Hilarion_Rede Über Das Gesetz Und Die Gnade

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Predigt des Metropoliten Hilarionüber das Gesetz und die Gnade

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  • Der Metropolit Ilarion

    Die altrussische Chronik berichtet unter dem Jahre 1051 [6559]: Jaroslav setzte denLarion, einen Russen, in der heiligen Soa als Metropoliten ein, nachdem er die Bisch-fe versammelt hatte (( . s. . . [6559 (1051)] . . . . V lt. s. f. nth. [6559(1051)] Postavi Jaroslav Larina mitropolitom. Rusina. v sti Sothi. sobrav epspy.)1. ImAnschlu daran erzhlt sie die Geschichte von der Grndung des Kiever Hhlenklosters;bei dieser Gelegenheit wird Ilarion noch einmal, jetzt etwas ausfhrlicher, erwhnt undcharakterisiert. Danach war er Priester an der Kirche der heiligen Apostel in Beresto-vo, einer frstlichen Residenz nahe bei Kiev, ein frommer und gelehrter Mann und einFaster. Und er pegte von Berestovo zum Dnepr zu gehen, zu dem Hgel, wo jetzt dasalte Hhlenkloster ist, und dort sein Gebet zu verrichten; denn es war dort ein groerWald. Und er grub eine kleine Hhle, zwei Klafter gro, und kam von Berestovo undsang hier die Stunden und betete im Verborgenen zu Gott. Dann aber legte Gott demFrsten ins Herz, und er setzte ihn in der heiligen Soa als Metropoliten ein, diese Hhleaber stand leer 2. Spter sei dann ein Russe, der auf dem Athos zum Mnch gescho-ren war und dabei den Namen Antonij erhalten hatte, zu dieser von Ilarion gegrabenenHhle gekommen und habe sich in ihr niedergelassen. Daraus sei das berhmte KieverHhlenkloster entstanden3.

    Etwas anders war das Verhltnis zwischen Ilarion und Antonij in der nicht erhalte-nen Vita des Antonij dargestellt: zwischen 1215 und 1226 schrieb Simon, ein ehemaligerMnch des Hhlenklosters, jetzt Bischof in Vladimir, an einen noch im Hhlenklosterlebenden Mnch, Polikarp: Vom Metropoliten Ilarion hast du in der Vita des heiligenAntonij selbst gelesen, da jener von diesem (zum Mnch) geschoren und so des Bi-schofsranges gewrdigt wurde 4.

    Die Nachrichten der Chronik und des Paterik ber die Erhebung Ilarions zum Bischofwerden besttigt durch seine Unterschrift unter dem oenbar von ihm selbst verfatenGlaubensbekenntnis Ich, durch die Gnade des menschenliebenden Gottes, Mnch undPriester Ilarion, wurde durch seinen Willen von den Gott ehrenden Bischfen geweihtund inthronisiert in der groen und von Gott behteten Stadt Kiev, da ich in ihr Me-tropolit sei, Hirte und Lehrer. Es geschah dieses aber im Jahre 6559, da der frommeKagan Jaroslav, der Sohn Vladimirs, Herrscher war. Amen. Alle Zeugnisse zusammenzeigen, da Ilarion vor seiner Erhebung zum Metropoliten oenbar nicht Weltpriester,sondern Mnchspriester, Hieromonach war. Die asketische bung, in einer Hhle zuleben, drfte kaum im Raum um Kiev in spontaner Weise entstanden sein; sie lt viel-mehr darauf schlieen, da Ilarion Beziehungen zu fernen Lndern hatte, wo diese Sit-te in hhlenreichen Gebieten seit alters herrschte: entweder zum heutigen Sdrulandoder zu Griechenland. Wegen der engen Verbindung, in die er sowohl durch die Chronikwie durch die verlorene Vita des Antonij mit dem Athosmnch Antonij gebracht wird,mchte ich glauben, da auch Ilarion Beziehungen zu Griechenland gehabt hat. Auch1 Chr. 1051, 104, 31f.2 Chr. 1051, 104, 35 105, 7.3 105, 8.4 Paterik des Kiever Hhlenklosters, S. 76. Er lautet auf russisch: Ilariona mitropolita el esi sam vitii svjatago Antonija, jako ot togo postrien byst i tako svjaenstva spodoblen byst.

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    der auallend hohe Stand seiner theologischen und rhetorischen Bildung deutet in die-se Richtung; die ausgiebige Benutzung der kirchenvterlichen Literatur im Slovo undim Glaubensbekenntnis macht wahrscheinlich, da ihr Verfasser griechisch gekonnthat; und schlielich erwecken die Schilderung des frommen griechischen Landes imSlovo des Ilarion

    5 und das stillschweigende Eingestndnis, da die Kiever Sophienkir-che zwar von keiner Kirche in Nordeuropa, wohl aber von den kirchlichen PrachtbautenSdeuropas bertroen werde6, den Eindruck, da der Redner hier aus eigener Anschau-ung spricht, also das fromme griechische Land selbst gesehen hat.Ludolf Mller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede auf Vladimir den Heiligen und Glaubensbekenntnis,1962, S. 1 2.

    Radziwi-Chronik, fol. 90: Jaroslaw der Weise setzt in der Sophienkathedrale in Kiewden ersten russischen Metropoliten ein, Ilarion (1051).

    Hilarion of Kiev, hieromonk. In 1051 Hilarion became the rst Russian metropolitan ofKiev. His extant works, theologically signicant, are also stylistic masterpieces: Sermonon Law and Grace, Confession of Faith (written on the occasion of his enthronement),Hymn to Saint Vladimir, and Prayer for Russia. Nothing is known about the end of hisreign as metropolitan and his death. A dierent metropolitan of Kiev is already attested in1055. There is no evidence from reliable sources for a frequently posited conict betweenKiev and Constantinople over his appointment as metropolitan.

    Mller, Ludolf: Hilarion of Kiev in: Religion Past and Present, Brill Online, 2014.

    5 Slovo 39, 3 9.6 Slovo 45, 14.

  • Das Slovo o zakon i blagodati

    Inhalt und Gliederung

    Der Inhalt und die Gliederung des Slovo werden in der kunstvollen, oenbar vom Ver-fasser selbst stammenden berschrift in klarerWeise angegeben. Danach hat das Slovovier Hauptteile7:1. ber das Gesetz, das durch Mose gegeben ist, und ber die Gnade und Wahrheit,

    die durch Jesus Christus geworden sind.2. Wie das Gesetz vergangen ist, die Gnade und die Wahrheit aber die ganze Welt

    erfllt haben und wie der Glaube sich ber alle Vlker erstreckt hat und auch bis zuunserem russischen Volke gekommen ist.

    3. Lobpreis auf unseren Frsten Vladimir, durch den wir getauft sind.4. Gebet zu Gott fr unser ganzes Land.1. ,

    ;2. , ,

    , ;3. , ,4. .1. O zakon Moiseom dannm emu, i o blagodati i istin Iisus Xristom byvim;2. i kako zakon otide, blagodat e i istina vsju zemlju ispolni, i Vra v vsja jazyky prost-

    resja, i do naego jazyka Russkago;3. i poxvala Kaganu naemu Vladimiru, ot negoe kreeni byxom,4. i molitva k Bogu ot vsea zemli naea.

    Im einzelnen hat das Werk folgenden Gedankengang:

    A. Einleitung. 22,924,121. Lob Gottes fr die Befreiung der Menschheit vom Gtzendienst, und zwar erstens

    die Rechtfertigung der Juden durch das Gesetz und zweitens die Erlsung aller Vlkerdurch das Evangelium. Dieser Gedanke wird in zweimaligem Ansatz durchgefhrt: 1.22,923, 10; 2. 23,1123,25. Damit ist das Thema angegeben.Dann

    2. Einschrnkung des Themas: nicht ber die Lehre der Propheten und Apostel sollgeredet werden: 24,110.

    B. Ausfhrung. 24,1048,10I. Hauptteil: ber das Gesetz, das durch Mose gegeben ist, und ber die Gnade und

    Wahrheit, die durch Jesus Christus geworden sind. 24,1031,25.7 Gewhnlich teilt man es in drei Hauptteile ein, indem man den ersten und zweiten zu einem einzigenzusammenfat. Die berschrift steht Slovo 22,17.

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    1. berschrift und Einfhrung. 24, 1015.2. Gesetz und Gnade unter dem Bild von Hagar und Sara in zehn typologischen Ge-

    genberstellungen. 24,1527,3.3. Sieben Antithesen von Gesetz und Gnade. 27,321.4. Die Paradoxie, da das ltere (das Judentum) von dem Jngeren (dem Christen-

    tum) bertroen wird, wird durch die typologische Auslegung des Jakobsegens verstnd-lich gemacht. 27,2128,6.

    5. Die fr den Fortgang des Slovo wesentlichste Antithese zwischen Gesetz undGnade da das Gesetz nur fr die Juden galt, die Gnade sich aber auf alle Vlkererstrecken soll wird durch alttestamentliche Weissagungen (28,1116), durch die ty-pologische Auslegung der Gideonsgeschichte (28,1829,5) und durch die Worte Jesu andie Samariterin (29,511) noch einmal ausfhrlich dargelegt. 28,729,11.

    6. Die Erfllung besttigt die Richtigkeit der Weissagungen. 29,1130,3.7. Als Abschlu des I. Hauptteiles eine Art dichterische Einlage: ein Hymnus auf

    Christus, durch den die Gnade und die Wahrheit gekommen sind. 30,331,25. Der Teilgliedert sich im einzelnen:a) Einleitung. 30,36.b) Das Geheimnis der ewigen und der zeitlichen Geburt des Gottessohnes, seiner Fleisch-werdung und seiner zwei Naturen. 30,716.

    c) Die Lebensgeschichte Jesu Christi in Form von 17 Antithesen ber seine menschlicheund seine gttliche Natur. 30,1731,19.

    d) Abschlieender Lobpreis mit berleitung zum II. Hauptteil. 31,1925.

