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/~ to-Ai f me1.)J~eYJSTJK Internationale Zeitschrift für interdisziplinare Mittelalterforschung Herausgegeben von Peter Dinzelbacher Bandl3 ·2000 PETER LANG Frankfurt am Main . Berlin . Bern . Bruxelles· New York· Oxford . Wien )( / /~JA

Herausgegebenvon Peter Dinzelbacher Bandl3 ·2000 · 3 Ananda K. Coomaraswamy, Time and Eternity (Artibus Asiae, Supplementum VIII), Ascona (CH) 1947, 105-140; Oscar Cullmann, Christus

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me1.)J~eYJSTJKInternationale Zeitschrift für interdisziplinare Mittelalterforschung

Herausgegeben von Peter Dinzelbacher

Bandl3 ·2000

•PETER LANGFrankfurt am Main . Berlin . Bern . Bruxelles· New York· Oxford . Wien

)( / /~JA

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Werner Telesko

"Quid est ergo 'tempus'?"*Überlegungen zu den Verbindungslinien zwischenZeitbegriff, Heilsgeschichte und Typologie in der

christlichen Kunst des Hochmittelalters

"Nihil innovetur, nisi quod traditum est" I. Dieses berühmte und eigentlich auf dasVerbot jeder Wiedertaufe bezogene Diktum Papst Stephans I. (254-257) wird häufigauf die Traditionsbindung des Mittelalters im allgemeinen und der mittelalterlichenKunst im besonderen bezogen. Die Suche nach Archetypen, das Festhalten an Tradi-tionen und die möglichst große Annäherung an ein vorgegebenes Ideal waren nichtnur für die Weitergabe der Typen von Kultbildem die gültigen Kriterien. DieBegriffe "Kontinuität" und "Tradition" dürfen überhaupt als Wesensmerkmale christ-lichen Denkens bezeichnet werden. Eine Erfüllung dieser Kontinuität im Ablauf derGeschichte bezieht immer auch die Zeitdimension mit ein: "Die Fülle des Sinnes istSache einer zeitliehen Erfüllung,,2 (K. Löwith).

* "Quid est ergo 'tempus'? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim,nescio" (Augustinus, Confessiones XI, 14); zu dem mit dieser berühmten Fragestellungverknüpften Themenbereich, vgl. Corradini (Anm. 33), 24-36.Die vorliegende Untersuchung versteht sich vor allem als kunsthistorischer Beitragzum Problemfeld "Zeit und Erzählung im Hochmittelalter". Es ist dem Verfasserbewußt, daß viele der in den folgenden Ausführungen angeschnittenen Fragestellungenin grundlegender Weise auch andere Disziplinen berühren und deshalb kein vollständi-ger Überblick über sämtliche aktuellen Forschungsdiskussionen gegeben werden kann.Franz Joseph Dölger, "Nihil innovetur, nisi quod traditum est." - Ein Grundsatz derKulttradition in der römischen Kirche, in: ders., Antike und Christentum. Kultur- undreligionsgeschichtliche Studien, Bd. I, MünsterlW. 1929 (Reprint ebd. 21974), 79f.;vgl. Johannes Spörl, Das Alte und das Neue im Mittelalter. Studien zum Problem desmittelalterlichen Fortschrittbewußtseins, in: Historisches Jahrbuch im Auftrage derGörres-Gesellschaft 50 (1930), 297-341 und 498-524, bes. 299; ders., GrundformenhochmitteJalterlicher Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichts-schreiber des 12. Jahrhunderts, München 1935 (Reprint Darmstadt 1968),30 (zur Beto-nung des Fortschritts und des "Neuen" bzw. zur Kritik an der durch das Alter geheilig-ten Tradition bei Anselm von Havelberg); Gerhart Burian Ladner, Reform: Innovationand Tradition in Medieval Christendom, in: Gustav E. von Grunebaum (Hg.), Theologyand Law in Islam (Giorgio Levi della Vida biennial Conference 2), Wiesbaden 1971,53-73, wiederabgedruckt in: ders., Images and Ideas. Selected Studies in History andArt, Bd. II (Storia e Letteratura, Raccolta di Studi e Testi 156), Roma 1983, 534-558,bes. 547f.; Herbert L. Kessler, On the State of Medieval Art History, in: The Art Bulle-tin 70 (1988), Nr. 2, 166-187, bes. 182f.

2 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in: Anteile. Martin Heidegger zum

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Jüdische und christliche Geschichte ist im Gegensatz zum antiken Denken grund-

sätzlich linear und nicht zyklisch konzipiert und besitzt einen Anfang und ein Ende3.

60. Geburtstag, FrankfurtlM. 1950, 106-153; ders., Weltgeschichte und Heilsgesche-hen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (Urban-Bücher 2),Stuttgart 21953 (ebd. 81990) [Chicago 11949], 15, wiederabgedruckt in: Klaus Stich-weh und Mare B. de Launay (Hg.), Karl Löwith - Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart1983,7-239; vgl. auch: Wolfgang Kemp, Christliche Kunst: Ihre Anfänge - ihre Struk-turen, München 1994,223; zur Problematik des Begriffs "Säkularisation" grundlegend:Friedrich Gegarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung alstheologisches Problem, Stuttgart 1953, 99-117; Hermann Lübbe, Säkularisierung.Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg/Bi-München 1965; Ulrich Ruh,Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes inder modemen Geistesgeschichte (Freiburger theologische Studien 119), FreiburgIB.-Basel-Wien 1980; Wolfbart Pannenberg, Christentum in einer säkularisierten Welt.Freiburg/B.-Basel-Wien 1988; Hans Blumenberg. Die Legitimität der Neuzeit. Erneu-erte Ausgabe, Frankfurt/M. 1996 (ebd. 11966), 35-45; Karl Löwith, Besprechung desBuches "Die Legitimität der Neuzeit" von Hans Blumenberg, in: Philosophische Rund-schau 15 (1968),195-201, wiederabgedruckt in: Stichweh I de Launay ebd., 452-459.

3 Ananda K. Coomaraswamy, Time and Eternity (Artibus Asiae, Supplementum VIII),Ascona (CH) 1947, 105-140; Oscar Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristlicheZeit- und Geschichtsauffassung, Zollikon-Zürich 1948 (Zollikon '1946), 43-52;Etienne Gilson, Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, deutsehe Fassung von Rai-nulf Schmücker, Wien 1950 (frz. Paris 1932 [Gifford Lectures]), 418-422; Gilles Qui-spei, Zeit und Geschichte im antiken Christentum, in: Eranos-Jahrbuch 20 (1951), 115-140, bes. 129f.; Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiö-sen, Hamburg 1957,65-67; Hans Urs von Balthasar, Das Ganze im Fragment. Aspekteder Geschichtstheologie, Einsiedein 1963, 132; Jacques Le Goff, Zeit der Kirche undZeit des Händlers im Mittelalter, in: Mare Bloch, Ferdinand BraudeI, Lucien Febvreu.a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignunghistorischer Prozesse, hg. von Claudia Honegger, FrankfurtlM. 1977 (frz. Paris 1976),393-414, bes. 394-396; Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zweitbe-wußtseins in Europa, Wiesbaden 21980,77; Kemp ebd., 75; Mircea Eliade, Ewige Bil-der und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik (Mircea Eliade, GesammelteWerke in Einzelausgaben 4), FrankfurtlM.-Leipzig 1998 (frz. Paris 11952), I85f.; kri-tisch zu dieser These: Friedrich Vittinghoff, Christliche und nichtchristliche Anschau-ungsmodelle, in: Alexander Randa (Hg.), Mensch und Weltgeschichte. Zur Geschichteder Universalgeschichtsschreibung (Internationales Forschungszentrum für Grundfra-gen der Wissenschaften Salzburg, 7. Forschungsgespräch), Salzburg-München 1969,19-27, bes. 27; Horst Günther, Zeit der Geschichte. Welterfahrung und Zeitkategorienin der Geschichtsphilosophie, FrankfurtIM. 1993, 36f., 65f.; Arnaldo Momigliano, Zeitin der antiken Geschichtsschreibung, in: ders., Wege in die Alte Welt, FrankfurtlM.1995 (ital. Roma '1955), 49-81; Günter Dux. Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwick-lungslogik vom Mythos zur Weltzeit, FrankfurtlM. 21998. 327-331; Jacques Le Goff,Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1999 (ital. Torino 11977), 185f. Arnold Angenendt,Die liturgische Zeit: zyklisch und linear, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Hochmittelal-terliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, Berlin1998, 101-115 differenzierte innerhalb der "liturgischen Zeit" zwischen dem "circulus

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In ihr ist im Gegensatz zur aristotelisch verstandenen Gegenwart als kreisende - sichendlos wiederholende - Ewigkeit'[ eine Richtung und ein Sinn gegeben. Bereits Ori-genes erwiderte Celsus in charakteristischer Weise, daß Christus den "natürlichenKreislauf einmal für immer durchbrochen habe,,5. Die Geschichte wird dergestaltakzentuiert durch die "kairoi" der "göttlichen Ereignisfolge" oder "Heilslinie,,6, dieirreversible Konsequenzen hinterlassen. Die Ereignisse dieser "Heilslinie", die dasHeilsgeschehen formulieren, setzen sich deutlich von der Konzeption der "historiae"antiker Historiker ab, die keine einheitliche "Geschichte" kennt. Nur in der jüdisch-christlichen Tradition existiert der Gedanke, daß die Menschheit ein für allemalgerettet wurde 7. Die Sühnung der Erbsünde am Kreuz, dieser nicht wiederholbareVorgang ("ephapax"), vermag nicht das historische Faktum der Sünde der Stammel-tern aus der Welt zu schaffenS. Gerade der Glaube an die Unwiderruflichkeit dieseseinmal erworbenen Heils begründet die christliche Hoffnung, die das Warten auf denGenuß eines bereits erworbenen Gutes ist9.

Diese Grundtatsachen der Heilsgeschichte sind für die Strukturen der christlichenKunst seit ihren Anfängen - auch und besonders in der Frage der Abgrenzung zurAntike - von prägender Bedeutung. Da die Heilsgeschichte für den Christen eineauthentische lineare Entwicklung in der Zeit darstellt, wird sie auch in der bildendenKunst zumeist in narrativer Form, als Ablauf und Erzählfolge, präsentiert: "historia

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anni" und der "heilsgeschichtlichen Linie"; vgl. weiters Hans Maier, Die christlicheZeitrechnung, Freiburg/B.-Basel-Wien 1991. 25; zur Rezeption der Thesen Cullmanns:Karl Gerhard Steck, Die Idee der Heilsgeschichte: Hofmann, Schlatter. Cullmann(Theologische Studien 56), Zollikon 1959; Karl-Heinz Schlaudraff, "Heil alsGeschichte": die Frage nach dem heilsgeschichtlichen Denken, dargestellt anhand derKonzeption Oscar Cullmanns (Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese 29),Tübingen 1988.John Francis Callahan. Four Views of Time in Ancient Philosophy, Cambridge (Mass.)1948, 38-87 (zu Aristoteles); Löwith 1953 (Anm, 2), 150-152; zur Rezeptionsge-schichte dieses Gedankens, vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wie-derkehr des Gleichen, Berlin 1935; ders., Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Göttin-

2 1gen 1960 (FrankfurtIM. 1953),44,47, Anm. 1.Karl Löwith, Christentum, Geschichte und Philosophie, in: ders., Vorträge undAbhandlungen. ZUr Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz1966,37-53, bes. 48, wiederabgedruckt in: Stichweh I de Launay (Anm. 2),433-451;vgJ. ders., Christentum und Geschichte, in: Numen 2 (1955), 147-155.Cullmann (Anm, 3), 31-105.Vgl. Hebr 9, 12-26; 10, 14:Quispel (Anm. 3), 117, 130; Mircea Eliade, Der Mythos derewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953 (frz. Paris 11949 [Les Essais 34]), 156, 205; vgl.Dux (Anm. 3),223-241 (kritisch zu Eliades Thesen); Jean Danielou, Vom Geheimnisder Geschichte, Stuttgart 1955 (frz. Paris 11953),221; Wendorff (Anm. 3), 79; Eliade1998 (Anm. 3), 185f.Danielou ebd., 10,221; Kemp (Anm. 2),76.Danielou ebd., 10.

