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70 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013
Das sind wir
Hochbegabung – zwischen Segen und Sorgen
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ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 71
Etwas toll können, ist eigentlich ein Segen. Aber warum haben hochbegabte Kinder dann oft einen schweren Stand in unserer Gesellschaft? Warum löst ihre hohe Begabung so zwiespältige Gefühle aus? Zwei Familien berichten
von ihrer Gratwanderung zwischen Erfolg und Scheitern. Von Astrid Hopp
Damit sich die Hochbegabung gut entwickelt, muss sie gefördert werden
Während andere Schulkinder sich
noch im Bett umdrehen, spielt Eva
(10) jeden Morgen bereits um 5.50 Uhr
Klavier. Nach 25 Minuten macht sie Platz
für ihre große Schwester Marika (12) und
um 6.45 Uhr ist ihre kleine Schwester San-
dra (7) dran. Was nach Stress klingt, ist
für die drei nur eine von vielen Beschäfti-
gungen, mit denen sich ihr Tag füllt. Alle
drei sind hochbegabt. Getestet mit einem
Intelligenzquotienten (IQ)
von mehr als 130.
Wer hochbegabt ist, hat
eine herausragende Denk-
und Problemlösungsfähig-
keit, kann gut lernen, hat
eine schnelle Auffassungsgabe und ein
außerordentliches Gedächtnis. Hochbe-
gabte Kinder sind in ihrer geistigen Ent-
wicklung Gleichaltrigen also weit voraus.
Der Knackpunkt: Hochbegabte haben
zwar das Potenzial, Außergewöhnliches
zu leisten, ob sich die Hochbegabung
aber gut entwickelt, hängt entscheidend
von der jeweiligen Förderung und dem
gesamten Umfeld wie Elternhaus, Kin-
dergarten, Schule, Freizeit etc. ab. „Ein-
fach zu erkennen ist eine Hochbegabung
bei Kindern nicht“, weiß Martin Schul-
te von der Deutschen Gesellschaft für
das hochbegabte Kind (DGhK), Regio-
nalverein Köln. „Es gibt Checklisten, die
typische Merkmale benennen. Sie tref-
fen aber längst nicht auf alle Kinder zu.
Eine Häufung von Merkmalen könnte je-
doch ein Hinweis auf eine mögliche Hoch-
begabung sein.“ Erste Anlaufstelle für El-
tern sind Beratungsangebote wie die von
der DGhK, einem bundesweit tätigen ge-
meinnützigen Verein, in dem sich betrof-
fene Eltern, Pädagogen, Psychologen so-
wie andere Interessierte ehrenamtlich
für die Förderung hochbegabter Kinder
einsetzen.
Für Nicole und Thomas Spiertz, die
Eltern von Marika, Eva und Sandra, wa-
ren die Fähigkeiten ihrer Erstgeborenen
Marika zunächst normal. Als Fünfjährige
spielte Marika mit ihrer Mutter eben am
liebsten Monopoly. Dass
sie die Mieten zusammen-
rechnen konnte, fand die
Mutter nicht besonders
außergewöhnlich. Erst als
die Oma meinte: „Du musst
mit der Kleinen mal zum Psychologen,
die hat gar keine Lust auf altersgerechte
Kinderspiele“, kam sie ins Grübeln. Mari-
kas extreme Langeweile im Kindergarten
und der Tipp einer Mutter, die sich mit
Hochbegabung auskannte, gaben den An-
stoß, das Kind testen zu lassen.
Eine wissenschaftlich anerkannte Me-
thode für den Nachweis von
Hochbegabung ist der Intel-
ligenztest. In der Forschung
gilt ein Kind als hochbegabt,
wenn es in entsprechen-
den Tests einen Wert von
über 130 Punkten erreicht bzw. einen
Prozent rang von 98. Das bedeutet, dass
etwa zwei Prozent der Kinder eines Jahr-
gangs intellektuell hochbegabt sind. Bei
einem Quotienten zwischen 115 und 130
spricht man von einer überdurchschnitt-
lichen Begabung. Wer sein Kind testen
lassen möchte, sollte sich einen erfahre-
nen Diplom-Psychologen suchen, der in
der Diagnostik routiniert ist und regelmä-
ßig Tests in der gewünschten Altersgrup-
pe durchführt. Seriöse Beratungsstellen
legen Wert auf eine gute Nachberatung
und erstellen eine individuelle Profilana-
lyse zu den Stärken und Schwächen des
Kindes. Denn: Wer Intelligenztests richtig
interpretieren kann, ist in der Lage eine
echte Erziehungshilfe zu geben und ein
Förderkonzept zu erstellen.