    II. Hauptteil: Wie das Gesetz vergangen ist, die Gnade und dieWahrheit aber die ganzeWelt erfllt haben und wie der Glaube sich ber alle Vlker erstreckt hat und auch bis zuunserem russischen Volke gekommen ist. 31,2638,2.

    1. Wie das Gesetz vergangen ist, die Gnade und die Wahrheit aber die ganze Welterfllt haben und wie der Glaube sich ber alle Vlker erstreckt hat. 31,2634,5:a) Christus war zu den Juden gekommen. 31,2932,6.b) Aber die Juden verwarfen ihn. 32,712.c) Darum wurden sie verworfen. 32,1233,6.e) Whrend die Juden Christus verwarfen, wurde er von den Heiden aufgenommen, wieer es selbst auch geweissagt hat. 33,734,5.2. Wie der Glaube auch zu unserem russischen Volke gekommen ist. 34,636,23.

    a) Der gnadenhafte Glaube ist auch nach Ruland gekommen. 34,610.b) In drei Antithesen wird gezeigt: Wir sind mit allen Christen berufen, die Juden ver-worfen. 34,1013.

    c) Dadurch sind alttestamentliche Weissagungen erfllt. 34,1321.d) In zwei weiteren Reihen von Antithesen wird gegenbergestellt: was waren wir frher? was sind wir jetzt? Die erste Reihe, fnf Antithesen, 34,2135,2; die zweite Reihe,sechs Antithesen, 35,436,6.

    e) In einer neuen Reihe von sieben Antithesen wird das Verhalten der Juden Christusgegenber mit dem der christlich gewordenen Russen verglichen. 36,620.

    f) Schluwort ber das junge russische Christentum. 36,2023.

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    3. Schlu des II. Hauptteiles: Die Weissagungen Gottes von der Rettung der Heidenhaben sich an uns erfllt. 36,2438,2.

    III. Hauptteil: Lobpreis auf den Frsten Vladimir. 38,348, 10.

    1. Einleitung: Alle preisen ihre Lehrer. So wollen auch wir Vladimir preisen. 38,312.2. Beschreibende Schilderung Vladimirs. 38,1240,27.a) Vorfahren und Heimat. 38,1220.b) Leben vor der Taufe. 38,2027.c) Flinwendung zum Christentum. 38,2739,12.d) Taufe. 39,1321.e) Befehl zur Taufe seines ganzen Landes. 39,2140,3.f) Durchfhrung des Befehls, Christianisierung Rulands. 40,327.3. Rhetorischer Lobpreis auf Vladimir mit dem Zweck, zu beweisen, da Vladimir

    wrdig sei, als blaenik (Seliger) bezeichnet und verehrt zu werden. 40,2846,25.8

    a) Wie sollen wir dich wrdig preisen bei der Gre deiner Verdienste und dir rechtdanken fr die Wohltaten, die du uns erwiesen hast? 40,2841,5.

    b) Dein grtes Verdienst war, da du geglaubt hast, ohne zu sehen. Darum gilt dir dieSeligpreisung Christi: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Da also Christusdich selig genannt hat, drfen auch wir es tun. 41,542,16.c) Zurckweisung mglicher Einwnde gegen die Seligpreisung Vladimirs durch Hinweisauf die von Vladimir begangenen Snden: Die Snden sind abgewaschen :1. durch Taten der Barmherzigkeit. 42,1743,13.2. dadurch, da du viele Menschen bekehrst (43,1323) und das Christentum in dei-nem Lande verbreitet hast (43,2344,5).

    d) Die Berechtigung der Seligpreisung wird weiterhin bewiesen durch den Hinweis aufeinen Przedenzfall: auf die Heiligsprechung Konstantins des Groen. Du hast dasgleiche getan wie er, bist also auch der gleichen Ehren wert. 44,59,4.

    e) Zeuge deiner Rechtglubigkeit (der ersten Bedingung fr die Kanonisierung!) ist er-stens die Kirche, die du gebaut hast (in der der Gottesdienst nach den Regeln derOrthodoxie gehalten wird, wodurch deine Zugehrigkeit zur Orthodoxen Kirche be-wiesen wird) (44,2545,2); undzweitens dein Sohn, der gleichfalls im besten Verhltnis zur Orthodoxen Kirche steht(45,246,2).

    f) Endlich zeigt auch das weitere Wachsen und Gedeihen deines Lebenswerkes nach dei-nem Tode, da du von Gott in Ehren aufgenommen (und deshalb der Heiligsprechungwrdig) bist. 46,325.4. (Nachdem bewiesen ist, da Vladimir liturgischer Verehrung wrdig ist, wird ihm

    diese erwiesen durch) Liturgischen Lobpreis; dieser ist als solcher kenntlich an dem drei-maligen radujsja mit nochmaliger Aufzhlung der Verdienste und Tugenden Vladi-mirs. 46,2647,20.

    5. Bitte an Vladimir (der als blaenik zur Frbitte berechtigt und imstande ist) umFrbitte fr sein Land und Volk (47,2129) und fr seinen Sohn GeorgijJaroslav (48,110).8 Insgesamt viermal redet Ilarion Vladimir mit , o blaennice an: 41, 21: 42, 8; 44, 14. 25.

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    C. Schlu. Gebet zu Gott fr das ganze russische Land.48,1151,30

    Gott, der du denHeiligen nach ihrenTaten vergiltst, gib uns anderen nach deinerBarm-herzigkeit (48,1117); denn wir sind dein, wenn wir auch Neulinge sind und eine kleineHerde (48,1726). Sieh nicht unsere zahlreichen Snden an, denn wer kann vor dir be-stehen, wenn du die Snden der Menschen ansiehst? (48,26-50, 8). Tue uns nicht, wie duden Juden getan hast, sondern hab Geduld mit uns (50,817); denn wir sind dein (50,1724). Schenke uns Gnade beim jngsten Gericht (50,2426), i n dieser Welt aber la unsnicht in die Hnde deiner Feinde und in allerlei Nte fallen (50,2651, 10), sondern gibFrieden undWohlstand fr Volk und Kirche (51,1019) durch die Frbitte aller Heiligen(51,1923), damit wir dich ewig preisen (50,2330).9

    Die Intention und der literarische Charakter des Slovo

    Der Aufbau des Werkes, wie er sich aus der vorstehenden Darstellung seines Gedanken-ganges ergibt, ist von bewundernswrdiger Geschlossenheit. Jeder Hauptteil ist in sichgerundet und abgeschlossen, weist aber gleichzeitig auf die nachfolgenden Teile hin. Imersten Teil wird grundstzlich, dogmatisch die berlegenheit der Gnade ber das Gesetz,des Neuen ber das Alte gezeigt. Dabei wird die Universalitt der Gnade gegenber derauf ein Volk beschrnkten Gltigkeit des Gesetzes als ein Vorzug der Gnade neben an-deren erwhnt. An diesen Gedanken knpft der zweite Teil an, der die Ausbreitung derGnade ber alle Vlker historisch schildert. Der erste Abschnitt des zweiten Teiles tutdas allgemein, der zweite spezialisiert den Gedanken: auch nach Ruland ist das Evan-gelium gekommen. Die Schilderung der Gre des damit gewonnenen Heils leitet berzum Gedanken an den, der dies Heil gebracht hat Vladimir.

    Es wird gezeigt, da wir der Dankespicht ihm gegenber nur gengen knnen, indemwir ihn als blaenik bezeichnen, das heit mit seiner kultischen Verehrung beginnen.Alsdann wird die Berechtigung einer solchen Verehrung eingehend nachgewiesen. DemNachweis der Berechtigung folgt konsequenterweise eine erste Praktizierung dieser Ver-ehrung durch Lobpreis undGebetsanrede. Diese Gebetsanrede an Vladimir ist der Schludes dritten Hauptteiles; als Schlu und Ausklang des ganzen Werkes folgt das Gebet anGott.

    Aus diesem Gedankengang und Aufbau des Werkes folgt mit aller Klarheit seine In-tention. Sie besteht in dem Nachweis, da Vladimir der kultischen Verehrung wrdigsei. Hierauf geht die Rede in weitausholender Konzeption folgerichtig zu; wie dieses Zielerreicht ist, ist die Rede an ihrem Ende.

    Der literarische Charakter des Werkes und seine konkrete Veranlassung, sein Sitzim Leben werden von hier aus deutlich. Der reiche rhetorische Schmuck und der stark9 S. 174 Kommentar zu 48,11: Es spricht alles dafr, und soweit ich sehe, nichts dagegen, da diesesGebet des Ilarion ursprnglich zum Slovo gehrt hat.

    Siehe dagegen: Die Werke des Metropoliten Ilarion. Eingeleitet, bersetzt und erlutert von LudolfMller, 1971 (Forum Slavicum Bd. 37), S. 11.: ... mchte ich jetzt glauben, da das ,Slovo ausfolgenden vier ursprnglich selbstndigen Einzelstcken zusammengearbeitet ist:1) der Rede ber das Gesetz und die Gnade;2) einer Sammlung von alttestamentlichen Worten ber die Universalitt des gttlichen Heilsplanes;3) der Lobrede auf Vladimir den Heiligen;4) dem Gebet von dem ganzen russischen Lande.

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    liturgische Klang, insbesondere die doppelte Gebetshinwendung am Ende des Werkes(zuerst zu Vladimir, dann zu Gott) zeigen, da es eine kirchliche Festrede ist. Da sie sounzweideutig der Verherrlichung Vladimirs geweiht ist, mu sie mit direkter Beziehungauf ihn, also an einem seinem Gedchtnis geweihten kirchlichen Festtag, das heit aberbei der Jahresfeier seines Todes, also an einem 15. Juli, aber vor seiner Kanonisierung,gehalten sein10. Derartige Feiern, gehalten am Grabe des Dahingeschiedenen am Tageseines Todes, wurden auch fr solche Verstorbenen gehalten, die bislang nicht kanonisiertwaren.

