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Husserl Studies 9: 199-216, 1992. 0 1992 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands. Heimat und das Fremde* TORU TANI Kyushu Dental College Wiederholt wurde der Ph~nomenologie Hussefls der Vorwurf gemacht, da6 sie das Problem des Anderen nicht wirklich gel6st habe. Sp~iter wurde auch Heidegger in dieser Weise kritisiert; vor allem das Interesse an der Philosophie von E. Levinas leitete die Diskussion von "der Abwesenheit des Anderen''1 bei Heidegger. Doch dann wandte sich die Kritik erneut Husserl zu.2 Besonders Husserls Wiener Vortrag "Die Krisis des europaischen Menschentums und die Philosophie''3 steht derzeit in einem schlechten Ruf. So lautet ein Hauptpunkt gegenwartiger Kritik: Die "Europaisierung", die "Teleologie der (europaischen) Vemunft" impliziere eine kolonialistische Umdeutung fremder Kulturen und eine Vemichtung des Anderen. Diese Kritik motiviert dazu, der Ph~omenologie selbstl~tisch die grundlegende Frage zu stellen, was sie heute sei und sein k/Snne. Die nachfolgenden Obeflegungen sind gleichfalls durch diese Kritik motiviert. In Husserls Wiener Vortrag findet sich der bemerkenswerte Satz: "Die europ~iischen Nationen [...] haben doch eine besondere innere Verwandtschaft im Geist [...] Es ist so etwas wie Geschwisteflichkeit, die uns in diesem Kreise das Bewu6tsein einer Heimatlichkeit gibt" (Hua VI, 320; Hervorhebung von mir). Was aber ist Heimatlichkeit oder Heimat im ph~omenologischen Sinn? Wenn man, geleitet von dieser Frage, Manuskripte Husseds aus der Zeit des Wiener Vortrags liest, st/513tman auf den Begriff der "Heimwelt" (und ihren Gegenbegriff "Fremdwelt"). Diese beiden Begriffe erinnem des weitem an die Begriffe "Urheimat" und "WeltaU".4 Ich versuche im folgenden mit diesen vier Begriffen Husserls These der Europaisierung neu auszulegen, um im AnschluB daran nach einer M/Sglichkeit ffir die heutige Phanomenologie zu fragen. * Ich danke der Heinrich-Herz-Stiftung des Landes Nordrhein-Westfalen ftir die Finanzierung eines Forschungsaufenthalts in Wuppertal sowie den Professoren Dr. Klaus Held und Antonio Aguirre, dann Dr. Heinrich Htini, f'tir ihre Anregungen. Dr. Hans Rainer Sepp gab viele aufschlu6reiche Hinweise und hat sich des sprachlichen Gewands dieses Aufsatzes angenommen.

Heimat und das Fremde

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Husserl Studies 9: 199-216, 1992. 0 1992 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.

Heimat und das Fremde*

TORU TANI Kyushu Dental College

Wiederholt wurde der Ph~nomenologie Hussefls der Vorwurf gemacht, da6 sie das Problem des Anderen nicht wirklich gel6st habe. Sp~iter wurde auch Heidegger in dieser Weise kritisiert; vor allem das Interesse an der Philosophie von E. Levinas leitete die Diskussion von "der Abwesenheit des Anderen ''1 bei Heidegger. Doch dann wandte sich die Kritik erneut Husserl zu. 2 Besonders Husserls Wiener Vortrag "Die Krisis des europaischen Menschentums und die Philosophie ''3 steht derzeit in einem schlechten Ruf. So lautet ein Hauptpunkt gegenwartiger Kritik: Die "Europaisierung", die "Teleologie der (europaischen) Vemunft" impliziere eine kolonialistische Umdeutung fremder Kulturen und eine Vemichtung des Anderen. Diese Kritik motiviert dazu, der Ph~omenologie selbstl~tisch die grundlegende Frage zu stellen, was sie heute sei und sein k/Snne. Die nachfolgenden Obeflegungen sind gleichfalls durch diese Kritik motiviert.

In Husserls Wiener Vortrag findet sich der bemerkenswerte Satz: "Die europ~iischen Nationen [...] haben doch eine besondere innere Verwandtschaft im Geist [...] Es ist so etwas wie Geschwisteflichkeit, die uns in diesem Kreise das Bewu6tsein einer Heimatlichkeit gibt" (Hua VI, 320; Hervorhebung von mir). Was aber ist Heimatlichkeit oder Heimat im ph~omenologischen Sinn? Wenn man, geleitet von dieser Frage, Manuskripte Husseds aus der Zeit des Wiener Vortrags liest, st/513t man auf den Begriff der "Heimwelt" (und ihren Gegenbegriff "Fremdwelt"). Diese beiden Begriffe erinnem des weitem an die Begriffe "Urheimat" und "WeltaU". 4 Ich versuche im folgenden mit diesen vier Begriffen Husserls These der Europaisierung neu auszulegen, um im AnschluB daran nach einer M/Sglichkeit ffir die heutige Phanomenologie zu fragen.

* Ich danke der Heinrich-Herz-Stiftung des Landes Nordrhein-Westfalen ftir die Finanzierung eines Forschungsaufenthalts in Wuppertal sowie den Professoren Dr. Klaus Held und Antonio Aguirre, dann Dr. Heinrich Htini, f'tir ihre Anregungen. Dr. Hans Rainer Sepp gab viele aufschlu6reiche Hinweise und hat sich des sprachlichen Gewands dieses Aufsatzes angenommen.

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1. Historie und Geographie

Die Rede von "Europ~iisiemng" bezieht sich bei Hussed zun~hst auf die Historie, dann aber auch auf die Geographie. Wir wollen diese beiden Aspekte in ihrem Verhaltnis zueinander befragen. "Das historisch an sich Erste ist unsere Gegenwart" (Hua VI, 382). Ist dieser Aussage Husserls zuzustimmen? Verlauft die Historie nicht in der Zeit, die homogen von der Vergangenheit zur Zukunft verflieSt? Besitzt denn die Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit und Zukunft ein Primat? Oder kommt nicht vielmehr der Vergangenheit das Primat zu, weil sie 'vorher' geschehen ist? Diese Auffassung setzt jedoch einen physischen Zeitstrom (bzw. eine objektive Zeitabfolge) voraus, der vom inneren Zeitbewul3tsein konstituiert ist. In ihm bilden Husserl zufolge Retention (oder eine Abfolge von Retentionen) und Protention (oder eine Abfolge von Protentionen) zusammen mit einer Urimpression die "Breite ''5 der Gegenwart. Retention und Protention sind das Ermi~glichende (oder die Bedingungen der Mi~glichkeit) der sogenannten Vergangenheit und Zukunft, geh6ren aber beide zur Gegenwart. Der Ausgangspunkt der Konstitution des BewuStseins ist immer die Gegenwart als stdndige Quelle der Konstitution. Kein Subjekt der Konstitution kann die Gegenwart als Ausgangspunkt und Quelle verlassen: Die sogenannte Vergangenheit und Zukunft k6nnen nur vonder Gegenwart her gesehen werden. Das aber bedeutet, dab auch fiir die Historie der Ausgangspunkt ebenfaUs stets die Gegenwart ist. Deshalb konnte Hussed sagen: "Das historisch an sich Erste ist unsere Gegenwart".