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est rerum gestarum narratio"lO (Hugo von St. Viktor l+ 1141], basierend auf der ver-breiteten Definition Isidors von Sevilla [Etymologiae I 41 n. Wie die bildende KunstAnfang und Ende einer Erzählung kennt, so vermittelt auch das Alte Testament Aus-gangs- und Zielpunkt, die durch große Spannungsbögen verbunden werden. "DieEinmaligkeit der Christustat der Mitte"ll (0. Cullmann), die schon gescheheneAnkunft des Herrn als "perfectum praesens", ordnet aber die Zeitebenen der Heilsge-schichte neu, macht diese im Sinn von "Vorbereitung" (Altes Testament) und "Erfül-lung" auf Christus hin transparent. So ist der Ausgangspunkt des urchristlichen Ver-stehens die Mitte: Von ihr aus erschließt sich der göttliche Heilsplan nach vorn undnach rückwärts in der Zeit12. In Christus, der die historisch inkarnierte Zeitenmitteist, wird die Offenbarung vollendet und die Heilsgeschichte "erfüllt" (Gal 4, 4), diedeshalb keine Steigerung, Erweiterung oder Veränderung mehr duldet13.

Für die Ideengeschichte des christlichen Mittelalters gilt prinzipiell die Einbet-tung jedes Geschehens in den linear strukturierten Ablauf der Heilsgeschichte. Daalles in den Bogen dieser Heilsgeschichte integriert ist, gibt es eigentlich nur eineGeschichte, die ihren Platz im zeitliehen Spannungsfeld von Verkündigung undErfüllung findet. Die Ereignisstruktur des geschichtlichen Ablaufs setzt sich aus den"kairoi"!", den christlichen Heilszeichen, und den "chronoi", den Ereignissen derProfan- oder Weltgeschichte, zusammen. Die "chronoi" gewinnen in der Liturgiegleichsam überzeitlichen Charakter. Ewiges wiederholt und erneuert sich so im zykli-schen Ablauf des Kirchenjahres+'. Jede "liturgische Zeit" bedeutet folglich die Wie-dervergegenwärtigung eines sakralen Ereignisses aus mythischer Vergangenheitl'',

10 Zitiert nach: Le Goff 1977 (Anm. 3), 398; vgl. Hans-Werner Goetz, Zeit/Geschichte-Mittelalter, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthe-men in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993,640-649, bes. 644.

11 Cullmann (Anm. 3), 107; vgl. Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theo-logie des Lukas (Beiträge zur historischen Theologie 17), Tübingen 1954, 129; vgl.Friedrich Ohly, Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena, in: Frühmittelal-terliche Studien 6 (1972),94-158, wiederabgedruckt in: ders., Schriften zur mittelalter-lichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, 171-273, bes. 191f.; kritisch zur TheseCullmanns: Rudolf Bultmann. Heilsgeschichte und Geschichte, in: Theologische Lite-raturzeitung 73 (1948), Nr. 11, 659-666, bes. 665: "Nach urchristlichem Denken istChristus vielmehr das Ende der Geschichte und Heilsgeschichte".

12 Cullmann ebd., 93; vgl. Hans Urs von Balthasar, Theologie der Geschichte. Ein Grund-riß (Christ heute 1/8), EinsiedeIn 1950, 32f.; Löwith 1953 (Anm. 2),168.

13 Hans von Campenhausen. Die Entstehung der Heilsgeschichte. Der Aufbau des christli-chen Geschichtsbildes in der Theologie des ersten und zweiten Jahrhunderts, in: Saecu-lum 21 (1970), H. 2/3, 189-212, bes. 210; Kemp (Anm. 2), 253. Christus fungiert indiesem Sinne als das "Ende der Heilsgeschichte" (Campenhausen ebd.; vgl. Kemp ebd.,253).

14 Cullmann (Anm. 3),96.15 Th. Michels OSB, Das Heilswerk der Kirche. Ein Beitrag zu einer Theologie der

Geschichte (Bücherei der Salzburger Hochschulwochen V), Salzburg 1935,51; Ohly1977 (Anrn. 11),254-260,264.

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In dem Sinn als Geschichte immer Heils- und Unheilsgeschichte zugleich ist undsomit eine Ein- und Unterordnung des Weltgeschehens in die Heilsgeschichte'" statt-findet, muß die Heilsgeschichte notwendigerweise als koexistent mit der Weltge-schichte überhaupt bezeichnet werden. Christus selbst liefert das entscheidende"exemplum", indem er als "Angelpunkt der Geschichte,,18 (J. Danielou) - bereits auf-grund des Stammbaums am Beginn des Matthäusevangeliums (Mt 1, 1_17)19 -gleichsam in der Verlängerung der Menschheitsgeschichte steht und diese vollendet.In der mittelalterlichen Sichtweise geschieht jedes heilsgeschichtliche Ereigniszunächst ebenfalls in der Welt, ist also Teil der Weltgeschichte, wie umgekehrt diegesamte Weltgeschichte Heilsgeschichte ist, weil Gott sie auf das Heilsziel zulenktund jedes einzelne Ereignis sich in seinem Namen vollzieht: "Die Geschichte unter-wirft sich dem Sohn (Christus [Anm. W.T.]) und der Sohn der Geschichte,,20 (H. U.von Balthasar). Von ihren konkreten Inhalten her sind also Heilsgeschichte und Welt-geschichte identisch21. In dem von Christus - als "Überzeit in der Zeit,,22 (H. U. von

16 Eliade 1953 (Anm, 7), 56f.; Eliade (Anm, 3), 40; grundsätzlich: Gerardus van derLeeuw, Urzeit und Endzeit, in: Eranos-Jahrbuch 17 (1949), 11-51, bes. 28-31, 50.

17 Spörll935 (Anm, 1),20.18 Danielou (Anm. 7), 227, 213, 219; Wendelin Knoch, Geschichte als Heilsgeschichte,

in: Goetz (Anm. 3), 19-29, bes. 27.19 Vgl. Maier (Anm. 3),15 mit Hinweis aufMt 2,1, Lk 2, H. und 3,1; Karl Brunner, Die

Zeit des Menschen. Überlegungen zur Geschichte des Zeitbegriffs, in: Manfred Horvat(Hg.), Das Phänomen Zeit, Wien 1984, 19-25, bes. 21.

20 Balthasar (Anm, 12), 25; vgl. Otto von Simson, Das abendländische Vermächtnis derLiturgie, in: Arnold Bergsträsser (Hg.), Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung,Chicago 1947, 1-57, wiederabgedruckt in: Otto von Simson, Von der Macht des Bildesim Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, Berlin 1993, 11-54,bes.48.

21 Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur histori-schen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum Archivfür Kulturgeschichte 19), Köln-Wien 1984,70; vgl. Spörl 1935 (Anm. 1), 18-20; ErichAuerbach, Die Narbe des Odysseus, in: ders., Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in derabendländischen Literatur, Tübingen-Basel 91994 (ebd. [1946), 5-27, bes. 17; vgl.Friedrich Gogarten, Das abendländische Geschichtsdenken. Bemerkungen zu demBuch von Erich Auerbach "Mimesis", in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 51(1954), H. 3, 210-360, bes. 218; Otto Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken.Zur Vorgeschichte des Historismus im 12. Jahrhundert, in: Wort und Wahrheit 9(1954),505-514, bes. 507; Danielou (Anm, 7),33; Amos Funkenstein. Heilsplan undnatürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken deshohen Mittelalters, München 1965,29-36; Walther Lammers, Weltgeschichte und Zeit-geschichte bei Otto von Freising (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaftan der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main XIV/3), Wiesbaden1911. 87f.; Obly 1977 (Anm, 11),266, Anm. 162; Hans-Werner Goetz, Die Gegenwartder Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: Histo-rische Zeitschrift 255 (1992), 61-91, bes. 66; Goetz (Anm. 10), 645; Knoch (Anm. 18),21-23, 26; Hans-Werner Goetz, Zum Geschichtsbewußtsein hochmittelalterlicher

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Balthasar) - eröffneten Raum kann der Mensch agieren. Nur durch diese Bezogenheitauf einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende hat die Geschichte als Ganzeseinen Sinn23.

Unter diesem umfassend-heilsgeschichtlichen Gesichtspunkt geht es in der christ-lichen Kunst nie um die Verdeutlichung des bloßen "temporal aspect" eines Ereignis-ses, gleichsam "how it happened at that particular moment", sondern urn die symboli-sche Bedeutung in seiner Funktion als "example of everlasting truth,,24 (0. Pacht).

Die Entwicklung der verschiedenen "modi" christlicher Kunst25 muß als entspre-chende Aufgabe betrachtet werden, den vielgestaltigen und komplexen Faktor "Zeit"in die bildende Kunst zu integrieren, diesen durch die Darstellung verschiedener Zeit-abläufe und Ereignisse - gemäß dem christlichen Denken - bildlich zu fixieren.

1. Die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"

Eine der vier um 420/430 entstandenen Elfenbeintafeln mit der Passion Christi imBritish Museum in London (Inv.-Nr. 56, 6-23, 4-7) zeigt die trauernden Frauen amGrab26 (Abb. 1). Der ikonographisch auffällige Typus der in Gedanken versunkenenFrauen kann nicht auf die - bei Matthäus (28, 1), Markus (16, 1) und Lukas (24, 1)jeweils in unterschiedlicher Zahl bezeichneten - Frauen, die am Morgen zum GrabChristi kamen, bezogen werden, sondern muß eine Deutung auf der Basis von Mt 27,61 erfahren, wo berichtet wird, daß Maria von Magdala und die andere Maria dem

Geschichtsschreiber, in: Goetz (Anm, 3),55-72, bes. 57; grundsätzlich zum Verhältnisvon Weltgeschichte und Heilsgeschichte: Karl Rahner, Weltgeschichte und Heilsge-schichte, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. V: Neuere Schriften, Einsiedeln-Zürich-Köln 1962, 115-135, bes. 129-135; Wolfhart Pannenberg, Weltgeschichte undHeilsgeschichte, in: Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte -Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V), München 1973,307-323.

22 Balthasar (Anm. 12),41; Kemp (Anm. 2), 206; vgl, hier den Begriff "die allmächtigeZeit" ("ho pankrates chronos"), wie Goethe im "Prometheus" (1773) eine Formulierungdes Sophokles übersetzt, vgl. Günther (Anrn, 3),67.

23 Löwith 1953 (Anm, 2), 155f.24 Otto Pächt, The Rise of Pictorial Narrative in Twelfth-Century England, Oxford 1962,

4; kritisch zu den Thesen Pächts: Cynthia Hahn, Picturing the Text: Narrative in the"Life" of the Saints, in: Art History 13 (1990), Nr. I, 1-33, bes. 2-5.

25 Kemp (Anm. 2), 46-48.26 Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters

(Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Forschungsinstitut für Vor- und Frühge-schichte, Kataloge, vor- und frühgeschichtliche Altertümer 7), MainzlR. 31976, 82f.,Nr. 116, Taf. 61; Lieselotte Kötzsche, Die trauernden Frauen. Zum Londoner Passions-kästchen, in: David Buckton und T. A. Heslop (Hg.), Studies in Medieval Art andArchitecture presented to Peter Lasko, Phoenix Mill-Far Thrupp-Stroud-Gloucester-shire 1994,80-90 (mit Lit.).

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Grab gegenübersaßen und zuschauten, wie der tote Leib Christi in Leinen gewickeltund beigesetzt wurde27. Zwei verschiedene Ereignisse aus der Zeit nach der Kreuzi-gung - die Trauer der beiden Frauen bei der Grablegung (Mt 27, 61) und die Aufer-stehung Christi (Hinweis durch die Präsenz der Wächter [Mt 27, 66; 28, 4] und dasoffene Grab) - werden in einer Darstellung zusammengesehen und miteinander ver-bunden, obwohl kein biblisch begrundbarer Handlungszusammenhang besteht, wur-den doch die Soldaten erst nach der Grablegung als Wache bestellt (Mt 27, 66). DieEigengesetzlichkeit zeitlicher Ereignisse wird hier gleichsam unterdrückt zugunstender Integration des entsprechenden Geschehens der trauernden Frauen in das größere(heilsgeschichtliehe) Ganze - die Auferstehung Christi - in Kombination mit einemanderen Ereignis (Wächter) und als sinnfälliger Hinweis auf ein weiteresErweckungsgeschehen. die Erweckung des Lazarus (Jo 11. 38-44), dargestellt aufdem rechten Türflügel des Grabes Christi.