    Vorgetragen wurde das Slovo aller Wahrscheinlichkeit nach an einem 15. Juli. DasJahr jedoch, in dem die Rede gehalten ist, ist nicht genau zu bestimmen. Vieles sprichtjedoch fr die vierziger Jahre des 11. Jahrhunderts.Ludolf Mller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede auf Vladimir den Heiligen und Glaubensbekenntnis,1962, S. 16-21 und S. 29.

    Der Priestermnch Ilarion, der seit 1051 Metropolit, das heit ranghchster Bischof imKiewer Reich war, hat - wahrscheinlich im Jahre 1049 in der Kiewer Zehntkirche, woWladimir begraben lag, eine Gedchtnis- und Lobrede auf den 34 Jahre zuvor verstorbe-nen Frsten gehalten, in der er ihn und sein apostolisches Werk wortgewaltig schildert.

    Ludolf Mller, Wie Ruland christlich wurde, in: Quatember 1988, S. 58-64.

    10 Nach Chr. 1015 ist Vladimir am 15. Juli dieses Jahres gestorben. Kanonisiert ist er erst im 13. Jh.

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    uvre majeure de la Russie ancienne, ce long discours, plusieurs fois remani. qui unitpense thologique traditionnelle, vision politique originale et profond lyrisme vaut Hil-arion son titre de premier crivain russe. Dans ce sermon, la premire partie, plus clas-sique, montre que lIncarnation et, surtout, le dveloppement du christianisme ont rendula loi juive caduque. La deuxime - le pangyrique de Vladimir -, rvle le sens apo-stolique de luvre politique du prince Vladimir : sans jamais senfermer dans un troitnationalisme, mais en tirant ses arguments de la tradition la plus profonde de lglise by-zantine, Hilarion, la suite des saints Cyrille et Mthode, lgitimise les prtentions slavesen remettant en question la hirarchie des langues et la toute-puissance de lhellnisme.Patrimoine littraire europen. Vol. 4a: Le Moyen ge de lOural lAtlantique. Littratures dEuropeorientale, Bruxelles 1993, p. 559.

    Le sujet du sermon Sur la Loi et la Grce est la conversion de la Rus au christianismeet la place que ce pays occupe dsormais au sein de la chrtient. Une attention particu-lire est accorde au prince qui prit linitiative de cette conversion collective. Vladimir,le pre de Jaroslav: le passage consacr ce thme, identi comme un enkomion deVladimir, est particulirement riche pour lhistorien des ides politiques dans lEuropechrtienne. Lide que se faisait llite russe (ladjectif russkij, drive de Rus , a enco-re en loccurrence une signication dirente de celle quil a en russe moderne o il estrattach Rossija, la Russie) du pouvoir de son prince et de sa place dans loikoumnbyzantine est expose ici par un auteur dont la culture littraire et historique peut treconsidre comme exceptionnelle pour son poque.Wladimir Vodo, Rez. von: Simon Franklin, Sermons and Rhetoric of Kievan Rus , Cambridge (Mass.),Ukrainian Research Institute of Harvard Univ., 1991, in: Cahiers de civilisation mdivale 41, 1998, pp.192-194.

    In his famous work, On Law and Grace, a panegyric on Volodymyr the Great that wasread in the presence of Iaroslav the Wise in 1050, Ilarion, probably the most outstan-ding intellectual of Kievsn Rus, skillfully counterpoised Christianity against paganismand described the Christianizstion of Rus. His work revealed a sophisticated grasp ofByzantine rhetorics, and also s great familiarity with the Bible. Yet, despite his indeb-tedness to Greek culture, Ilarion was not slsvishly Greekophile. In On Law and Gracehe emphasized the importance and splendor of Rus, downplayed Byzsntiums role in itsconversion, and assigned all the credit for this historical event to Volodymyr.

    Orest Subtelny, Ukraine: a history, Toronto 32000, p. 51.

  • Das Slovo o zakone i blagodati 1 [Die Rede ber das Gesetz und die Gnade], vonIlarion um die Mitte des elften Jahrhunderts, kurz vor seiner Berufung zum Metropoli-ten von Kies, 1051, verfat, gehrt in der reichen Kulturberlieferung der Kiever Rusohne Zweifel zu den erstrangigen Denkmlern. Ilarions Rede ist ein bemerkenswertesBeispiel der ltesten russischen Homiletik nicht nur im Hinblick auf die Tiefe der theo-logischen und geschichtsphilosophischen Symbolik, sondern auch und vielleicht sogar inerster Linie wegen der knstlerischen Meisterschaft, mit der sie die Einheitlichkeit imAufbau geschickt mit der individuellen, fein dierenzierenden Behandlung der Einzel-teile und mit der minuzisen Aufmerksamkeit auf die kleinsten Details verbindet.

    Die berschrift der von N.N. Rozov herausgegebenen Handschrift der Rede fatihren Inhalt hervorragend zusammen2:

    , . . . . . . . . . . .

    O zakon moisom danm,i o blagodti i istinisus xristom byvii.i kako zakon otide.blagodt e i istina. vsju zemlju ispolni.i vra v vsja jazyky prostresja.i do naego jazyka ruskago.i poxvala kaganu naemu vlodimeru.ot negoe kreeni byxom.i molitva k Bogu. ot vsea zemli naea.gospodi blagoslovi ote.

    168r ber das Gesetz, das durch Mose gegeben ist.Und ber die Gnade und die Wahrheit,die durch Jesus Christus geworden ist.Und wie das Gesetz vergangen ist,die Gnade und die Wahrheit aber die ganze Welt erfllt habenund der Glaube sich zu allen Vlkern verbreitet hat,auch bis zu unserem russischen Volke.Und Lobpreis auf unseren Kagan Volodimer3,von dem wir getauft worden sind.Und Gebet zu Gott von unserem ganzen Lande.Herr, segne, Vater!4

    1 L. Mller, Des Metropoliten Ilarion Lobrede ..., 1962, S. 57 zu 22,1f: In einigen HSS erscheint dasWort stets in der Abkrzuung , gelegentlich erscheint es auch als , blagodt.Darum ist es wohl mglich, da ILarion das in den meisten und den ltesten kirchenslavischen Codicesbevorzugte Wort , blagodt (statt , blagodat) benutzt hat. Allerding hatOstrm. stets .

    2 Die kirchenslavische Schrift der Handschrift ist im Folgenden durch die mit der Schriftreform PetersI. (1708/1710) eingefhrte brgerliche Schrift ( , gradanskij rift) ersetzt.

    3 Volodimer ist die ostslavische Form des spter mehr in seiner kirchenslavischen Form gebrauchtenNamens Vladimir. Der Herrschertitel Kagan ist eine turktatarische Herrscherbezeichnung, die auch frrussische Herrscher benutzt wurde.

    4 Die bersetzung der Zitate aus der Rede folgt hier und im Folgenden weitgehend der bersetzung

  • 10 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    Im Text der Rede wird eine radikale Erklrung der groen Verbreitung der evangeli-schen Wahrheit gegeben:

    , , (...) , ! . . .Ne vlivajut bo, po slovesi Gospodnju, vina novaago uenia blagodtna v mxy vtxyN novo uenie novy mxy, novy jazyky! I oboe sbljudetsja. Jako e i est. Vrabo blagodtnaa po vsei zemli prostrsja i do naego jazyka ruskaago doide.

    180r denn man giet nicht, nach dem Worte des Herrn [Mark. 2, 22] den neuenWein, die gnadenhafte Lehre, in die alten Schluche (...) Die neue Lehre aber die neuen Schluche, neue Vlker. Und beides 180v wird erhalten werden. Und soist es. Denn der gnadenhafte Glaube hat sich ber die ganze Erde erweckt und istauch bis zu unseren russischen Volke gekommen. (S. 36)

    Hier fhrt die Rede zum ersten Mal die russische Thematik ein. Weiter folgen zahl-reiche, grtenteils in der Tradition von Kyrill und Method fuende Auszge aus denPropheten und dem Psalter, die als Prophezeiungen des weltweiten Triumphes der Gna-de interpretiert werden. Mit einer geschickten Auswahl lyrischer Zitate aus den Psalmensteigert sich auch der lyrische Ton des Kiver Predigers.Roman Jakobson, Der Lobeshymnus in Ilarions Rede ber das Gesetz und die Gnade, in: id., Poesie derGrammatik und Grammatik der Poesie. Smtliche Gedichtinterpretationen, Band I: Poetologische Schrif-ten und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklrung, Berlin 2008, S. 391 414, hier, S. 392.

    von IlarionsWerken durch LudolfMller: Ilarion, DieWerke, S. 22-60, Zitat: S. 22. Die Seitenangabendieser bersetzung werden in Klammern im Anschlu an die zitierte Stelle angefhrt.