Es gibt ffir niemanden - auSer vielleicht fiir den Gott des Augustinus - einen Gesichtspunkt, yon dem aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (und also die Historie) gleicherweise zu iiberblicken w~en, der also aul3erhalb dieser drei Zeiten und der Historie sich bef'~de. Die Husserlsche Ph~omenologie betrachtet die Historie in der Einstellung des tran- szendentalen (nicht weltlichen) "In-der-Gegenwart-Seins". Dem ist aber sogleich hinzuzuftigen: Die betreffende Historie setzt nicht den physischen Zeitstrom voraus. Sie ist keine Historie im gew6hnlichen (weltlichen) Sinn. Die Historie, nach der die Ph~nomenologie fragt, ist eine solche von Bedingungen der MSglichkeit ffir die Konstitution des Sinnes des Gegenstandes (oder des gegenstandlichen Sinnes) in der Gegenwart. In unserer Gegenwart erscheint ein Gegenstand geradehin und ohne weiteres als ein solcher. Dieses Erscheinen ist nur dadureh m6glich, dab der Sinnes- rahmen, der die Erscheinung des Gegenstandes vorzeichnet, in unserer Konstitutionsgegenwart fungiert. Es geht in der phiinomenologischen Reflexion der Historie um das "Woher" dieses Sinnesrahmens, der in unserer Gegenwart eingeschlossen oder besser sedimentiert ist: um die tran- szendentale Historie. Diese ist sozusagen die Tiefe der Gegenwart. Die

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"regressive" Frage nach der transzendentalen Historie stellt sich stets von unserer Gegenwart ans und in ihr. Die europiiischen Wissenschaften besitzen zudem eine Intention auf Wahrheit an sich, und auch diese Inten- tion fungiert in unserer Gegenwart. Die Phanomenologie Husserls versucht, den Ursprung dieses Fungierens freizulegen: Sie muB immer vonde r Gegenwart aus regressiv nach der in ihr eingeschlossenen transzendentalen Sinnes- und Willenshistorie zuriickfragen. In diesem Sinne voUzieht die Ph~inomenologie der Historie die Einstellung des transzendentalen In-der- Gegenwart-Seins einerseits und des regressiven Seins-zur-inneren-Historie andererseits.

Der Begriff "Gegenwart" ist zweideutig im zeitlichen und riiumlichen Sinne. Kann man nicht mit Blick auf die Gegenwart im ~umlichen Sinne sagen: Das geographisch an sich Erste ist unsere Heimat? Und kann man nicht sagen, dab die Heimat Husseds Europa ist? Doch hier ist Vorsicht geboten: Ist dabei yon einer Geographie die Rede, die den physischen Raum voraussetzt, n~zlich von einer Geographie im gew6hnlichen (weltlichen) Sinne? Der physische Raum ist homogen erweiterbar, und insofem ist Europa nur ein Teil des homogenen Weltraums. Es liegt neben Asien, Afrika usw., es besitzt kein Primat. Aber liegt dieser VorsteUung des homogenen Raumes nicht eine Voraussetzung zugrunde? Ist es nicht so, dab erst auf Grund dieser Voraussetzung die "Homogenisierung "6 des Raumes erfolgt? Ist die Heimat als ein transzendentaler Ausgangspunkt (oder eine Voraussetzung) der Konstitution des homogenen Raumes (oder des WeltaUs) nicht zuvor gegeben, ist sie, von der jedes Subjekt ausgehen muB, nicht vorgegeben? Hat Husserls Ph~nomenologie der dreiBiger Jahre nicht die Einstellung des transzendentalen In-der-Heimat-Seins und des regressiven Seins-zur-inneren-Geographie vollzogen?

2. Urheimat und Heimwelt

Husserl gab eine aufschluBreiche Analyse des Begriffs 'Heimat' im obengenannten Sinne. Diesen Sinn von Heimat bezeichnet er im Manuskript "Umsturz der kopemikanischen Lehre" (1934) als "Urheimat". Die Heimat im gewtihnlichen Sinne, niimlich als "Heimwelt", ist dem- gegeniiber als ein im homogenen gro~n Raum, im "Weltalr', befindlicher Teil vorgestellt. Ein kleiner Ausschnitt im Weltall ist "Heimat" (oder besser "I-Ieimwelt"). Als ein Teil setzt sie die Gegebenheit anderer Teile voraus, sie schlieBt die Mitgegebenheit anderer Heimwelten ein. Sie ist eine Singularit~t in einer Pluralit~it.

Um die Diskussion zu verdeutlichen, fiihren wir einen neuen Begriff ein. F~ir das Bewul3tsein der natiJrlichen Einstellung ist die Welt in ihrem Sein

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vorgegeben, doch transzendental gesehen konstituiert sich das Sein der Welt in mehreren konstitutiven Stufen. Es ist eine "End-konstituiertheit". 7 Die schematisierende Auffassung, dab zum allumfassenden Begriff "Weltall" die verschiedenen Heimwelten geh/Sren, besteht erst in der Dimension der Endkonstituiertheit (und meistens auch der Endkonstruiert- heit). Die Ph~omenologie fragt nach der konstitutiven Vorstufe, die die Endkonstituiertheit ermi~glicht. Das Sein der Welt wird in dieser konstitutiven Vorstufe nicht aus dem Nichts gesch6pft, vielmehr ist so etwas wie ein Keim des Seins der Welt vorgegeben. Dieser Keim als die Vorstufe konstituiert sich genetisch zum "Sein" der Welt. Zu dieser Vorstufe des Seins der Welt, zu diesem "Vorsein" geh&t auch die Ur- heimat.

Man muB die Priffixe "vor" und "ur", die Husserl vor allem in seiner Sp~itzeit oft verwendet hat, mit Vorsicht deuten. Sie weisen auf die Vorge- stalt hin, die konstitutiv der Endkonstituiertheit voraufgeht. Diese Vorge- stalt bedeutet jedoch keine gleichf~rmige Verkleinerung der Endkonstituier- theit. Das Pr~ifix ver'tindert vielmehr den Sinn des Wortes, das ihm folgt. Im Fall der Urheimat entzieht es den Sinn von Pluralit~t und Singularitat innerhalb des Weltalls: Die Urheimat ist noch kein Teil im Weltall.

Wir wollen den Begriff "Urheimat" n~her bestimmen. Nach der gewShnlichen Vorstellung umfaSt das Weltall alles; es besitzt kein Draul3en, und alle Teile des Drinnen sind homogen. Im Weltall bef'mden sich Sterne und Planeten, unter ihnen die Erde: die "Erdkugel". Die Erde, die sich um die Sonne und urn ihre Achse dreht, ist ein beweglicher K0rper. Aber diese Konstitution der Erde als Erdkugel impliziert schon eine Voraussetzung, die Begriffe "Beweglichkeit" und "K/Srperlichkeit" (letzterer kommt Beweglichkeit als fundamentale Bestimmung zu) verber- gen eine Vorannahme: Um den Sinn von Bewegung zu erreichen, mu8 Bewegung in Beziehung zu einem unbeweglichen M~stab gedacht sein. Der transzendental vorausgesetzte Maflstab fiir den Sinn von Bewegung iiberhaupt ist die Erde als "Erdboden". Die Erde als vorausgesetzter MaBstab des Sinnes der Bewegung ist absolut einzig und unbeweglich und deshalb noch kein K6rper. 8 Erst durch die Eingliederung in den homogenisierten Ranm konstituiert die Erde sich zur Erdkugel: zu einem beweglichen K6rper.

Wie verh~ilt es sich nun bei der Heimat? Die Heimat als konstitutive Voraussetzung der Heimwelt im gew6hnlichen Sinne ist noch kein Teil des Weltalls, hier gibt es noch keine anderen mit ihr zu vergleichenden Heim- welten. Die Urheimat als konstitutive Voraussetzung ist eine eigenartige Singularit~t vor der Pluralit~it, sozusagen die UrsingularitLit. Die ursingul~e Urheimat erf~ihrt noch keine andere Heimwelt. In der ersten Vorstufe der Konstitution nimmt jedes Subjekt seine Urheimat auf. Sie ist der Aus-

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gangspunkt der geographischen Konstitution, die zur Endkonstitution (und iiber diese Konstitution bis zur naturalistischen Konstmktion) fiihrt, und die Bedingung der M6glichkeit der endkonstituierten Weltvorstellung.

Die Endkonstitution, die in der Urheimat ihren Ursprung besitzt, bewirkt, dab die Urheimat selbst den pluralen Heimwelten zugerechnet wird. Die Ursingularit~it singularisiert sich innerhalb der Pluralitat. Die Begriffe in der Dimension der Endkonstituiertheit decken sich mindestens insofem nicht mit denen des Vorseins, als der Begriff in der Dimension der Endkonsti- tuiertheit meistens die Pluralit~t impliziert. Es ist deshalb gef'~ihdich, mit Begriffen, die der Dimension der Endkonstituiertheit entnommen sind, den Sachverhalt der konstitutiven Vorstufe oder des Vorseins zu bezeichnen. In der Tat scheint Husserl selbst die beiden Begriffe zuweilen miteinander verwechselt zu haben, wie noch er6rtert werden soll. Hier dr~in~ sich eine Frage auf: Warum konstituiert sich die Urheimat zur Heimwelt, warum bleibt sie nicht Urheimat? Was ist die Motivation fiir diese Konstitution?