Der Vorgang der Integration der zwei Marien nach Mt 27, 61 in die Auferste-hungsszene läßt sich mit Erwin Panofskys berühmter Definition der Entstehung des"Andachtsbildes" umschreiben: "Aus geeigneten szenischen Darstellungen werdenbestimmte Einzelgruppen oder Einzelgestalten herausgelöst, in denen die Handlungselbst zum Stillstand gebracht wird, dafür aber dem mit der Handlung verbundenenGefühlserlebnis eine der kontemplativen Versenkung zugängliche Dauer verliehenerscheint,,28. Ein narrativ-szenischer Ablauf wird solcherart in "einzelne, zuständlichaufgefaBte Erscheinungsformen'F' (D. Frey) zerlegt. Diese Vorgangsweise des mitder Aufhebung einer zeitliehen Differenzierung unmittelbar verbundenen "Zusam-

27 Friedrich Gerke, Die Zeitbestimmung der Passionssarkophage. Berlin 1940, 116. Ausnachikoneklastischer Zeit ist dieser Typus der trauernden Frauen am Grab Christi inder Buchmalerei nachweisbar, vgl. Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichenKunst, Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968, 182, Abb. 565, 566; Kötzscheebd., 87, Abb. 6 (vgl. besonders das 1218 entstandene Tetraevangeliar Berlin, Staatsbi-bliothek, Preußischer Kulturbesitz. Ms. gr. quo66, fol. 96r). Die Miniatur auf fol. 44rdes sog. Chludov-Psalters aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Moskau, Histori-sches Museum, MS. gr. 129D) scheint hingegen direkter die ikonographische Traditiondes Londoner Elfenbeinreliefs zu reflektieren, da dort die trauernden Frauen mit demGrab und einem Wächter kombiniert sind; zur Miniatur des "Chludov-Psalters", vgl.Schiller ebd., Bd. 3: Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh 1971, 19, Abb.177; Otto Demus, "The Sleepless Watcher" - Ein Erklärungsversuch. in: Jahrbuch derÖsterreichischen Byzantinistik 28 (1979),241-245, bes. 243.

28 Erwin Panofsky, "Imago Pietatis" - Ein Beitrag zur Typengeschichte des "Schmerzens-manns" und der "Maria Mediatrix" , in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60.Geburtstage, Leipzig 1927,261-308, bes. 265f.

29 Dagobert Frey, Der Realitätscharakter des Kunstwerkes, in: Festschrift Heinrich Wölff-lin zum siebzigsten Geburtstage, Dresden 1935, 30-67, wiederabgedruckt in: ders.,Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie (Biblio-thek klassischer Texte), Darmstadt 1992 (Reprint der Ausgabe BadenIWien 1946), 107-149, auszugsweise wiederabgedruckt in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 36(1983), 117-133,245-248 (Abb.), bes. 128.

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mensehens" - Kurt Weitzmann hat hier den Begriff "conflation" eingeführt30 - ist imMittelalter auch im Sinne einer ikonographischen Nobilitierung allgegenwärtig: Der1394 verstorbene Bischof Rupert von Berg wird in der Darstellung seines Grabmalsim Dom von Paderbom gleichnishaft zu Christus erhoben, indem die zwei schlafen-den - und aus der Ikonographie der Auferstehung Christi entlehnten - Wächter denBischof zum Auferstehenden machen, der sich wie Christus den Wächtern zum Trotzaus dem Grab erhebr'".

Ähnlich wie später in den typologischen Darstellungen und Schemata wird imLondoner Elfenbein eine fortlaufende Erzählfolge zugunsten einer überzeitlichenStruktur durchbrochen, sozusagen "ein isolierbares Moment im Gesamtverlaufe" (W.Pinder) als bildwürdig herausgestellt und mit einem anderen Ereignis kombiniert,Grablegung und Auferstehung also gleichsam zusammengezogen.

In einer solcherart verdichteten Zuständlichkeit heilsgeschichtlichen Geschehensscheint die Zeit still zu stehen. Die nicht dargestellte bzw. nicht darstellbare Bedeu-tung eines bereits abgeschlossenen Ereignisses - der Auferstehung Christi - wirddurch die Wächter am Grab optisch umgesetzt. Bildwürdig ist hier nicht die Dynamikzeitlicher Ereignisse - also die eigentliche Aktion -, sondern die Kontemplation desZuständlichen über das bereits Stattgefundene oder das in der Zukunft Stattfindende.Das zeitliehe Geschehen als solches wird durch das Prinzip der Überblendung zweiereinander folgender Ereignisse, die wiederum als Hinweise auf Grablegung und Auf-erstehung Christi fungieren, ausgegrenzt. Ein Ereignis erfährt nicht eigentlich in sei-ner vollen zeitliehen Dimension Darstellung, auf ein Geschehen wird vielmehr inausgesprochen zeichenhafter Weise verwiesen.

Die grundlegende theoretische Basis für die Zurückdrängurig des Zeitliehen for-mulierte Augustinus. Er kontrastierte im 11. Kapitel der "Confessiones ..32 in scharferWeise die Zeit ("tempus") als Exponenten der Vergänglichkeit und der Bewegung("mutabilitas") mit der Ewigkeit, dem höchsten Sein ("summa essentia"), das er alsein letzt-und-Immerdar ohne Zeit verstand33. Diese terminologische Abwertung der

30 Kurt Weitzmann, Illustrations in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method ofText Illustration (Studies in Manuscript Illumination 2), Princeton (NJ) 21970 (ebd.11947),179-181,190-192; ders., Eine vorikonoklastische Ikone des Sinai mit der Dar-stellung des Chairete, in: Walter Nikolaus Schumacher (Hg.), Tortulae. Studien zu alt-christlichen und byzantinischen Monumenten. Festschrift für Johannes Kollwitz(Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Sup-plementheft 30), Rom-Freiburg/B.-Wien 1966, 317-325, wiederabgedruckt in: KurtWeitzmann, Studies in the Arts at Sinai, Princeton (NJ) 1982, 105-113.Donat de Chapeaurouge, Der Christ als Christus. Darstellungen der Angleichung anGott in der Kunst des Mittelalters, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 48/49 (1987/1988),77-96, bes. 88.Augustinus, Bekenntniss~ vollständige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von Wil-helm Thimme, München 1985 (Zürich 11950), 309f.Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs ("The King's Two Bodies"). Eine

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"Zeit" wird bewußt im Kontrast mit dem Ewigen vollzogen, da "im Ewigen nichtsvergeht, sondern daß es ganz gegenwärtig ist, während keine Zeit ganz gegenwärtigsein kann,,34 (Confessiones XI) bzw. "Verglichen mit einem Augenblick der Ewig-keit ist die längste Dauer nichts,,35 (Oe Civitate Dei XII, 13). Bezeichnungen wie"zeitlich" und "säkular" zeigen bei Augustinus die moralische Abwertung der Zeit,aber auch der profanen Welt an. Bereits bei Cyprian (Mitte des 3. Jahrhunderts)erscheint der Begriff der Zeit in der Befrachtung der "mortalitas" nur gelegentlichund fast wie zufällig36. Die Existenz in der sterblichen Zeit ist für Augustinus imganzen "Krankheit" und "Fäulnis"37; die leere Zeitlichkeit wird zum Abgrund desNichts und des Todes; der Mensch erfährt in dieser Hinsicht als "homo temporalis,,38Charakterisierung.

Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990 (eng!. Princeton [NJ]11957). 281; Henri-Irenee Marrou, L'arnbivalence du temps de l'histoire chez SaintAugustin. Montreal-Paris 1950; Wilhelm Kamiah. Christentum und Geschichtlichkeit.Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins "Bürgerschaft Got-tes". Stuttgart-Köln 21951. 236. 239. 245f.; Ernst Bernheim. Mittelalterliche Zeitan-schauungen in ihrem Einfluss auf Politik und Geschichtsschreibung, Teil I: Die Zeitan-schauungen, Tübingen 1918. 10-50; Erich Larnpey, Das Zeitproblem nach denBekenntnissen Augustins, Regensburg 1960. 29-37; Friedrich Kümmel, Über denBegriff der Zeit (Forschungen zur Pädagogik und Anthropologie 6). Tübingen 1962,23-29; Ernst A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, in: Sitzungsberichte derHeidelberger Akademie der Wissenschaften, phi!.-hist. Klasse 1985. Bericht 3, Heidel-berg 1985; Günther (Anm. 3),23-29. bes. 24. 28f.; Richard Corradini, Zeit und Text.Studien zum "tempus-Begriff des Augustinus (Veröffentlichungen des Instituts fürÖsterreichische Geschichtsforschung 33), Wien-München 1997, 107-109. 112, Anm.812; Dux (Anm. 3). 323-327.

34 Augustinus, Bekenntnisse (Anm. 32). 309; vg!. Götz Pochat, Bild-Zeit. Zeitgestalt undErzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit (Arsviva 3), Wien-Köln-Weimar 1996, 154. Im Denken von Meister Eckhart (+ um 1327)kulrniniert die postulierte Feindschaft Gottes zur Zeit: "Gott ist kein Ding so sehr zuwi-der als die Zeit", zitiert nach: Wendorff (Anm, 3), 126.

35 Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei), Buch 11 bis 22, aus dem Lateinischenübertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen,München 21985 (Zürich 11955), 77f.; vgl. Sven Stelling-Michaud, Quelques aspects duprobleme du temps au moyen age, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte17 (1959), 7-30, bes. 13;Günther (Anm. 3),58; Dux (Anm. 3), 324f.

36 Kamiah (Anm. 33). 123; vgl. die bei den griechischen Kirchenvätern anzutreffendeDifferenzierung zwischen zeitloser Ewigkeit und Erdenzeit: Goetz (Anm. 10), 641,Anm. 5; grundsätzlich: Carl Heinz Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffas-sung des Zeitproblems, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 51 (1954), H. 3, 360-387, bes. 360-369.

37 Augustinus, Enarratio in Psalmum CII, 6 (PL 37, 1320f.); vgl. Balthasar (Anm. 3),47;Richard Schaeffler, Die Struktur der Geschichtszeit (Philosophische AbhandlungenXXI), FrankfurtlM. 1963,191.

38 KamIah (Anm. 33). 245.

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Trotzdem ist Augustinus der Meinung, daß Zeitlichkeit an sich nichts Böses sei,da Gott selbst die Dinge und den Menschen in ihrer Zeitlichkeit geschaffen hat39. Dieprofane Welt ist Augustinus nicht gleichgültig, aber sie hat an sich auch keine unmit-telbare heilsgeschichtliche Funktion40. Die Herrschaft des zur Unheilszeit geworde-nen Zeitverlaufes ist vielmehr erst durch Christus ein für allemal gebrochen worden.

Auch nach paulinischer Anschauung ist der Gläubige, der Christus gehört, freivon der Zeitlichkeit der Sorge und des Todes'". Die Zeit war damit belastet, dieKürze eines - nur relativ wichtigen - Lebens in dieser Welt und die Nähe des Todesauszudrücken (vgl. Gall, 4). Gottes "aeternitas" hingegen erscheint bei Paulus zeit-los. Sie ist eine statische Ewigkeit ohne Bewegung, ohne Vergangenheit undZukunft, drückt also einen Zeitbegriff aus, der später von Dante als "der Punkt, andem alle Zeiten gegenwärtig sind,,42 (Paradiso XVII, 18) charakterisiert werdensollte. Hinter alldem steht die Theologie des Neuen Testaments, nach der sich alleEpochen, aus denen sich die Erlösungsgeschichte zusammensetzt, am Geschehen derheilsgeschichtlichen "Mitte" orientieren+'.

Das Prinzip der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigenv'", welches das LondonerElfenbein anschaulich vorführt, segmentiert somit nicht den Zeit- und Erzählablauf,sondern es betont den "Zusammenhang aller Epochen untereinander'rP (0. Cull-

39 Schaeffler (Anm. 37), 191f.40 Otto Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, in: Walther Lammers (Hg.),

Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbei-ten aus den Jahren 1933 bis 1959 (Wege der Forschung XXI), Darmstadt 1984, 434-459, bes. 446; Günther (Anm. 3), 50.

41 Kamiah (Anm. 33), 122; Ernst von Dobschütz, Zeit und Raum im Denken des Urchri-stentums, in: Journal of Biblical Literature 41 (1922), Nr. 3/4, 212-223, bes. 219.

42 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, vollständige Ausgabe, aus dem Italienischenübertragen von Wilhelm G. Hertz, München 31984,383; vgl. Leeuw (Anm. 16),48.

