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90 GIESSEREI 103 01/2016 VON KARIN HARDTKE, RATINGEN E s ist Freitagnachmittag, kurz vor 15 Uhr. „Ist das warm hier drin“, ent- fährt es einem der über 100 ange- reisten Gemeindemitglieder, die sich an diesem schwülen Sommertag rund um die Glockengrube bei Petit & Gebr. Edelbrock in Gescher versammelt haben. Sie alle wollen den Moment erleben, wenn „ihre“ Kirchenglocken gegossen werden. Mona- telang haben sie auf diesen Augenblick gewartet. Allerorten ist aufgeregtes Ge- murmel zu hören, Fotoapparate werden in Position gebracht, und hier und da wird ein wenig gedrängelt, um sich den ver- meintlich besten Blick auf die Glocken- grube zu sichern. An deren Kopfende, in sicherer Entfernung zu den Besuchern, ragt der fast 100 Jahre alte steinerne Schmelzofen in die Höhe. In seinem Inne- ren: 4500 Kilogramm glühende Bronze, 1200 Grad heiß, die sich in wenigen Mi- nuten ihren Weg durch ein Rinnensystem in die Hohlräume zu den in der Erde ein- gegrabenen Glockenformen bahnen wird. „Drei Gemeinden haben uns damit beauf- tragt, neue Glocken für ihr Kirchengeläut zu gießen. Insgesamt vier Stück werden es heute sein“, erklärt Geschäftsführer Rainer Esser, der seit Ende 2012 erfolg- reich die Geschicke bei Petit & Gebr. Edelbrock lenkt. Seit 325 Jahren werden Heute muss die Glocke werden Hochmoderne Maschinen, komplexe Produktionsanlagen und vernetzte Software- Systeme – in den meisten deutschen Gießereien ist der technische Fortschritt längst Alltag. Wenn hingegen in der Kunst- und Glockenguss-Manufaktur Petit & Gebr. Edel- brock GmbH & Co. KG im münsterländischen Gescher Kirchenglocken gegossen werden, ist von moderner Technik eher wenig zu spüren. Stattdessen erlebt der Besucher Traditionen und Gießverfahren, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert haben. Und gerade das macht den Reiz aus. Ein bewegendes Erlebnis – das niemanden kalt lässt. Eine mehrwöchige Zeit der Vorbereitung geht zu Ende: Die Glockengießer von Petit & Gebr. Edelbrock stehen in den Startlöchern für den ersten großen Glockenguss des Jahres 2015. FOTOS: ANDREAS BEDNARECK Sonderdruck aus GIESSEREI (2016), Heft 1, Seite 90– 93. © Giesserei-Verlag GmbH, Düsseldorf.

Heute muss die Glocke werden

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VON KARIN HARDTKE, RATINGEN

Es ist Freitagnachmittag, kurz vor 15 Uhr. „Ist das warm hier drin“, ent-fährt es einem der über 100 ange-

reisten Gemeindemitglieder, die sich an diesem schwülen Sommertag rund um die Glockengrube bei Petit & Gebr. Edelbrock in Gescher versammelt haben. Sie alle wollen den Moment erleben, wenn „ihre“ Kirchenglocken gegossen werden. Mona-

telang haben sie auf diesen Augenblick gewartet. Allerorten ist aufgeregtes Ge-murmel zu hören, Fotoapparate werden in Position gebracht, und hier und da wird ein wenig gedrängelt, um sich den ver-meintlich besten Blick auf die Glocken-grube zu sichern. An deren Kopfende, in sicherer Entfernung zu den Besuchern, ragt der fast 100 Jahre alte steinerne Schmelzofen in die Höhe. In seinem Inne-ren: 4500 Kilogramm glühende Bronze,

1200 Grad heiß, die sich in wenigen Mi-nuten ihren Weg durch ein Rinnensystem in die Hohlräume zu den in der Erde ein-gegrabenen Glockenformen bahnen wird. „Drei Gemeinden haben uns damit beauf-tragt, neue Glocken für ihr Kirchengeläut zu gießen. Insgesamt vier Stück werden es heute sein“, erklärt Geschäftsführer Rainer Esser, der seit Ende 2012 erfolg-reich die Geschicke bei Petit & Gebr. Edelbrock lenkt. Seit 325 Jahren werden