Wie schon zitiert, sagt Hussed in seinem Wiener Vortrag als Europ~ier: "Die europ~iischen Nationen [...] haben doch eine besondere innere Verwandtschaft im Geist [...] Es ist so etwas wie eine Geschwistedichkeit, die uns in diesem Kreise das BewuBtsein einer Heimatlichkeit gibt" (Hua VI, 320). Dieser Satz l~iBt sich als Ausdruck der natiidichen, endkonstituier- ten Dimension lesen. In der Tat sind die Transzendentales meinenden Begriffe in diesem Vortrag schon aus Grtinden des einfacheren Verst~indnisses f~ir die Zuh6rer, 9 aber auch aus einem noch tieferen Grund selbst nicht transzendental, sondern natiidich und weltlich ausgedriickt. Husserl hielt den Wiener Vortrag genau ein Jahr (am 7, und 10. Mai 1935) nach der Abfassung des Umsturz-Manuskripts (am 7.-9. Mai 1934). Kann man nicht, diese Tatsache als einen Nebenbeweis ansehend, die Begriffe "Heimatlichkeit" und "Europa" im Vortrag sozusagen als tran- szendental-empirische Doppelbegriffe auslegen? Kann man also die Diskussion um die Europ~iisierung bzw. die Teleologie der Vernunft nicht nur als Auslegung des nati~dichen Wortsinnes auffassen, sondem auch als eine solche, die auf die transzendentale "Sache" hinweisen will? Wenn Vortrag und NachlaBmanuskript im Heimatproblem aufeinander bezogen werden k6nnen, wird der Versuch einer diesbeziiglichen emeuten Aus- legung ftir die Phanomenologie, die "zu den Sachen selbst" geht, dringlich.

3. Begegnung von Urheimat und Fremdwelt

Zuerst geh6ren wir, ohne ein Erfahren von Fremdwelt, zur Urheimat, sind ihr verbunden. Sofern daher die Termini "Zugeh6ren" und "Verbunden" als Relationsbegriffe ein DrauBen implizieren, treffen sie die Sache nicht. Die

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Urheimat ist "die fiir mich, for uns (Griechen, Deutsche etc.) 'an sich erste', vSlkisch-primordiale Umwelt, zun~ichst fiir uns die Welt schlechthin" (Hua XV, 436; Hervorhebung von mir). l° Sie kann als eine urspriingliche Heimatlichkeit (oder Heimlichkeit im etymologischen Sinne) bezeichnet werden, deren Sinn als 'Drinnen' fOr sie selbst noch nicht erschlossen ist.

Diese Urheimatverbundenheit bildet die Vertrautheit und Selbstverst~nd- lichkeit von Heimat. Hier gibt es kein theoretisches Interesse. Nur das "vortheoretisch" (Hua XV, 436) verstandene Interesse oder "das praktische Interesse [des Subjekts] ist im Drinnen" (Hua XV, 431). Das DrauBen ist h~ichstens "ein offenes, for alle unbekanntes und 'im allgemeinen' ir- relevantes Drau~n [...]" (Hua XV, 431).

Die Urheimat besitzt noch keine Grenzen, die sie als einen Teil im Weltall von anderen Teilen sondem wiirden, sie besitzt aber durchans die MSglichkeit zu einer Erweiterung. il Diese erm~glicht uns die Begegnung mit dem DrauBen. Wenn das Drau~n dem urheimatlichen Subjekt wirklich begegnet, erregt diese Begegnung sein Staunen. Zuerst taucht eine Fremdwelt auf, sie flillt auf: Das Fremde ist "zun~ichst unversttindlich Fremdes" (Hua XV, 432; Hervorhebung von mir). 12 Es handelt sich um ein auff~illiges und daher thematisches Erscheinen (oder Sichkonstituieren) der "Unverstgtndlichkeit" und also "Unheimlichkeit" als solcher.

Durch das Erscheinen der unverst~dlichen und unheimlichen Fremdwelt wird die Urheimat des Subjekts erst eigens als "Heimwelt" thematisch erfahren. "Das Universum in erster Form als Heimwelt kommt nur zur Abhebung, wenn schon andere Heimwelten, andere V/51ker mit im Horizont sind" (Hua XV, 176; Hervorhebung von mir). Durch diese Abhebung entsteht die Heimwelt als eine erfahrene thematische Singularit~it in einer Plurali~t.

Auch hier gilt: Fiir die Urheimat bleibt die Selbsterfahrung als Heimwelt nicht ohne Folgen. Denn aufgrund dieser Selbstauslegung h/Srt sie auf, Ursingularit~it zu sein, und konstituiert sich als eine unter anderen: als eine Heimwelt. Die transzendentale Urheimatlichkeit verweltlicht sich als Heimatlichkeit im gew~Shnlichen Sinne.i3

Die Konstitution der Fremdwelt/Heimwelt als Singularit~it in einer Pluralit~t motiviert weiter die Konstitution eines groBen Raums, der die Fremd- und Heimwelt umfaBt. So konstituiert sich das "WeltaU" als ein einziger Gesamthorizont, der die pluralen Heimwelten umschlieBt - aber diese neue Konstitution selbst bleibt zumeist unthematisch.

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4. Thematisierung des Weltalls und der allgemeingiiltigen Wahrheit an sich

Hussefl spricht vonder Welt als einer solchen, "die als universaler Horizont immerfort in gewisser Weise bewuBt da ist, aber dabei nicht thematisch ist" (Hua VI, 327). 14 H~Schstens wird die Heimwelt durch das "praktische" Interesse (oder "religi0s-mythisch") thematisiert (Hua VI, 330). (Nur) Griechenland bzw. Europa transzendierte die Heimwelt, indem es das Weltall zum theoretischen Thema machte - so meint Husserl. Die in einer solchen h0herstufigen (und, wie mir scheint, konstruktiven) Thematisierung konstituierte Einzigkeit des Weltalls k~Snnen wir als Obersingularit~t im Vergleich zur Ursingularit;a't der Urheimat bezeichnen.

Diese h6herstufige (theoretische) Thematisierung ist nicht notwendig, sondem "faktisch". 15 Husserl er~Srtert dieses Faktum, doch nicht eingehend. Das griechische Menschentum habe "in seinem Verkehr mit den grolSen und schon hochkultivierten Nationen ihrer Umwelt" (Hua VI, 332) ein Staunen, das "0o~t~etv", entstehen lassen. Dies bezeichne die Stiftung der theoretischen Einstellung. "Das einsetzende theoretische Interesse als jenes 0tx~tdd~etv ist" deshalb "offenbar eine Abwandlung der Neugier, die im natfirlichen Leben ihre ursprtingliche Stelle hat". "So [theoretisch] einge- stellt, betrachtet er [der Grieche] vor allem die Mannigfaltigkeit der Nationen, die eigenen und die fremden". Dadurch habe er die Relativit~t seiner bisherigen Wahrheit und Welt entdeckt und, derart motiviert, in besonderer Einstellung die Intention ausgebildet, nach einer allgemein- gfiltigen "Wahrheit an sich" und einem "WeltaU" zu fragen. Dies sei "die neue Frage nach der Wahrheit; also nicht der traditioneU gebundenen AUtagswahrheit, sondem einer fiir alle von der Traditionalit~it nicht mehr Geblendeten identischen allgemeingfiltigen Wahrheit, einer Wahrheit an sich". M.a.W., es sei dies eine Frage nach der "allgemeinen Idee der Wahrheit an sich" (Hua VI, 334; Hervorhebung von mir), welche die Intention auf eine "universale Wissenschaft, Wissenschaft vom Weltall, von der Allhek alles Seienden" (Hua VI, 321; Hervorhebung von mir) mit sich f~ihrt. Das "geistige Gebilde", das auf diese Universalit~t hin tendiert, wurde "Philosophie" genannt (Hua VI, 321). Die Intention der Wahrheit an sich und des WeltaUs stelle den Ursprung der europaischen Wissenschaft oder europ~iischen Philosophie dar. Die europaische Philosophie tendiere zur "UniversaliSt"; die europaische Wissenschaft gehe vonder Entdeckung ihrer Sonderheit (Endlichkeit oder Relativit~t) zur Unendlichkeit oder Absolutheit fiber. Die transzendentale Struktur der Urheimat macht diese Motivation der Intention zur Thematisierung der Universalit~t zwar verstgtndlich, aber diese Intention entsteht nicht immer und tiberall, nicht in allen Menschengruppen. Jedenfalls wurde sie in Griechenland gebildet,

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abet dies kann nur "faktisch" (Hua VI, 331) verstanden werden. In diesem Sinne hat Griechenland bzw. Europa gewil] etwas Besonderes - aber ob wirklich nur Griechenland und Europa die Besonderheit aufweisen, kann ich, der ich in dieser Phase weder Historiker noch Geograph bin, nichttran- szendental-weltlich nicht feststellen.