43 Oscar Cullmann, Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testa-ment, Tübingen 1965,147, 152;Wendorff (Anrn, 3), 8lf.

44 Aaron J. Gurjewitsch, Die Darstellung von Persönlichkeit und Zeit in der mittelalterli-chen Kunst und Literatur (in Verbindung mit der Auffassung vom Tode und des Jen-seits), in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), 1-44, bes. 37: "Die Angst vor derbevorstehenden Vergeltung transponierte die Zukunft in die Gegenwart. Diese Denk-weise modelliert die Zeit räumlich und stellt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftnebeneinander"; vgl. hier auch den - exemplarisch am Beispiel der Analyse von Rogiervan der Weydens Columba-Altar (München, Alte Pinakothek, 145011460)entwickelten- Abschnitt "Ganzheit der Zeit" bei Heinrich Theissing, Die Zeit im Bild, Darmstadt1987, 3-6. Der dabei verwendete Begriff "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" ist zudifferenzieren von Wilhelm Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstge-schichte Europas, Berlin 1926, I 1-22: "Die 'Ungleichzeitigkeit' des Gleichzeitigen".

45 Cullmann (Anm. 43), 147. "Die Gegenwart ist nur dann schon sich erfüllende Zukunft,wenn sie Erfüllung der Vergangenheit ist" (ebd., 110). "Frühere Zeiten und Schicksaleerhalten ihren Sinn durch spätere, frühere sind in ihrer Zeitlichkeit sowenig abgeschlos-sen und unwiderruflich vergangen, daß vielmehr ein direkter Zugang zu ihnen jederzeitmöglich bleibt ..." (Balthasar [Anm. 12], 33f.); vgl. Wendorff (Anm. 3), 82.

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mann), was im heilsgeschichtlichen Extremfall das Zusammenfallen von Kind - deminkarnierten Christus als "puer exoriens" - und dem "Alten der Tage" bedeuten kann,wie Ernst H. Kantorowicz am Beispiel der frühchristlichen Mosaiken von SantaMaria Maggiore in Rom meisterhaft gezeigt hat46. Nach christlicher Anschauung, inder die gängigen Zeitstrukturen außer Kraft gesetzt erscheinen, gleichsam eine "eli-mination of all references to time,,47 (0. Pächt) stattfindet, erhebt sich das Heilswir-ken Christi "über alle Geschichten der Welt,,48 (K. Löwith).

11.Typologie - Die "Aufhebung der Zeit" in der Heilsgeschichte

Mit der Typologie, einem eigentlich erst aus dem 18. Jahrhundert stammendenBegriff, eröffnet sich eine neue Dimension des Verhältnisses zwischen dem Gesche-hen und der Zeit. Hier liegt eine Erzählstruktur vor, die weit Auseinanderliegendesmiteinander verknüpft und so zur Grundlage einer neuen Lebenswirklichkeit macht.Diese Verbindung zeitlich heterogener Handlungen hebt die diskursive Aneinander-reihung historischer Ereignisse auf9. Ausgangspunkt für die typologische Methodeist das bereits bei Paulus erkennbare Bestreben, die (heilsgeschichtlichen) Ereignissevon Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinsichtlich eines besseren Verständnis-ses des Geschichtsablaufes in einen stringenten Zusammenhang zu bringerr'". Die

46 Ernst H. Kantorowicz, "Puer exoriens". On the "Hypapante" in the Mosaics of S. MariaMaggiore, in: Hugo Rahner SI und Emmanuel von Severus OSB (Hg.), "Perennitas".Beiträge zur christlichen Archäologie und Kunst, zur Geschichte der Literatur, derLiturgie und des Mönchtums sowie zur Philosophie des Rechts und zur politischen Phi-losophie. P. Thomas Michels OSB zum 70. Geburtstag (Beiträge zur Geschichte desalten Mönchtums und des Benediktinerordens, Supplementband 2), MünsterlW. 1963,118-135, wiederabgedruckt in: ders., Selected Studies (hg. von Michael Chemiavskyund Ralph E. Giesey), New York 1965, 25-36, bes. 35f., deutsch als "Puer exoriens'.Über das Hypapante in den Mosaiken von S. Maria Maggiore" wiederabgedruckt in:ders., Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums (hg.von Eckhart Grunewald und Ulrich Raulff), Stuttgart 1998, 73-90.

47 Pächt (Anm, 24),3.48 Löwith 1966 (Anm. 5), 37.49 Rudolf Bultmann, Ursprung und Sinn der Typologie als hermeneutischer Methode, in:

W. 1. Kooiman und 1. M. van Veen (Red.), Pro Regno - Pro Sanctuario. Een BundelStudies en Bijdragen van Vrienden en Vereerders, Uitgever-Nijkerk 1950,89-100, wie-derabgedruckt in: Theologische Literaturzeitung 75 (1950), Nr. 4/5, 205-212; ErichAuerbach, Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur (Schriften und Vor-träge des Petrarca-Instituts Köln II), Krefeld 1953, 13; Gegarten (Anm. 21), 279;Pochat (Anm. 34), 144; Götz Pochat, ZeitlLos - Zur Kunstgeschichte der Zeit, in: CarlAigner, Götz Pochat und Arnulf Rohsmann (Hg.), Katalog: ZeitILos - Zur Kunstge-schichte der Zeit, Kunsthalle Krems, Köln 1999,9-95, bes. 33.

50 Erich D~nkler,The Idea of History in Earliest Christianity, in: The Idea of History inthe Ancient Near East, New Haven 1955, 169-214, wiederabgedruckt in: ders., Signum

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Typologie stellt somit einen Sonderfall des "Symbols" Zeit dar, "die eine Menschen-gruppe ... zwischen zwei oder mehreren Geschehnisabläufen herstellt, von denen sieeinen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert'P! (N.

Elias).Die typologische Methode löst das einzelne Ereignis aus dem fließenden Konti-

nuum der Zeit und fügt es in einen neuen inhaltlichen Zusammenhang - "durch einespezifische Form der Verküpfung oder Synthese"S2 (N. Elias) - ein, der primär nichtdurch einen zeitliehen Rahmen, sondern durch inhaltliche Prinzipien determiniert ist,und zwar in der Weise, daß die Simultaneität des Ungleichzeitigen die Steigerung desAlten auf das Neue im Sinne der "unüberbietbaren Endgültigkeit des inkarniertenAntitypus"S3 (F. Ohly) deutlich machen soll. Aus der so entstehenden ingeniösenVerbindung des ursprünglich Getrennten und Entfernten kann ein neuer und überra-schender Sinn herbeigeführt werden.

Die Miniatur der Kreuzigung Christi in der Bibel von Floreffe (London, The Bri-tish Library, Add. Ms. 17738, fol. 187r, nach 1153)54 (Abb. 2) leistet diese Verknüp-fung gleich auf mehrfache und äußerst komplexe Weise, indem der Gekreuzigte mitdem Opfer des Alten Testaments kombiniert wird. Der neutestamentliche Begriff des"vitulus" Christus (nach Hebr 9, 12-19) verweist auf das Symbol des EvangelistenLukas, mit dessen Spruchband (Lk 15, 22f.) auf die Parabel vom verlorenen Sohnund den Befehl des Vaters an seine Knechte "Bringt das Mastkalb her und schlachtetes, wir wollen ein Festmahl feiern" verwiesen wird. Die Vollendung findet in derEucharistie statt, indem Christus als heilbringende Opferspeise für die Menschheit,die sich von Gott entfernt hat, fungiert: "Pro nevo fraudis vitulus datur hostia laudis"(Beischrift im abschließenden Bogen der Miniatur).

Mit diesem Prinzip der Steigerung bzw. Vollendung aus dem Bewußtsein, daßder Ausgangspunkt stets das "heilsgeschichtliche Mittelstück"S5 (0. Cullmann) ist,

51

Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen1967, 313-350, bes. 326; zur Bedeutung dieser Anschauung für die mittelalterlicheHistoriographie: Goetz 1992 (Anm, 21), 79.Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. (hg. von M. Schröter),FrankfurtlM. 51994, 12; Dux (Anm. 3), 200.Elias ebd.. 70.Friedrich Ohly, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, in: Natur-Reli-gion-Sprache-Universität, Universitätsvorträge 1982/1983 (Schriftenreihe der Westfäli-schen Wilhelms-Universität 7), MünsterlW. 1983,68-102, wiederabgedruckt in: ders.,Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung(hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil), Stuttgart-Leipzig 1995,445472, bes. 471.Werner Telesko, The Picture of the Crucifixion in the Floreffe Bible (London, BritishLibrary, Add. MS. 17738, fol. 187r): Typology as an Expression of the History of Sal-vation, in: The British Library Journal19 (1993), Nr. I, 105-109 (mit Lit.).Oscar Cullmann, The Connection of Primal Events and End Events with the NewTestament Redemptive History, in: Bernhard W. Anderson (Hg.), The Old Testamentand Christian Faith. A Theological Discussion, New York 1963, 115-123, deutsch wie-

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wird immer ein fundamentales Interesse am Heils- bzw. Erlösungsablauf mitgegeben.Alle Typologie setzt grundsätzlich einen heilsgeschichtlichen Hintergrund voraus,nämlich die auf Christus bezogene Beziehung zwischen Altem und Neuem Testa-ment56. Die Alternative von Gegenwart oder Zukunft der Gottesherrschaft ist beiJesus insofern überwunden, als die Herrschaft Gottes sich von der Zukunft bis in dieGegenwart herein erstreckt. Damit wird eine chronologische Abfolge von Gegenwartund Zukunft sinnlos und der natürliche Ablauf der Zeit als solcher aufgehoben57.

Verglichen mit dem eingangs - am Beispiel des Londoner Elfenbeins - vorge-stellten Prinzip der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", also der Überblendungzweier Ereignisse, bedeutet die Typologie eine überaus konsequente Verknüpfungvon Geschehnissen der Heilslinie aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zumZweck einer Interpretation, die nicht einer kontinuierlichen Entwicklung vonGeschichte verpflichtet ist. Der gesamte zeitliehe Rahmen wird benützt, um den Wil-len Gottes zu belegen. ImVerhältnis zum Prinzip der "Gleichzeitigkeit des Ungleich-zeitigen " hat dies eine gewaltige Vereinnahmung der zeitliehen Dimension und dieunmißverständliche Dokumentation des Glaubens an den endgültigen Vollbesitz derWahrheit über Sinn und Ziel der Geschichte zur Folge. Die Typologie bringt so dasZerreißen des natürlichen zeitliehen Kontinuums mit sich, um das Gewesene in sei-ner Rolle der Vorläuferschaft untrennbar an die Gegenwart zu binden, was schließ-lich zu einer "gedanklichen 'Entzeitlichung< der Ereignisse"58 (H.-W. Goetz) führenmuß.

Dantes "Punkt, an dem alle Zeiten gegenwärtig sind" bedeutet eine Abkehr voneiner organischen Zeitentwicklung hin zu einem gleichsam zentripetalorganisiertenGeschichtsdenken, das sich ohne Zögern sowohl die Vergangenheit als auch dieZukunft angeeignet hat und den Primat der heilsgeschichtlichen Gegenwart feiert.Aus Augustins Feststellung, daß es bei Gott keine "differentia temporis,,59 gebe, folgtkonsequenterweise die "Jederzeitlichkeit und Ewigkeit,,60 (E. Auerbach) der Typen:Der letzte Adam ist im Sinne der "ewigen Erlösung" (Hebr 9, 12) immer schon der,

derabgedruckt als "Die Verbindung von Ur- und Endgeschehen mit der neutestamentli-chen Heilsgeschichte" in: Karlfried Fröhlich (Hg.), Oscar Cullmann. Vorträge und Auf-sätze 1925-1962, Tübingen 1966, 159-165, bes. 162; vgl. Ohly 1977 (Anm, 11), 191f.

56 Cullmann (Anm. 43), 114.57 Hans Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei

Jesus und im frühen Christentum (Biblisch-theologische Studien 20), Neukirchen-Vluyn 1993, 54f.

58 Goetz 1998 (Anm. 21), 60; vgl. Gogarten (Anm. 21),281: "Entgeschichtlichung dermit Hilfe der figuralen Methode gedeuteten Vorgänge".

59 Auerbach (Anm. 49), 15; Erich Auerbach, Figura, in: Archivum romanicum 22 (1939),436-489, wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philolo-gie, Bern-München 1967,55-92, bes. 71.

