogression................................35 

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 2/41

Ziel dieses Leitfadens ist es, dem Studierenden relativ schnell ein

praxisbezogenes Verständnis für die häufigsten Phänomene dieser

beiden Musikstile zu vermitteln. Der Jazz hat inzwischen bereits rund

hundert Jahre auf dem Buckel, und die Popmusik - die sich bis ca. 1960

harmonisch mehr oder weniger im Windschatten der „Tin Pan Alley“

Songs, des Broadway Musicals und des Jazz (bzw. des sogenannten

„Rhythm & Blues“) bewegt hat - geht nunmehr auch schon seit ungefähr

fünfzig Jahren durchaus selbstbewusst harmonisch eigene Wege (die

ihrerseits auch wieder den Jazz beeinflussten). Diese Fülle des Stoffes

kann hier natürlich nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden: im

Anhang dieses Skriptums befindet sich daher eine Literaturliste, welche

auf die wesentlichsten Standardwerke zu diesem Themenkreis verweist.

Allgemeine Vorbemerkungen:

Obwohl wir uns in diesem Skriptum hauptsächlich mit den im Jazz

üblichen Vier- und Mehrklängen beschäftigen, ist besonders in der

Popmusik die zwanglose Verbindung von Dreiklängen mit komplexeren

Akkordstrukturen gängige Praxis. Dies ist jedoch nur eine Frage des

persönlichen Geschmacks (bzw. des jeweiligen Stils), ist total

unproblematisch und auch aus theoretischer Sicht völlig legitim.

Wie in der klassischen Musik gilt für die Verbindung von Akkorden die

Faustregel „Gemeinsame Töne bleiben liegen, alle anderen Töne

nehmen den kürzest möglichen Weg“, mit einer entscheidenden

Ausnahme: bei stufenweise benachbarten Akkorden ist die totale

Parallelführung üblich, und vor allem in der Popmusik auch bei der

Verbindung von grundständigen Akkorden im Terzenabstand (in

Ausnahmefällen sogar in noch größerem Abstand) durchaus noch

gebräuchlich.

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Harmonik des Jazz Teil 1 3/41

1. GRUNDSÄTZLICHE THEORETISCHE VORBEMERKUNGEN

1.1. Akkordaufbau und Symbolschrift

Da die einschlägige Literatur überwiegend aus Amerika stammt, ist es

notwendig sich mit einigen Besonderheiten der englischen

Fachausdrücke und Symbole auseinanderzusetzen:

1. Der Ton „H“ heißt im Englischen „B“, der Ton „B“ dafür „Bb“.

2. „Fis“, „Cis“ etc. werden als „F#“, „C#“ („F Sharp“, „C Sharp“) etc.

bezeichnet, „Es“, „As“ etc. als „Eb“, „Ab“ („E Flat“, „A Flat“) etc.

3. Akkorde werden prinzipiell mit Großbuchstaben gekennzeichnet.

Z.B.: D, G7, Am7

4. Melodische Stufen werden mit arabischen Ziffern gekennzeichnet.

Z.B.: 1, 3, 5

5. Harmonische Stufen werden mit römischen Ziffern gekennzeichnet.

Z.B.: I Maj7, VIm7

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Harmonik des Jazz Teil 1

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6. Ausgangsbasis („Maßeinheit“) für jegliche Stufenbezeichnung ist die

Durtonleiter.

7. Vorzeichen werden bei Akkorden nach dem Buchstaben, bei Stufen

vor der Ziffer hinzugefügt. Z.B.: Bb7, #IVm7(b5)

8. Gelegentlich in Verbindung mit Akkordsymbolen verwendete

Zusatzbezeichnungen:

a. add = füge zum Akkordsymbol hinzu. Z.B.: C (add D)

b. omit = lasse aus. Z.B.: G7 (omit3)

c. pure = verwende ausschließlich die im Akkordsymbol

angegebenen Töne. z.B.: D (PURE)

d. sus (Abkürzung für suspension = Vorhalt): bezieht sich in

Verbindung mit Akkordsymbolen immer auf die melodische Stufe

4. Z.B.: A7sus, C7sus(b9)

9. Compound Chord Symbols(„Slash Chords“): bezeichnen eine

Akkordstruktur über einem Baßton. Sie werden verwendet um:

a. einen Akkord, der viele Zusatzbezeichnungen benötigen würde,

übersichtlicher darzustellen, zum Beispiel:

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b. eine Akkordumkehrung (Inversion) anzuzeigen:

c. einen sogenannten "Orgelpunkt" (Pedal Point) oder ein Ostinato

kennzuzeichnen:

Zur Notation: Compound Chord Symbols werden mittels einer

diagonalen Linie („Slash“) notiert.. Links davon steht der Akkord,

rechts davon der Baßton.

ad b. In der klassischen Musik werden Akkordumkehrungen durch die

sog. Generalbaßbezifferung angegeben. Bei Dreiklängen heißt die

erste Umkehrung Sextakkord und die zweite Umkehrung

Quartsextakkord:

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Harmonik des Jazz Teil 1 6/41

Bei Vierklängen heißen die drei Umkehrungen Quintsextakkord,

Terzquart- akkord und Sekundakkord:

Diese Form der Bezeichnung ist im Jazz nicht zielführend, da

Akkordtöne durch sogenannte "Tensions" ersetzt werden können, bzw.

besagte Tensions den ursprünglichen Akkordtönen noch hinzugefügt

werden können. Dies ist zudem noch dem ausübenden Interpreten und

seinem Stilgefühl überlassen, wie hier bei diesen verschiedenen

Möglichkeiten, C7/E zu spielen demonstriert wird:

Polytonal Chords („Polychords“): darunter versteht man mehrere (im

allgemeinen nicht mehr als zwei) übereinandergeschichtete Akkorde

(z.B.: D über C). Sie werden durch eine horizontale Linie getrennt:

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Harmonik des Jazz Teil 1 7/41

1.1.1. Die gebräuchlichsten Drei- und Vierklänge

Akkord Melodische Stufen

der Akkordtöne

Symbol Ebenfalls gebräuchliche

Symbole

Dur 1, 3, 5 C CMA, C(TRIAD), Ctri,

C(PURE)

Moll 1, b3. 5 Cm CMI, C-

Übermäßig 1, 3, #5 C+ CAUG

Vermindert 1, b3, b5 Co Cdim, CMI (b5),

Co(TRIAD)

Dur mit hinzu gefügter Sext 1, 3, 5, 6 C6

Moll mit hinzu gefügter

Sext

1, b3, 5, 6 Cm6 CMI6, C-6

Dur mit großer Sept 1, 3, 5, CMaj7 CMA7, Cj7, C∆

Moll mit großer Sept 1, b3, 5, 7 Cm(Maj7) CMI(MA7), C- (Maj7)

Mollseptakkord 1, b3, 5, b7 Cm7 Cm7

Mollseptakkord mit verm.