Heute muss die Glocke werdenHochmoderne Maschinen, komplexe Produktionsanlagen und vernetzte Software- Systeme – in den meisten deutschen Gießereien ist der technische Fortschritt längst Alltag. Wenn hingegen in der Kunst- und Glockenguss-Manufaktur Petit & Gebr. Edel-brock GmbH & Co. KG im münsterländischen Gescher Kirchenglocken gegossen werden, ist von moderner Technik eher wenig zu spüren. Stattdessen erlebt der Besucher Traditionen und Gießverfahren, die sich seit Jahrhunderten kaum verändert haben. Und gerade das macht den Reiz aus. Ein bewegendes Erlebnis – das niemanden kalt lässt.

Eine mehrwöchige Zeit der Vorbereitung geht zu Ende: Die Glockengießer von Petit & Gebr. Edelbrock stehen in den Startlöchern für den ersten großen Glockenguss des Jahres 2015.

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Sonderdruck aus GIESSEREI (2016), Heft 1, Seite 90– 93.© Giesserei-Verlag GmbH, Düsseldorf.

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hier Kirchenglocken gegossen. Und seit 325 Jahren werden sie immer an einem Freitagnachmittag gegossen, Punkt 15 Uhr. „Nach der Überlieferung ist das die Todesstunde Jesu Christi“, so Rainer Es-ser, sagt’s und ist bereits wieder auf dem Weg, um sich um seine Gäste zu kümmern. An solchen Tagen gibt es viel zu tun.

Festgemauert in der Erden

An diesem Freitagnachmittag endet eine lange und äußerst komplexe Phase der Vorbereitung. Viele einzelne Arbeitsschrit-te sind notwendig, bis die Glockenformen endgültig fertiggestellt sind. Alles ist auch heute noch reine Handarbeit. Seit Jahr-hunderten hat sich daran kaum etwas ver-ändert. Vom ersten Handgriff bis zum end-gültigen Abguss können so schon einmal zwölf Wochen vergehen. Einige Tage, be-vor die Glocken dann endgültig gegossen werden, bringen die Arbeiter nach und nach schichtweise Erde zwischen die For-men in der Glockengrube ein und stamp-fen sie immer wieder behutsam im Gleich-takt fest (Bild1). Gut zwei Tage braucht es, bis schließlich nur noch die Einguss-löcher herausschauen und die Erde die Glockenformen fest umschließt. „Ansons-ten würden die Formen den Druck, der beim Guss entsteht, gar nicht aushalten“, erklärt Glockengießer Fabian Mehring rou-

tiniert. Für den jungen Mann mit der coo-len, schwarzen Mütze ist das heute der allererste Glockenguss, bei dem er von Anfang an dabei ist. Ein wenig nervös sei er schon, gibt er offen zu. Dies sei eben etwas ganz Besonderes.

Mehring ist wie seine Arbeitskollegen schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Dann beginnen die Glockengießer bereits damit, den Schmelzofen aufzuhei-zen und mit der Glockenspeise zu beschi-cken. Denn bis die schließlich die erfor-derliche Temperatur von circa 1200 Grad erreicht hat, dauert es schon eine Weile, so Mehring. Die Tage, an denen bei Petit & Gebr. Edelbrock Glocken gegossen wer-den, sind für alle Beteiligten immer die

längsten Arbeitstage des Jahres. Lange bevor die ersten Besucher eintreffen, ha-ben sie bereits die Lehmrinnen, die zu den Glockenformen führen, mit Briketts und glühender Kohle gefüllt. Dies garantiert, dass die Rinnen richtig aushärten und bis zum Glockenguss schön heiß bleiben.

Und auch wenn Glockengießer Micha-el Hörnemann schon seit mehr als 25 Jah-ren bei Petit & Gebr. Edelbrock arbeitet,

Bild 1: Hier ist Teamarbeit gefragt: Um die Erde zwischen die Glockenfor-men zu bringen und fest zu stampfen, braucht es Ausdauer und Ruhe. Erschüt-terungen könnten die Glockenformen beschädigen.

Bild 2: Eine Glo-ckengießer-Traditi-on, die sich bewährt hat: Ein befeuchte-ter Birkenholzstab leistet beim Umrüh-ren der glühenden Masse auch heute noch gute Dienste.