60 Auerbach 1967 ebd.; Auerbach (Anm. 49),15; vgl. Corradini (Anm, 33), 104-112.

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der geblutet hat61: "Ehe Abraham war, bin ich" ist deshalb die schlüssige Selbstdefi-nition Jesu nach Jo 8. 5862. "Der überzeitliche Ort als Ort Christi liegt nicht nur'über', 'vor' und 'nach' der Zeit, er ist ihr dergestalt überlegen. daß er sie zugleich insich faßt,,63 (H. U. von Balthasar).

Dieser unbedingte Primat des Präsentischen erklärt sich daraus, daß die Figurenoder Typen Gestalten eines Ewigen oder Jederzeitlichen sind und somit "verhülltejederzeitliche Wirklichkeit,,64 (E. Auerbach). "Das zukünftige Urbild, obgleich nochals zeitliches Geschehen unvollendet, ist in ihm (d. h. in Gott [W.T.]) bereits erfülltund war es von Ewigkeit her,,65 (E. Auerbach).

111.Die Emanzipation des Zeitliehen vom Überzeitlich-Heilsgeschichtlichen

Der Dreh- und Angelpunkt für eine Neuorientierung des Bewußtseins und der Dar-stellung von Zeit in der bildenden Kunst ist das wichtigste Werk der weltlichenErzählkunst des Hochmittelalters, der wahrscheinlich vor 1082 in Bayeux oder Can-terbury geschaffene Teppich von Bayeux, zugleich das früheste bekannte Werk dersäkularen Kunst im monumentalen Format. das als Unikum mittelalterlicher Profan-kunst gelten muS66. Als wahrscheinlicher Auftraggeber gilt Odo, Bischof von Bay-eux, der nach der Weihe der dortigen Kathedrale 1077 noch fünf Jahre den Bischofs-sitz innehatte und vielleicht den Teppich zur Ausstattung einer seiner Paläste verwen-dete.

Bei den Szenen des Teppichs von Bayeux kann man prinzipiell von einer paratak-tisch fortlaufenden Erzählung sprechen, deren Einzelepisoden aber häufig nacherzählerisch-dramatischen Gesichtspunkten gestaltet werden: "Aus dem Fluß deshistorischen Geschehens werden einzelne Ereignisse in die dauerhaftere Form derkünstlerischen Erzählstruktur gebracht,,67 (G. Pochat). Diese Ereignisse gewinnenpartikularen Charakter und zeigen primär jeweils einen bestimmten Ausschnitt derWirklichkeit.

61 Balthasar (Anm. 3),51.62 Ebd., 56; Leeuw (Anm. 16),40,43; Dobschütz (Anm. 41), 220 mit Hinweisen auf ähn-

liche Formulierungen des "Präexistenzgedankens" (E. von Dobschütz) in Kol 1, 15,Hebr 1, 2 und Jo 1, 1 bzw. 17,5.

63 Balthasar ebd., 52; Maier (Anm. 3), 15f.64 Auerbach 1967 (Anm. 59),81; Gogarten (Anm. 21),279.65 Auerbach (Anm. 49), 15; Danielou (Anm, 7), 215f.; Corradini (Anm, 33), 109. "Er

(Christus [Anm. W.T.]) ist es ja, der als Erfüllung der Grund der Verheißung ist, er istdas Urbild, nach welchem und auf welches bin jene Vorbilder gestaltet sind" (Balthasar[Anm. 12],22).

66 Vgl. Wolfgang Grape, Der Teppich von Bayeux. Triumphdenkmal der Normannen,München 1994 (mit Lit.); Ulrich Kuder, Der Teppich von Bayeux oder: Wer hatte dieFäden in der Hand? (Fischer Kunststück), FrankfurtlM. 1994 (mit Lit.).

67 Pochat (Anm. 34), 184.

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Die Bewegungsabläufe der Darstellungen auf dem Teppich, welche die Erobe-rung Englands durch die Normannen in der Schlacht von Hastings im Jahr 1066schildern, sind ausnahmslos flächenparallel dargestellt. In der klassischen Traditionstehen die eingefügten "Zäsuren" in Form von Bäumen und Architekturkulissen'P,die den Wechsel des Geschehens markieren. Beim Aufbruch der Normannen in dieSchlacht von Hastings69 (Abb. 3) wird der Szenenwechsel durch drei Bäume angege-ben und der neue Zeit- bzw. Ereignisabschnitt erscheint durch die entsprechende Bei-schrift MIUTES ... ET VENERVNT AD PRELNM CONTRA HAROLDVM REGEMunterstrichen. Die Bewegung in der Zeit wird dadurch sichtbar gemacht, daß dieSpitze der dicht gestaffelten Reiterei zu galoppieren beginnt und durch die in derDarstellung auf dem Teppich "auseinandergezogen" wiedergegebenen Reiter längereZeitintervalle markiert werden. Das Moment von Bewegung an sich wird zusätzlichdurch die Gleichgerichtetheit der Aktionen unterstrichen. Die betonten Profil-figuren 70 dokumentieren zusammen mit der gesteigerten "Vehemenz der Gebär-den,,71 (W. Grape) - im Gegensatz zur Tradition des christologischen Frontaltypus -"the heightened interest in action,,72 (Meyer Schapiro) und beschleunigen gleichsamdie Bilderzählung.

In dieser "pictured chronicle of the Norman Conquest,,73 (0. Pächt) werden dieGesten der beteiligten Personen als Wegweiser verstanden, die dem Betrachter imSinn einer "conducted tour through history,,74 (0. Pächt) das Verstehen der Handlungerleichtern sollen. Der Rezipient wird durch kompositionelle Hinweise und "Mittler-figuren" auf die entscheidenden historischen Sachverhalte verwiesen: "The event andits interpretation are being presented simultaneously,,75 (0. Pächt). Die Einführungvon Gestalten, die sich gleichsam zum Vermittler zwischen dem Beschauer und demDarstellungsgegenstand machen, sollte später noch von Leon Battista Alberti in"Della Pictura" (1436) empfohlen werden 76. Die Darstellung des Schwurs, den

68 Ebd., 179; Gale R. Owen-Crocker, Telling a Tale: Narrative Techniques in the BayeuxTapestry and the Old English Epic "Beowulf', in: Gale R. Owen-Crocker und TimothyGraham (Hg.), Medieval Art: Recent Perspectives. A Memorial Tribute to C. R. Dod-well, Manchester-New York 1998.40-59, bes. 41; Grape (Anm. 66), 68f.

69 Grape ebd., 144-147.70 Ebd.,75.71 Ebd.,71.72 Meyer Schapiro, Words and Pictures. On the Literal and the Symbolic in the Illustra-

tion of a Text (Approaches to Semiotics 11) The Hague-Paris 1973, 29.73 Pächt (Anm. 24), 10.74 Ebd., 75.75 Ebd.; Grape (Anm. 66), 72; kritisch zur These Pächts: Andreas Kuhn, Der Teppich von

Bayeux in seinen Gebärden: Versuch einer Deutung, in: Studi medievali 3.ser. 33(1992), 1-71, bes. 21f., Anm. 57; 52f., 62f.

76 Leon Battista Alberti, Drei Bücher über die Malerei, in: ders., Kleinere kunsttheoreti-sehe Schriften (hg. von Hubert Janitschek), Wien 1877 (Reprint: Quellenschriften für

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Harold dem normannischen Herrscher Wilhelm leistet77, zeigt die feierliche Zeremo-nie wie auf einer Bühne vor einem imaginären Betrachter (Abb. 4): "Die Figurensprechen zu uns, nicht zueinander,,7S (G. Pochat), was als fundamentale Neuerungbedeutet, daß die gesamte Komposition - als "bildliches Schauspiel'T' (W. Grape) -auf den Betrachter ausgerichtet ist: "mimus est enim generis hum ani tota vita tenta-tionis"so (Augustinus).

Der Teppich von Bayeux formuliert ein höchst innovatives "Ereignisbild" mitaktuellem WirklichkeitsbezugSI. Geschichte wird hier nicht mehr als untrennbare

Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 11, Osnabrück1970,122f.)

77 Grape (Anm. 66), 116f.78 Pochat (Anm. 34), 181; Grape ebd., 72f. Die direkte Bezugnahme von dargestellten

Personen auf den Betrachter dürfte in illuminierten Handschriften des 6. Jahrhunderts(Codex Rossanensis [Rossano, Kathedralmuseum] und Codex Sinopensis [Paris,Bibliotheque Nationale, Cod. gr. suppl. 1286]) ihren Ursprung besitzen, vgl. AndreGrabar, Christian Iconography. A Study of Its Origins (The A. W. Mellon Lectures inthe Fine Arts, 1961 [Bollingen Series XXXV/IOD, Princeton (NJ) 1968,90, fig. 228,229; William C. Loerke, The Monumental Miniature, in: Kurt Weitzmann, William C.Loerke, Ernst Kitzinger und Hugo Buchthal, The Place of BooklUumination in Byzan-tine Art. Princeton (NJ), 61-97. Eine wesentliche Erweiterung dieser Bezugnahme aufden Rezipienten findet um das Jahr 1000 in der englischen Buchmalerei (z.B. Missaledes Erzbischofs Robert von Jumieges, Winchester. zwischen 1016 und 1023; Rouen,Bibliotheque municipale, Ms. Y 6 [274], fol. 81v, vgl. Elzbieta Temple, Anglo-SaxonManuscripts 900-1066 [A Survey of Manuscripts illuminated in the British Isles 2],London 1976, 89-91, Nr. 72, fig. 239) in der Neuformulierung der Ikonographie derHimmelfahrt Christi statt, indem in den entsprechenden Darstellungen nur noch einTeil des Gewandes und die Füße von Christus zu sehen sind. Das Ereignis geschiehtnun gleichsam aus der Perspektive der Apostel und somit implizit auch aus jener desBildbetrachters. vgl. Meyer Schapiro, The Image of the Disappearing Christ. TheAscension in English Art around the Year 1000. in: Gazette des Beaux-Arts 23 (1943),135-152, bes. 149, fig. 5; Schiller 1971 (Anm. 27), 157, Abb. 493; vgl. grundsätzlichzu dieser Problematik: Meyer Schapiro, From Mozarabic to Romanesque in Silos, in:The Art Bulletin 21 (1939),312-374, deutsch wiederabgedruckt als "Vom mozarabi-schen zum romanischen Stil in Silos" in: ders., Romanische Kunst. AusgewählteSchriften, Köln 1987,64-187, bes. I03f.

79 Grape ebd., 75; zur Einbeziehung des Publikums im geistlichen Spiel des Mittelalters:Anke Roeder, Die Gebärde im Drama des Mittelalters. Osterfeiern - Osterspiele, Mün-chen 1974, 154-163.

80 Augustinus, Enarratio in Psalmum CXXVII, 15 (PL 37, 1686f., bes. 1686); vgl. Stel-ling-Michaud (Anm. 35), 16.

81 Vgl. Claudia Annette Meier, Chronikillustrationen im hohen Mittelalter: zur Entste-hung des EreignisbiIdes im Bild-Text-Bezug, in: Goetz (Anm. 3), 357-375, bes. 357,367; Meier sieht die Entwicklung des Ereignisbildes vor allem im Zusammenhang mitder Chronikillustration im hohen Mittelalter; grundsätzlich zu dieser Problemstellung:Reiner Haussherr, Zur Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit und Geschichte in der"Bible moralisee" und in Illustrationen von Geschichtsschreibung im 13. Jahrhundert,

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heilsgeschichtliche Einheit gesehen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftunmittelbar aufeinander bezogen sind, sondern die Handlungsmomente werden seg-mentiert und fragmentiert, zerhackt und verfügbar gemacht, gleichsam herausgelöstaus dem kontinuierlichen Gesamtzusammenhang eines Ereignisflusses dargestellt.Das Geschehen an sich gewinnt solcherart einen Eigenwert und grenzt sich von ande-ren Ereignissen ab. Die einzelne christologische Szene kann hingegen - aufgrund derIntegration in das heilsgeschichtliche Kontinuum - nicht als eine endliche, abge-schlossene Größe aufgefaßt werden, "die wie eine natürliche geschichtliche Situationsich gegen andere gleichzeitige, frühere oder nachfolgende abgrenzen würde,,82 (H.U. von Balthasar).