Zumindest in Europa also entstand die Philosophie, und ihre Intention hat sich bis heute erhalten. DaB die transzendentale Urheimat Husserls Europa 16 war, ist nicht der Kritik wert; auch wenn seine Urheimat Ostasien w~e, wiirde das nicht die Kritik heransfordem, sondem stellte nur ein Faktum dar. Indessen hat Husserl die entsprechenden Begriff in doppeltem, in transzendentalem und in mundanem Sinne gebraucht. Er benutzt den Begriff 'Europa' sowohl ftir die transzendentale Urheimat als auch fiir seine weltliche Heimwelt. Einige Kritiker 17 sind nun der Auffassung, dab Husserl damit die weltlichen Nichteurop~ier diskrirniniert habe; so z.B. wenn er schreibt: "die Eskimos oder Indianer der Jahrmarktsmenagerien oder Zigeuner, die dauemd in Europa herumvagabundieren" (Hua VI, 318-319) geh6rten nicht zu "Europa", oder wenn er fiber die Papua sagt: "in diesem weiten Sinne [als vemfinftiges Lebewesen] ist auch der Papua Mensch und nicht Tier [...] Aber [nur] so wie der Mensch und selbst der Papua eine neue Stufe der Animalit/it, gegeniiber dem Tier niimlich, darstellt" (Hua VI, 337-338). In diesen S/itzen sehen Kritiker Husserls eine Rassendis- kriminierung infolge einer Priviligierung Europas und der europiiischen Vemunft. Husserl spricht nun aber auch vonder "Geschichte des Entwer- dens des endlichen Menschentums im Werden zum Menschentum un- endlicher Aufgaben" (Hua VI, 325). Takahashi deutet dieses Wort vom "Entwerden des endlichen Menschentums" als ein Verschwinden oder Vemichten des AuBereurop/iischen, also als eine Art Holocanst der anderen Kulturen. Diese Deutung scheint mir naiv zu sein. Aber auch bei Husserl gibt es eine Naivit~t, eine "transzendentale Naivit/it" oder besser eine "enttranszendentalisierte Naivitiit"; und wenn er sagt: "Der Weg der Philosophie geht fiber die Naivit~t" (Hua VI, 339), so mul3 auch sein eigenes Denken an diesem Satz gemessen werden. Diese hier behauptete Naivit/it Husserls und seines Kritikers soil jetzt tiberpriift werden.

5. Die Teleologie der europfiischen Vernunft und ihre innere Kritik - die Struktur der sprachlichen Wiederverweltlichung

Nichttranszendental-weltlich gesehen ist Europa nur ein Teil des Weltalls. Takahashi behauptet, dab Husserl entgegen dieser Tatsache in seiner Diskussion der Europiiisierung Europa privilegiert und universalisiert habe und dab darin ein "kultureller Hochmut",ls ja eine "Gewalt der Vernunft 'q9

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liege, welche einen Willen zur Zerst6rung anderer Kulturen in sich verbirgt. Der Vorwurf des Hochmuts setzt seinerseits einen neutralen und

universalen Blickpunkt voraus: den des "Kosmopoliten" als "Kosmotheoros", 2° also einen standpunktlosen Gesichtspunkt. Wer k6nnte aber einen solchen besitzen? 21 Transzendental gesehen gibt es keinen Kosmopoliten von Natur aus, da dieser ja weder eine Urheimat noch einen urheimatgebundenen eigenen Gesichtpunkt h~itte. Ein standpunktfreier Gesichtspunkt, der sich von Anfang an aller Positionen enth~ilt, ist unmSglich. Das noematische Korrelat des standpunktfreien Gesichtspunkts oder Kosmopolitismus als einer noetischen Einstellung ist das Weltall als Idee (die Ausdrticke "noetisch" und "noematisch" in einem erweiterten Sinne benutzt). Das noematische Weltall ist nicht als etwas Reales gegeben, sondern ist nur eine Idee, die dem "kosmologischen" Lebensinteresse und der unendlichen "Aufgabe" im "Willen" der noetischen Einstellung entspricht (Hua VI, 326). In der Frage nach der transzendentalen Urheimat die Idee des Weltalls, die erst in der hi~herstufigen Konstimtion (oder besser Konstruktion) thematisiert wird, vorauszusetzen, ist indes eine Art "Verkehrtheit". 22 Die Begegnung mit einer Fremdheit vor der Thematisierung des Weltalls (also vor der Konstruktion eines homogenen Raumes) wird niemals in einem neutralen Blick erfagt, sondern ist von einer Stimmung des Staunens und der Ehrfurcht vor der unheimatlichen und unverst~,ndlichen Unheimlichkeit durchzogen. Bei der Begegnung mit dem Fremden ist Neutralit~t unm/Sglich. GewiB versucht die neuzeitliche europ~ische Naturwissenschaft den standpunktfreien Gesichtspunkt und die Idee des Weltalls mittels des Verfahrens der Idealisierung zu gewinnen. Aber dieser Versuch ist nicht wirklich Ausdruck einer standpuntkfreien Neutralit~t, sondern bleibt nur unendliche Aufgabe.

Wenn man, sich auf den Kosmopolitismus berufend, die Europ'aisierung im Sinne Husserls kritisiert, dann liegen dieser Kritik selbst Z~ige einer Teleologie der Vemunft zur Konstitution (oder besser Konstruktion) des Weltalls zugrunde. Der Kosmopolitismus ist ein noetisches Konstrukt derjenigen europaischen Teleologie der Vemunft, die die Thematisierung des Weltalls intendiert. Und auch der Wille der Kritiker, die "Wahrheit" der Teleologie Husseds (als Gewalt) zu enthtillen, ist paradoxerweise selbst vonder Intention auf "Wahrheit an sich" motiviert. Es enth/illt sich in der Kritik an der europ~iischen Vemunft gerade das absolute Durchsetzenwol- lender Teleologie der Vernunft und in der Kritik an der Sinnlosigkeit des Rationalismus "das Walten eines absoluten Sinnes" (Hua VI, 14). Kritik 23 wie Verteidigung des europ~iischen Rationalismus k/Snnen nicht augerhalb der Teleologie der Vemunft bestehen; diese ist nur innerhalb ihrer selbst zu kritisieren bzw. zu verteidigen, ein voUkommenes Sichabl/Ssen von ihr ist nicht m~Sglich. Gerade und mindestens in diesem Sinne ist Europa, das die

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Teleologie der Vemunft entstehen lieg, universal. Kann sich die Kritik an der Vemunft vom Einflug der Teleologie der

Vemunft auch nicht freihalten, so gibt es doch innerhalb dieser Teleologie eine Tiefe. Die Ph~tnomenologie, die diese Teleologie bewuflt und ausdriicklich akzeptiert, kann sich selbst dadurch kritisieren, daB sie diese Tiefe als ihren Spielraum findet. Sie kritisiert sich selbst innerhalb dieser Teleologie, und zwar im Bewugtsein der Unm6glichkeit, einen Standpunkt augerhalb dieser Teleologie einnehmen zu k6nnen.