Quint

1, b3, b5, b7 Cm7(b5) CMI7(b5), C-7(b5), CØ

Dominantsept-Akkord 1, 3, 5, b7 C7

Dominantsept- akkord mit

überm. Quint

1, 3, #5, b7 C+7 CAUG7

Dominantsept- akkord mit

verm. Quint

1, 3, b5, b7 C7(b5)

Verminderter Septakkord 1, b3, b5, bb7 Co7 Co, Cdim7, Cdim

1.1.2. Weniger gebräuchliche Akkorde

Akkord Melodische Stufen

der Akkordtöne

Symbol Ebenfalls gebräuchliche

Symbole

Moll übermäßig *) 1, b3, #5 Cm+ Cm(AUG), Ab/C, Cm+5

Übermäßig mit großer Sept

1, 3, #5, 7 C+(Maj7) C+(MA7), CAUG(Maj7)

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*) Dieser merkwürdige Akkord, der als isolierter Klang für sich

genommen, keineswegs "übermäßig" klingt, kommt nur in Verbindung

mit m und m6 vor. Man bezeichnet eine derartige Akkordprogression,

die einen an und für sich statischen harmonischen Zustand durch eine

Änderung der Klangfarbe abwechslungsreicher gestalten soll, als Line

Clichè oder Clichè Counterline.

1.2. Tensions (Chord Extensions)

Unter Tensions verstehen wir Töne, die man zu Dreiklängen und

Vierklängen hinzufügen kann, wenn ein Klang mit mehr Spannung

erwünscht ist. Ihre jeweilige Bezeichnung leitet sich von der in Terzen

aufgebauten Durtonleiter ab:

Wenn bei einem Akkordsymbol eine Tensionbezifferung dabeisteht, so

setzen wir im Akkord eine kleine Sept voraus: C9 = C7 (ADD9), Cm11 =

Cm7 (ADD 11).

Ausnahme: In Verbindung mit dem Zusatz „MA“ wird die große Sept

angenommen. CMA9 (bezw. CMaj9)

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1.2.1. Tensiontabelle

Folgende Tensions können zusammen mit den Akkordtönen der unten

angeführten Akkordkategorien verwendet werden.

Dreiklänge:

Bei Dur- und Molldreiklängen ist T9 die einzige Tension, die man dem

Dreiklang hinzufügen kann ohne dass dadurch das besondere

Klangerlebnis des Dreiklanges verloren geht. Die Akkordbezeichnung

wäre dann z.B. beim C Durdreiklang die Bezeichnung "C add D". T9

wird in diesem Fall so gut wie immer in enger Lage hinzugefügt. In

Verbindung mit übermäßigen und verminderten Dreiklängen werden

üblicherweise keine Tensions verwendet.

Vierklänge:

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Früher wurden alterierte Tensions durchwegs mit den

Zusatzbezeichnungen (+) und ( - ) an Stelle von (#) und (b) notiert. Dies

ist eigentlich logischer, da ja - genau genommen - beispielsweise bei

dem Akkord Gb7(#9) die hochalterierte Note A mit einem Auflöser und

nicht mit einem Kreuz notiert wird. Einige wichtige Autoren, wie z. B. Bill

Dobbins, haben sich daher entschlossen, diese Schreibweise in ihren

Werken wieder zu verwenden. Das Plus bzw. das Minus wird in diesem

Falle nach der Tensionbezifferung gesetzt, also:

C7(9+) an Stelle von C7(#9)

1.2.2. Allgemeine Merksätze zur Anwendung von Tensions

1. Die Tensions einer bestimmten Akkordkategorie können den

Akkordtönen sowohl

a. jeweils einzeln als auch

b. wahlweise zusammen mit anderen Tensions derselben

Akkordkategorie hinzugefügt werden:

2. Wenn man sich bei einem Voicing für eine bestimmte Tension

entscheidet, kann man den darunter liegenden Akkordton auslassen.

Z.B.: Verwendung von T13 an Stelle von 5.

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Dies wird bei T11 bzw. T#11 seltener praktiziert, da die

darunterliegende Terz das Tongeschlecht (Dur oder Moll) bestimmt.

Voicings, bei denen die Terz bewusst ausgelassen wird, werden Hybrid

Chord Structures genannt. 1 kann hingegen im Klaviervoicing ohne

weiters durch T9 ersetzt werden, da ja der Grundton vom Kontrabass

gespielt wird.

3. Beim Dominantseptakkord brauchen die sogenannten „Natural

Tensions“ (T9, T#11 und T13) im Akkordsymbol nicht extra

angeführt werden . Die alterierten Tensions (T b9, T#9 und T b13)

müssen hingegen im Akkordsymbol angeführt werden.

4. Diatonische Tensions können in der Regel auch sprungweise

verlassen werden. Nicht diatonische Tensions sollten hingegen

nur dann verwendet werden, wenn sie „stimmführungsgemäß“

weitergeführt werden können - das heißt mittels eines (steigenden

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oder vorzugsweise fallenden) Halbtonschrittes in die nächstliegende

diatonische Note. Z.B.:

1.2.3. Spezielle Merksätze zur kombinierten Anwendung von Tensions beim Dominantseptakkord

1. T b9 und T#9 können miteinander im gleichen Akkord vorkommen,

aber nicht zusammen mit T9.

2. Wenn T11 im Akkord vorkommt, wird die Terz ausgelassen. C11 ist

eine veraltete Schreibweise von C7sus.

3. T11 und T#11 kommen zusammen im gleichen Akkord nicht vor.

4. Wenn Tb13 im Akkord vorkommt, wird üblicherweise die reine

Quint ausgelassen. Wenn 5 und T b13 im gleichen Voicing

vorkommen (extrem selten!) steht 5 entweder einen Halbton unter

oder eine große Sept über T b13.

5. #5 (Tb13) und T13 kommen zusammen im gleichen Akkord nicht

vor.

6. Von T#11 (bzw. b5), ♮5 und Tb13 kommen nur je zwei zusammen

im gleichen Akkord vor, nicht alle drei zugleich.

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1.3. TONLEITERN

Die Ausgangsbasis für unsere Harmonielehre sind zunächst einmal die

Tonleitern. Wenn wir die leitereigenen Skalentöne in Terzen

übereinanderschichten, erhalten wir Akkorde (zunächst einmal

Dreiklänge, dann Vierklänge, die als Septakkorde

(Dominantseptakkord und "Nebenseptakkorde") bezeichnet und

schließlich auch Mehrklänge. Diese Mehrklänge werden aber

systematisch nicht mehr extra behandelt, sondern werden unter dem

Sammelbegriff "Septakkorde mit hinzugefügten Tensions"

zusammengefasst.

Vorerst wollen wir uns einmal mit den Kirchentonarten ("Modi" (bzw.