Signifikanterweise tritt beim Teppich von Bayeux die Aufnahme von christlichenBildtypen oder jenen Bildmustern, die in einem größeren christologischen Zusam-menhang gedacht sind, deutlich zurück. Ein wichtiges Beispiel für die Rezeption derHeilsgeschichte könnte lediglich in der Erscheinung des Kometen bestehen, wo aufHarolds Ende unmißverständlich angespielt wird83• Vielleicht ist hier eine typusmä-ßige Parallele zum Insert der "turbatio Herodis" vorhanden, die im Lambacher Fres-kenzyklus aus dem späten 11. Jahrhundert das Ende des Herodes Agrippa an-kündigt84. Ein anderes Beispiel ist das Fest in Pevensey mit dem segnenden BischofOdo85 (Abb. 5), das möglicherweise auf den Typus des Letzten Abendmahles Bezugnimmt86.

Im Teppich von Bayeux sind viele Figuren und Gruppen zugleich vorwärts undrückwärts gerichtet, sodaß sie simultan zwei Geschehnissen verpflichtet sind87. Dasinstruktivste Beispiel in dieser Hinsicht ist jene Szene, wo Harold durch einen Späher- bezeichnet mit ISTE - von der Position Wilhelms erfährt, der zweimal - gleichsamRücken an Rücken mit sich selbst - dargestellt wird88 (Abb. 6). Gerade diese Szene

in: Hans Belting (Hg.), II medio oriente e l'occidente nell'arte del XIII secolo. Atti delXXIV congresso internazionale di Storia delI'Arte, Bologna 1979, Bd. 2, Bologna1982,211-217.

82 Balthasar (Anm. 12),30.83 Kuder (Anm, 66), Abb. 37; Grape (Anm. 66), 55f.84 Otto Demus, Romanische Wandmalerei, München 1968 (ebd. 21992), Taf. XCIV; Nor-

bert Wibiral, Zur Bildkomposition des Lambacher "Herrschersturzes", in: Österreichi-sche Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 40 (1986), 98-111; ders., Beiträge zurIkonographie der frühromanischen Fresken im ehemaligen Westchor der Stiftskirchevon Larnbach (Oberösterreich), in: Studia Suarzacensia - Würzburger Diözesange-schichtsblätter 25 (1963), 63-81, bes. 67f.; ders., Die frühromanische Klosterkirche inLarnbach und ihre Wandmalereien (Österreichische Akademie der Wissenschaften,Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte, hg. von H. Fillitz 4), Wien1998, 19-23,49, Abb. 3; 53, Farbtaf. II.

85 Grape (Anm. 66), 140£.86 Vgl. Owen-Crocker (Anm. 68), 53, fig. 22; Kuder (Anm. 66), 64, 82, Anm. 70, 103

(mit Lit.), Abb. 36; vgl. Grape ebd., 30-32, 55f.; Kuhn (Anm. 75), 31f., 64f.87 Pochat (Anm. 34), 183; vgl. Grape ebd., 68.88 Grape ebd., 148f.; Kuder (Anm. 66), 18, Abb. 19.

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zeigt symptomatisch eine wesentliche Neuorientierung in der Darstellung von Zeitund Geschichte im Sinne von Pächts oben zitierter essentieller Feststellung "Theevent and its interpretation are being presented simultaneously" an. Je mehr das Werk- wie im Fall des Teppichs von Bayeux - auf den Betrachter bezogen ist und diesenunmittelbar im Modus des "frontal appeal to the spectator,,89 (0. Pächt) in Text (Bei-schriften in Präsens und Perfekt)90 und Bild anspricht, "um so mehr wird die Über-zeitlichkeit des Bildwerks in Frage gestellt"?' (D. Frey). Das Konzept eines in sichgeschlossenen Bildwesens wird "zugunsten einer unmittelbar den Beschauer treffen-den religiösen Bedeutung,,92 (Th. Hetzer) aufgebrochen.

Diese höchst innovative Relation zwischen Werk und Betrachter, dessen neue"Aesthetic Attitude,,93 (Meyer Schapiro) auch aus den zeitgleichen Schriftquellendeutlich wird, hebt so die - in der Typologie festgelegte - Überzeitlichkeit auf. DerMoment "Zeit" wird bei der Betrachtung des Teppichs von Bayeux, dessen Grund-konzeption in einer Aneinanderreihung von Bildzeichen besteht, "in der zeitliehenAbfolge der sukzessiven Bildbetrachtung erlebt,,94 (D. Frey) und damit als "successiomutabilitatis,,95 (Hugo von St. Viktor über die Zeit) in fundamental anderer Weise alsbei den zeitsynthetisch orientierten typologischen Darstellungen transparent gemacht.

Der realhistorische "Sitz im Leben" des sich im Teppich von Bayeux manifestie-renden Ereignisbildes mit anschaulichem Wirklichkeitsbezug besteht in der Auf-nahme von typischen feudalen und säkularen Begriffen (Kriegsführung und Feste).Charles Reginald Dodwell brachte die epische Erzählstruktur des Teppichs mit der

89 Pächt (Anrn. 24), 30f.; vgl. dieses Phänomen in der Miniatur der Kreuzabnahme (p. 47)des S1.Albans-Psalters: Otto Pächt, Charles Reginald Dodwell und Francis Wormald,The St. Albans Psalter (Albani-Psalter) [Studies of the Warburg Institute 25], London1960, 70-73, 92f., Nr. 31, pl. 29b.

90 VgI. Grape (Anrn. 66), 58.91 Dagobert Frey, Das Zeitproblem in der Bildkunst. in: Studium Generale 8 (1955), 568-

577, bes. 569, wiederabgedruckt in: ders., Bausteine zu einer Philosophie der Kunst,Darmstadt 1976, 212-235.

92 Theodor Hetzer, Studien zur Geschichte des Bildes, in: ders., Zur Geschichte des Bil-des von der Antike bis Cezanne (Schriften Theodor Hetzers, hg. von Gertrude Berthold9), Stuttgart 1998,25-100, bes. 4Of.

93 Meyer Schapiro, On the Aesthetic Attitude in Romanesque Art, in: Krishna BharathaIyer (Hg.), Art and Thought: Issued in Honor of Dr. Ananda K. Coomaraswamy on theOccasion of His 70th Birthday, London 1947, 130-150, wiederabgedruckt in: ders.,Romanesque Art (Selected Papers I), New York 1977, 1-27, deutsch wiederabgedrucktals "Über die ästhetische Bewertung der Kunst in romanischer Zeit" in: Meyer Schapiro1987 (Anm. 78), 24-63.

94 Frey 1955 (Anm. 91), 573; vgl. Dagobert Frey, Gotik und Renaissance als Grundlagender modemen Weltanschauung, Augsburg 1929,49.

95 VgI. Joachim Ehlers, Hugo von S1. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zurGeschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts (Frankfurter Historische Abhandlungen 7),Wiesbaden 1973,80.

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zeitgenössischen weltlichen Poesie, insbesondere den "Chansons de Geste", in Ver-bindung, die ebenfalls eine auffällige Betonung von Kampf und Schlacht zeigen 96. Indiesem Sinn müssen die Figuren des Teppichs von Bayeux, ähnlich den "Chansons",als "types rather than persons,,97 (C. R. Dodwell) in großer Verwandtschaft zurgleichzeitigen weltlichen Dichtung betrachtet werden. Sowohl die bildende Kunst(Teppich von Bayeux) als auch die Dichtung (Chansons) repräsentieren die säkulareKultur der Feudalgesellschaft'f. Die prägenden Typen sind nun aber nicht mehr demVorrat christlicher Ikonographie entnommen, sondern beziehen sich auf die Eigen-schaften von Personen, die in der zeitgenössischen weltlichen Epik geschildert wer-den.

Dieser "Verzicht auf heilsgeschichtliche Deutung,,99 (U. Kuder) im Teppich vonBayeux und die Vermeidung einer sakral gestützten "interpretatio normannica" des inder Schlacht von Hastings siegreichen Wilhelm stehen in deutlichem Kontrast zurSchilderung der Funktion Wilhelms in der zeitgleichen Literatur, etwa in Baudri deBourgueils Carmen 134 (Vers 207-572), das eine Beschreibung der Ereignisse dernormannischen Invasion gibtlOO• Bildende Kunst und Literatur zeigen hier völligunterschiedliche Interpretationen des historischen Geschehens: Typenmäßig unge-bundene Narration im Teppich von Bayeux steht gegen tradierte literarische Topik.Die vielschichtigen Verbindungen des Teppichs von Bayeux zur zeitgleichen weltli-chen Epik machen dieses epochale Werk zu einem charakteristischen Symptom fürdie beginnende Auflösung des die christliche Kunst nachhaltig beeinflußenden Augu-stinischen Zeitbegriffs und des von ihm vertretenen Dualismus von (negativ besetz-ter) Zeit und (positiv besetzter) Ewigkeit. Augustins Credo, daß die Weltgeschichtekein eigenes Interesse und keinen eigenen Sinn bzw. für den Glauben keine unmittel-bare Bedeutung hätte101, tritt in der Bedeutung zurück. Dominant wird nun das Kon-zept einer stetig fließenden, wandelbaren Zeit, wie es später vor allem von den Aver-

96 Charles Reginald Dodwell, The Bayeux Tapestry and the French Secular Epic, in: TheBurlington Magazine 108 (1966), 549-560, wiederabgedruckt in: ders., Aspects of Artof the Eleventh and Twelfth Centuries, London 1996, 1-25; bereits Frey 1929 (Anm.94),48 sprach von einer "epischen Komposition"; vgl. Grape (Anm. 66), 58.

97 Dodwell 1966 ebd., 554, 557; vgl. ders., A Brief Note on the Secular Aspects of theBayeux Tapestry, in: Gazette des Beaux-Arts 108 (1966), 227-232.

98 Dodwell1966 (Anm. 96), 560; Grape (Anm. 66), 81.99 Kuder (Anm. 66), 59, 82, Anm. 103; vgl. Grape ebd.100 Friedrich Ohly, Typologische Figuren aus Natur und Mythus, in: Walter Haug (Hg.),

Formen und Funktionen der Allegorie, Symposion Wolfenbüttel 1978 (GermanistischeSymposien, Berichtsbände III), Stuttgart 1979, 126-166, bes. 141, 163, Anm. 92, wie-derabgedruckt in: Ohly 1995 (Anm. 53),473-507; Christine Ratkowitsch, "DescriptioPicturae". Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateini-schen Großdichtung des 12. Jahrhunderts (Wiener Studien, Arbeiten zur rnittel- undneulateinischen Philologie 15),Wien 1991, 56, 80-83; Grape ebd., 61.

101 Löwith 1953 (Anm. 2), 153f.

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roisten vertreten werden sollte. Heilsgeschichte wird zwar noch nicht als eine Kate-gorie neben der Profangeschichte gesehen, aber sie ist auch nicht mehr mit derGeschichte identisch102, vor allem aber wird Geschichte nicht mehr allein durch dieHeilsgeschichte interpretiert. Damit unmittelbar in Zusammenhang stehen die grund-legend neuen Möglichkeiten der anschaulichen Schilderung von Ereignissen, wie sieim Teppich von Bayeux realisiert werden. Die sich dort im Laufe der Zeit ereignendeund wandelnde Handlung wird nicht mehr durch den Augustinischen Primat des"ewig stillstehenden Jetzt" ("nunc semper stans") bestimmt. Innovative Ereignisschil-derung und ein damit verbundenes neues Zeitverständnis erobern neue Möglichkeitender bildliehen Darstellung und zeigen nachdrücklich das unmittelbare Aufeinander-bezogensein der einzelnen Abschnitte einer Erzählung in der ZeitlO3, gleichsam dasPrinzip einer "handlungsverwobenen Zeit" 104 (U. Ruberg) verkörpernd. Bereits Isi-dor von Sevilla (Etymologiae V 31; 141)105 hatte diese direkte Verbindung von Zeitund Handlung hergestellt: "nam tempus per se non intelligitur, nisi per actus huma-nos" ("Denn die Zeit an sich ist nicht faßbar, außer durch menschliche Handlungen").Die Erzählungen sind jetzt nicht mehr durch den heilsgeschichtlichen Rahmenbegrenzt und damit in Struktur und Aussage gleichsam präformiert, sondern steigerndie Lebenswirklichkeit durch immer konkretere Detailschilderungen und den Bezugauf den Rezipienten. Abaelard (+ 1142) erkannte als erster, daß es der Mensch ist,der die kurzen Augenblicke der Zeit ("instantia" und "indivisibilia momenta") in derSchilderung eines Geschehens sprachlich zusammensetzt und sie im Rahmen der"Erlebniszeit" - Präsens, Futur und Perfekt - bestimmtlO6, später formuliert in derTerminologie der scholastischen Philosophie eines Petrus Aureoli OFM (+ 1322), indessen Anschauung die Zeit nichts anderes ist als "als ein Gebilde unserer Vorstel-lung,,107, in ähnlicher Weise ausgedrückt bei Wilhelm von Ockham (+ 134911350):

102 Vg1.Cullmann 1966 (Anm. 55), 159.103 Vgl. Grape (Anm. 66), 68.104 Uwe Ruberg, Raum und Zeit im Prosa-Lancelot (Medium Aevum - Philologische Stu-

dien 9), München 1965, 144-146, bes. 146: "Hineinwirken der Zeit in die Handlung".105 VgI. Brunner (Anm. 19),20.106 Amo Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (Kleine kulturwissen-

schaftliche Bibliothek 28), Berlin 1990, 61; vgl. ders., Barbaren, Ketzer und Artisten.Welten des Mittelalters, München 1988, 155-173, bes. 161; grundsätzlich: Le Goff1977 (Anm. 3), 405f.