Husserl hat schon vor dem Wiener Vortrag den transzendentalen Charakter der Urheimat betont. Trotzdem identifiziert er sie mit dem verweltlicht aufgefaBten Europa. Das ist eine Art "~xt~ao-t~", die wir nun kritisch betrachten wollen. Wir fragen: Entspringt dieses Identifizieren einer pers6nlichen Naivit~t Husserls als eines verweltlichten Menschen? Oder hat es seinen Grund in der inneren Struktur (bzw. in dem inneren Doppelcharak- ter) der transzendentalen Ph~inomenologie? Diese Frage ist eine Frage nach der Art des Ph~omenologisierens selbst und betrifft die transzendentale Methodenlehre der Ph~.nomenologie.

Eugen Fink sah in Husserl ein Genie der Analyse, das eine gigantische Vivisektion des BewuBtseins untemommen hat. Von der weltlichen Endkonstituiertheit ausgehend hat Husserl eine regressive Analyse der tran- szendentalen Dimension, die mit dem Pr~ifix "ur-" oder "vor-" bezeichnet ist, gegeben. Aber er hat die Ergebnisse seiner regressiven Analyse nicht "im Subjekt" (Hua VI, 367) belassen, sondem sie mit der Sprache enttran- szendentalisiert und (uneigentlich) wiederverweltlicht.

Takahashi sagt: "Philosophie ist Diskurs [...] Sie muB sich notwendig in der Welt, woes iiberall Gewalt gibt, verwirklichen". 24 Seiner Meinung nach habe Hussed von dieser wichtigen Rolle, die Philosophie in der Welt zu spielen hat, unberechtigterweise abgesehen. Diese Kritik hat insofern recht, als Husserl das Problem der Wiederverweltlichung der Ergebnisse seiner transzendentalen Analyse nicht eingehend genug bedacht hat. Er hat das Problem erkannt, es aber nicht so fief wie Fink analysiert, 25 geschweige denn die Gewalt der Wiederverweltlichung bedacht. In diesem Sinne kann Hussed durchaus kritisiert werden, denn mindestens in der Welt gibt es keine "unschuldige" Philosophie. Aber allem voran sollten wir fragen: Was ist iiberhaupt Widerverweltlichung?

Selbst eine transzendentale Philosophie muff von weltlichen Begriffen ausgehen; sie muB den regressiven Weg von der Endkonstituiertheit zu den Bedingungen der M6glichkeit beschreiten. Die Begriffe, die wir auf diesem Weg anwenden, sind keine anderen als die weltlichen. Husserl mul3 seine Urheimat mit dem weltlichen Begriff Europa benennen, aber das ist schon ein unangemessenes Einbringen eines weltlichen Begriffs in die tran- szendentale Dimension: Weltliche Begriffe k6nnen dem transzendental

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Vorliegenden nicht v611ig entsprechen. "Die konstitutiv vorgangigen Schichten [...] kSnnen prinzipiell nicht gefasst werden wie Endkonstituiertheiten". 26 Die transzendentalen "Sachen" sind immer "in standiger Rebellion ''27 gegen ihre mit dem mundanen Wortschatz und der mundanen Begriffsapparatur vorgenommene Auslegung. "Somit haben alle transzendentalen Explikationen eine eigentiimliche lnadtiquatheif'. 28 Wegen dieser Inad~iquatheit sah sich Husserl vor aUem in seiner Sp~ttzeit genStigt, jene neuen WSrter mit dem Prafix "ur-" oder "vor-" zu bilden. Doch auch diese W6rter kSnnen nur von den endkonstituierten weltlichen Begriffen aus verstanden werden; so wird "Urheimat" nur vom weltlichen Sinn yon "Heimat" her verstEndlich. Gewil3 "bestehen ganz bestimmte Affinitiitsrelationen zwischen den transzendentalen Sachverhalten und den jeweils mit dem naiven [...] Wortsinn der natiirlichen Ausdriicke bezeichneten Sachverhalten". 29 Diese Affinit~tsrelationen sind keine Beziehungen vonder Art der "natiidichen Analogie", die "'Seiendes mit Seienden" vergleicht. 30 "Die 'transzendentale Analogie des Bedeutens', die die gesamte ph~omenologische pr~idikative Explikation beherrscht, ist also keine innerhalb der natiadichen Rede mSgliche Analogie, sondem eine durch die ph~omenologische Reduktion erm6glichte Analogie zur Analogie innerhalb der nattirlichen Rede". 31 Die Verwendung weltlicher Begriffe fiir die Erfassung des Transzendentalen kann nur in der Weise einer solchen "Analogie zur Analogie" erfolgen. Dies w~'e nur dann zu umgehen, "wenn es eine eigene transzendentale Sprache geben kSnnte". 32

Es handelt sich dabei aber nicht nur um das sprachliche Benennen und Aussagen, denn: "Das Denken vollzieht sich von vomherein als sprachliches" (Hua XVII, 359). Wenn also das Denken iiberhaupt derart mit weltlichen Begriffen verschmolzen ist, m~issen wir selbst "im einsamen Seelenleben" (Hua XIX/1, 41) von ihnen Gebrauch machen. Wir kSnnen z.B. ohne den endkonstituierten Begriff "Sein" nichts denken, obwohl es in der transzendentalen Dimension nicht um Sein, sondern um Vorsein geht. Das transzendentale Denken ist schon weltlich verunreinigt.

Wir sahen, dab sich im genetisch-konstitutiven Prozel3, der vonde r Urheimat zur Heimwelt verl~iuft, die Ursingularit~t zu einer Singularit~t inmitten einer Pluralit~t verandert. Auf dem regressiv-analytischen Weg v o n d e r Heimwelt zuriick zur Urheimat ist diese ebensowenig rein freizulegen, auch hierbei erf'~ihrt sie eine Modifikation.

Beide Ver'~inderungen bergen in sich zwei Probleme. Erstens besitzt die Urheimat ein transzendentales Primat, sofem sie Ausgangspunkt aller hSherstufigen Konstitution ist. Aber im genetischen Prozefl zur Endkonstituiertheit wird dieses transzendentale Primat der Urheimat implizit-heimlich in die Heimwelt Europa eingebracht. Die Kritiker von Husserls Auffassung der Europ~iisierung spiiren genau die Gefahr dieser

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Identifizierung der transzendentalen Urheimat mit der weltlichen Heimwelt. Es muB jedoch gefragt werden, wie diese Identifizierung m/Sglich ist, wie trotz des Unterschieds der beiden Dimensionen diese Differenz iiberbriickt wird. In der weltlichen Dimension bleibt das transzendentale Ich nach Fink (und Hussed) "im Modus der Selbstverschlossenheit und Selbstvergessen- heit". 33 Wenn die "Selbstvergessenheit" aber Selbstvergessenheit im vollen Sinne ware, ktinnte das Ich das transzendentale Primat der Urheimat nicht in seine Heimwelt einbringen. Jedes Ich miaBte seine eigene Herkunft vollkommen vergessen, es ware ein heimat- und erinnerungsloser Kosmopolit. Wenn man aber selbst bei Husserl, der den "Sachen" treu sein wollte, einen Eurozentrismus feststellen kann, dann muB es eine Art "Selbstwissen" geben, das implizit-heimlich die transzendentale Urheimat- lichkeit und die weltliche Heimweltlichkeit des Ich identifizierend vermit- teIt.

Zweitens analysieren wir im regressiven (oder reflexiven) Prozefl, von der Dimension der Endkonstituiertheit ausgehend, die urspriinglichere, die transzendentale Dimension. Aber gerade dabei kommt es zu einer entscheidenden Ver'~derung: Wir miJssen mit weltlichen Begriffen die tran- szendentalen "Sachen" deuten. Aber wir werden auch dessen inne, dab dies eine Umdeutung ist und dab auch Vorsein als meontisches ein "Anders als Sein" (autrement qu'&re) ist. Wenn es dieses Innewerden oder Selbstwissen nicht g~ibe, lieBe sich der ganze Sachverhalt mit weltlichen Begriffen hinreichend deuten, und es wiirde auch gegen die Umdeutung nichts einzuwenden sein. Dieses eigenartige heimliche Innewerden oder Selbstwis- sen des Ich ist eine Art R6sistance gegen die regressiv-reflexive Umdeutung der Transzendentali~'t (die R6sistance entspringt schlieBlich meist der gleichen Wurzel wie der Nationalismus).

