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 Erhard J. Fischer Hesychia 

Hesychia

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Erhard J. Fischer

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Nach 25, 30 oder gar 35 Jahren Arbeit an sich selbst, seinen

Gedanken und Leidenschaften - verbunden mit der Unterstützung

durch das unablässig sprudelnde Jesusgebet - gelangt der Mensch

durch Gottes Gnade und Barmherzigkeit zur Ruhe des Herzens, der

Hesychia der Wüstenväter und Mönche des Athos, der Starzen

Russlands, aber auch bedeutender Heiliger des Westens. Dies wird

begleitet durch ein zurückgezogenes Leben in Einsamkeit, abge-

schirmt von jeglicher Zerstreuung. Bereits die Wüstenväter lehrten

in ihren Apophthegmen (Aussprüchen) das „Bewahren der Zun-

ge“ zur Erhaltung von Wachsamkeit und Ruhe ( hesychia  ). Ein reines

unschuldiges Herz wird erlangt, das keinerlei Schatten mehr beher-bergt, keine bösen Gedanken, Vorstellungen, Anmutungen hegt,

nur reine, unverfälschte Liebe, ohne jegliche Bedingung. Diese

Liebe richtet sich auf Gott, den Nächsten, alle Geschöpfe und die

gesamte Schöpfung. Die Gabe der Tränen stellt sich ein.

Zur Trauer sagen die Wüstenväter (250 – 450 n. Chr.) sehr Unter-

schiedliches. „Normale“ Trauer - wir Heutigen sprechen da eher von Depression - wird von ihnen als „Laster“ angesehen, während

Penthos  die göttliche Traurigkeit darstellt, die von diesen Altvätern

als besondere Gnadengabe angestrebt wurde. Dies ist die Trauer

über die eigenen Sünden, die beweint werden.

Loslassen von allem Negativen wie Groll, Hass, Rache, Vergeltung,

Strafe, Trotz, auch Sarkasmus und schließlich sogar Ironie. Spar-

samkeit mit Worten, Zurückhaltung jeglicher Gewalt, Druck, Mani-

pulation, weil wir einmal für unsere Worte gerichtet werden. In

Matthäus 12 lesen wir: 36  Ich sage euch aber, daß die Menschen am Tag des

Gerichts Rechenschaft geben müssen von jedem unnützen Wort, das sie geredet

haben. 37   Denn nach deinen Worten wirst du gerechtfertigt, und nach deinen

Worten wirst du verurteilt werden!

Dieser Mensch redet nur, wenn er gefragt wird. Sollte ihm eine hin-terhältige Frage gestellt werden, vergibt er dem Frager seine Bosheit

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und antwortet milde. Dann bestimmt das Herz über den Verstand,

Bewusstes und Unbewusstes klaffen nicht mehr auseinander, die

Unschuld des Kindes wird zurückerlangt. Das Herz ist ruhig gewor-

den und schweigt. weil die Seele zur Ruhe gekommen ist. Gelassen-

heit, äußere Stille und inneres Schweigen breiten sich aus, neben

reinen unschuldigen Gedanken des Friedens und Wohlwollens.

 Jeder Gedanke wird zum Segensgebet. Alle Planung ist längst aus-

geschaltet. Alle Aufregung, Jammern oder gar Tadel sind in weite

Ferne gerückt, da - durch unzählige Versuchungen erprobt und ge-

stählt - alle Emotionen zur Ruhe gekommen sind.

 Jegliches Urteilen oder gar Verurteilen ist fremd geworden, wird in

der Schwebe gehalten, ausgeblendet. Denn Jesus mahnt in Lukas

6,37: Richte nicht, und du wirst nicht gerichtet werden, verurteile nicht, und du

wirst nicht verurteilt werden , während Paulus sagt: Richtet nicht vor der Zeit,

bis der Herr kommt. Er wird auch das im Dunkel Verborgene ans Licht brin- 

 gen und die Gesinnung der Herzen offenbar machen  (1Kor 4,5). Die Schrift

 wird wirklich ernst genommen. Man braucht eine wahrhaft göttlicheSicht der Dinge, um zwischen Urteilen und Unterscheiden  zu dif-

ferenzieren, dafür bedarf es der Gabe der Herzensschau.

Das Thema Nicht urteilen  ist eine, wenn nicht sogar die essentielle

Lehre aller echten Religionen und Mysterienschulen und wurde

immer nur in inneren Kreisen weitergegeben, gerade weil sie so

missverständlich ist. Denn sie ist nur aus einer göttlichen Sicht zu

 verstehen. Im Urteilen sind wir nicht eins mit dem Ganzen. Wir sind mit

Bruchstücken beschäftigt und aus kleinen Dingen ziehen wir voreilige Schlüsse.