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UNTERNEHMEN & MÄRKTE

so ist auch für ihn der Tag des Glocken-gusses niemals nur Routine. Immer wie-der öffnet er an diesem Vormittag das eiserne Tor des Schmelzofens und ver-senkt den Temperaturmesser in der hei-ßen Glut. Gegen 14 Uhr, als die ersten Besucher eintreffen, hat die Glockenspei-se 1100 Grad erreicht. Für einen erfolg-reichen Glockenguss reicht das noch nicht. Das Tor wird also wieder geschlos-sen und der Schmelzofen noch einmal angefeuert. Als der Temperaturfühler ge-gen 14.30 Uhr dann 1150 Grad anzeigt, werden die ersten Zinnbarren, die bis da-hin sorgfältig aufgereiht neben dem Schmelzofen lagen, beigemengt. Das Zinn dürfe auf keinen Fall zu früh dazugegeben werden, erklärt Hörnemann. „Es schmilzt sonst zu schnell und verdampft dann.“ Wie seit Jahrhunderten wird die glühende Masse in bewährter Glockenguss-Traditi-on mit einem feuchten Birkenholzstab durchmischt (Bild 2).

Von alldem bekommen die Kirchenge-meinden kaum etwas mit. So wie etwa die katholische Gemeinde Sankt Peter und Paul aus dem hessischen Hochheim am

Main. Gut 30 Mitglieder sind angereist, vier Stunden Busfahrt haben die überwie-gend älteren Gäste bereits hinter sich. „Wir haben bei Petit & Gebr. Edelbrock eine neue Kirchenglocke in Auftrag gegeben“, berichtet Pfarrer Markus Schmidt stolz. Ein eingestrichenes G, so heißt der Nominal-ton, wird sie haben und 700 Kilogramm schwer sein. Auf einen sechzehntel Ton genau werden die Glocken hier gegossen. Die überlieferte Erfahrung von 14 Glocken-gießer-Generationen macht es möglich. Auch die katholische Kirchengemeinde Sankt Johannes der Täufer aus Westerste-de bei Oldenburg und die evangelisch-lu-

therische Gemeinde aus Wildemann im Oberharz vertrauen ihre neuen Kirchen-glocken der Gescheraner Gießerei an.

Nun kann der Guss beginnen

Und schließlich ist es soweit. Um Punkt 15 Uhr begrüßt Ellen Hüesker die Besu-cher. Die Ingenieurin für Metallurgie und Werkstoffkunde und Frau des Unterneh-menserben und Glockengießers Hans Göran Hüesker erklärt ihnen ganz genau, wo welche Glocke in der Glockengrube vergraben ist, welches Gewicht und wel-chen Ton sie haben wird. Ein letztes Mal wird nun das Tor zum Schmelzofen geöff-

Bild 3: Metallplatten verdecken die glühen-de Glockenspeise auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort. Die entweichenden Gase werden abgefackelt.

Bild 4: Kurz vorm Abguss entfernen die Glockengießer die glühende Kohle aus den Rinnen, die zu den Glockenformen führen.

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net. Die Glockengießer geben das restli-che Zinn dazu und fügen Phosphorkupfer bei, „das immer ganz zum Schluss dazu-gegeben wird, um einen porenfreien Guss und einen guten Nachhall der Glocke zu erreichen“, wie Ellen Hüesker den inter-essierten Besuchern erläutert. Flammen schießen hervor, es scheppert und bro-delt bedrohlich. Die Glockengießer ma-chen sich nun daran, die Rinnen zu den Glockenformen von der glühenden Kohle zu befreien und mit Metallplatten abzu-decken – Staub und Asche mischen sich mit der stickigen Luft (Bild 3).

Und dann schallt kirchlicher Gesang durch die alten Gemäuer: „Lobet den Her-ren“ singen sie alle zusammen und beten ehrfürchtig das Vaterunser. Obwohl sich die verschiedenen Besucher aus den Ge-meinden heute zum ersten Mal begegnen, durchzieht ein unsichtbares Band der Ver-bundenheit diesen Raum. Man spürt förmlich die Energie und Geschichte der unzähligen Kirchengemeinden, die hier bereits für ihre Glocken gebetet und ge-sungen haben. Die Welt scheint in diesem kurzen Moment der Einkehr stillzustehen, konzentriert auf das Wesentliche, auf das was im Leben tatsächlich zählt.