"Modes") beschäftigen. Ausgehend von unserer Durtonleiter (der

"ionische" Modus), erhält man die einzelnen Modi, indem man den

neuen Modus auf dem jeweils folgenden Skalenton aufbaut. Der

sogenannte "lokrische" Modus (Locrian) ist allerdings keine echte

Kirchentonart, sondern ein rein theoretisches Konstrukt des frühen 20.

Jahrhunderts.

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Die Charakteristische Klangfarbe der einzelnen "Modes" resultiert auf

der simplen Tatsache, dass die Halbtonschritte auf jeweils

verschiedenen Stufen stehen. um dies besser zu verdeutlichen, bauen

wir jetzt alle sieben Modes auf dem gleichen Grundton ("C") auf. Wir

können dabei eine Änderung der Klangfarbe von "hell" nach "dunkel"

feststellen.

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Dieser Bezug auf den Grundton "C" zeigt uns zugleich, wir von jedem

Modus sofort die korrekten Vorzeichen bestimmen können. "C Ionisch"

entspricht unserer traditionellen

"C Dur", die keine Generalvorzeichen hat; das heißt mit anderen

Worten: um die korrekten Vorzeichen des lydischen Modus für jede

beliebige Tonart zu finden, brauchen wir nur zu den Vorzeichen der

gleichnamigen Durtonart ein Kreuz (#) hinzuzufügen. Zum Beispiel:

Welche Vorzeichen hat "A Lydisch"?

A Dur hat drei Kreuze vorgezeichnet, nämlich "Fis", "Cis" und "Gis". Ein

zusätzliches Kreuz ergibt insgesamt vier Kreuze, nämlich noch ein

zusätzliches "Dis" (das sind die genau die gleichen Vorzeichen wie für

E Dur). Wenn ich diesen Schlüssel bei Bb Tonarten anwende, heißt

natürlich "ein Kreuz hinzufügen" ein "Bb" wegnehmen: Zum Beispiel:

welche Vorzeichen hat "Es Lydisch"?

Es Dur hat drei Bb vorgezeichnet, nämlich "Bb", "Es" und "As". Wenn

ich davon ein Bb wegnehme, bleiben zwei übrig, nämlich "Bb" und "Es".

"Es Lydisch" hat daher die Vorzeichen "Bb" und "Es", die gleichen

Vorzeichen wie Bb Dur.

Dieses System gilt auch für alle Modi. Wie wir obigem Notenbeispiel

entnehmen können, gilt folgender Schlüssel:

Um Lydisch zu erhalten, fügen wir der jeweiligen gleichnamigen (das

heißt: auf dem gleichen Grundton aufgebauten) Durtonart ein Kreuz (#)

hinzu. Für Mixolydisch ein Bb, für Dorisch zwei Bb, für Äolisch drei

Bb, für Phrygisch vier Bb, und schließlich für Lokrisch fünf Bb.

Natürlich heißt bei einer Kreuztonart Bb hinzufügen zunächst einmal

Kreuze wegnehmen. Zum Beispiel: Wir wollen die Vorzeichen von "A

Lokrisch" wissen. Das ergibt eine ganz simple Rechnung, nämlich: A

Dur hat drei Kreuze vorgezeichnet, wir sollen aber für "A Lokrisch" fünf

Bb dazugeben. Wir ziehen also einmal für die drei Kreuze drei Bb ab

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und haben auch schon die Lösung. Es bleiben zwei Bb übrig - "A

Lokrisch" hat die gleichen Vorzeichen wie Bb Dur.

Im Jazz werden außer den sieben bis jetzt besprochenen Modi noch

einige andere Skalen sehr häufig verwendet, hier sind die wichtigsten

angeführt:

Superlokrisch (Superlocrian, auch als sogenannte„Altered Scale“

oder „Diminished Whole Tone Scale“ bekannt):

Sehr systematisch orientierte Theoretiker haben ca. um die Mitte des

vergangenen Jahrhunderts festgestellt, dass bei der lokrischen Skala

(mit Ausnahme des Grundtons) ein einziger Ton nicht tiefalteriert ist,

nämlich die 4. Stufe (das "F" in "C Lokrisch"). Natürlich taten sie dieses

sogleich und schufen hiemit eine neue Skala, die zunächst den Namen

"Superlokrisch" erhielt. Leider ändert sich in der neugeschaffenen Skale

durch diese bewusste Tiefalterierung der vierten Stufe die Konstellation

der Halbtonschritte gegenüber derjenigen, die wir bei den bis jetzt

besprochenen Modi immer vorgefunden hatten. Die beklagenswerte

Folge ist, dass unser wunderbarer Schlüssel zur sofortigen Bestimmung

der Vorzeichen des fraglichen Modus nicht mehr funktioniert: wir

müssen die Vorzeichen jetzt von Fall zu Fall neu bestimmen.

Da diese erniedrigte vierte Stufe - enharmonisch verwechselt - mit der

großen Durterz identisch ist (man hört die Skala als Dur- und nicht als

Mollmodus!), eignet sich diese Tonleiter hervorragend als

Grundlagenmaterial für einen alterierten Dominantseptakkord:

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Die Vorzeichen für diese Skala sollten immer von praktischen

Überlegungen bestimmt werden:

1. Grundton, große Terz und kleine Sept sollten theoretisch korrekt

bezeichnet werden.

2. Falls möglich, sollten Kreuze (#) und Bb nicht gemischt werden.

3. Leichtere Lesbarkeit hat jedoch Vorrang vor den Punkten 1) und 2)

„Lydian b7“ ("Mixolydian #4"):

Diese Skala eignet sich ebenfalls wunderbar für den

Dominantseptakkord - im speziellen für den nicht alterierten, da die

leitereigenen Töne 2, #4 und b7 (bitte nicht vergessen: das Maß für

unsere melodischen Stufenbezeichnungen ist immer die Durtonleiter

(der ionische Modus) den sogenannten "Natural Tensions" des

Dominantseptakkordes entsprechen, die im Akkordsymbol nicht

angeführt werden müssen.

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Harmonik des Jazz Teil 1 20/41

Die beiden zuletzt angeführten Skalen sind, wie wir später gleich

feststellen werden, Modi der melodischen Molltonleiter. ("Lydian b7"

ist der vierte Modus, "Altered" der siebente)

Zur Enstehung der sogenannten harmonischen Molltonleiter

(Harmonic Minor):

Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit beruht - historisch etwas verkürzt

betrachtet - auf der Tatsache, dass man nach der allmählichen

Akzeptanz von Terz und Sext als Konsonanten begann, bei den

einzelnen Kirchentonarten durch das Übereinanderschichten von

Terzen leitereigene Dreiklänge (und vereinzelt auch Mehrklänge, die

allerdings als dissonant empfunden wurden und daher strengen

Stimmführungsregeln unterlagen) zu entwickeln und diese miteinander

zu verbinden. Als Konsonant galten ja ursprünglich nur reine Intervalle,

und erst nach einer gewissen Eingewöhnungsphase später auch Terzen

und Sexten. Sekunden, Septen. Nonen und vor allem das

Tritonusintervall ("Diabolus in Musica") galten als dissonant. Besagtes

Tritonusintervall kann bekanntlich entweder als übermäßige Quart oder

als verminderte Quint vorkommen - im ersteren Fall musste es in in eine

Sext, in letzterem in eine Terz weitergeführt werden.