Die Aussagefähigkeit von Tests bei
Kleinkindern und im Vorschulalter ist
umstritten, da die Intelligenzentwicklung
bei kleinen Kindern noch längst nicht ab-
geschlossen ist. Eltern sollten ihr Kind
daher so früh nur dann testen lassen,
wenn akuter Bedarf besteht, z. B. wenn
sie unsicher sind, ob eine vorgezogene
Einschulung sinnvoll wäre.
Marikas Ergebnis veranlasste die El-
tern, zur Grundschule Kontakt aufzu-
nehmen. „Sie durfte probeweise am Un-
terricht teilnehmen“, erzählt ihre Mutter.
Das machte ihr so großen Spaß, dass die
Kindergartenzeit für sie
noch langweiliger wurde.
Schließlich der schnelle
Entschluss: Marika wird
nachträglich mit fünf
Jahren als Kann-Kind
eingeschult und steigt zum zweiten Halb-
jahr ins erste Schuljahr ein. „Ihre Klas-
senlehrerin hatte Erfahrung mit Hoch-
begabten und hat uns gut beraten. Das
war unser Glück.“ Ihren ersten offiziellen
Schultag feierte Marika wie jeder Schul-
anfänger. Mit Schultüte im Arm, in Beglei-
tung ihrer Eltern, Schwestern und Omas
und Opas, wurde sie in ihrer neuen Klas-
Marikas Klassenlehrerin hatte
Erfahrungen mit Hochbegabten
Marika, Eva, Sandra:Drei Hochbegabte auf einen Streich
72 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013
Das sind wir
se herzlich empfangen. Es gab Kuchen
und eine richtige kleine Einschulungs-
feier. Die Klassenlehrerin hatte die Mit-
schüler gut darauf vorbereitet. „Manche
Kinder wunderten sich zwar, dass Marika
den Unterrichtsstoff besser beherrsch-
te als sie selbst, obwohl sie doch später
dazugekommen war“, erinnert sich die
Mutter, „aber Hänseleien oder Ablehnung
gab es deswegen nicht.“
Seitdem Marika mit Hausaufgaben nach
Hause kam, wollte ihre kleine Schwester
Eva unbedingt mitlernen. „Da Hochbega-
bung häufig mehrere Geschwisterkinder
betrifft, haben wir Eva ebenfalls im Vor-
schulalter testen lassen“, berichten die
Eltern. Bei ihrer zweitgeborenen Toch-
ter wird ein IQ von über 130 festgestellt.
Kurz nach ihrem fünften Geburtstag star-
tet sie ebenfalls in die Schulzeit. Aller-
dings nicht ganz so schön wie ihre ältere
Schwester. „Als erste Hausaufgabe muss-
ten wir eine Schultüte ausmalen“, erin-
nert sich die Zehnjährige. „Als ich dem
Lehrer sagte, dass auf der Kopiervorlage
bei dem Wort Schultüte ein ,t‘ fehle, re-
agierte er leicht säuerlich.“
Nachdem es in den ersten Schulwo-
chen mehrere Zwischenfälle dieser Art
mit dem Lehrer gab, die
Eva als Besserwisserei
ausgelegt wurden, ent-
schieden sich die Eltern
schnell für einen Schul-
wechsel. „Es war einfach
klar, dass die Chemie zwischen Eva und
ihrem Klassenlehrer nicht stimmt.“ Die
Lehrerin auf der neuen Grundschule kam
mit ihr wesentlich besser zurecht. „Dass
unsere Töchter hochbegabt sind und
eine besondere Förderung brauchen, ha-
ben wir den Lehrern nie gesagt“, betont
Nicole Spiertz. „Wir haben immer von ei-
nem großen Lernpotenzial gesprochen.“
Für viele Eltern ist die Hochbegabung ih-
res Kindes ein Balanceakt: Sagen sie in
der Schule etwas, landen sie wohlmög-
lich in der Schublade „überehrgeizige El-
tern“, die ihr Kind für etwas Besseres hal-
ten. Sagen sie nichts, kann wertvolle Zeit
dabei verloren gehen, dem Kind das rich-
tige Lernumfeld zu bieten.