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 11

    Die homiletische Literatur: HILARION

    Wir wissen nur wenig von seinem Leben. Wir wissen auch nicht sehr viel von seinengesamten Schriften. Diese mangelhafte Kenntnis seines Lebens und seines Schaenshat es wohl verursacht, da er Gegenstand sehr interessanter, aber auch sehr unsiche-rer, wissenschaftlicher Hypothesen wurde. Tatschlich wissen wir nur, da er im Jahre1051 durch eigenmchtigen Beschlu des Knigs, der keineswegs mit der Machtstellungder byzantinischen Kirche in seinem Reiche zufrieden war, zum Metropoliten der rus-sischen Kirche ernannt wurde. Wir wissen auch, da er ein Glaubensbekenntnis verfathat. Wann er aber starb, und was er sonst verfat haben mag, ist nicht festgestellt. SeinHauptwerk war zweifellos die Festhomilie Das Gesetz und die Gnade (O zakne i bla-godti), in der er einen Sprachstil verwirklichte, der eine vorbildliche Bedeutung fr dieHomiletiker spterer Zeiten nicht nur in Ruland, sondern auch bei den Balkanslavenerhielt. In seiner Methode war er ein berzeugter Anhnger der zu seiner Zeit blhendenbyzantinischen Textinterpretationskunst, welche die nchternhistorische und rationali-stische Erklrung der Heiligen Schrift, wie sie von der antiochenischen Schule betriebenwurde, verschmhte und sich zu den Grundstzen der alexandrinischen Schule, zu ihrerkonsequenten allegorischsymbolischen Exegese bekannte. Die wirkungsvolle antitheti-sche Komposition seiner Homilie ging auf die rhetorische Technik dieser Schule zurck.Sie setzte die Anwesenheit eines auserwhlten Zuhrerkreises voraus. HILARION hattekeineswegs die Absicht, allbekannte und daher langweilige Dinge vor diesem Kreise zuwiederholen. Die Prophezeiungen der Propheten ber Christi Wiederkunft oder die Beleh-rungen der Apostel ber das Kommen des Gottesreiches, diese festen Themen in den Er-mahnungen einfacher Prediger an das einfache Volk, wollte er nicht abermals auftischen.Das wre nach seinem eigenen Ausdruck nur Vermessenheit und Geschwtzigkeit gewe-sen. HILARION nahm Abstand von derlei Banalitten und verriet dadurch, da er mehr anLeser als an Zuhrer dachte: Ich schreibe nicht fr Unwissende, sondern fr solche, diesich an der Sigkeit der Schriften zur Genge gelabt, nicht fr unglubige Gottesfeinde,sondern fr die wahren Gottesshne, nicht fr Fremde, sondern fr die Erben des himmli-schen Reiches. Wir wissen auch aus unseren Quellen, da HILARIONs Homilie zum erstenMale am Grabe Knig Vladmirs in der alten Zehntkirche in Kjev in der AnwesenheitKnig Jaroslvs, in der Taufe Georg genannt, seiner schwedischen Gemahlin, der Kni-gin Ingigerd, in der Taufe Irna genannt (gest. 1050), und ihrer Shne und Enkel sowiealler anderen Mitglieder des kniglichen Hauses, mit anderen Worten in der Anwesen-heit kundiger und verwhnter Mnner und Frauen vorgetragen wurde, die gebildet genugwaren, die elegante Form nicht weniger als den Gedanken, der in sie eingekleidet war,nach Verdienst zu wrdigen.

    Die Homilie handelte in ihren ersten zwei Teilen erstens vom Gesetz, das Moses gege-ben ward, und von der Gnade undWahrheit, die mit Jesus Christus der Welt gegeben ward,und zweitens davon, wie das Gesetz ein Ende nahm, whrend die Gnade und Wahrheitdas ganze russische Land erfllte, und wie der Glaube sich unter allen Vlkern verbreitete.Nach diesem festlichen Auftakt mndete die Rede aus in eine feierlich anschwellendeLobpreisung unseres Knigs Vladmir, der uns zu Christen machte, und in ein pathetischesGebet an Gott fr unser ganzes Land. Die Antithese, die die berschrift zwischen demGesetz einerseits und der Gnade andererseits aufstellt, ist das kompositionelle Thema, aufdem groe Teile der Homilie selbst aufgebaut sind. Es beherrscht auch in schematischerForm die symbolische Deutung, die HILARION den von ihm benutzten Bibelworten gibt.Die Symbole fr das Gesetz und fr die Gnade sind Hagar und Sarah, einerseits die Skla-

  • 12 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    vin Hagar, andererseits die freigeborene Sarah. Der russische Homiletiker lt uns nichtim Zweifel darber, wie er die Dinge verstanden haben will. Denn

    gleichwie Abraham den Worten Sarahs gehorchte und ihre Sklavin Hagar besuchte,so hrte auch Gott auf die Bitte der Menschen um ein Gesetz und stieg nieder aufden Berg Sinai,und gleichwie die Sklavin Hagar dem Abraham einen Sklavensohn gebar, den er Ismaelnannte, so stieg auch Moses vom Berge Sinai nieder mit dem Gesetze, nicht aber mitder Gnade, mit dem Schatten, nicht aber mit der Wahrheit.Aber gleichwie der Herr sich in Mamre dem Abraham oenbarte, der ihm entgegeneilteund ihn begrte und ihn in seine Htte geleitete, so besuchte auch Gott das Ge-schlecht der Menschen und stieg vom Himmel herab in den Scho der Jungfrau,und die Jungfrau empng ihn mit einem Grue in der Htte ihres Leibes,und gleichwie Gott den Scho der Sarah erschlo und sie den Isaak gebar, eine freige-borene Mutter einen freigeborenen Sohn, so besuchte auch Gott das Geschlecht derMenschen, und das Unbekannte und Geheimnisvolle wurde oenbar, und zutagetrat die Gnade und die Wahrheit, nicht aber das Gesetz, der Sohn, nicht aber dasKind der Sklavin.

    Uns wird hier ein ungeheuer kunstvolles Wortgeecht geboten mit einem nahezu geome-trischen Muster: das eine Gleichnis ist in das andere verwoben, die eine Satzperiode istgenau wie die andere geformt, das Ganze aber ist von der Antithese zusammengehalten,die die entgegengesetzten Gesichtspunkte unablssig hervorhebt. Mit groer Sicherheitbenutzt HILARION auch die meisten anderen klassischen rhetorischen Figuren, vor allemden anaphorischen Satzbau mit stets wiederholten Eingangsworten, den syntaktischenParallelismus, die metaphorischeWortanwendung, das Gleichnis und den Vergleich. Stattzu sagen, da das Gesetz ein Ende habe, sagt er, da die Abendrte des Gesetzes erl-sche; statt zu sagen, da das Gesetz von der Gnade abgelst werde, sagt er, da die Flutender Gnade die ganze Erde bedeckten. Um den Gedanken auszusprechen, da die Bekeh-rungsversuche Knig Vladmirs zu einem gnstigen Resultat fhrten, bentzt er diesekomplizierte Periode:

    Der leuchtende Glanz von Vladmirs Glaube verblich nicht unter der Wstenhitzedes Unglaubens, sondern zeitigte unter gttlichem Regen zahl reiche Frchte.Und wenn Vladmir, der als heilig angesehen wird, um seine Frbitte fr den herr-

    schenden Knig angeeht wird, dann ist der Gegenstand dieser Frbitte, da der jetzigeKnig

    in Frieden und bei guter Gesundheit sein Boot ber die tiefen Gewsser fhren undmit demFahrzeuge seiner Seele an denGestaden der himmZischenWindstille landenmge.Zu voller Entfaltung kam aber die rhetorische Technik HILARIONS im zweiten Teil der

    Homilie. Vom Allgemeinen, Weltumspannenden gelangte er jetzt zum Besonderen, zum

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 13

    Nationalen. Die ganze, kunstvoll verschlungene Rede von der Gnade des Christentums,die das Gesetz des Judentums berwunden und sich in allen Lndern, besonders aberim russischen, verbreitet habe, erwies sich als eine einzige, groartige Motivierung einerHuldigung, die der Redner dem Andenken Knig Vladmirs zollen wollte jenes Knigs,der das historische Verdienst gehabt hatte, das Christentum in Ruland zu festigen. Hierfeierte die Redekunst HILARIONS ihren vollsten Triumph. Seine parallel aufgebauten St-ze mit den repetierten Eingangsworten, seine wirkungsvollen Wiederholungen waren wieerneuerte Hammerschlge, die den Nagel tiefer und tiefer in die Wand hineintreiben. Mitseiner panegyrischen Rede schuf er ein Vorbild, das spterhin eifrig nachgeahmt wurde.Vor allein wurde die Begrndung, die er seiner Lobpreisung gab, zu einem Muster, dasspterhin wieder und wieder variiert wurde:

    Mit Worten der Lobpreisung lobpreist das Rmische ReichPaulus und Petrus,

    die ihm den Glauben an Jesus Christus, Gottes Sohn, gebracht. Asien, Ephesos und Patmos lobpreisen Johannes, Indien Thomas, gypten Markus, alle Reiche, Stdte und Menschen ehren und lobpreisenein jedes seinen eigenen Glaubenslehrer,der ihnen den rechten Glauben gegeben. Lasset daher auch uns, nach geringem Vermgen,jenen Mann lobpreisen,der das groe und wunderbare Werk vollbracht, unseren Lehrer und Meister, den groen Knig unsres Reiches, Vladmir, den Enkel des alten Knigs Igor,

    den Sohn des berhmten Knigs Svatoslv, ihn, der whrend der Zeit seiner Herrschaftin vielen Reichen berhmt wurdewegen seines Mannesmutes und seiner Tapferkeit!