Im ionischen Modus (und nur in diesem) steht der das Tritonusintervall

enthaltende Septakkord auf der fünften Stufe und die

stimmführungsgemäße Weiterführung dieses Intervalls ergibt

zusammen mit dem starken Basstonschritt der fallenden Quint (bzw.

steigenden Quart) die Auflösung in die erste Stufe. Mit anderen Worten:

wir erhalten in diesem Modus den Kadenzverlauf "Dominante - Tonika"

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 21/41

und der Akkord auf der fünften Stufe heißt deswegen auch

Dominantseptakkord. Bei den Kirchentonarten war die klassische

Molltonart der äolische Modus - er wird darum im Deutschen auch als

"natürlich Moll" bezeichnet. In diesem Modus steht auf der fünften Stufe

ein Mollseptakkord, der kein Tritonusintervall enthält: die Verbindung V-I

erzeugt daher zwar ebenfalls eine kadienzielle Wirkung, die aber

deutlich schwächer ist. Um die Einführung des Tritonusintervalles auf

der fünften Stufe zu ermöglichen, musste man einen künstlichen Leitton

einführen: diese Konstruktion ergab die sogenannte "harmonische

Molltonleiter".

Die dadurch erreichte verstärkte Kadenzwirkung bedingte allerdings ein

melodisches Problem: zwischen der sechsten und siebenten Stufe

stand nunmehr eine übermäßige Sekund - ein Intervall, das damals als

extrem unsanglich empfunden wurde.

Um diesen übermäßigen Sekundschritt zu eliminieren, erhöhte man

einfach die erniedrigte sechste Stufe zu einer großen Sext und erhielt

damit die melodische Molltonleiter (Melodic Minor). Zur Beachtung:

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 22/41

im Gegensatz zur klassischen Musiktheorie, die zwischen aufsteigender

und absteigender melodischen Molltonleiter unterschied (die

sogenannte absteigende melodische Molltonleiter ist nichts anderes als

der absteigende der äolische Modus), verwenden dieselbe melodische

Molltonleiter - sowohl aufsteigend wie auch absteigend.

Sowohl von der harmonischen wie auch von der melodischen

Molltonleiter kann man Modi bilden, indem man von den einzelnen

Skalentönen als jeweils neuem Grundton ausgeht. Die Namen dieser

neuen Modi orientieren sich meistens an den Kirchentonarten. Während

bei den Modi der harmonischen Molltonleiter eigentlich nur der fünfte

Modus praktische Bedeutung erlangt hat, werden zumindest fünf Modi

der melodischen Molltonleiter in der Praxis sehr häufig unter

Verwendung ihres neuen Namens benutzt. Ich führe hier alle

gebräuchlichen Namen der Modi beider Tonleitern an, wobei die

Namen der in Praxis wichtigen Modi fett gedruckt sind.

Die Modi der harmonischen Molltonleiter:

1. Modus (= Stammname): Harmonic Minor

2. Modus: Locrian♮13

3. Modus: Ionian♯5

4. Modus: Dorian♯11

5. Modus: Harmonic Dominant, H-P5↓, Phrygian Major

6. Modus: Lydian♯9

7. Modus: Harmonic Diminished

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 23/41

Wie bereits oben erwähnt, ist der 5. Modus von besonderer Bedeutung,

da er beim Dominantseptakkord die Auflösung in die folgende

Molltonika am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Das typische

Akkordsymbol wäre V7(b9/b13). Die oben angeführte Kurzformel

H-P5↓ steht für "Harmonic Minor Perfect Fifth Below". Mit anderen

Worten: bei einem Dominantseptakkord mit den hinzugefügten Tensions

b9 und b13 verwende ich die harmonische Molltonleiter deren Grundton

eine reine Quinte tiefer liegt (C Moll harmonisch bei G7(b9/b13).

Die Modi der melodischen Molltonleiter:

1. Modus (= Stammname): Melodic Minor

2. Modus: Phrygian♮13 (Dorian b9)

3. Modus: Lydian Augmented

4. Modus: Lydian b7 (Mixolydian #4)

5. Modus: Mixolydian b13

6. Modus: Locrian♮9

7. Modus: Altered (Super Locrian, Diminished WholeTone)

Wie wir schon bei ihrer Besprechung erwähnt haben sind also die

beiden wichtigen Dominantseptakkordskalen "Lydian b7" und "Altered"

Modi der melodischen Molltonleiter (Modus 4 und Modus 7). Sie

befinden sich voneinander im Abstand eines Tritonusintervalles

voneinander entfernt: die Skala "B alt" enthält also die gleichen Töne

wie die Skala "F lyd b7".

1.3.1. Die symmetrischen Skalen

Im vergangenen Jahrhundert gewannen außerdem noch die

sogenannten symmetrischen Skalen an Bedeutung. Dazu gehören vor

allem:

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 24/41

Die Ganztonleiter (Whole Tone Scale):

Die Ganztonleiter entsteht durch die Aneinanderreihung von sechs

Ganztönen.

sowie die sogenannten

symmetrisch verminderten Skalen:

diese sind achttönige Tonleitern, bei denen beim ersten Typus immer

abwechselnd Ganztonschritte und Halbtonschritte aneinandergereiht

werden, beim zweiten immer Halbtonschritte und Gantonschritte:

a. "Whole Step, Half Step" (1, 1/2)

b. "Half Step, Whole Step" (1/2, 1)

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Harmonik des Jazz Teil 1 25/41

Die regelmäßige Konstruktion der symmetrischen Skalen bedingt ihre

begrenzte Transponierbarkeit: So gibt es von der Ganztonleiter nur zwei

Versionen, nämlich die auf dem Ton C aufbauende und die auf dem Ton

Des aufbauende. Die auf dem Ton D aufbauende ist nämlich wiederum

mit der auf dem Ton C aufbauenden identisch, und so weiter. Der

angenehme Nebeneffekt ist die Tatsache, dass wir nur zwei

Ganztonleitern üben müssen, um alle zu beherrschen. Diese Tatsache

der begrenzten Transponiertbarkeit gilt natürlich auch für die

symmetrisch verminderten Skalen: hier müssen wir allerdings jeweils

drei verschiedene Transpositionen beherrschen bevor sich das Muster

wiederholt (z.B.: ausgehend von den Tönen C, Cis und D).