Richtig Glück mit ihrer Grundschulleh-
rerin hat die siebenjährige Sandra, die
jüngste von den drei Mädchen. Regulär
mit sechs Jahren eingeschult, ist sie auf
eine Lehrerin getroffen, die einfach ein
Händchen für sie hat, wie
die Eltern immer wieder
glücklich feststellen. Noch
langweilt sie sich nicht im
Unterricht. Obwohl sie
sich Dinge, für die Klassen-
kameraden Wochen brauchen, innerhalb
kürzester Zeit selbst aneignet, wie ihre
Mutter häufig erlebt: „In den vergangenen
Herbstferien ärgerte sie sich, zwar schon
Druckschrift lesen zu können, Schreib-
schrift aber nicht. Die hatten sie im Un-
terricht noch nicht gelernt. Kurzerhand
hat sie sich mit einer Übersicht zu allen
Schreibschriftbuchstaben auf ihr Zim-
mer verkrümelt, jeden Buchstaben zwei
Mal geübt und danach konnte sie die so-
wohl schreiben als auch lesen.“
Und im Alltag setzt sich der Wissens-
drang fort: „Momentan rechnen sie in
der Klasse mit den Zahlen im Hunder-
terbereich. Als ich mit Sandra letztens
im Auto unterwegs war, sah sie ein Schild
mit der Zahl 1.500 und wollte wissen, wel-
che Zahl das ist. Wenn sie mich fragt, er-
kläre ich ihr die Dinge“, sagt die Mutter.
„Aber wir fangen nicht an, neuen Stoff
vorzugeben, den sie in der Schule noch
nicht hatte.“ Seit der Erklärung ihrer Mut-
ter beschäftigt sie sich mit Zahlen im
Tausenderraum. Ob sie eventuell nach
der dritten Klasse direkt auf das Gym-
nasium wechselt, werden die Eltern ent-
scheiden, wenn es so weit ist.
Marika und Eva gehen mittlerweile bei-
de auf ein örtliches Gymnasium. Marika
besucht die achte Klasse mit naturwissen-
schaftlichem Profil. Eva geht in die sechs-
te Klasse und hat sich für den bilingua-
len Französischzweig entschieden. Beide
fühlen sich in ihren Klassen wohl, ob-
wohl der Start für Marika extrem schwer
war. „Ich habe mich richtig aufs Gymna-
sium gefreut. Aber als die Lehrer Unmen-
„Wir haben lieber von einem großen Lernpotenzial gesprochen“
Die zwölfjährige Marika (links), Nesthäkchen Sandra (Mitte) und Eva (10 Jahre) sind hochbegabt. Ihre Eltern haben das frühzeitig erkannt – und fördern die Mädchen bestmöglich.
ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 73
gen Stoff der vierten Klasse wiederhol-
ten, war’s für mich sehr langweilig. Als ich
dann mit meinen Mitschülern immer häu-
figer Streit wegen irgendwelcher Nichtig-
keiten bekam und die immer aggressiver
wurden, wollte ich nachher nur noch die
Schule wechseln“, erinnert sich Marika.
