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70 Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 3 0031-9279/99/0303-0070 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Menschen Prof. Dr. Wolfhart Zimmermann, Max- Planck-Institut für Physik, München Am 22. November 1998, wenige Monate vor seinem 75. Geburtstag, verstarb Harry Lehmann an den Folgen einer schweren Krankheit. Wir trauern um den Verlust eines hervorragenden Wissenschaftlers, der durch seine Arbeiten entschei- dende Impulse zur Entwicklung der modernen Quantenfeldtheorie gege- ben hat. Harry Lehmann wurde am 21. März 1924 in Güstrow, Meck- lenburg, geboren. Nach Abschluß der Reifeprüfung 1942 in Rostock wurde er eingezogen und geriet 1943 in Afrika in amerikanische Gefangenschaft. Nach seiner Ent- lassung 1946 studierte er Physik in Rostock und an der Humboldt- Universität in Berlin. 1949 wurde er Assistent von Friedrich Hund in Jena und promovierte bei ihm 1950 mit einer Arbeit über klassische Elektrodynamik. In Vertretung übernahm er Hunds Lehrstuhl und ließ sich 1952 an das von Heisen- berg geleitete Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen beurlauben. Dort gehörte er zu einer aktiven Gruppe junger Theoretiker, die aus allen Teilen der Welt gekommen waren, um an Heisenbergs Institut zu arbeiten. Ein zentrales Thema in dieser Zeit war die Diskussion um das in den USA und Japan ent- wickelte Verfahren der Renormie- rung, das es ermöglichte, beobacht- bare Größen der Quantenelektro- dynamik trotz des Auftretens divergenter Zwischenergebnisse zu berechnen und mit experimentellen Daten zu vergleichen. Ungeachtet des offensichtlichen Erfolgs haben viele Physiker der älteren Generati- on die Renormierung skeptisch be- urteilt in der Überzeugung, daß das Auftreten divergenter Werte einen tiefliegenden Defekt lokaler, relati- vistischer Quantenfeldtheorien an- zeigt. Demgegenüber ging das Bemühen der jungen Feldtheoreti- ker dahin, das Renormierungsver- fahren mathematisch zu legitimie- ren, indem Divergenzen sowohl in der Formulierung der Theorie als auch in der störungstheoretischen Berechnung beobachtbarer Größen grundsätzlich vermieden werden. (siehe z. B. den Artikel „Renormie- rung – ein Sündenfall der Theoreti- schen Physik?“, Phys. Bl., Septem- ber 1982, S. 282). In dieser Hinsicht war Harry Lehmanns Publikation „Über Eigenschaften von Ausbreitungs- funktionen und Renormierungskon- stanten quantisierter Felder“ ein entscheidender Beitrag und rich- tungsweisend für die spätere Entwicklung. Aus minimalen Vor- aussetzungen konnte er die wesent- lichen Eigenschaften der Propaga- toren ableiten und die Renormie- rungskonstanten durch (in der Störungstheorie divergente) Inte- grale über endliche Größen aus- drücken. In den folgenden Jahren entstanden im Göttinger Institut Arbeiten (gemeinsam mit K. Sym- anzik und dem Verfasser), die die Formulierung quantisierter Feld- theorien durch endliche, renor- mierte Korrelationsfunktionen zum Gegenstand haben. Insbesondere ergab sich der allgemeine Zusam- menhang zwischen der S-Matrix und den Korrelationsfunktionen lokaler Feldoperatoren. Nach ei- nem einjährigen Forschungsaufent- halt in Kopenhagen im Rahmen einer CERN-Studiengruppe folgte Harry Lehmann 1956 einem Ruf nach Hamburg. Als Nachfolger von Wilhelm Lenz war er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1986 an der Harry Lehmann zum Gedenken Wolfhart Zimmermann Universität Hamburg tätig – abgese- hen von längeren Gastaufenthalten am Institute for Advanced Study in Princeton und dem Institut des Hautes d’Etudes Scientifiques in Bures-sur-Yvette. Nach seinem Weggang von Göttingen hat sich Harry Lehmann der Theorie der Dispersionsrelationen zugewandt. Diese Beziehungen beruhen auf analytischen Eigenschaften der Streuamplituden; sie sind von prin- zipieller Bedeutung, weil sich auf deren Grundlage das Postulat der Lokalität relativistischer Quanten- feldtheorien experimentell prüfen läßt. Er hat – teilweise in Zusam- menarbeit mit R. Jost und F. J. Dyson – eine exakte Ableitung der Dispersionrelationen und weiterer analytischer Eigenschaften der Streuamplituden als Folge von Lokalität, relativistischer Invarianz und Bedingungen des Teilchenspek- trums gegeben. Trotz der internen Struktur beobachtbarer Teilchen haben diese Ergebnisse auch für die Zukunft Gültigkeit, da nur allge- meine von der speziellen Dynamik des Systems unabhängige Eigen- schaften in die Beweisführung ein- gehen. Bis zu seinem Lebensende hat Harry Lehmann aktiv an aktu- ellen Problemen der Elementarteil- chenphysik gearbeitet. Zu erwäh- nen ist seine Zusammenarbeit mit K. Pohlmeyer über Feldtheorien mit nicht-polynomialer Lagrange-Funk- tion. Zuletzt hat er mit T.T. Wu Symmetriebrechungen von Quark- Massen untersucht. Für seine wis- senschaftlichen Leistungen wurde Harry Lehmann 1967 mit der Max- Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und 1997 mit dem Danny-Heinemann- Preis der Amerikanischen Physika- lischen Gesellschaft ausgezeichnet. Bemerkenswert war seine Fähig- keit, schwierige und komplexe Sachverhalte in Vorträgen in ver- ständlicher Form mit bewunderns- werter Klarheit darzustellen. Wir alle, die wir die Freude hatten, mit Harry Lehmann zusammen zu ar- beiten, denken in Freundschaft und Dankbarkeit an ihn zurück. Harry Lehmann