1.3.2. Die pentatonischen Skalen

Historisch gesehen, sind (zumindest im europäischen Raum)

wahrscheinlich die pentatonischen Skalen die ältesten: sie enthielten

ursprünglich keine Halbtonschritte und auch kein Tritonusintervall, daher

klangen sie immer "konsonant" und "stabil". Für uns von Interesse sind

die "Dur-" und die "Mollvariante".

Im Jazz begannen Pentatoniken ab ca. 1960 eine wichtige Rolle zu

spielen. Man erzeugte vor allem im Solospiel gerne eine

"Quasipolytonalität", indem man aus dem herkömmlichen Solomaterial

Pentatoniken herausfilterte, die ein anderes tonales Zentrum als das

tatsächliche suggerierten. Zum Beispiel improvisierte man gerne über

C7(b9/b13) unter ausschließlicher Verwendung des Skalenmaterials der

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Harmonik des Jazz Teil 1 26/41

Pentatonik "Ges Dur": von der Stammskala "C alteriert"wurden also

bewusst nur die Töne b5, Tb13, b7, Tb9 und T#9 verwendet.

2. SYSTEMATISCHE HARMONIELEHRE

2.1. Die diatonische Harmonik in "Dur"

Die Entwicklung unseres "Dur/Moll" Systems beruht - wie bereits oben

erwähnt - auf der Tatsache, dass nur im ionischen Modus die

Konstellation der Halbtonschritte (zwischen dritter und vierter, sowie

zwischen siebenter und achter Stufe) die Kadenz "V7 - I" gestattet.

Dadurch erweist der ionische Modus deutlich stabiler als alle anderen.

Nur in ihm können wir ohne größere Bedenken in jedes beliebige

andere tonale Zentrum modulieren; nur ihn können wir mit allerlei

chromatischen Firlefanz belasten, ohne dass wir das Gefühl für die

momentan vorherrschende Tonalität verlieren. Wir haben bei der

Entwicklung der Molltonleitern gesehen, mit welchen Problemen sich

Generationen von Musikern herumschlagen mussten, bis sich eine

einigermaßen zufriedenstellende Lösung für die Erreichung des Zieles

der - ach so begehrten Kadenz "V7 - Im" anbot. Wie wir im Kapitel "Moll"

sehen werden musste dafür ein relativ hoher Preis bezahlt werden:

Akkordprogressionen in Moll sind im Vergleich zu Dur auf deutlich

einfachere Muster beschränkt und auch die Modulationsmöglichkeiten

sind stark reduziert.

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Harmonik des Jazz Teil 1 27/41

Betrachten wir nun einmal die leitereigenen Akkorde in C-Dur:

Die melodische vierte Stufe ist der "aktivste" Ton in der Durtonleiter: er

ist der einzige Ton, der mit dem Gefühl eines stabilen "Ruheklanges"

schlicht und einfach nicht vereinbar ist. Manche Theoretiker bezeichnen

ihn deswegen als den "melodischen" Leitton und nennen daher die

melodische siebente Stufe - die bis dahin nur mit dem Namen "Leitton"

bezeichnet wurde - nunmehr den "harmonischen Leitton". Beide

Leittöne bilden zusammen jenes bewusste Tritonusintervall, dessen

Auflösung in der Kadenz "V - I" uns ein derartiges Lusterlebnis bereitet,

dass wir uns daran schon seit fast vierhundert Jahre erfreuen (so kann

es zum Beispiel nicht schaden, wenn wir uns wieder einmal bewusst

machen, dass ein so bewährtes Formprinzip wie das der

Sonatenhauptsatzform letztlich auf nichts anderem als auf der Kadenz I

- V7 - I beruht).

Wir können nun die leitereigenen Vierklänge in drei Gruppen einteilen:

1. die Akkorde, die den melodischen Leitton nicht enthalten (I Maj7,

IIIm7 und VIm7). Sie sind am stabilsten. IMaj7 kennen wir als

Tonika, IIIm7 und VIm7 sind seine Stellvertreter.

2. die Akkorde, die den melodischen Leitton und das Tritonusintervall

enthalten (V7 und VIIm7(b5). Sie verlangen am stärksten nach

Auflösung in einen Ruheklang. V7 kennen wir als Dominante,

VIIm7(b5) ist sein Stellvertreter. Im Gegensatz zu der klassischen

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Harmonik des Jazz Teil 1 28/41

Harmonielehre muss sich die Terz des Dominantseptakkordes

allerdings nicht in den Grundton der Tonika auflösen: bei der

Weiterführung nach I Maj7 bleibt sie liegen und wird somit zur Tj7

und bei der Weiterführung nach I6 fällt sie in die Sext.

3. die Akkorde, die zwar den melodischen Leitton, aber kein

Tritonusintervall enthalten (IIm7 und IVMaj7). Sie verlangen zwar

ebenfalls nach Auflösung, sind aber vergleichsweise stabiler. IVMaj7

kennen wir als Subdominante, IIm7 ist sein Stellvertreter.

Wir bezeichnen diese drei Kategorien auch als "Tonikagruppe" (T),

"Dominantgruppe (D)" und "Subdominantgruppe" (SD). Die Akkorde

innerhalb einer dieser Funktionsgruppen sind prinzipiell austauschbar.

Der häufigste Kadenzverlauf spielt sich folgendermaßen ab: auf einen

Akkord der nach Auflösung verlangt (SD), folgt ein weiterer, der noch

stärker danach verlangt (D) und auf diesen folgt schlussendlich ein

Ruheklang (T). Wie gesagt sind die Akkorde innerhalb der

Funktiosgruppen austauschbar, wobei jedoch zu berücksichtigen ist,

dass am Ende eines Stückes die erste Stufe in der Regel nicht durch

einen Stellvertreter ersetzt wird.

Kurz zusammengefasst ergeben sich also folgende

Kadenzierungsmöglichkeiten:

*) Bitte nicht vergessen: Maj7 Akkorde können prinzipiell immer durch den Durdreiklang mit

hinzugefügter Sext ersetzt werden, und umgekehrt.

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Harmonik des Jazz Teil 1 29/41

Da bei vielen Musikstücken bestimmte Kadenzmuster unmittelbar

wörtlich wiederholt werden, kann man durch den Austausch von

Akkorden aus der gleichen Funktionsgruppe Abwechslung erreichen,

ohne dass dadurch am Kadenzverlauf substanziell etwas verändert

wird, z.B.

Die in Terzenschichtung aufgebauten leitereigenen Dreiklänge

unterscheiden sich bezüglich ihrer harmonischen Funktion nicht von den

leitereigenen Vierklängen, es sind jedoch folgende Faktoren zu

beachten:

1. auf den sogenannten "Hauptstufen" (SD, D, T) stehen

Durdreiklänge, auf der zweiten, dritten und sechsten Stufe

Molldreikänge und auf der siebenten Stufe ein verminderter

Dreiklang.