107 Zitiert nach: Jacques Le Goff, Le temps du travail dans la "crise" du XIVe siede: dutemps medieval au temps modeme, in: Le Moyen Age 69 (1963), 597-613, deutschwiederabgedruckt als "Die Arbeitszeit in der 'Krise' des 14. Jahrhunderts: Von der mit-telalterlichen zur modemen Zeit" in: ders., Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit undKultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts, Weingarten 1987 (frz. Paris 11977),29-42,bes. 37; vgl. grundsätzlich zur Zeitanschauung von Petrus Aureoli: Anneliese Maier,Scholastische Diskussionen über die Wesensbestimmung der Zeit, in: Scholastik 26(1951),520-556, bes. 547-549. Bereits bei Augustinus findet sich der Gedanke, daß dieZeiten für den Menschen nur in dessen seelischer Gegenwart existieren, die Zeit somit

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"motus extra non passet esse tempus sine anima" ("Ohne Seele könnte die Bewegungnicht als Zeit aufgefaßt werden")108. Das höchst bedeutsame Faktum, daß in den Dar-stellungen des Teppichs von Bayeux die Figuren fallweise zum Betrachter und nichtzueinander sprechen, erweitert somit das Zeitproblem zu einer Frage des Bewußt-seins, des zeiterfahrenden und zeitkonstituierenden Ich.

Der Begriff der "Zeit" bezieht sich nun vor allem auf die Interpretation bestimm-ter Aspekte des "kontinuierlichen Ereignisflusses, inmitten dessen Menschen lebenund von dem sie selbst ein Teil sind"l09 (N. Elias). Die Dynamik der Erzählung inder Zeit nimmt in dem Maße zu, je mehr der bestimmende und die Ereignisse stabili-sierende heilsgeschichtliche Rahmen an Bedeutung verliert. Das Bestreben nach derDauer im Vergänglichen wird in zunehmendem Maße abgelöst durch eine Suchenach Darstellungsformen des Vergänglichen in der Dauer: Die "mutabilitas rerum"gewinnt so die Oberhand über die dauernde Ordnung des SeinsllO. Das an sich fürdie mittelalterliche Historiographie "Typische, oft mit typologischem Bezug von

der gegenwärtige Eindruck ist. den die Seele als Vergangenheit. Gegenwart undZukunft empfindet. vgl. Wendorff (Anm. 3), 97f.; Corradini (Anm. 33), 24; Dux (Anm.3).326; noch für Descartes ist die Zeit ein "in der Seele Seiendes", vgl. Peter Dinzelba-eher, Zeit/Geschichte - Neuzeit, in: ders. (Anm. 10),650-663, bes. 651.

108 Armeliese Maier. Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie. in:Philosophia naturalis I (1950),361-398, bes. 392; Maier (Anm. 107),551; vgl. LorenzDittmann, Über das Verhältnis von Zeitstruktur und Farbgestaltung in Werken derMalerei, in: Friedrich Piel und Jörg Traeger (Hg.), Festschrift Wolfgang Braunfels,Tübingen 1977,93-109, bes. 94; vgl. hier auch die Differenz in der neuzeitlichen Philo-sophie zwischen dem Begriff der "absoluten Zeit" Newtons und Descartes' Anschauungder Zeit als etwas Subjektives und von der Dauer Verschiedenes: Alexandre Koyre,Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, FrankfurtlM. 1969 (Balti-more [MD] 11957), 149, 202f.

109 Elias (Anrn, 51), 40.110 Grundsätzlich: Werner Hager, Das geschichtliche Ereignisbild. Beitrag zu einer Typo-

logie des weltlichen Geschichtsbildes bis zur Aufklärung, München 1939, 3; vgl. Wal-ther Lammers, Ein universales Geschichtsbild der Stauferzeit in Miniaturen. Der Bil-derkreis zur Chronik Ottos von Freising im Jenenser Codex Bose q. 6, in: Alteuropaund die modeme Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner, hg. vom HistorischenSeminar der Universität Hamburg, Göningen 1963, 170-214, bes. 181-183, 186; Brun-ner (Anm, 40),435,442; Goetz 1992 (Anm. 21),75; zur Bejahung der (auch zeitlichverstandenen) "varietas" und "mutabilitas" (Wechsel der historischen Ereignisse undVielgestaltigkeit des historischen Lebens), die in der "humani generis infirmitas"begründet sind, bei Anselm von Havelberg (+ 1158): Spörl 1935 (Anm. I), 21-31, bes.28-30; Funkenstein (Anm. 21), 64f.; grundsätzlich: Wilhelm Berges, Anselm vonHavelberg in der Geistesgeschichte des 12. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für dieGeschichte Mittel- und Ostdeutschlands 5 (1956), 39-57; Peter Classen, "Res Gestae",Universal History, Apocalypse. Visions of Past and Future, in: Robert Louis Benson,Giles Constable und Carol D. Lanham (Hg.), Renaissance and Renewal in the TwelfthCentury, Oxford 1982,387-417, bes. 407-409.

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biblischen auf historische Gestalten und Ereignisse, und das Exemplarische, das zeit-los Gültige und Vorbildliche" I II (H. Grundmann) treten in ihrer Bedeutung zurück.Noch Otto von Freising ruft in seiner "Chronic a sive Historia de duabus civitatibus"(1143-1146) angesichts der dauernden elenden Veränderlichkeiten - "ob innumerasmutationum miserias" - zu einer Abwendung von der von ihm beklagten "temporummutabilitas" zugunsten der beständigen "civitas Dei" der Ewigkeit auf, die er sich imunveränderlichen Gottesstaat, fest geordnet in den Chören der Heiligen und Seligen,eingerichtet vorsteIltl12. Im Gegensatz zwischen der "civitas terrena", die das Ver-gängliche, Bleibende, Hinfällige und Trügerische verkörpert und der "civitas Dei",die mit den Werten des Bleibenden, Dauernden und Wahren1l3 verbunden ist, wirdein anschauliches Konstrastpaar formuliert, das der mittelalterlichen Anschauung vonProfan- und Heilsgeschichte entspricht. In dieser Hinsicht beschreiben Otto von Frei-sing und Johannes von Salisbury die Geschichte als "ein momentanes Fluktuierenvon Taten und Leiden, eingespannt zwischen unbewältigte Vergangenheit undundurchsichtige Zukunft,,114 (A. Borst). Zeit ist solcherart nur die natürliche Wandel-barkeit alles Geschaffenen. ist das Auf und Ab von Tag und Nachtl15. Die Historieselbst wird als eine geschichtliche Erscheinung begriffen und nicht mehr als eineBezeugung des Immergültigen'J''.

III Herbert Grundmann. Die Eigenart mittelalterlicher Geschichtsanschauung, in: Lam-mers (Anm. 40), 430-433, bes. 430; vgl. ders., Die Grundzüge der mittelalterlichenGeschichtsanschauungen, in: Archiv für Kulturgeschichte 24 (1934),326-336, wieder-abgedruckt in: Lammers ebd., 418-429; vgl. Borst 1988 (Anm. 106), 159.

112 Werner Kaegi, Chronica mundi. Grundfonnen der Geschichtschreibung seit dem Mit-telalter (Christ heute 3/6), EinsiedeIn 1954, 12; Lammers (Anm, 21), 84, 90; Lammers(Anm. 110),209; zu Otto von Freising: Spörl 1935 (Anm. I); Martin Haeusler, DasEnde der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik (Beihefte zum Archiv fürKulturgeschichte 13), Köln-Wien 1980, 33-42; Classen (Anm. 110),400-403; Goetz1984 (Anm. 21).

113 Kaegi ebd.114 Borst 1990 (Anm. 106),62.115 Arno Borst, Weltgeschichten im Mittelalter?, in: Koselleck / Stempel (Anm. 21),452-

456, bes. 454; Borst 1988 (Anm. 106), 127;Ehlers (Anm. 95), 65f., 8Of.116 Borst 1990 (Anrn. 106), 62; vgl. Bernard Guenee, Les premiers pas de l'histoire de

I'historiographie en occident au Xne siede, in: Academie des Inscriptions & Belles-Lettres, Comptes Rendues des seances de l'annee 1983 (seance du 4 mars), Paris 1983,136-152; Ferdinand Seibt, Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition deshistorischen Sinns, in: Die Zeit (Schriften der Carl Friedrich von Siemens Stiftung 6),München-Wien 1983, 145-188, bes. 162f.; Gertrud Bodmann, Jahreszahlen und Weltal-ter. Zeit- und Raumvorstellungen im Mittelalter, FrankfurtlM.-New York 1992, 31,221-228. Gunther Wolf, Das 12. Jahrhundert als Geburtsstunde der Modeme und dieFrage nach der Krise der Geschichtswissenschaft, in: Albert Zimmermann (Hg.), Anti-qui und Modemi. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelal-ter (Miscellanea Mediaevalia, Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universitätzu Köln 9), Berlin-New York 1974,81-83 brachte in Zusammenhang mit den Umwäl-

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Der sich hier abzeichnende Wandel vom frühchristlichen und typologischen Zeit-begriff zum innovativen Phänomen der neuen Zeitanschauung im Teppich von Bay-eux entspricht den unterschiedlichen Konzepten von "Zeit" als "Intensität" und"Extensität" in der Terminologie Henri Bergsons 117:Ist die "Extensität" als ein Aus-gedehntes teilbar und meßbar und impliziert Ereignisse, die voneinander trennbarsind, so muß die "Intensität" als unausgedehnt, unteilbar und nicht meßbar beschrie-ben werden: "Intensität" verkörpert somit die typologische Zeitanschauung als Auf-hebung der Zeit durch die Heilsgeschichte, eschatologisch gipfelnd in Apk 10, 6:"tempus amplius non erit" ("Es wird keine Zeit mehr sein"), "Extensität" hingegensteht hier für die neue Form der Erzählung in der Zeit als das von Hugo von St. Vik-tor formulierte Abbild einer geordneten Erzählfolge und Ereigniskette mit geglieder-ter Kontinuität, der "series narrationis,,118: "Historia enim longitudinem arcae meti-tur, quia in serie rerum gestarum ordo temporis invenitur" (Hugo von St. Viktor)119.

Der hier ansatzweise skizzierte Wandel im Zeitbegriff zeigt zudem deutlich einenbeginnenden Paradigmenwechsel in der Geschiehtsauffassung an. Die Darstellungdes Geschehens im Teppich von Bayeux ist nicht mehr an die prägende Vorbildwir-kung der "Einmaligkeit der Christustat der Mitte,,120 (0. Cullmann) gebunden, son-dern die Verbildlichung eines epochalen weltgeschichtlichen Ereignisses wird thema-tisch und strukturell nach neuen Prinzipien geordnet. Eine die "Grenzen der Zeit auf-hebende Gegenwärtigkeit'v+' (H. von Einem), die eine für die christliche Weltan-schauung typische "jederzeitliche Aktualität alles historischen Geschehens" 122 (E.Auerbach) impliziert, hat in der - primär von der historisch-realen Aktualität des

zungen im 12. Jahrhundert den Begriff der "Rationalität" in Spiel; zum Stand derDiskussion in dieser Frage: Hans-Werner Goetz, Einführung, in: Goetz (Anm. 3),9-16,bes. 13.