So begleiten der genetisch-konstitutive und der regressiv-reflexive ProzeB das heimliche und doppelvermittelnde Selbstwissen. Das Primat unserer jeweiligen sowohl historischen wie geographischen Gegenwart wird durch dieses Selbstwissen gestiitzt.

Erst die Selbstkritik der Vernunft und die transzendentale Methodenlehre entdecken dieses heimliche Selbstwissen. Sie liefern damit einen Hinweis fiir die richtige Deutung der ph~.nomenologischen Rede. Philosophie ist gewiB Diskurs, und sie muB sich in der Welt, in der es iiberall Gewalt gibt, verweltlichen. Aber alter Diskurs der Philosophie daft nicht nur weltlich gedeutet werden, denn zumindest die S~itze fiber die ph~omenologische Reduktion, mithin die phanomenologisch-transzendentalen S~itze iJberhaupt, sofern sie im Vollzug der Reduktion gewonnen werden, sind "imperative Hinweisungen auf nur im Selbstvollzug [der transzendentalen Reduktion] begreifbare Erkenntnishandlung von einer niegekannten Radikalit~t". 34 Demnach miissen sie aber auch selbstkritisch gelesen werden.

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6. Homogenisierung des Weltraumes

Unsere Urheimat besitzt das transzendentale Primat. Aber wir bringen sie heimlich in die Heimwelt ein, vertauschen das transzendentale mit einem empirischen Primat. Wir als weltliche Einwohner der Heimwelt deuten mit unseren kulturgebundenen Begriffen dann aber auch die Fremdwelt um. Das ist sozusagen ein "kolonialistischer" Akt der Auslegung: Fremde Kultur sei niedriger und primitiver als jeweils unsere, z.B. die europaische, und soil deshalb in unserem Sinne verandert, europ~iisiert werden. In diesem Fall trifft der obengenannte Vorwurf v o n d e r Gewalt der Europ~iisierung zu. Was motiviert aber diese kolonialistische Umdeutung?

Das Fremde ist am Anfang der Konstitution, w o es uns als Einwohnern der Urheimat begegnet, unverst~_ndlich und unheimlich. Trotzdem wollen wir uns nicht von ihm entfemen, sondem es kolonialistisch umdeuten. Doch worin liegt die Motivation f'tir diese Umbestimmung? Beruht sie nicht in der Homogenisierung des Raumes auf einer h6heren Stufe, d.h. in der konstruktiven Thematisierung des Weltalls? Wenn die Fremdwelt ein ganz heterogener Raum ware, bliebe sie sozusagen "jenseits der Umdeutung", gleichermal3en als ein Bereich des Erhabenen. Auf diese Weise wiirde ihre bewu6te Umdeutung jedoch nicht motiviert, h6chstens wiirde sie in einer Stimmung des Staunens und der Ehrfurcht erblickt. Die Doppelthemati- sierung bei der Begegnung beider Welten ist selbst noch keine koloniali- stische Umdeutung und fiihrt noch keinen Gewaltakt mit sich. Wenn aber das allumfassende Weltall als ein homogener Raum konstruiert wird, dann wird die Fremdwelt, die jetzt zum Teil des homogenen Raumes wird, grundsatzlich homogen gedeutet. Liegt in dieser Homogenisierung nicht der Grund fiir die kolonialistische Umdeutung? 35 (Der Kosmopolitismus, der dem homogenen Weltall noetisch entspricht, ist dann insofern gef~ihrlich, als er der heterogenen Fremdwelt kein Eigenrecht gestattet.) Diese Homogenisierung ist aber eine h6herstufige Konst.ruktion, mit der sich die ph~inomenologische Forschung bisher nicht befal3t hat. Die zitierte Kritik an Husserl fordert jedoch geradewegs dazu auf.

Die ph~omenologischen Texte, die vom Standpunkt der "Analogie zur Analogie" aus verfaBt sind, erlauben verschiedene Deutungen. "Es ist daher ganz unm/Sglich, ph~omenologisch 'definieren' zu wollen, pr~idikative Grundbegriffe und Bedeutungen festlegen zu wollen, die ein fiir allemal feststehen sollen. ''36 Gerade deshalb ist die Ph~inomenologie auch der genannten Kritik gegentiber often. Diese deutet jene aber nur weltlich. Diese Deutung halte ich fiir naiv, und zwar naiv im ph~inomenologischen Sinn. Aber die Kritik hat zum Teil recht. Die bisherige Ph~inomenologie war gleichfalls naiv. Sie denkt das Problem der Homogenisierung als Konstruktion nicht tief genug. Somit fordert die Kritik den Fortschritt der

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phanomenologischen Reflexion heraus: Jene Konstruktion muB als ein auszulegendes Ph/inomen eingeholt und gleichzeitig das besondere Inter- esse der Ph/inomenologie deutlich gemacht werden.

Unsere jeweilige Gegenwart wohnt zuerst in der transzendentalen Urheimat und ist darin vor dem sogleich als unheimlich konstituierten DrauBen hinf'~illigerweise geschiitzt; hirffalligerweise, weil es keine endgfiltig festgelegte Grenze zwischen beiden gibt. Wenn unsere Gegen- wart in der Urheimat die wirkliche Begegnung mit dem DrauBen erf'~ihrt, dann erscheint dieses einerseits als "unheimliche Fremdwelt", und anderer- seits veriindert diese Begegnung die Urheimat heimlich zur thematischen Heimwelt. Gleichzeitig konstituiert sich das Weltall; es umfaBt die Fremdwelt wie Heimwelt, bleibt aber als solches zun~ichst unthematisch. Doch (nur) Griechenland bzw. Europa wollten es thematisieren und konstruierten es als einen homogenen Raum: eine "Homogenisierung", obgleich das Weltall eigentlich immerzu Idee bleibt. Unsere Gegenwart in der Heimwelt, die sich das transzendentale Primat der Urheimat heimlich verliehen hat, deutet dann unter dem Namen des Primats im homogenen Raum die Fremdwelt kolonialistisch urn. Unsere tats~ichliche Gegenwart liegt also zwischen einer Vulnerabilit~it des Vorseins, das stets unter der Hinf'~illigkeit seiner Geschfitztheit in der Urheimat leidet, und einer Gewalt des Seins, das die Fremdwelt kolonialistisch umzudeuten sucht. 37 Deshalb k6nnen wir jetzt sagen: Das Inter-esse der Ph~omenologie, die sieh innerhalb unserer faktischen Gegenwart vollzieht, liegt gleichfalls zwischen dem Vorsein und dem Sein. Eine der zentralen Aufgaben der Phanomenologie muB daher die Frage nach diesem Zwischen sein.

Anmerkungen

1. Vgl. z.B. Toru Ito, "Die Abwesenheit des Anderen" (japanischer Titel "Tasha no fuzai") Shiso Nr. 798 (Tokyo: Iwanami-Verlag, Dez. 1990), S. 52ff.

2. Vgl. z.B. die knappe, aber scharfe und bedeutsame Kritik von Jacques Derrida in der Anmerkung 2 zu VII in De l'esprit (Paris: ~titions Galil6e, 1987); Tetsuya Takahashi, "Geschichte, Vemunft, Gewalt" (japanischer Titel "Rekishi, Risei, B6ryoku") in Sabetsu (Tokyo: Iwanami-Verlag, 1990), S. lff. Obwohl beide Kritiken grunds~itzlich in die gleiche Richtung zielen, hat Takahashi, unter dem EinfluB von Derrida, dessen Kritik an Husserl ausfiihrlicher entwickelt. Deshalb werde ich im vorliegenden Aufsatz mich auf die Diskussion der Thesen Takahashis beschr~inken. Er behauptet, Husserls Thematisierung der Geschichte in seiner Sp~itzeit sei dadurch motiviert, dab er vonder Gewalt der Geschichte (d.h. der Nazis) getroffen wurde. Husserl habe versucht, der unvernfinftigen Gewalt seine Auffassung der europ/iischen Vernunft gegeniiberzustellen. Doch seine Auffassung habe selbst eine Diskriminierung solcher Menschengruppen impliziert, die dem MaBstab der europ~iischen Vernunft nicht entsprechen: Zigeuner, Indianer, Papua usw. Darin sieht Takahashi eine "Gewalt der Vernunft", die im Grunde mit der

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Gewalt der Nazis verwandt sei. Vgl. auch Elmar Holenstein, "Europa und die Menschheit. Zu Husserls kulturphilosophischen Meditationen" in Phanomeno- logie im Widerstreit, hrsg. yon CEristoph Jamme u. Otto P~Sggeler (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989), S. 40ft. Holensteins Kritik lautet ganz anders als die yon Derrida, ist in unserem Zusammenhang aber gleichfaUs von Bedeutung.