Harry Lehmann zum Gedenken

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70Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 30031-9279/99/0303-0070$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Menschen

Prof. Dr. WolfhartZimmermann, Max-Planck-Institut fürPhysik, München

Am 22. November 1998, wenigeMonate vor seinem 75. Geburtstag,verstarb Harry Lehmann an denFolgen einer schweren Krankheit.Wir trauern um den Verlust eineshervorragenden Wissenschaftlers,der durch seine Arbeiten entschei-dende Impulse zur Entwicklung dermodernen Quantenfeldtheorie gege-ben hat. Harry Lehmann wurde am21. März 1924 in Güstrow, Meck-lenburg, geboren. Nach Abschlußder Reifeprüfung 1942 in Rostockwurde er eingezogen und geriet1943 in Afrika in amerikanischeGefangenschaft. Nach seiner Ent-lassung 1946 studierte er Physik inRostock und an der Humboldt-Universität in Berlin. 1949 wurde erAssistent von Friedrich Hund in Jena und promovierte bei ihm 1950mit einer Arbeit über klassischeElektrodynamik. In Vertretungübernahm er Hunds Lehrstuhl undließ sich 1952 an das von Heisen-berg geleitete Max-Planck-Institutfür Physik in Göttingen beurlauben.Dort gehörte er zu einer aktivenGruppe junger Theoretiker, die ausallen Teilen der Welt gekommenwaren, um an Heisenbergs Institutzu arbeiten. Ein zentrales Thema indieser Zeit war die Diskussion umdas in den USA und Japan ent-wickelte Verfahren der Renormie-rung, das es ermöglichte, beobacht-bare Größen der Quantenelektro-dynamik trotz des Auftretensdivergenter Zwischenergebnisse zuberechnen und mit experimentellenDaten zu vergleichen. Ungeachtetdes offensichtlichen Erfolgs habenviele Physiker der älteren Generati-on die Renormierung skeptisch be-urteilt in der Überzeugung, daß dasAuftreten divergenter Werte einentiefliegenden Defekt lokaler, relati-vistischer Quantenfeldtheorien an-zeigt. Demgegenüber ging dasBemühen der jungen Feldtheoreti-ker dahin, das Renormierungsver-fahren mathematisch zu legitimie-ren, indem Divergenzen sowohl inder Formulierung der Theorie alsauch in der störungstheoretischenBerechnung beobachtbarer Größengrundsätzlich vermieden werden.(siehe z. B. den Artikel „Renormie-

rung – ein Sündenfall der Theoreti-schen Physik?“, Phys. Bl., Septem-ber 1982, S. 282).