2. der Durdreiklang auf der 5. Stufe enthält kein Tritonusintervall: die

Dominantfunktion ist zwar nach wie vor gegeben, er "zieht"

aber nicht so stark nach der Tonika wie der Dominantseptakkord.

Trugschlüsse wirken daher nicht so stark wie bei Verwendung von

V7.

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Harmonik des Jazz Teil 1 30/41

3. der Molldreiklang auf der dritten Stufe kann sowohl als Stellvertreter

für den Durdreiklang auf der ersten, wie für den auf der fünften Stufe

fungieren (bei Dreiklängen haben Stellvertreter je zwei Akkordtöne

mit dem zu vertretenden Originalklang gemeinsam).

4. der grundständige Dreiklang auf der siebenten Stufe wird so gut wie

nie verwendet - im Gegensatz zum grundständigen VIIm7(b5).

Der Sonderfall V7sus:

Da V7sus den melodischen Leitton enthält, aber kein Tritonusintervall,

wäre der Akkord - rein theoretisch gesehen - der Subdominantgruppe

zuzuordnen. In der Praxis kommt er so gut wie immer mit T9 vor, wir

haben dann eine Subdominantstruktur über dem Dominantbasston:

Da wir bei Kadenzen immer eine bestimmte Erwartungshaltung haben,

nämlich eine Akkordfolge SD D│T ║, tendieren wir dazu V7sus

dominantisch zu hören, wenn der Akkord dort steht, wo wir den

Dominantseptakkord erwarten - nämlich auf schwächerem Taktteil als

Subdominante und Tonika:

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 31/41

2.1.1. Einige Anmerkungen zum Thema "Kadenz"

Unter "Kadenz" verstehen wir das sich Hinbewegen auf einen

(momentanen oder endgültigen) Ruhepunkt. Dies ist in dreifacher

Hinsicht für uns von Bedeutung:

a. der harmonische Aspekt:

1. Der Ganzschluss (Full Cadence): prinzipiell bezeichnet man

schon die Verbindung Dominante - Tonika als Ganzschluss,

ungeachtet der Tatsache das im regulären Kadenzverlauf der

Dominante meistens noch die Subdominante vorangestellt wird.

D┃T ║

⁄ÿ *)

V┃I ║

*) In der harmonischen Analyse wird die dominantische Auflösung in die Tonika

immer mit einem Pfeil gekennzeichnet, zur Verdeutlichung des Unterschiedes zu

der trugschlüssigen Weiterführung.

2. Der Plagalschluss (Plagal Cadence): auch die Verbindung

Subdominante - Tonika erzielt einen kadenziellen Effekt,

wenngleich auch einen deutlich schwächeren als die Verbindung

Dominante Tonika.

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Harmonik des Jazz Teil 1 32/41

SD┃T ║ Es gibt auch eine Subdominantmollvariante: SDM┃T ║

IV ©ßI ║ IVm ┃T ║

3. Der Halbschluss (Half Cadence): Ursprünglich verstand man

unter dem Halbschluss nur die Verbindung Tonika - Dominante.

Wir verstehen heute darunter aber auch eine Akkordverbindung

die auf einer sogenannten "Secondary Dominant" endet (siehe

das folgende Kapitel "Secondary Dominants").

T┃D ║

I┃V ║ (oder auch beispielsweise: III┃V7/II┃etc.)

4. Der Trugschluss (Deceptive Cadence): Unter einem

Trugschluss verstehen wir wenn die Dominante nicht nach der

Tonika weitergeführt wird. Auch die Weiterführung nach einem

Tonikastellvertreter bezeichnen wir als Trugschluss.

V┃? ┃

In unserem bis jetzt besprochenen diatonischen Harmoniesystem gibt

es also folgende Trugschlüsse:

V7┃IIm7 ┃

V7┃IIIm7 ┃

V7┃IV△7*)┃(diese Akkordverbindung bezeichnet man in der

klassischen Harmonielehre auch als "harmonischen

Rücklauf")

V7┃VIm7 ┃

*) Das Symbol △ ist ein häufiges Kürzel für die Zusatzbezeichnung Maj7 und wird

in diesem Text aus Gründen der Gewöhnung immer wieder abwechselnd mit

dieser verwendet.

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Harmonik des Jazz Teil 1 33/41

V7 nach VIIm7(b5) würden wir nicht als trugschlüssigen

Harmoniewechsel empfinden, sondern wir würden VIIm7(b5) als

Akkordumkehrung von V7 mit der Terz im Bass und T9 statt 1 hören.

b. der melodische Aspekt:

Üblicherweise bewegt sich die Melodie zusammen mit der

harmonischen Kadenz auf einen Ruhepunkt hin. Dies äußert sich

dahingehend, dass die Melodie im sogenannten "Turnaround" sehr oft

auf den Akkordtönen 1, 3 oder 5 der zu erwartenden Tonika endet -

auch wenn an dieser Stelle statt der Tonika ein trugschlüssiger Akkord

stehen sollte (der Schluss auf "1" wird beim Ganzschluss in der

klassischen Harmonielehre als sogenannter "vollkommener

Ganzschluss" bezeichnet) - und in einem langen Notenwert (ganze Note

oder noch länger) mündet. Studiere dazu die "First" and "Second

Endings" der meisten Standards: wo die Melodie rhythmisch aktiver

bleibt, wird das Gefühl für das Erreichen eines Ruhepunktes deutlich

gemindert (zum Beispiel.: alle Endings von "Skylark" von Hoagy

Carmichael und das Second Ending des A Teiles von "On the Sunny

Side of the Street" von Jimmy McHugh).

c. der Rhythmische Aspekt:

Im Regelfall steht bei der Kadenz die Dominante auf schwächeren

Taktteil als die Tonika. In der Musiktheorie bezeichnet man dieses

Phänomen politisch höchst inkorrekt als "männlichen Schluss". Wenn

der Kadenzakkord auf stärkerem Taktteil steht als die Auflösung, spricht

man von einem "weiblichen Schluss". Ein Beispiel für einen weiblichen

Plagalschluss wären die Endings der A-Teile von "Yesterday"

(Lennon/McCartney). Wir haben es hier mit einer siebentaktigen

Phrasengruppe zu tun, wo die Schlusskadenz erst im letzten Takt

erfolgt: auf der "1" steht die Subdominante, die auf der "2" in die Tonika

weitergeführt wird.