    Es war gewi kein Zufall, wenn HILARION gerade dieses Thema whlte nmlich diehistorische Grotat des Knigs Vladmir , und es ist nicht ausgeschlossen, da dieseThemenwahl spterhin bewirkte, da er zum russischen Metropoliten gewhlt wurde.Die byzantinische Geistlichkeit, die nach der Einfhrung des Christentums in Rulanddie meisten leitenden Stellen in der jungen Kirche besetzt hatte, war gar nicht daran inter-essiert, da Knig Vladmir als Begrnder des Christentums in Ruland gefeiert werde.Sie suchte ganz im Gegenteil mit allen Mitteln die Theorie zu befestigen, da Mnner derbyzantinischen Kirche den Glauben nach Ruland gebracht htten. Sie mute befrchten,da eine allzu eifrige Lobpreisung des barbarischen Knigs gewisse Selbstndigkeitsten-denzen innerhalb der russischen Kirche erwecken knnte, und daher widersetzte sie sichlange einer oziellen Kanonisierung Vladmirs. Der Gedanke, da jedes Volk auserse-hen wre, einen gleichberechtigten Platz neben den anderen glubigen Vlkern einzuneh-men also gerade der Gedanke, den HILARION nicht mde wurde in seiner Homilie zuwiederholen , stand in direktem Widerstreit mit dem Anspruch der byzantinischen Kir-che, eine leitende Stellung den Barbarenvlkern gegenber einzunehmen. Daher war dasMotiv, das HILARION dazu bewegte, den verstorbenen Knig Vladmir und damit seinganzes Volk zu verherrlichen, vermutlich von auerordentlich aktueller Art. Er fhrteseine Rolle im letzten Teil seiner Homilie mit ganz einzigartig khnen Mitteln durch, die

  • 14 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    von den rhetorischen Stilguren, die er im ersten Teil verwendet hatte, ganz verschiedenwaren. In einem unaufhaltsamen Strome lie er den einen Satz sich an den anderen fgen,jeder Satz parallel gebaut, in kurzer, lapidarer Form, die gleichsam dazu angetan war, ei-ne Reihe von unbestreitbaren Tatsachen den Zuhrern ins Gedchtnis zu hmmern:

    Kirchen erstanden, Gtzen sanken in den Staub, Heiligenbilder wurden enthllt, Dmonen muten iehen, das Kreuz heiligte die Stdte, und die Hirten, die die Scharen von Christi Worten hteten,wurden Bischfe, Priester und Diakone,die unblutige Opfer darbrachten, und Kirchenchre schmckten sich mit Schnheit, und Gottes heilige Huser kleideten sich in ihre Gewnder, apostolische Posaunen und evangelischer Donner erfllten alle Stdte, Gott dargebrachter Weihrauch erfllte die Luft, Klster erhoben sich auf den Bergen, Mnner und Weiber, Junge und Alte, alle Menschen fllten die heiligen Kirchen.Diese pathetische Zusammenstellung festlicher Worte mute den Eindruck einer un-

    aufhaltsam steigenden Stimmungswelle erwecken, die zuletzt in einen rhythmischen, tri-umphierenden Ausruf mndete:

    Christus hat gesiegt,Christus hat gewonnen,Christus ist unser Herr,Christus ist unser Ruhm.Gro bist du, Herr,und wunderbar ist dein Werk!Ehre sei dir, o Gott!

    ! ! ! ! , , , , !

    Xristos pobdi!Xristos odol!Xristos vcarisja!Xristos proslavisja!Velik esi, gospodi,i judna dla tvoa,boe na, slava teb!

    Aber noch schlo HILARION seine Rede nicht ab. Er kehrte zu seinem Hauptthemazurck zur Bekehrung des russischen Volkes durch Vladimir und bereitete eine neue,noch strkere Stimmungswoge vor. Jetzt verwendete er die Apostrophe als sein letztesMittel, die direkte Rede an den toten Knig, den er als den ehrwrdigen und ruhmvol-len Vater unter den irdischen Herrschern bezeichnete. Die hymnische Verherrlichungfhrte den Zuhrer zu einem grandiosen Vergleiche Vladmirs des Heiligen mit KaiserKonstantin dem Groen und schlo mit einer Apotheose, in der der Redner, gleichsamvon gttlicher Autoritt beseelt, dem Toten gebot, aus dem Grabe aufzustehen und dieHerrlichkeit, die er selbst geschaen, zu betrachten:

    Erhebe dich aus deinem Grabe, ehrwrdiges Haupt!Erhebe dich, schttle den Schlaf ab,denn du bist nicht tot, sondern schlummerst blobis zum Tage der gemeinsamen Auferstehung aller Menschen!Erhebe dich und schau deinen Sohn Jaroslv,schau deiner Lenden Werk,schau deinen Liebling,schau ihn, den der Herr aus deinem Samen gezeugt,

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 15

    schau ihn, der den Herrscherstuhl deines Reiches ziert!Schau auch das glubige Weib deines Sohnes!Schau auch deine Enkel und deiner Enkel Shne!So gelang es HILARION, den freigebigen und strengen, halbwilden und halbheidnischen

    Vringerknig, den sein Gefolge wegen seiner kriegerischen Taten und zahlreichen Lie-besabenteuer noch in lebhafter Erinnerung hatte, in einen gotterwhlten Glaubensapostelzu verwandeln. Es gelang ihm, weil der pathetische Sprachstil, den er gewhlt hatte, sostark war, da er seinen Gegenstand bis in den Himmel erheben konnte. Die Person desKnigs Vladmir wurde geschickt aus der Welt der Wirklichkeit in die Sphre der idealenMglichkeiten erhoben. Die Objektivitt ward in die sieben Schleier des Subjektivismusgehllt, ohne da jemand die ber das Alltgliche erhobene festliche Wahrheitsliebe desRedners htte anzweifeln knnen. Die Lobpreisung Knig Vladmirs diente Jahrhunder-te hindurch als das klassische Vorbild aller rhetorischen Verherrlichungen kommenderScharen von russischen Frsten.

    Adolf Stender-Petersen, Geschichte der russischen Literatur, 1. Band, 1957, S. 41 47.

  • 16 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    4. Neben den einfachen Predigten Feodosijs besitzen wir aus derselben Zeit eine pathe-tische Rede des Metropoliten Illarion, der als erster Einheimischer unter dem FrstenJaroslav 1051 Metropolit geworden ist. Schon im Todesjahr Jaroslavs 1054 war Illarionnicht mehr Metropolit; wir wissen nicht, ob er gestorben war oder sich zurckgezogenhat (wie manche vermuten, ins Hhlen-Kloster). Seine Rede ber Gesetz und Gnadeist ein glnzendes Stck der geistlichen Beredsamkeit, eigentlich keine Predigt, sonderneher eine Festrede, die sogar nicht unbedingt beim Gottesdienst gehalten werden mute.Verfat ist diese Rede zwischen dem Jahr 1037 und 1050. Ihr Umfang ist relativ gro:sie ist doppelt so, gro, wie alle fnf sicher Feodosij zuzuschreibenden Predigten an dieMnche. Daneben ist Illarion noch ein Glaubensbekenntnis zugeschrieben, das er even-tuell wirklich beim Einnehmen des Metropoliten-Katheders vorzulesen hatte, und dreiweitere Predigten, von welchen eine vielleicht wirklich von ihm ist. Die Vermutungen,da Illarion (der unter dem Mnchs-Namen Nikon Mnch des Hhlen-Klosters gewesensein soll) 1073 die Chronik bearbeitet habe und da er die Sammelschrift 1076 bearbeitetund eventuell einige Teile derselben verfat habe, sind nur khne Hypothesen.

    5. Die Rede Illarions zerfllt in drei Teile: der erste ist eine rhetorische, aber inhaltsvolleund dogmatisch-grndliche Gegenberstellung des Alten und des Neuen Testaments, desGesetzes, unter welchem die Menschheit bis zur Menschwerdung Christi lebte, undder Gnade, die ber die von Christus befreite und erlste Menschheit herrscht; derzweite Teil ist die Lobpreisung des Frsten (der Verfasser gebraucht noch das alte Wortkagan, dasselbe Wort steht auch im Glaubensbekenntnis Illarions) Vladimir, der Rusden Vlkern angeschlossen hat, die als Christen derselben Gnade Gottes unterstehen; derdritte Teil ist ein Gebet.

    Die Rede Illarions ist an sich nicht besonders originell: wir nden unter den klassi-schen Predigten der Kirchenvter ebenfalls rhetorische Gegenberstellungen von zweiBegrien und Lobpreisungen, und das Gebet Illarions ahmt sogar bekannte Vorbildernach. Aber das Werk Illarions ist keinesfalls eine nahe Nachahmung von irgendeinembestimmten Werk der christlichen Literatur (nur eine gewisse hnlichkeit in einigenPunkten kann man mit der Predigt von Ephraim dem Syrer auf das Fest der VerklrungChristi feststellen; da Illarion die hlg. Schrift, das Hexameron und die Apokryphenals Quellen benutzt hat, ist nur natrlich). Die Selbstndigkeit im Aufbau, die klare Ge-dankenentwicklung, die auerordentlich kunstvolle Benutzung aller Mittel der byzantini-schen Rhetorik sind die Kennzeichen der Predigt Illarions. Wir knnen uns ihren Inhaltnher ansehen und gleichzeitig ihren stilistischen Schmuck kennen lernen.

    6. Der erste Teil der Rede ist nach einem kurzen Dank an Gott fr die ChristianisierungRulands ein Vergleich des Standes des Menschen der vorchristlichen Zeit mit dem derChristen: insofern das Christentum eine vollkommene Wendung auf dem geschichtli-chen Wege der Menschheit bedeutet, ist eine solche Besinnung auf die Bedeutung desChristentums eine logische Folge jeder Selbstbesinnung eines Volkes. Illarion nimmt alsden vorchristlichen Stand n i c h t das Heidentum, sondern das Judentum: das erweckt im-merhin die Frage, ob das Judentum fr Kiew nicht in einem gewissen Sinne eine andereM g l i c h k e i t der religisen Entwicklung bedeutete (etwa im Anschlu an das Vorbildder Chasaren, deren Frstengeschlecht und wohl auch Oberschicht mosaisch waren: daIllarion den chasarischen Titel kagan fr den Kiever Frsten in Anspruch nimmt, ltvermuten, da Kiev irgendwie die politische Erbschaft des Chasaren-Reiches angetretenhatte; die Fragen sind jedoch nicht leicht zu klren). Die Gegenberstellung des Alten

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 17

    und des Neuen Testaments ist jedenfalls gedanklich sehr klar und kunstvoll aufgebaut: Il-larion deutet jeweils die Antithese kurz an und entwickelt dann die Gegenberstellung inden Einzelheiten: das Alte Testament ist der Mond, das Neue - die Sonne, das Alte - derSchatten, das Neue - das Licht, das Alte - die nchtliche Klte, das Neue - die Tageswr-me usf. Am Ende des ersten Teils ist die Gegenberstellung speziell auf das altrussischeHeidentum und das Christentum angewandt: die Honungslosigkeit und die Honungauf das ewige Leben, Blindheit und Taubheit und die Ernung der Augen und Ohren,nicht das Stottern des Heidentums, sondern die klare Sprache der Christen usf. DieSlaven haben den groen bergang von einem zum anderen Zustand gemacht:

    sie waren Pilger und wurden das Volk Gottes,sie waren Feinde Gottes und nannten sich Gottesshne.Diese Vergleiche erinnern bereits an die entwickelte Symbolik der Predigten des 12.