In dieser Hinsicht war HarryLehmanns Publikation „ÜberEigenschaften von Ausbreitungs-funktionen und Renormierungskon-stanten quantisierter Felder“ einentscheidender Beitrag und rich-

tungsweisend für die spätere Entwicklung. Aus minimalen Vor-aussetzungen konnte er die wesent-lichen Eigenschaften der Propaga-toren ableiten und die Renormie-rungskonstanten durch (in derStörungstheorie divergente) Inte-grale über endliche Größen aus-drücken. In den folgenden Jahrenentstanden im Göttinger InstitutArbeiten (gemeinsam mit K. Sym-anzik und dem Verfasser), die dieFormulierung quantisierter Feld-theorien durch endliche, renor-mierte Korrelationsfunktionen zumGegenstand haben. Insbesondereergab sich der allgemeine Zusam-menhang zwischen der S-Matrixund den Korrelationsfunktionenlokaler Feldoperatoren. Nach ei-nem einjährigen Forschungsaufent-halt in Kopenhagen im Rahmeneiner CERN-Studiengruppe folgteHarry Lehmann 1956 einem Rufnach Hamburg. Als Nachfolger vonWilhelm Lenz war er bis zu seinerEmeritierung im Jahre 1986 an der

Harry Lehmann zum GedenkenWolfhart Zimmermann

Universität Hamburg tätig – abgese-hen von längeren Gastaufenthaltenam Institute for Advanced Study inPrinceton und dem Institut desHautes d’Etudes Scientifiques inBures-sur-Yvette. Nach seinemWeggang von Göttingen hat sichHarry Lehmann der Theorie der Dispersionsrelationen zugewandt.Diese Beziehungen beruhen aufanalytischen Eigenschaften derStreuamplituden; sie sind von prin-zipieller Bedeutung, weil sich aufderen Grundlage das Postulat derLokalität relativistischer Quanten-feldtheorien experimentell prüfenläßt. Er hat – teilweise in Zusam-menarbeit mit R. Jost und F. J.Dyson – eine exakte Ableitung derDispersionrelationen und weitereranalytischer Eigenschaften derStreuamplituden als Folge vonLokalität, relativistischer Invarianzund Bedingungen des Teilchenspek-trums gegeben. Trotz der internenStruktur beobachtbarer Teilchenhaben diese Ergebnisse auch für dieZukunft Gültigkeit, da nur allge-meine von der speziellen Dynamikdes Systems unabhängige Eigen-schaften in die Beweisführung ein-gehen. Bis zu seinem Lebensendehat Harry Lehmann aktiv an aktu-ellen Problemen der Elementarteil-chenphysik gearbeitet. Zu erwäh-nen ist seine Zusammenarbeit mitK. Pohlmeyer über Feldtheorien mitnicht-polynomialer Lagrange-Funk-tion. Zuletzt hat er mit T. T. WuSymmetriebrechungen von Quark-Massen untersucht. Für seine wis-senschaftlichen Leistungen wurdeHarry Lehmann 1967 mit der Max-Planck-Medaille der DeutschenPhysikalischen Gesellschaft und1997 mit dem Danny-Heinemann-Preis der Amerikanischen Physika-lischen Gesellschaft ausgezeichnet.Bemerkenswert war seine Fähig-keit, schwierige und komplexeSachverhalte in Vorträgen in ver-ständlicher Form mit bewunderns-werter Klarheit darzustellen. Wiralle, die wir die Freude hatten, mitHarry Lehmann zusammen zu ar-beiten, denken in Freundschaft undDankbarkeit an ihn zurück.

Harry Lehmann