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Harmonik des Jazz Teil 1 34/41

Im Viervierteltakt ist der erste Schlag der stärkste ("Strong"), der dritte

der zweitstärkste ("Less Strong), "2" und "4" werden als schwach

("weak" empfunden - und zwar als gleich schwach: bei ihnen gibt es bei

keinen Unterschied in der "Hierarchie" (S w LS w) . Im Dreivierteltakt ist

die "1" stark, "2" und "3" sind schwach (S w w) . Das gleiche Prinzip der

Verteilung von starken und schwachen Einheiten " S w LS w " gilt auch

bei Phrasen, bzw. Phrasengruppen.

Die beiden häufigsten Kadenzmodelle

( IV - V (V7) - I und IIm7 - V7 - I△ ):

In der überwiegend auf Dreiklängen aufgebauten Harmonik ("Klassik"

und große Bereiche der sogenannten "Popmusik") ist das häufigste

Kadenzmodell die Verbindung von Subdominante, Dominante und

Tonika (IV - V - I, bzw. IV - V7 - I). In der auf Vier- und Mehrklängen

basierenden Musik des "Great American Songbooks" und des Jazz ist

hingegen das häufigste Kadenzmodell die Verbindung von

Subdominantstellvertreter, Dominantseptakkord und Tonika (IIm7 - V7 -

I△). IIm7 und V7 werden sogar auch ohne Auflösung nach I△ als

selbstständiger Pattern wahrgenommen und werden dementsprechend

oft unmittelbar wiederholt ("Honeysuckle Rose" von Fats Waller oder

auch "Satin Doll" von Billy Strayhorn). Die Bevorzugung von IIm7 V7 I△

gegenüber der Akkordfolge IV△ V7 I△� dürfte auf der Tatsache

beruhen, dass bei IIm7 V7 I△� zwei gleich starke Bassschritte (↓ P5

bzw. ↑ P4) aufeinander folgen, im Gegensatz zu dem vergleichsweise

schwächeren Stufenschritt von IV△ nach V7. Bei dem Kadenzmodell

IIm7 V7 I△ ist es wichtig , dass die Subdominantfunktion auf

stärkerem Taktteil steht, als die Dominante. In diesem Fall wird der II-V

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Harmonik des Jazz Teil 1 35/41

Pattern in der harmonischen Analyse mit einer eckigen Klammer

zusammengefasst. Wohlgemerkt: es ist durchaus möglich, dass die

Akkordfolge IIm7 V7 I△ diese Tatsache nicht berücksichtigt. Dann hört

man allerdings II - V nicht als Kadenzpattern. Vergleiche die

Akkordfolge von "Satin Doll" (IIm7 V7│IIm7 V7│) mit der von Jerome

Kerns "All The Things You Are" (VIm7│IIm7│V7│I△│): die II - V

Verbindung wird in letzterem Fall nicht als typischer II - V Pattern

gehört.

Beispiele für rein diatonische Songs:

Bei den sogenannten "Jazz Standards" sind Stücke, die auf rein

diatonischer Harmonik beruhen sehr selten. Eines der wenigen wäre

Kurt Weills "Moritat" ("Mack the Knife"). In der Popmusik kommen

hingegen solche Stücke sehr häufig vor. Hier ist eine kleine Auswahl:

"Mr. Tambourine Man" (Bob Dylan), "Sweet Caroline" (Neil Diamond),

"Both Sides Now" (Joni Mitchell), "Yellow Submarine"

(Lennon/McCartney), "Fields of Gold" (Sting) etc., etc. .....

2.1.2. Modifizierung einer vorgegebenen Akkordprogression

Wir haben bei der Einteilung der leitereigenen Vierklänge in die drei

Funktionsgruppen SD, D und T gesehen, dass man die Akkorde

innerhalb einer Funktionsgruppe prinzipiell austauschen kann. Dies hat

jedoch nur dann einen Sinn, wenn die nunmehrige neue

Akkordprogression durch einen derartigen Austausch an Attraktivität

gewinnt, oder zumindest eine gleichwertige Alternative zur zur

ursprünglichen Akkordfolge bietet. Eine Akkordprogression kann

modifiziert werden durch das:

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Harmonik des Jazz Teil 1 36/41

a) Hinzufügen von Akkorden

b) Austauschen von Akkorden

c) Weglassen von Akkorden:

Immer wieder stoßen wir bei den Klassikern des "American Songbooks

auf einzelne Akkorde, die sich nur aus dem unterlegten Begleitsatz der

originalen Klavier/Gesangsstimme erklären lassen und die für den

Verlauf der tatsächlichen Akkordprogression keinerlei Bedeutung

haben. Da diese Akkorde beim Improvisieren eher hinderlich sind, ist es

oft besser, sie einfach weg zu lassen (frei nach dem Motto:"Less is

More").Wir werden derartige Situationen später anhand von praktischen

Beispielen aus dem "American Songbook" demonstrieren.

Bei der Vorstellung der einzelnen Funktionsgruppen haben bereits ein

kleines Beispiel für eine mögliche Modifikation einer Akkordprogression

vorgestellt:

Im ersten Takt haben wir mittels Akkordaustausch zwei Akkorde

ersetzt; im zweiten Takt haben wir zunächst den ursprünglichen Akkord

ausgetauscht, aber dann noch zusätzlich einen zweiten Akkord aus der

gleichen Funktionsgruppe hinzugefügt.

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Harmonik des Jazz Teil 1 37/41

Derartige Modifikationen haben einen vergleichsweise subtilen, aber

nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Originalkomposition und

zwar:

1. bezüglich des sogenannten "harmonischen "Rhythmus": Wir

haben in den ersten beiden Takten den harmonischen Rhythmus

vom Muster "Ganztaktig - Halbtaktig" in einen durchgehend

halbtaktigen umgewandelt. Die Herstellung eines durchgehend

gleichen harmonischen Rhythmus kann bei bestimmten

Musikstücken (zum Beispiel bei "Balladen") durchaus von Vorteil

sein. Generell kann man zwei verschiedene Arten von harmonischen

Rhythmus beobachten:

a. der zunehmend aktive harmonische Rhythmus: zu diesem

Typ zählen vor allem Standards, die eine vergleichsweise

einfachere harmonische Struktur haben, wie z.B. "S´Wonderful"

(George Gershwin): die ersten beiden Harmonien im ersten A

Teil dauern jeweils zwei Takte, in denTakten fünf und sechs

wechselt die Harmonie jeweils mit dem neuen Takt und in den

Takten sieben und acht (dem sogenannten "Turnaround")

halbtaktig.

b. der vergleichsweise regelmäßige harmonische Rhythmus: in

diese Rhythmuspatterns wechseln die Akkorde entweder

ganztaktig, halbtaktig, oder auch in zweitaktigen Patterns, in

denen ganztaktige und halbtaktige Akkordwechsel kombiniert

werden.