    Jhdts. Der charakteristische Zug ist die symbolische Bibelauslegung: Illarion entwickeltseine Gegenberstellung an den alttestamentlichen Beispielen der Knechtschaft derMenschen unter der Macht des Alten Testaments und ihrer Sohnschaft unter der Re-gierung der Gnade, eine Gegenberstellung, die in den Zeiten, wo die Sklaverei ei-ne durchaus lebendige alltgliche Erscheinung war, uerst eindrucksvoll sein mute.Aus dieser Gegenberstellung erwchst eine andere: der beiden in Christo vereintenNaturen, der gttlichen und der menschlichen; in kurzen Antithesen durchgefhrt,bietet diese Gegenberstellung eine abgeschlossene Zusammenfassung der kirchlichenLehre:

    Christus wurdewie ein Mensch in Windeln gehllt,

    wie Gott leitete er durch einen Stern die weisen Knige,wie ein Mensch lag er in der Krippe,

    wie Gott empng er von den weisen Knigen Geschenke und Verehrung,wie ein Mensch oh er nach gypten,

    wie vor Gott verbeugten sich vor ihm die handgemachten gyptischen [Gtzen] ...wie ein Mensch kostete er Essig und gab seinen Geist auf,

    wie Gott verdunkelte er die Sonne und erschtterte die Erde.Wie ein Mensch bist du ins Grab gelegt,

    wie Gott hast du die Hlle zerstrt und die Seelen befreit,wie einen Menschen hat man dich im Grabe versiegelt,

    wie ein Gott bist du herausgetreten, indem du die Siegel heil lieest ...(17 Antithesen).

    Der zweite Teil ist, wie gesagt, eine Lobpreisung des Frsten Vladinvir. Jedes Landpreist seinen Apostel: Rom - Petrus und Paulus, Asien - Johannes den Theologen, Indi-en - Thomas, gypten - Markus - alle Lnder, Stdte, und Vlker verehren und prei-sen jeder seinen Lehrer, der ihm den echten Glauben beigebracht hat. Preisen auch wirnach unseren Krften mit g e r i n g e n Lobpreisungen denjenigen, der das G r o e undWunderbare getan hat, unseren Lehrer und Erzieher, den groen Kagan unseres Landes,Vladimir, den Enkel des alten Igor, den Sohn des berhmten Svjatoslav. Nach der Cha-rakteristik der politischen Bedeutung Vladimirs, des Selbstherrschers des russischenReiches, wendet sich Illarion zu seiner Taufe: und da er lebte, indem er sein Land mitGerechtigkeit, Tapferkeit und Verstand regierte, wurde er von Gott aufgesucht: nichtder griechischen Predigt, sondern der Berufung Gottes schreibt Illarion die Bekehrung

  • 18 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    Vladimirs zu - das Auge des allgndigen Gottes sah auf ihn und ste in sein Herz denGedanken, die Eitelkeit des heidnischen Truges zu begreifen und den einen Gott zu su-chen ..., Erst dann wendet er sich, um die Taufe zu empfangen an das wohlglubigegriechische Land: der Kagan zog mit dem Kleid auch den alten Menschen aus, warfdas Vergngliche ab, schttelte den Staub des Unglaubens ab und trat in das heilige Tauf-becken ein, wurde von Geist und Wasser geboren, wurde in Christus getauft, in Christusgekleidet .... Illarion zeichnet das feierliche Bild des Landes, beleuchtet durch das Lichtdes Glaubens, er schliet mit den Worten:

    Christus hat gesiegt,Christus hat berwunden,Christus begann zu herrschen,Christus wurde verherrlicht.Illarion geht damit zu der Lobpreisung des Frsten Vladimir als Christen ber, indem

    er das Bild seiner Tugend entwirft und ihn auordert, als Zeuge die spteren Erfolgedes Christentums in Ruland anzuschauen; die Lobpreisung endet mit der pathetischenApostrophierung Vladimirs:: Stehe auf, o Ehrwrdiger, aus deinem Sarge, schttle denSchlaf ab! denn du bist nicht gestorben, du schlfst nur bis zu der allgemeinen Aufer-stehung aller. Stehe auf, du bist nicht gestorben, denn es ziemt sich nicht demjenigenzu sterben, der an Christus, das Leben der ganzen Welt, glaubt .... Illarion fhrt dieLobpreisung in einer rhythmischen Apostrophierung weiter:

    Siehe deinen Sohn Georgij (= Jaroslav) an,siehe deine rechtglubige Schnur Irene an,siehe deine Enkel und Urenkel an,wie sie leben,wie sie Gott beschtzt,wie sie nach deinem Gebot am rechten Glauben festhalten,wie sie die heiligen Kirchen besuchen,wie sie Christus verherrlichen,wie sie seinen Namen verehren!Siehe die Stadt an, die in Erhabenheit leuchtet,siehe die Kirchen an, die aufblhen,siehe das Christentum an, das wchst,siehe die Stadt an,die von Ikonen der Heiligen erleuchtet, glnzt,die von Weihrauch umhllt ist,die von den Lobpreisungen und gttlichen Liedern klingt ...

    und schliet mit Antithesen, die wiederum das Hauptthema der Rede in Erinnerung brin-gen:

    Freue Dich, Frst-Apostel,der du uns von toten Seelen,von der Krankheit des Gtzendienstes auferstehen lieest,denn durch dich sind wir lebendig gewordenund haben das Leben Christi erkannt;nachdem wir durch teuischen Trug verkrppelt waren,

    wurden wir durch dich aufrecht gestelltund betraten den Weg des Lebens,

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 19

    nachdem wir durch den teuischen Trug an unseren Augenblind waren durch die Unwissenheit,

    haben wir durch dich das Licht der dreisonnigen Gottheit erblickt,nachdem wir stumm waren,

    begannen wir durch dich zu sprechen und jetzt preisen wirgro und klein die Dreifaltigkeit in einem Wesen ...

    Das ganze Werk schliet ein erhabenes Gebet ab.

    7. Beider Darstellung des Inhalts der Rede Illarions gaben wir zugleich auch die Cha-rakteristik ihrer abgeschlossenen Komposition und ihrer stilistischen Merkmale: Anti-thesen, Wiederholungen, Apostrophen (u. a. redet Illarion auch die Stadt Kiev an), dieRhythmisierung der Sprache und Parallelismus. Vielfach wird der Parallelismus durchden syntaktischen Aufbau, manchmal auch durch den Reim untersttzt: der Reim istmeist grammatikalisch, manchmal verbindet er ganz kurze Stze, deren Rhythmik dannganz deutlich hervortritt (vgl. Beilage). Illarion gebraucht relativ viele Komposita (Bei-lage).

    Haupttendenz ist die Verherrlichung des neuen christlichen Ruland, Verherrlichungihrer Frsten (geschickt ist hier durch Verherrlichung der Taten des Vaters auch der Sohngepriesen)5. Dieser Inhalt neben unzweifelbaren literarischen Qualitten, sicherten selbsttrotz der komplizierten Sprache diesem Werk groe Beliebtheit: nicht nur die ostslavi-schen Literaturen kennen zahlreiche Nachahmungen der Lobpreisung - etwa bei KlimentSmoljati, vgl. auch die Nachahmung der Lobpreisung in der Lobpreisung des FrstenVladimir Vasilkovi in der Galizisch-Volynischen Chronik, in der spteren ukrainischenLiteratur: die polemische Pereistoroha 1605, Kasijan Sakovy im Gedicht zur Erin-nerung an Sahajdanyj 1622, in der Moskauer und Novgoroder Literatur: die Heiligen-legenden vom Frsten Dimitrij Donskoj, vom hlg. Leontij von Rostov, Konstantin vonMurom, Prokopij von Ustjug, Nifont von Novgorod, selbst ein solcher Sprachknstlerwie der Verfasser der Heiligenlegende von Stefan von Perm ahmt Illarions Lobpreisungnach!, und auch in der serbischen Literatur: die Legende vom hlg. Symeon und Savva,geschrieben im 13. Jh. vom Priestermnch Domentian im Kloster Chylandar.Dmitrij Tschiewskij, Geschichte der altrussischen Literaturim 11., 12. und 13. Jahrhundert. Kiever Epo-che, 1948, S. 116 122.

    5 Wenn Priselkov (Oerki..., vgl. Literaturverzeichnis, S. 100.) aus der Rede Illarions die Gegen-berstellung der beiden Zustnde der Kiever Kirche, ihrer Abhngigkeit von Konstantinopel und ihrernationalen Selbstndigkeit (unter Illarion selbst als Metropolit), herauslesen will, so kann man demgeistreichen Forscher hier keinesfalls folgen.

  • 20 Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade

    Die Rede ber das Gesetz und die Gnade

    Die Rede ber das Gesetz und die Gnade ist ein theologischer Traktat, dem Prie-stermnch Ilarion zugeschrieben, der von 1051 bis 1055 Metropolit von Kiew war. Vondiesem Werk zeugen mehr als vierzig Handschriften. Es wurde Vorbild fr eine groeZahl hagiographischer Lobpreisungen.

    Ein Thema der Rede ist die Gleichheit der Vlker. Damit steht sie in scharfemGegensatz zur mittelalterlichen Theorie der gttlichen Erwhlung eines einzigen Volkes.Ilarion besttigt, da Gott mit dem Evangelium und der Taufe alle Vlker errettet hat;er verherrlicht das russische Volk unter allen Vlkern der Erde und polemisiert scharfgegen die Doktrin, ein einziges Volk besitze das ausschlieliche Recht auf gttliche Er-whlung.