Im Urteilen bleiben wir stehen und trennen uns vom Wachstum. Der Verstand

neigt zum schnellen Urteilen, denn für ihn ist es immer beunruhigend, in

Bewegung zu bleiben. Unterscheiden ohne zu urteilen bedeutet also: Die Dua- 

lität nicht ignorieren, sondern transzendieren  (Risi). 

 Alles wird sofort vergeben, nichts Übles mehr lauert in den Ge-danken, da aller Groll, jegliche Kränkung sofort in Gott hinein los-

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gelassen wird. Die Gegenwart Gottes ist etwas Selbstverständliches

geworden. Tiefe Zufriedenheit, Güte, bedingungslose Liebe,

Freundlichkeit, äußerstes Wohlwollen und sogar die Herzensschau

(Gabe der Erkenntnis, 1Kor 12,8; vergl. Zimmerling, Anmerkung

212) - jeglicher Gedanke, die Herzensgesinnung eines Gegenübers

 wird erkannt, was dieser Mensch braucht, es werden die verbor-

genen Hindernisse ausgelotet, die auf dem Weg zu Gott liegen,

dabei wird das Beste zum Klingen gebracht und die reine Sehnsucht

nach Gott angefacht - sind zu grundlegenden Eigenschaften gewor-

den. Weil schlussendlich alles losgelassen wurde, stören auch wäh-

rend des Gebets, der Meditation oder Kontemplation keinerleiGedanken mehr. Jeder Atemzug ist Gebet, Fürbitte, Danksagung,

 Anbetung, Lobpreis und Hingabe zugleich. Der Beter tritt in den

Riss (Hes/Ez 13,5; 22,30), das Jesusgebet ist zum Herzensgebet ge-

 worden. Und dieses Gebet bedarf keiner Worte mehr, es geht

schlechthin in einen Dauerzustand über. Der eigene Wille wurde in

den Gottes losgelassen, weil das Vater unser  ernst genommen wird,

 wo wir beten: Dein Wille geschehe .

Eine radikale und kompromisslose Haltung hat den geläuterten

Menschen erfasst - er ruht in Gottes Hand, er ist von allem unab-

hängig. Geduld, Demut, Sanftmut, Gleichmut, Bedingungslosigkeit,

 Vergebungsbereitschaft haben sich bei ihm eingenistet. Die Aus-

strahlung dieser Menschen ist Heiligkeit, Gelassenheit, Unerschüt-

terlichkeit. Er ist wahrhaft mündig und nicht mehr abhängig von

Lob oder Tadel, Reichtum oder Armut, Krankheit oder Gesundheit.

Die einzige Abhängigkeit stellt Gott dar. Es wird nichts mehr

erwartet - nur bedingungslos lieben in unendlicher Dankbarkeit.

Nichts mehr wollen, besonders nicht für sich selbst, wunschloses

Glück wuchert. Hesychia ist ein Zustand ständiger Bewusstheit und

 Wachsamkeit. Das Ergebnis ist durch Gottes Gnade ein wahrhaft

geläuterter und erwachsener Mensch, gänzlich nach dem Willen

Gottes gestaltet.

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 Auslöser für Hesychia war ein Text von A. M. im. Januar 2014 in der Litera-rischen Werkstatt Altenkirchen im Haus Felsenkeller. Daraus resultierte die 

Überlegung, was ist die hervorstechende Eigenschaft des wirklich reifen und

erwachsenen Menschen - Hesychia.

Quellen:

Risi, Armin, Unterscheiden, ohne zu urteilen – Was bedeutet das?http://armin-risi.ch/Artikel/Philosophie/Unterscheiden_ohne_zu_urteilen.html 

Zimmerling, Peter, Die charismatischen Bewegungen: Theologie, Spiritualität,

 Anstösse zum Gespräch, Göttingen 2009http://books.google.de/books?id=SrYyNzOrlsQC&pg=PA287&lpg=PA287&dq=gabe+der+herzensschau&source=bl&ots=cN06XmDKNZ&sig=D547hg9fUbB7GMQhNrZotpHk nKM&hl=de&sa=X&ei=V8DWUqrnCcuBywPT4oCoBw&ved=0CDEQ6AEwAA#v=onepage&q=gabe%20der%20herzensschau&f=false 

 Anmerkung 212Die Gabe der Erkenntnis erinnert an die im russischen Starzentumaufgetretene Gabe der Herzensschau, die diese befähigte, die Problemeder Seelsorgesuchenden ohne vorheriges Gespräch zu erkennen. Die

Starzen haben diese Gabe als übernatürliche Gabe des Heiligen Geistesbetrachtet (dazu Maria Kaißling/Tatjana Goritschewa, Russisch-ortho-doxe Seelsorge/Starzen, in: Möller, Geschichte der Seelsorge in Einzel-portraits, Bd. 3, 362 f.; Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen,

 Wien 1936, der diesem Phänomen in der Geschichte der Starzennachgeht).