Ausgenommen von den obigen Mustern ist im Regelfall der

(endgültige) Schluss, bei dem am Ende der letzen Periode

meistens zwei Takte lang die Tonika steht.

c. irreguläre harmonische Rhythmen (z.B. die Einschaltung von

einzelnen Takten, in denen auf jedem Schlag ein

Harmoniewechsel erfolgt; oder auch von einzelnen Takten, die

unüblich unterteilt werden - wie z.B. in Benny Golsons "I

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Harmonik des Jazz Teil 1 38/41

Remember Clifford", wo, bei generell halbtaktigem harmonischen

Rhythmus, der zweite Takt in der Bridge so unterteilt wird, dass

auf dem ersten Schlag die erste Harmonie steht und bereits auf

dem zweiten die nächste Harmonie, die dann für den Rest des

Taktes gilt) kommen vor allem bei älteren Standards

vergleichsweise selten vor, sind aber durchaus attraktiv, wenn

sie zu einem musikalisch überzeugenden Resultat führen.

2. bezüglich der (melodischen) Entwicklung der Basslinie: In unserer

neuen Version haben wir eine melodisch deutlich interessantere

Bassführung, allein schon bedingt durch das Vermeiden der

wörtlichen Wiederholung der Takte eins und zwei in den Takten drei

und vier. Dazu noch eine Bemerkung: wir empfinden Quint- und

Quartschritte als "stärkere" Schritte,Terz- oder Stufenschritte als

"schwächere". Dabei dürfen wir allerdings nie aus den Augen

verlieren, dass die Entwicklung der Basslinie ebenfalls nach den

Prinzipien einer guten Melodiebildung zu erfolgen hat: Erst das

richtige Mischungsverhältnis zwischen "starken" und "schwächeren"

Schritten ergibt eine ausgewogene Basslinie.

3. bezüglich des Spannungsverhältnisses zwischen Melodie und

unterlegter Harmonie. Stellen wir uns zu unserer ursprünglichen

Akkordprogression folgendes - bewusst didaktisch konzipiertes und

daher nicht unbedingt Grammyverdächtiges - Skelett einer Melodie

vor:

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Harmonik des Jazz Teil 1 39/41

Im Original haben die Melodietöne folgende melodische Funktionen in

den unterlegten Akkorden: Takt 1: 5 im Dm7, 1 im G7. Takt 2: 6 und Tj7

im C6. Takt 3: b7 im Dm7, T13 im G7. Takt 4: T9 im C6. Wir haben also

in den ersten beiden Takten deutlich weniger Spannung zwischen den

Melodietönen und den Begleitakkorden als in den Takten 3 und 4.

Außerdem verdoppelt die Melodie in der zweiten Hälfte des ersten

Taktes den Grundton - eine Praxis, die zwar nicht grundsätzlich

abzulehnen ist, die man aber im Interesse eines besseren

kontrapunktischen Verhältnisses zwischen den Außenstimmen

zumindest überdenken sollte.

In unserem modifizierten Beispiel haben wir am Kadenzschema

funktionell überhaupt nichts verändert, aber das Verhältnis zwischen

Melodie und unterlegter neuer Akkordprogression hat sich insgesamt

leicht verbessert: Takt 1: 3 im FMaj7 macht zwar keinen wesentlichen

Unterschied zu 5 im Dm7, aber Tb13 im Bm7(b5) hilft mir das

Oktavunisono beim G7 zu vermeiden (wir erinnern uns: Tb13 würde

man beim m7(b5) nicht im Voicing verwenden, um dadurch einen

spannungsreicheren Klang zu erreichen; aber der Melodieton Tb13

ergibt zusammen mit dem unterlegtem Akkord m7(b5) einen durchaus

befriedigenden Zusammenklang). Takt 2: T11 im Em7 und T9 im Am7.

Diese Töne bereiten die T13 beim G7 im Takt 3 wunderbar vor.

Wir haben also mit dieser kleinen Modifikation der Takte 1 und 2 den

harmonischen Rhythmus begradigt, die Bassführung melodisch aktiver

gestaltet und schließlich auch noch das Spannungsverhältnis zwischen

Melodie und unterlegter Begleitharmonie verstärkt.

Bezüglich der harmonischen Bearbeitung von Klassikern aus dem

Bereich der "Tin Pan Alley" und des Broadway Musicals sollte man

folgende Aspekte nicht außer Acht lassen:

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 40/41

1. Reharmonisation im Sinne von "Verbessern"der Originalharmonien:

Viele dieser Kompositionen wurden in einer Zeit geschrieben, in der sich

das Vokabular der sogenannten "Jazzharmonik" erst zu entwickeln

begann. Hier ist es durchaus legitim, und sogar wünschenswert,

etwaige harmonische Schwachstellen auszumerzen. Man muss dabei

nicht soweit gehen wie z.B. Bill Evans, der Standards wie "Dancing in

the Dark" (Arthur Schwartz) genial reharmonisiert hat und nur noch die

wichtigsten harmonischen Eckpfeiler der Originalkomposition

unangetastet ließ. Aber es ist immer sehr lehrreich, Pianisten wie

Tommy Flanagan und Hank Jones dabei zu beobachten, wie sie

Standards harmonisch leicht modifizieren, um sie unseren heutigen

Hörgewohnheiten anzupassen - vor allem wenn sie z.B. Ella Fitzgerald

begleiten.

2. Reharmonisation im Sinne einer gleich guten Alternative:

Bestimmte Stücke werden harmonisch ganz bewusst extrem simpel

gehalten (vor allem in Musicals und Filmmusiken, aber auch in diversen

Pop Songs), um eine bestimmte Stimmungslage zu charakterisieren.

Wenn wir uns als Beispiel Kurt Weills " bereits oben erwähnte "Moritat"

näher betrachten, so stellen wir fest, dass in den Takten 9 und 10 nur

eine Harmonie steht - nämlich VIm. Dies erklärt sich aus der Tatsache,

dass in der Dreigroschenoper dieser Song als "Bänkellied" von einem

Leierkastenmann vorgetragen wird, und daher die ganze Harmonik des

Stückes so gewählt ist, dass sie mit den für Drehorgeln typischen

Paukenbässen (halbtaktiger Wechsel vom Grundton zur Quint des

Akkordes) gespielt werden kann. In Interpretationen von Jazzmusikern

werden diese Takte so gut wie immer reharmonisiert - und zwar durch

IIIm7 im Takt 9 und bIIIo7 im Takt 10. Im Takt 9 wird also der

Tonikastellvertreter VI durch den anderen Stellvertreter IIIm7

ausgetauscht und schließlich der sogenannte "Passing Diminshed

Chord" hinzugefügt. Im Takt 11 (IIm7) mündet dann diese

Reharmonisation wieder im Originalakkordschema. Diese Lösung wäre

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Harmonik des Jazz Teil 1

Harmonik des Jazz Teil 1 41/41

Kurt Weill sicher auch eingefallen, wenn er einen Jazzstandard hätte

komponieren wollen. Hat er aber nicht.

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