    Die Klarheit und Przision des Werkes zeigt sich schon in seinem vollstndigen Titel:ber das Gesetz, das durch Moses gegeben wurde, und ber die Gnade und Wahrheit,die durch Jesus Christus geworden ist; und wie das Gesetz vergangen ist, die Gnade aberund Wahrheit die Erde erfllt hat, und der Glaube sich zu allen Vlkern verbreitet hat,auch bis zu unserem russischen Volke; und Lobpreis auf unseren Kagan Wladimir, vondem wir getauft sind, und Gebet zu Gott von unserem ganzen Land.

    Die Einteilung der Rede, die auch im Titel deutlich wird, erlaubt eine organischeEntwicklung des Hauptthemas: der Verherrlichung des russischen Landes, seines Anfh-rers (Kagan) und Tufers Wladimir und dessen Sohnes, des Frsten Jaroslaw. Jeder Teilentwickelt sich geschickt aus demVorhergehenden, grenzt nach den typischen Regeln desmittelalterlichen Denkens Schritt fr Schritt das Thema logisch ein, kommt vom Allge-meinen zum Speziellen, von den allgemeinen Fragen ber die Welt zum Besonderen undsomit vom Universellen zum Nationalen und zum Schicksal des russischen Volkes. DieAnordnung der Geschehnisse der Weltgeschichte folgt einem hierarchischen Ablauf imGeist der mittelalterlichen Schematisierung.

    Erster Teil der RedeDer erste Teil, die Rede ber das Gesetz und die Gnade, behandelt das Kernproblemdes mittelalterlichen historischen Denkens, nmlich die Frage der Beziehung zwischenden beiden Testamenten (Typologie: In der theologischen Vorstellung des Mittelalterssteht dem Typus des einen Testaments der Antitypus des anderen gegenber), des Alten,welches das Gesetz bedeutet, und des Neuen, das die Gnade zum Inhalt hat. Ila-rion betrachtet diese reziproke Beziehung nach dem gewohnten symbolischen Schemader christlichen Theologie - dem symbolischen Parallelismus. Die Aufeinanderfolge derBilder stammt aus der byzantinischen theologischen Literatur, insbesondere die Predigtber die Verklrung von Ephrm dem Syrer.

    Ilarion entwickelt eine eigene patriotische Auassung von der Weltgeschichte, diean sich einzigartig ist, und ernet die Mglichkeit, die historische Sendung des russi-schen Landes darin einzuschlieen. Nie verliert er das eigene Anliegen aus den Augen: Erwill Schritt fr Schritt zur Verherrlichung der russischen Heimat und ihres leuchtendenSterns Wladimir gelangen. Ilarion besteht auf dem universellen Charakter des Christen-tums des Neuen Testaments und vergleicht ihn mit der nationalen Begrenztheit des AltenTestaments. Die Unterwerfung unter das Gesetz im Alten Testament war eine Art Skla-verei, whrend die Gnade (das Neue Testament) Freiheit bedeutete. Das Gesetz wirdmit dem Schatten verglichen, dem Licht des Mondes, der Khle der Nacht; die Gnade

  • Hilarion: Rede ber das Gesetz und die Gnade 21

    hingegen mit der Pracht der Sonne und der milden Wrme. Die Zeit des Alten Testa-ments wird symbolisiert von der Sklavin Hagar, die des Neuen Testanent von der freienSara.

    Ilarion vertritt die Ansicht, nunmehr sei die Zeit gekommen, da alle Vlker ohne Aus-nahme freien Zugang zum Christentum htten, da alle Vlker im Hinblick auf ihreBeziehung zu Gott gleich seien. Das Christentum bedecke wie die Wasser der Meeredie gesamte Erde, und kein Volk knne behaupten, es sei im Hinblick auf die Religi-on berlegen. Ilarion prsentiert seine Weltgeschichte als eine schrittweise Ausbreitungdes Christentums unter den Vlkern der Erde, inklusive der russischen Stmme. Er ziehtzahlreiche Parallelen aus der Bibel heran und unterstreicht immer wieder, da der neueGlaube auch neue Menschen brauche: Es war eine gute Sache, da die Gnade und dieWahrheit ber neuen Menschen leuchtete.

    Dem Erforscher der Rede, I. N. Schdanow, zufolge verwendet der Metropolit Ila-rion die Bilder des Judentums und des Alten Testaments nur, um mit ihrer Hilfe deneigenen grundlegenden Gedanken ber die Berufung der Heiden darzulegen: Fr denneuen Wein braucht man neue Schluche, fr die neue Lehre waren neue Menschen ge-fordert, darunter auch die russischen Stmme.

    Zweiter Teil der RedeIn logischer Abfolge geht Ilarion zum zweiten Teil der Rede ber, indem er hier dasThema der Verbreitung des Christentums auf das russische Territorium einschrnkt:Der Glaube, der Gnade bringt, hat sich auf der ganzen Erde ausgebreitet und ist biszu unserem russischen Volk gelangt ... Auch wir verherrlichen also zusammen mit allenChristen die Heilige Dreifaltigkeit. Und: Der gtige Gott hat allen Vlkern Barmher-zigkeit zuteil werden lassen und hat uns nicht verschmht. Durch seinenWillen hat er unsgerettet und uns zur Kenntnis der Wahrheit gefhrt.

    Die Zukunft gehre dem russischen Volk, das zu einer groen historischen Missionausersehen ist, denn: An uns hat sich erfllt, was ber die Vlker geweissagt wordenwar: Der Herr macht seinen heiligen Arm frei vor den Augen aller Vlker. Alle Endender Erde sehen das Heil unseres Gottes (Jes. 52, 10). Das patriotische und polemischePathos der Rede nimmt mit der Beschreibung des Christentums unter den russischenStmmen zu. Mit denWorten der Heiligen Schrift fordert Ilarion alle Vlker und Stmmeauf, Gott zu loben. Alle Stmme mgen Gott loben, und alle Vlker sollen sich freuen,alle mgen Gott anrufen. VomOrient zumOkzident sei gelobt der Name des Herrn. beralle Vlker erhebt sich der Herr.

    Dritter Teil der RedeDie patriotische Begeisterung Ilarions erreicht im dritten Teil der Rede ihre hchsteSpannung. Dieser Teil ist dem Lobpreis von Wladimir I. Swjatoslawitsch gewidmet.

    Wenn der erste Teil der Rede vom universellen Charakter des Christentums undder zweite Teil speziell vom russischen Christentum handelt, so ist der dritte Teil eineLobrede auf den Frsten. Der organische bergang vom zweiten zum dritten Teil ent-sprach der theologischen Auassung des Mittelalters, nach der jedem Land der Erdedie Figur eines Apostels zugeordnet war. Auch in der Rus gab es jemanden, der zu ver-herrlichen war: Auch wir lobpreisen, zwar noch in geringem Umfang, so weit wie wirdessen eben fhig sind, unseren Meister und Fhrer, der groe und wundervolle Taten

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    vollbracht hat, den groen Frsten unseres Landes Wladimir. Ruland war auch vorWladimir schon ein glorreiches Land, und auch vor ihm gab es hervorragende Frsten.Wladimir war der Enkel von Igor dem Alten und Sohn des ruhmreichen Swjatoslaw.Beide Frsten waren in vielen Lndern berhmt fr ihren Mut und ihre Bedeutung,und noch heute lobt und verherrlicht man sie wegen ihrer Siege und ihrer Kraft. Ila-rion unterstreicht die Autoritt des russischen Volkes unter den Nationen der Welt. DieFrsten, die Wladimir vorangegangen waren, hatten nicht ein feindliches und unbekann-tes Land regiert, sondern russisches Gebiet, das bis zu den uersten Grenzen der Weltberhmt und bekannt war. Wladimir war ein ruhmreicher Mann, Stammvater glorrei-cher Mnner, ein Edelgeborener aus adliger Familie. Ilarion geht dann dazu ber, diemilitrischen Erfolge zu beschreiben. Wladimir wurde Herrscher seines Landes undunterwarf die umgebenden Vlker, einige auf friedliche Weise, andere, die Widerstandleisteten, mit dem Schwert. Vor allem aber wurde unter ihm das Christentum im Jahre989 zur Staatsreligion erhoben.

    Nachdem Ilarion die wichtigsten Zge der freien und spontanen Taufe von Wladimirbeschrieben und jede erdenkliche erzieherische Rolle auch der Griechen bercksichtigthat, behandelt er die Bekehrung der Rus und schreibt Wladimir alle Verdienste bei derChristianisierung zu. Jede Beteiligung der Griechen wird dabei geleugnet. Indem Ilari-on unterstreicht, da die Christianisierung der Rus ausschlielich das Werk des FrstenWladimir war, in dessen Gestalt sich der wahre Glaube mit Autoritt paart, polemi-siert er oen gegen die Griechen, die sich selbst die Verdienste um die Bekehrung einesbarbarischen Volkes zuschrieben.

    Ilarion geht sodann zur Beschreibung jener Eigenschaften und Verdienste von Wla-dimir ber, die ihn als Heiligen erscheinen lassen, um, dies ist oensichtlich, eine Kano-nisierung zu rechtfertigen, die jedoch erst zweihundert Jahre spter erfolgen sollte. EinVergleich der LeistungWladimirs fr die Rus mit dem, was Konstantin der Groe fr dieGriechen und die Ostrmer getan hatte, will die griechischen Einwnde gegen eine Hei-ligsprechung von Wladimir entkrften: Gleiches Werk verdient gleiche Anerkennung.Diesen Vergleich entwickelt Ilarion in aller Breite. Anschlieend bezeichnet er Jaroslaw,den SohnWladimirs, als denjenigen, der Wladimirs Werk fortfhrt. Auch Jaroslaws Ver-dienste undWerke zhlt er auf. Das patriotische Pathos dieses dritten Teils, derWladimirlobpreist, bertrit das des zweiten Teils bei weitem. Nachdem Ilarion ausfhrlich daserzieherische Werk Wladimirs, die neue Rus und die glorreiche Stadt Kiew beschrie-ben hat, wendet er sich an Wladimir mit der Auorderung: Erhebe dich aus dem Grab,ehrwrdiger Herrscher, erhebe dich, schttle den Schlaf ab! Du bist nicht tot, sondernschlummerst nur bis zur Auferstehung aller Menschen. Steh auf! Du bist nicht tot. DerTod hat dich nicht berwltigt, denn du hast an Christus geglaubt, das Leben der Welt.Schttle den Schlaf ab, hebe die Augen zum Himmel und sieh: Der Herr hat dich derEhren im Himmel fr wrdig erachtet, und in deinem Sohn hat er auch auf der Erde deinGedchtnis hochgehalten.