117 Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußt-seinstatsachen, berechtigte Übersetzung, Jena 1911; vgl. Kümmel (Anm. 33),14; Wen-dorff (Anm. 3),471-474; Mike Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtenden-zen der modemen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt 1998, 82-98(zu Henri Bergson).

118 Marie-Dominique Chenu, Conscience de l'histoire et theologie au xrr' siede, in:Archives d'histoire doctrinale et litteraire du Moyen Age 29 (1954), 107-133, bes.IlOf.; vgl. ders., La theologie au douzieme siede (Etudes de philosophie medievaleXLV), Paris 1957,72-84; Ehlers (Anm. 95), 67f.; LeGoff 1977 (Anm. 3), 398f.

119 Hugo von SI. Viktor, De area Noe morali, lib. IV, c. IX (PL 176, 678 D); vgl. Chenu1954 ebd., Ill, Anm. 2; Ehlers ebd., US, Anm. 93; Goetz (Anm. 10),646, Anm. 44.

120 Cullmann (Anrn, 3), 107.121 Herbert von Einem, Das Problem des Mythischen in der christlichen Kunst, in: Deut-

sche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 13 (1935),260-279, bes. 263f., wiederabgedruckt in: ders., Stil und Überlieferung. Aufsätze zurKunstgeschichte des Abendlandes (hg. von Thomas W. Gaehtgens und Reiner Hauss-herr), Düsseldorf 1971, 50-65.

122 Auerbach (Anm. 49), 21; Auerbach 1967 (Anm. 59), 81.

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Ereignisses bestimmten - Profangeschichte keine Bedeutung mehr. Nicht das verhei-ßene und in Gott bereits erfüllte Urbild des Geschehens wird bildlich umgesetzt, son-dern die profane Historie als sich selbst genügende Wirklichkeit, die nun nicht mehrals Teil des präsentisch gedachten Erlösungsdramas fungiert und im Teppich vonBayeux als Ereignisbild direkt auf den Rezipienten bezogen ist. Heilsgeschichteereignet sich nur mehr zum Teil in der Profangeschichte und sie deutet die Profange-schichte nicht mehr123, vielmehr fordert die Weltgeschichte selbst ihr legitimesRecht, indern Tod und "mutatio" als sichtbarste Äußerungen des wechselvollenLebens und der irdischen Veränderlichkeit die bleibende und unveränderliche Ord-nung überwinden. "Mutatio" wird jetzt als (zeitliche) Veränderlichkeit und alsschwankender Zustand der zeitliehen Dinge - im Sinne von Otto von Freising -verstanden124 und nicht mehr als die typologisch formulierte "mutatio" des Alten indas Neue wie noch in der Matthäussequenz des Gottschalk von Limburg (+ 1098),die Moses und Matthäus aufeinander beziehtI25.

Die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore (+ 1202), welche die gesamtemenschliche Historie - einschließlich der Zukunft - unter dem Zeichen der Erfüllungder christlichen Lehre als Heilsgeschehen in der Weltgeschichte interpretiert, ist indieser Hinsicht der letzte Exponent einer weitausgreifenden Geschichtsinterpretationvorn Standpunkt der mittelalterlichen Typologie mit dem Ziel, "die Geschichte desmenschlichen Heils und die Stellung des gegenwärtigen Menschen in dieserGeschichte möglichst erschöpfend zu beschreiben" 126 (M. Curschmann).

Der Bruch der Überlieferung, der hier deutlich wird, entspricht dem nunmehr zukonstatierenden Verlust eines heilsgeschichtlichen Endzieles, das die tatsächlichenhistorischen Geschehnisse transzendiert. Die Interpretation der Vergangenheit undGegenwart ist nun nicht mehr eschatologisch motivierte "rückwärtsgewandte Prophe-tie" 127 (K. Löwith) im Sinn der geforderten Manifestation einer bleibenden und gülti-gen Wahrheitl28, sondern Schilderung zeitlich einmaliger Handlungenl29, welche

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Vgl. Rahner (Anm. 21), 129.Spörl1930 (Anm. 1),504: In der Anschauung des Otto von Freising ist alles dem Wan-del, der "mutatio", unterworfen.Friedrich Ohly, Halbbiblische und außerbiblische Typologie, in: Simboli e simbologianell'alto medioevo, aprile 1975, Bd. 2 (Settimane di Studio del Centro italiano di Studisull'alto medioevo XXIII), Spoleto 1976, 429-472, wiederabgedruckt in: Ohly 1977(Anm. 11),361-400, bes. 391; vgl. Ohly 1979 (Anm. 100),166, Anm. 107.Michael Curschmann, Texte-Bilder-Strukturen. Der "Hortus deliciarum" und die früh-mittelhochdeutsche Geistlichendichtung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-wissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), H. 3,379-418, bes. 391.Löwith 1953 (Anm. 2),15.Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980(Moskau 11972) [München 51997],161.Vgl. Gogarten (Anm. 21),327; Goetz 1992 (Anm. 21), 82 hingegen meint, daß "demMittelalter der Sinn für das Zeitspezifische und das historisch Einmalige fehlte"; vgl. zudieser Problematik: Lammers (Anm. 110), 171. 202.

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Mediaevistik 13 . 2000 III

die übennächtige Bedeutung des "Nihil innovetur, nisi quod traditum est" abzustrei-fen beginnt. Die dramatisierte Historie erhält eine bestimmte menschliche Handlungals Mittelpunkt und gewinnt aus dieser ihre erzählerische Dynamik. Bedeutend wirdjetzt, was in der Zeit - als örtlich und zeitlich begrenzter Ereigniszusammenhang'v?- geschieht, wichtig wird ein zunehmend sensibles Verständnis für die "Zeitabständezwischen den Veränderungenv'j! (G. Kubler). Der Teppich von Bayeux zeigt nach-drücklich, daß jedem Geschehnis historisch betrachtet ein bestimmter Zeitpunkt undein bestimmter Ort entspricht. "In dieser grundsätzlichen Zuordnung ist die Einmalig-keit, Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit alles historischen Geschehens begrün-det,,132 (D. Frey). Dies setzt naturgemäß seine Beziehung zu vorhergehenden undnachfolgenden geschichtlichen Vorgängen voraus, in deren Relationsnetz es ver-flochten ist 133. Ereignisse sind im Sinne Abaelards unvorhersehbar und tragen des-halb ihren Sinn nicht in sich selber134. Wer aber diese Determiniertheit des Ereignis-ses durch Zeit und Raum negiert, bestreitet auch die Individualität und die "Zeitlich-keit des menschlichen Daseins" (M. Heidegger), die durch Zeit und Raum unver-wechselbar festgelegt sind.

Mit dieser Neubewertung der Profangeschichte im Hochmittelalter ist ein ersterSchritt in eine Richtung getan, mit dem die Emanzipation der Weltgeschichte vomprägenden Vorbild christlicher Heilsgeschichte als grundlegende Erscheinung derNeuzeit einsetzt und schließlich in der Aufklärung zur Auflösung der Bedeutung desalten Ciceronischen Topos "historia magistra vitae" 135 (R. Koselleck), der die Wie-

130 Dagobert Frey, Kunst und Geschichte, in: Frey 1976 (Anm. 91), 1-34, bes. 20: "JedemGeschehnis kommt demnach historisch betrachtet ein bestimmter Zeitpunkt und einbestimmter Ort zu"; vgl. Wolf (Anm. 116), 83: "Wer aber diese Determiniertheit desMenschen durch Zeit und Raum negiert. negiert auch die Individualität, die eben durchZeit und Raum unverwechselbar festgelegt ist"; zur aufkommenden Betonung des Indi-viduellen im 12. Jahrhundert: Peter Dronke, Poetic Individuality in the Middle Ages.New Departures in Poetry. 1000-1150, Oxford 1970; Colin M. Morris, The Discoveryof the Individual, 1050-1200, London 1972; John F. Benton, Consciousness of Self andPerception of Individuality, in: Benson I Constable I Lanham (Anm. 110), 263-295,bes.275.

131 George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, übersetztvon Bettina Blumenberg, mit einer Einleitung von Gottfried Boehm, FrankfurtlM. 1982(engl. New Haven-London 11962),47.

132 Frey (Anm. 130),20.133 Grundsätzlich: Werner Gent, Das Problem der Zeit. Eine historische und systematische

Untersuchung, Hildesheim 1965, 144.134 Borst 1988 (Anm. 106), 167.135 Reinhart Koselleck, "Historia magistra vitae". Ober die Auflösung des Topos im Hori-

zont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Hermann Braun und Manfred Riedel (Hg.),Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz1967, 196-219, wiederabgedruckt in: ders., Ve~angene Zukunft. Zur Semantikgeschichtlicher Zeiten, FrankfurtlM. 11979 (ebd. 1995), 38-66, bes. 56; vgl. ders.,

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derholbarkeit historischer Handlungen voraussetzt, führen wird. Ereignisse sind nunnicht mehr als "exempla" in eine abstrakte Linie der Heilserwartung eingefügt, son-dern manifestieren sich in ihrer spezifischen Eigengesetzlichkeit im beginnenden"Glauben an die Geschichte als solche"l36 (K. Löwith), indem "die Weltgeschichteaus der Heilsgeschichte heraustritt"l37 (H. U. von Balthasar).

"Der Glaube an die absolute Bedeutung der Geschichte als solcher ist das Ergeb-nis der Emanzipation des modemen historischen Bewußtseins von seiner Begrenzungdurch die klassische Kosmologie und die christliche Theologie"l38 (K. Löwith) undbegründet erstmals den Anspruch auf eine "'wirkliche', für sich selbst bestehendeWelt,,139 (E. Auerbach). Zugleich formuliert diese Emanzipation der Weltgeschichtevon der Heilsgeschichte die Loslösung des Zeitliehen vom Überzeitlich-Heilsge-schichtlichen der Typologie. Dieser Prozeß - gleichsam faßbar als ein Selbständig-werden der weltlichen Handlung - ist wie eine Bestätigung, daß der christlicheGlaube mit seinem Bekenntnis zur Allgegenwärtigkeit universaler Werte mit einemGlauben an die "mutabilitas" der geschichtlichen Welt unvereinbar warl40.

Dr. Werner Te/eskoKommission für KunstgeschichteDr.-l.-Seipl-Platz 2A-JOJO Wien

Abbildungsnachweis

Abb. 1: London, The British MuseumAbb. 2: London, The British LibraryAbb. 3: MarburgIL., Bildarchiv Foto Marburg, Nr. 423.712Abb. 4: MarburgIL., Bildarchiv Foto Marburg, Nr. 423.563Abb. 5: MarburgIL., Bildarchiv Foto Marburg, Nr. 423.682Abb. 6: MarburgIL., Bildarchiv Foto Marburg, NT.423.728

Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: Koselleck I Stempel (Anm.21),211-222.

136 Löwith 1966 (Anrn, 5), 40; vgl. Wendorff (Anm, 3), 178.137 Balthasar (Anm, 3), 136.138 Löwith 1966 (Anrn. 5), 40.139 Auerbach (Anm. 21), 15.140 Eliade 1953 (Anm. 7), 162; Löwith 1966 (Anm. 5),42; Borst 1973 (Anm. 115),455;

Simson 1993 (Anm. 20), 52; Eliade 1998 (Anm. 3), 187f. sprach davon, daß das Chri-stentum sich bemühte, "die Geschichte zu erlösen" (Kursivsetzung vom Verfasser)bzw. "sich in die Geschichte einschaltete, um sie aufzuheben".

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Abb. 1: London, The British Museum, Elfenbeintafel, Inv.-Nr. 56, 6-23, 4-7, trauernde Frauenam Grab Christi, 4201430

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Abb. 2: London, The British Library, Add. Ms. 17738, fol. 187r, Bibel von Floreffe, Kreuzi-gung Christi, nach 1153

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Abb. 3: Bayeux; Centre Guillaume le Conquerani, Teppich von Bayeux, Aufbruch der Nor-mannen in die Schlacht von Hastings, 1166/1182

Abb. 4: Bayeux, Centre Guillaume le Conquerant, Teppich von Bayeux, Harold leistet HerzogWilhelm den Eid, 1166/1182

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Abb. 5: Bayeux, Centre Guillaume le Conquerant, Teppich von Bayeux, Fest in Pevensey,1166/1182

Abb. 6: Bayeux, Centre Guillaume le Conquerant, Teppich von Bayeux, Harolds Kundschaf-ter, 1166/1182