3. "Die Krisis des europaischen Menschentums und die Philosophic" (7. und 10. Mai 1935), Hua VI, 314ff.

4. Der Begriff "Urheimat" stammt aus dem NachlaBmanuskript "Umsturz der kopernikanischen Lehre" vom 7.-9. Mai 1934 (ver0ffentlicht in Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, New York: Greenwood Press, 1968, S. 307ff). Das Wort "Urheimat" erscheint nur auf S. 319, aber es ist meiner Meinung nach sehr zentral. Es steht in engem Zusammenhang mit den Begriffen "Urheimst~tte", "Urvolk", "Urhistorie" usw. Die Begriffe "Heimwelt" und "Fremdwelt" (oder "fremde Welt") finden sich in Hua XV in den Texten Nr. 27, 35 und den Beilagen XI, XII, XXVII, XLVIII. Den Begriff "WeltaU" entnehme ich vor allem aus Husserls Wiener Vortrag.

Es sei noch auf ein philologisches Problem aufmerksam gemacht: In einer FaBnote im Text Nr. 35 (1933) unterscheidet Husserl zwischen der "Ersten Ph~inomenologie", die sich mit dem "Seienden" besch~iftigt, und der "tiefen Schicht der Ph~inomenologie", die sich mit dem "Vorseienden" befaBt, under betont, ~ es ihm haupts~ichlieh um erstere gehe (vgl. aueh die betreffende textkritische Anmerkung auf S. 733). Die erstere entspricht meiner Meinung nach der Analyse der Heimwelt, die letztere der Analyse der Urheimat. Abet erst im Jahre 1933 unterscheidet Hussed diese beiden Begriffe expressis verbis. Das deutet darauf hin, dab sic in den friiheren Texten (vor allem im Text Nr. 27 von 1931/32) miteinander verwechselt wurden. Erst die 1932 entstandene VI. Cartesianische Meditation Eugen Finks (Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, hrsg. yon Hans Ebeling, Jann Holl und Guy van Kerckhoven, 1988) hat den Unterschied zwischen "Sein" und "Vorsein" klar herausgearbeitet (vgl. Hua XV, S. LXII und VI. Cartesianische Meditation, S. X). Deshalb glaube ich, dab die Analysen im Text Nr. 27 zum Teil korrelativ zum Begriff der Urheimat verstanden werden k6nnen, obwohl hier dieser Begriff, den Husserl erst im Jahre 1934 benutzt, in ihnen nicht auftritt.

Vgl. auch den aufschlul3reichen Aufsatz yon Klaus Held "Le monde natal, le monde 6tranger, le monde un" (ins Franz6sische iibersetzt, in Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers, 1990), S. lff.

5. Klaus Held, Lebendige Gegenwart (Den Hang: Martinus Nijhoff, 1966), S. 26. 6. Husserl, "Umsturz der kopernikanischen Lehre", S. 320/323. 7. Fink, VL Cartesianische Meditation, Teil 1, S. 83. Fink benutzt den Begriff

"Konstruktion" in seinem Sinne. Im vorliegenden Aufsatz verwende ich diesen Begriff dagegen im Sinne Husseds, der damit auf einen standpunktlosen (kosmo-polifischen) Gesichtpunkt und eine entspreehende Einstellung hinweist. "Man sehe sich doch nur die Ph~omene selbst an, statt von oben her fiber sic zu reden und zu konstruieren" (Hua II, 60; Hervorhebung von mir). Der Begriff"Konstruktion" bezieht sich auf die standpunktlose H6he.

8. Husserl, "Umsturz der kopernikanischen Lehre", S. 313/314. 9. "[...], so knapp sie [die n~ere Erl~uterungen] auch gehalten sein miissen,

[...]" (Hua VI, 321).

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10. Wie schon zitiert, ist "das historisch an sich erste" nach Hussed unsere Gegenwart. Der zitierte Satz stammt aus dem Jahr 1936. Aber schon 1931/32 betont er das geographisch an sich Erste als "die fiir mich, far uns [...] 'an sich Erste', v/~lkisch-primordiale Umwelt". Sie ist, wie mir scheint, nichts anderes als die "Urheimat".

11. Husserl ed~iutert diese Mfglichkeit der Erweiterung an verschiedenen Stellen. In der folgenden Textstelle spdcht er eigentlich von tier Erde ("Erdboden"), aber es kann dies auch auf die Urheimat bezogen werden: "Es ist aber auch m6glich, dass der Erdboden sich erweitert" ("Umsturz", S. 318). Vgl. auch Hua XV, 430 (Text Nr. 27).

12. Husserl sagt: "Freilich, aUes noch so Fremde, noch so Unversttindliche hat einen Kern der Bekanntheit, ohne das es iiberhaupt nicht, auch nicht als Fremdes, effahren werden k6nnte" (Hua XV, 342). Heute wird oft die Unverst~ndlichkeit des Anderen betont: "'Wird der Andere [oder der Fremde] aber nicht eben durch diese Unverstiindlichkeit selbst, ihn nicht 'an sich' wissen [oder kennen] zu kOnnen, definiert?" (Takahashi, ibid., S. 61). Aber zumindest in der Dimension des "Seins" oder der "End-konstituiertheit" ist Husserls Behauptung gtiltig. Alles endkonstituierte 8eiende "ist" schon in irgendeinen vorher bekannten Sinnesrafirnen eingebracht. Bei diesem Einbrin- gen verdr~gen wir die urspdingliche Fremdheit und erfahren nur die schon in die Bekanntheit gebrachte Fremdheit. DaB wit die urspriingliche Fremdheit als solche nicht erfahren kiSnnen, bedeutet aber nicht, dab sie als solche ohne Belang w~e. Vielmehr ist damit ein wichtiges Problem bezeichnet (vgl. auch Anm. 13).

Natarlich ist es auch bedeutsam zu fragen, was denn der Kern der Bekannt- heit sei. Husserl hat diesbeztiglich anfangs von etwas Dinglichem im naturalis- tischen Sinne und sptiter von etwas Typischem gesprochen. Aber dieses Problem ist im Vergleich zu dem des Unterschieds zwischen den Dimensionen des Seins und des Vorseins sekundgtr, denn w~trend das erstere nur zur Dimension des Seins geh5rt, betfifft das letztere das "Zwischen" beider Dimensionen, dem das Hauptinteresse der Phtinomenologie gilt (vgl. auch Anm. 34).

13. Freud ist der Auffassung, daB das "Un-" der "Unheimlichkeit" eine Marke der Verdr~gung der altvertrauten "Heimlichkeit" im etymologischen Sinne ist (vgl. Sigmund Freud, "Das Unheimliche" in Gesammelte Werke, London: Imago Publishing Co., Ltd., 1947, S. 259). Demgegeniiber scheint mix, dab die Konstitution der Heimlichkeit selbst, die erst vonder Begegnung mit der Fremdwelt motiviert wird, schon eine Art Verdrtingung darstellt und daB also auch die Heimlichkeit der singularisierten Heimwelt eine Marke der Verdr~ngung ist. Als wirklich urspriinglich akzeptiere ich darum nicht die Heimlichkeit der Heimwelt, sondern die Urheimlichkeit der Urheimat. Wir verdr~gen also diese Urheimlichkeit.