Ellen Hüesker bittet die Besucher ein-dringlich, während des Glockengusses mucksmäuschenstill zu sein, „damit die

Gießer untereinander die Kommandos klar und deutlich verstehen können“. Glo-ckengießer Hans Göran Hüesker steht nun mitten unter seinen Mitarbeitern. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagt er mit ernster Mie-ne und bekreuzigt sich. „Im Namen Got-tes“, antworten die Glockengießer. Jeder von ihnen hat seinen festen Platz und sei-ne Aufgabe. Sie stehen bereits an den einzelnen Glockenformen. Mit wuchtigen Hammerschlägen wird der Zapfen, der noch den Schmelzofen verschließt, her-ausgeschlagen. Er wehrt sich zuerst noch ein wenig, aber schließlich strömt die glü-hende Bronzelava gurgelnd und zischend in die vorbereiteten Kanäle. Im selben Moment steigt die ohnehin schon hohe Temperatur im Raum noch einmal an.

Die Massen sind im Fluss

Die Kirchenglocken werden immer nach-einander gegossen, an jeder „Abzwei-gung“ versperren Schieber der Glut das Weiterlaufen in die Glockenformen. Erst wenn Hüesker dem verantwortlichen Glo-ckengießer das vereinbarte Zeichen gibt, darf der den Schieber entfernen, und die Glockenform füllt sich langsam. „Fabian, im Namen Gottes“, sagt Hüesker laut und deutlich – und Fabian Mehring hat seinen

ersten Auftritt als Glockengießer. Aus den Entlüftungslöchern der Glockenformen entweichen die Gase, die dann abgefa-ckelt werden (Bild 4). Nach gut einer Vier-telstunde sind alle Glockenformen vollge-laufen. Der Rest der Bronze verbleibt in den Rinnen, denn die Glocken ziehen noch Guss nach. Man spürt förmlich, wie die Anspannung im Raum langsam nachlässt und einer gewissen Zufriedenheit weicht. Auch Hans Göran Hüesker huscht ein Lä-cheln über sein Gesicht. Er dankt seinen Mitarbeitern für ihre Arbeit – auch das hat eine lange Tradition.

Nur langsam finden die Besucher wie-der ins Hier und Jetzt zurück. Einen blei-benden Eindruck hat dieses außerge-wöhnliche Erlebnis bei ihnen allen hin-terlassen. Ob bei dem älteren Herrn aus Hochheim am Main, der Schillers „Lied von der Glocke“ auswendig rezitieren kann und „endlich einmal einen wirkli-chen Glockenguss erleben wollte“. Oder bei Pfarrsekretärin Gaby Kuipers aus Westerstede: „Das Alles hat mich sehr beeindruckt. Ich habe viele Fotos ge-macht“, erzählt sie. Und in Westerstede freuen sich alle schon auf die neue Kir-chenglocke aus dem Hause Petit & Gebr. Edelbrock. Denn der Ton wurde so ge-wählt, dass zukünftig alle Glocken sämt-licher Kirchengemeinden am Ort klang-lich aufeinander abgestimmt sind.

Zwei Wochen wird es ungefähr dauern, bis die Glocken ausgekühlt sind und die Formen geöffnet werden können. Erst dann kann mit Gewissheit gesagt werden, ob der Guss gelungen ist. Anschließend stehen noch Feinarbeiten auf dem Pro-gramm, bevor die Glocken schließlich an ihren Bestimmungsort gebracht werden. Die Kirchengemeinden treten nun ihre Heimreise an und verstreuen sich wieder in alle Winde. Für die Glockengießer von Petit & Gebr. Edelbrock folgt nach dem heißen Guss jetzt der kalte Guss: eine kühle Flasche Bier und ein Kotelett auf die Hand. Das haben sie sich verdient (Bild 5). Bis die Glockengrube für einen nächsten Guss wieder gefüllt ist, wird es noch eine Weile dauern. Aber dann heißt es wieder: „Im Namen Gottes“ – und das auch in Zukunft an einem Freitagnach-mittag, Punkt 15 Uhr.

Bild 5: Macht Arbeit glücklich? Die richti-ge Arbeit anschei-nend schon: Fabian Mehring hat seinen ersten Glockenguss erfolgreich hinter sich gebracht. Es wird garantiert nicht sein letzter sein.