    Abschlieender Teil der RedeIm vierten Teil der Rede folgt in einigen Manuskripten ein Gebet, das Ilarion selbstverfat hat und teils ein Bugebet, teils voller Begeisterung und patriotischer Ideen ist:Und solange die Welt bestehenbleibt, la keine Angrie und Versuchungen auf uns zu,berla uns nicht der Gewalt fremder Menschen, so da deine Stadt (das heit Kiew)nicht Stadt der Gefangenschaft genannt und deine Herden nicht als Fremdlinge bezeich-net werden auf einem Boden, der ihnen nicht gehrt. Es steht noch nicht fest, ob dieses

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    Gebet einen integrierten Teil der Rede darstellt oder ob es getrennt davon niederge-schrieben wurde. Die gedankliche Einheit mit der Rede steht indes auer Zweifel.

    Drei weitere Teile beinhalten ein Glaubensbekenntnis, das bei jeder Feier der ortho-doxen Meliturgie gesungen wurde, dann das eigene Glaubensbekenntnis des Ilarion undschlielich eine kurze autobiographische Notiz: Ilarion berichtet ber seine Weihe zumMetropoliten von Kiew.

    Der wahre Zweck der Rede liegt nicht im dogmatisch-theologischen Vergleich zwi-schen Altem und Neuem Testament, wie dies einige Forscher glaubten. Der traditionelleVergleich beider Testamente bildet die Grundlage, auf der Ilarion die historische Missionder Rus deniert. Im Gefolge der groen bulgarischen Erzieher und Apostel Kyrill undMethod stellt Ilarion die Theorie von der Gleichwertigkeit aller Vlker und das Konzeptder Weltgeschichte als einer schrittweisen Christianisierung aller Vlker dar. Wie sichW.M. Istrin ausdrckt, handelt es sich um einen akademischen Traktat zur Verteidi-gung von Wladimir.

    Ein umfangreicher Universalismus kennzeichnet das Werk von Ilarion. Die Geschich-te der Rus und ihrer Bekehrung wird als logische und konsequente Entwicklung der Ge-schehnisse auf derWelt beschrieben. Jemehr Ilarion sein Thema einschrnkt, um somehrwchst seine patriotische Inspiration. So stellt seine Rede von Anfang bis zum Endedie harmonische und organische Entwicklung eines einzigen patriotischen Konzepts dar.

    Die Einheit zwischen theologischen Gedanken und politischem Konzept verleiht derRede eine besondere Originalitt und macht sie zu einem in ihrer Art einzigartigenWerk.

    Bezug der Rede zur Sophienkirche in Kiew

    A.A. Schachmatow erhellte die Beziehung, die zwischen dem Beginn der russischenChroniken und dem Bau der Sophienkirche in Kiew besteht. Eine hnliche Beziehunglt sich auch zwischen der Rede des Ilarion und dieser Kirche feststellen. Die Archi-tektur zur Zeit von Jaroslaw, also zu Beginn des 11. Jahrhunderts, stellt ein wesentlichesElement in der Kette der ideologischen Korrelation und der kulturellen Phnomene dar.

    Jaroslaw machte eben die Sophienkirche zum Zentrum der literarischen Kultur Ru-lands, indem er dort viele Manuskripte und Bcher sammelte. Im Jahr 1051 wurdeIlarion, der bereits unter Jaroslaw dem Weisen Priester der Hofkirche von Berestowogewesen war, Metropolit. Er hatte allerdings schon frher an liturgischen Feiern in derSophienkirche teilgenommen.

    Die Rede des Ilarion wurde zwischen 1037 und 1050 verfat. M. D. Priselkowgrenzt die Zeit auf die Jahre 1037 bis 1043 ein und weist darauf hin, da der optimistischeCharakter der Rede fr eine Abfassung vor dem unglckseligen Feldzug Wladimir Ja-roslawitschs gegen Konstantinopel im Jahr 10439 spricht. Jaroslaw hatte die Sophienka-thedrale in der neuen Hauptstadt gerade erst errichten lassen. Die Rede wurde sicherin dieser Kirche gehalten, deren Prunk schon die Zeitgenossen in Erstaunen versetzte.Des weiteren erwhnt die Rede selbst: Der beste Zeuge deines wahren Glaubens, oSeliger (Wladimir), ist die heilige Kirche der allerheiligsten Gottesmutter Maria ..., inder heute dein geschtzter Krper ruht.

    Die Teilnahme von Jaroslaw und seiner Frau Irina beim Vortrag der Rede, diedann auch ausdrcklich erwhnt ist, besttigt, da dieser Vortrag in der Sophienkir-che stattfand. Sie war die Kirche des Frstenhofes und mit dem Palast von Jaroslaw

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    ber eine Treppe verbunden. Nur hier konnte Ilarion jene gelehrte Gesellschaft vollerliterarischer Se treen, an die sich seine Rede richtet, wie er selbst sagt. Seinenthusiastisches Urteil ber die Kirche und die Bauttigkeit von Jaroslaw lautet: Quelledes Erstaunens und Lobes ... und es gibt im ganzen Land des Nordens, vom Osten biszum Westen, nichts, was ihr hnlich wre.

    Die genaue Stelle, an der Ilarion seine Rede, hielt, war sicherlich der Chor der Kir-che: Es ist bekannt, da der Kaiser und die Kaiserin den Gottesdiensten im Chor ihrerHofkirche folgten, der Kaiser auf der rechten Seite, die Kaiserin auf der linken.14 Wirknnen als sicher voraussetzen, da dies in der Rus von der Mitte des 12. Jahrhundertsan so gehandhabt wurde. Im Chor empngen die Frsten die Eucharistie (Abendmahl);hier wurden feierliche Empfnge veranstaltet, hier bewahrte man auch die Bcher undden Kirchenschatz auf. Das ist auch der Grund, warum die Chre der frstlichen Kirchen- solange diese Sitte bestand - groe Dimensionen aufwiesen, prchtig erleuchtet und mitentsprechenden Fresken ausgemalt waren. Die Fresken in der Sophienkirche, besondersdie im Chor, dienen als eine Art Kommentar zu Ilarions Rede.

    Im 11. und 12. Jahrhundert bildeten die Freskenzyklen der Kirchen ein komplexesBildersystem. Das gesamte Gotteshaus formte eine Art Mikrokosmos, der in sich diegrundlegenden Zge und Theorien der christlichen Welt vereinte. In der Sophienkirchein Kiew stellten die Fresken und die Mosaiken den gttlichen Entwurf der Welt dar, dieGeschichte der Menschheit. Gegen Mitte des 11. Jahrhunderts wurde dies gemeinhin an-hand des Alten und des Neuen Testaments dargestellt. Ihr typologischer Vergleich ist dasHauptthema der Gemlde in der Sophienkathedrale und zugleich das Anfangsthema derRede Ilarions. Beim Vortrag seiner Rede konnte Ilarion demnach direkten Bezugauf die ihn umgebenden Fresken nehmen. Die Fresken und Mosaiken der Sophienkirchein Kiew konnten Ilarions Predigt deutlich illustrieren. Besonders eigneten sich dazu dieChorfresken, denn gerade hier waren jene Szenen aus dem Alten Testament abgebildet,deren Personen die besten Bezugspunkte fr die berlegungen Ilarions bildeten: dieBegegnung Abrahams mit den drei Pilgern und die Gastfreundschaft Abrahams. Beiden Worten als Mensch begab er sich zur Hochzeit von Kana in Galila, und als Gottverwandelte er das Wasser in Wein konnte Ilarion konkret auf zwei Darstellungen ver-weisen, die einander gegenberstehen und die symbolisch das Wunder der Hochzeit vonKana, die Verwandlung von Wasser in Wein und daneben das Abendmahl Christi mitseinen Jngern darstellen.

    Es war typisch fr die Homiletik (Theorie und Lehre der Predigt; Homilien = Predig-ten) des Mittelalters, sich bei symbolischen Interpretationen auf strukturelle Merkmaleder Kirchen zu beziehen, zum Beispiel auf den Heiligen, dem sie geweiht war, auf dasEreignis, an das sie erinnerte, oder auch auf die Interpretation der darin enthaltenen Bil-der und Darstellungen. In Ilarions Predigt nden wir die symbolische Interpretation derGrndung der Verkndigungskapelle ber der Goldenen Pforte in Kiew; sie steht in di-rektem Bezug zum knftigen Schicksal der Stadt. Der Name der Verkndigungskapelleber der Goldenen Pforte hatte nach Ilarion eine symbolische Bedeutung: Wie der Erz-engel Gabriel der Jungfrau Maria einen Ku gab, so wird es auch mit der Stadt (Kiew)sein. Der Erzengel wandte sich an die Jungfrau Maria mit den Worten: Sei gegrt,du Begnadete, der Herr ist mit dir. Der Erzengel scheint sich durch diese Kirche auchder Stadt Kiew mit den Worten zuzuwenden: Sei gegrt, du gesegnete Stadt, der Herrist mit dir. In gleicher symbolischer Weise interpretiert Ilarion auch die Fresken derSophienkirche. In der Betrachtungsweise des Mittelalters mute die Predigt des Ilariondurch diese konkreten Bezge an Klarheit und Beweiskraft gewinnen.

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    D. S. Lichatschew in: D. S. Lichatschew u. a., Russland. Seele, Kultur, Geschichte, 1996, S. 26 28.