Heidegger iibersetzt das griechische Wort "~tv6v" durch "un-heimlich" und versteht es als "jenes, das aus dem 'Heimlichen', d.h. Heimischen, Gewohnten, Geliiufigen, Ungef'~hrdeten herauswirft" (vgl. Einfiihrung in die Metaphysik, Tiibingen: Max Niemeyer Verlag, 1953, S. 115f). "Der Mensch ist" seiner Deutung nach "das Unheimlichste, weil er nicht nur inmitten des so verstandenen Unheimlichen sein Wesen verbirgt, sondern weil er aus seinen zuntichst und zumeist gewohnten, heimischen Grenzen des Heimischen herauslxitt, ausriickt, weil er als der Gewaltttitige die Grenze des Heimischen

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iaberschreitet, und zwar gerade in der Richtung auf das Unheimliche im Sinne des Oberwaltigenden". Wer ist aber "der Mensch"? Ist er, zumindest in unserem Zusammenhang, nieht "Kosmopolit", sofern dieser als der homogenisierende Gewalt-~'tige die unheimliehe Fremdwelt kolonialistisch umdeuten will?

14. Hier sprieht Husserl yon einer unthematischen, aber als universaler Horizont gegebenen Welt. Ob diese Welt das Weltall oder die Heimwelt ist, wird dabei nicht klar. K. Held deutet sie als Heimwelt (vgl. K. Held, "Husserls These von der Europ~iisierung der Menschheit", in Phanomenologie im Widerstreit, hrsg. yon Christoph Jamme und Otto P/Sggeler, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 20). Aber aueh wenn sie die Heimwelt ist, mu6 das Weltall als eine durch die Heimwelt hindurch in h6herer Konstitution zu konstituierende Idee zuniichst, n~nlich vor der Thematisierung, unthematisch sein.

Nun gibt es noch eine andere M/Sglichkeit der Thematisierung der Welt in einer natiJdichen EinsteUung: die praktisehe oder mythiseh-religi6se Einstel- lung. "Mythisch-religiOse Einstellung besteht nun darin, dab die Welt als Totali~'t thematisch, und zwar praktisch thematisch wird" (Hua VI, 330). Aber nicht in ihr, sondern erst in der theoretischen Einstellung wird der Mensch "zum unbeteiligten Zusehauer, 0-berschauer der Welt" (Hua VI, 331): zum kosmopolitischen Kosrnotheoros. Das Weltall als allumfassender homogener Raum ist ein noematisches Korrelat des noetischen Kosmopolitismus. Der Thematisierung der Welt in der praktischen Einstellung fehlt dieser Kos- mopolitismus. Die in der praktischen Einstellung thematisierte Welt ist nur "die in der betreffenden Menschheit (etwa Nation) konkret-traditional geltende" (Hua VI, 330), also nicht die unendliche, homogen allumfassende. Im vorliegenden Aufsatz stelle ieh den Kosmopolitismus in Frage, weshalb ich das Problem der Thematisierung der Welt in der praktischen Einstellung nicht behandle.

15. Husserl sagt: "Natiirlich hat der Einbruch der theoretischen Einstellung, wie flies historisch Gewordene, seine faktische Motivation im konkreten Zusam- menhang geschichtlichen Geschehens" (Hua VI, 331; Hervorhebung von mir). Ober diese faktische Motivation sagt er nicht viel. Nach Held kann die jonische "historiC" als ein faktisches Beispiel dieser Motivation bezeichnet werden (vgl. K. Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang der Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1980, S. 73ff.).

Im iibrigen w~re noch zu kl~ren, was das Faktische im ph~.nomenologischen Sinne ausmacht. Diese Problematik kann hier)edoch nicht behandelt werden.

16. Genau gesagt kann die Urheimat erst im Ubergang in die Dimension der Endkonstituiertheit als "Europa" bezeichnet werden. Wenn das Wort "Europa" trotzdem schon in der Dimension des Vorseins benutzt wird, ist dies problematisch.

17. Den-ida und Takahashi. Vgl. Anm. 2. 18. Takahashi, "Geschichte, Vernunfl, Gewalt", S. 49 und S. 54. 19. Takahashi, ibid., S. 36. 20. Der Begriff "Kosmotheoros" ist entnommen aus M. Merleau-Ponty, Le visible

et l'invisible (Pads: l~xlitions Gallimard, 1964), S. 152 und S. 280. Auch Den'ida beriihrt das Problem des Kosmopolitismus (vgl. "La main de Heideg- ger [Geschlecht II]" in Psychd [Paris: Editions Galil6e, 1987], S. 417).

21. "Die Erde kann ebensowenig ihren Sinn als 'Urheimst~tte', als Arch6 der Welt verlieren, als mein Leib seinen ganz einzigen Seinssinn verlieren kann als

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Urleib, von dem jeder Leib einen Teil seines Seinssinnes ableitet" ("Umsturz der koperkanischen Lehre", S. 323). Diese Beziehung zwischen der endkonstituierten "Erde" als Erdkugel und als "Urheimst~tte" (und zwischen endkonstituiertem "meinen Leib" und dem "Urleib") liiuft parallel zur Beziehung zwischen "Europa" und der "Urheimat". Die Endkonstituiertheit kann sozusagen ihren Ursinn nicht verlieren. Europa kann seinen Ursinn als Urheimat fiir Europiier nicht verlieren.

Wie verh~lt es sich nun bei Nomaden? Sie sind indessen ebensowenig von Natur aus Kosmopoliten. Bei ihnen gibt es auch etwas Urheimatliches: z.B. ihre Sprache, Habitualit~it usw. "Im Wechsel der Heimstiitten verbleibt allgemein gesprochen dies, [...] dab jedes Ich eine Urheimat hat" ("Umsturz der koperkanischen Lehre", S. 319). Husserl spricht von einer "Verkehrtheit": "ira voraus unbemerkt die naturalis- tische, d ie herrschende Weltauffassung vorauszusetzen, [...] die [tran- szendentale] Ausbildung der Wissenschaft und Weltinterpretation anzusehen als ein selbstverst~ndlich zuf~illiges Geschehen auf der Erde" ("Umsturz der koperkanischen Lehre", S. 323). Selbst der "Geist fTeier Kritik" gehiSrt zur Teleologie der Vemunft (Hua VI, 336). Takahashi, "Geschichte, Vernunft, Gewalt", S. 3-5. Beim Eugen Fink Symposium 1989 in Freiburg hat Hans Rainer Sepp den Unterschied zwischen der linearen Wiederverwelflichung im Sinne Husserls und der kreisenden im Sinne Finks klar hervorgehoben. Fink VI. Cartesianische Meditation, S. 137. Fink ibid., S. 98. Fink ibid., S. 98. Fink ibid., S. 105. Fink ibid., S. 99. Fink ibid., S. 100. Fink ibid., S. 93. Fink ibid., S. 15. Fink ibid., S. 124. In dem in Anm. 12 zitierten Nachlabmanuskript hat Husserl den "Kern" der Bekanntheit als "Raumding iiberhaupt" bestimmt. Wenn das "Raumding iiberhaupt" aber das Ding im homogenisierten Raum ist, belegt diese Bestim- mung ein naturalistisches Vorurteil Husserls. Dieses Vorurteil bildet auch einen strittigen Punkt der V. Cartesianischen Meditation. Das "Raumding tiberhaupt" als der "Kern" (der "Erscheinung") der Bekanntheit mug eigentlich etwas Heimweltlieh-Typisehes sein. Fink, VI. Cartesianische Meditation, S. 102. Ich weise auf die Gefahr jener kolonialistischen Umdeutung der Anderen und der fremden Kulturen iiberhaupt hin, die yon der Homogenisierung des Weltraumes motiviert ist. Doch unser Weltraum ist heute schon homogenisiert (mindestens als homogen vorgestellt). In diesem Raum begegnen uns die fremden Kulturen jeden Tag. Wir sind in der Tat gezwungen, sie zu verstehen. Wir deuten sie, ohne sie eben als solche anzuerkennen, fast immer und fast notwendig kolonialistiseh, weil wir schon vonder Teleologie der Vernunft umgriffen sind. Wenn diese Teleologie im Zeitalter der Homogenisierung eine Gewalt impliziert, k0nnen wir vielleicht nur unserer kolonialistischen Tendenz bewugt werden.