Eine gebrochene Hand, eine Fuß- und eine
Augenverletzung – alles bei Attacken auf
dem Schulhof passiert – veranlassten die
Eltern, den Schulleiter um ein Gespräch zu
bitten. Der erwies sich als sehr sensibel:
Sein Gefühl war, dass Marika in der fünf-
ten Klasse unterfordert sei und ihr Wis-
sensvorsprung die Mitschüler verunsi-
chere und aggressiv mache. Er schlug ihr
einen Wechsel in die sechste Klasse vor,
den Marika gerne annahm: „Ich konnte
zum zweiten Halbjahr springen. Den Stoff,
der mir noch fehlte, sollte ich bis zu den
Sommerferien nacharbeiten. “
Wie groß ihr Potenzial ist, zeigte sich in
den folgenden Wochen. Marika erarbei-
tete sich den fehlenden Stoff alleine – bis
auf Latein, das sie vorher noch nie hat-
te – und war schon vor den Osterferien
fertig. „Zu Hause hatten wir nie den Ein-
druck, dass sie diese Stoffmenge stresst
oder vor Schwierigkeiten stellt. Der Klas-
senlehrer hat sie neben eine gute Schü-
lerin gesetzt, die ihr ebenfalls einiges er-
klären konnte“, freuten sich die Eltern. In
der neuen Klasse fühlt sie sich sichtlich
wohl. Obwohl sie 12 und die anderen 14
Jahre alt sind, fällt der Altersunterschied
sowohl körperlich als auch im Sozialver-
halten nicht auf. „Mit den Klassenkame-
raden komme ich gut aus. Wir sind sechs
Mädchen und 23 Jungen. Da müssen wir
Mädchen einfach alle zusammenhalten.“
Marikas Sprung von ei-
ner Klasse zur anderen ist
eine der Möglichkeiten,
die Lehrer für die Förde-
rung hochbegabter Kin-
der haben. Akzeleration,
Beschleunigung der Schulzeit, heißt
das in der Fachsprache. Bei einer Teilak-
zeleration nimmt der Schüler teilweise
am Unterricht der nächsthöheren Klas-
se teil. Ein anderer Weg ist das Enrich-
ment: Das Kind bekommt nicht einfach
mehr Aufgaben der gleichen Art, son-
dern Aufgaben, die ein Thema vertiefen.
Denn gerade das Wiederholen von Aufga-
ben, was für den größten Teil der Klas-
se jedoch wichtig ist, lässt Hochbegab-
te abschalten und senkt ihre Motivation.
In der 20-köpfigen bilingualen Klasse von
Eva ist das Leistungsniveau sehr hoch.
Auf dem Stundenplan stehen momentan
sechs Stunden Französisch pro Woche.
Eva liebt die Sprache. Weil sie in den Os-
terferien mit der Klasse in die franzö-
sischsprachige Schweiz fahren, möchte
sie gerne mehr Vokabeln können, um sich
gut zu verständigen. „Ich habe meine El-
tern gefragt, ob ich „Vorhilfe“ in Franzö-
sisch bekomme“, so nennt sie die zusätz-
liche wöchentliche Französischstunde
bei einer Privatlehrerin.
Langeweile im Unterricht befürchten
die Eltern nicht, da der bilinguale Zweig
sehr anspruchsvoll ist. „Bei der Aus-
wahl der Hobbys schauen wir ansonsten
schon gemeinsam, was Ihnen gefällt, sie
fordert und einen Ausgleich zur Schule
darstellt“, erklären die Eltern. Und Hob-
bys haben die drei reichlich. Neben Kla-
vier lernt Marika zwei Mal pro Woche
Chinesisch, Steppen und geht mit ihren
Klassenkameraden zum Standardtanz.
Am Wochenende ist sie als Messdienerin
aktiv. Massenweise Bücher verschlingt
sie obendrein. Deshalb ist der wöchent-
liche Gang in die Bücherei
obligatorisch. „Mein Re-
kord war es, nachmittags
mit einem rund 600-seiti-
gen Band der Twilight-Sa-
ga anzufangen und nachts
um drei fertig zu sein“, grinst Marika.
Dass sich die drei gegenseitig anspor-
nen, lässt sich fast gar nicht verhindern.
Auch Sandra ist eine Leseratte; ihre mo-
mentane Lieblingsserie: „Das magische
Baumhaus“. „Bis jetzt habe ich es ge-
schafft, ein Buch an drei Nachmittagen
zu lesen. Mein Ziel ist es, das an einem
Nachmittag zu schaffen“, verkündet die
Siebenjährige. Auch Chinesisch steht
Das Wiederholen von Aufgaben lässt viele
Hochbegabte einfach abschalten
Das hat nicht immer gleich auf Anhieb funktioniert, aber mittlerweile fühlen sich alle drei Schwestern gut in ihrem schulischen Umfeld aufgehoben – und zu Hause sowieso.
74 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013
Das sind wir
seit Neuestem auf ihrer Hobbyliste. Au-
ßerdem spielt sie Blockflöte, ist mit Eva
in einem Flötenorchester, geht zum Bal-
lett, macht einmal pro Woche Englisch
und besucht einmal im Monat mit Eva
ein Englisch-Camp. „Klar schauen sie,
was macht die eine, was lernt die andere,
aber das ist wie bei anderen Geschwis-
tern auch“, finden die Eltern.
„Wir achten allerdings darauf, dass sie
sich neben all der intellektuellen Förde-
rung auch musisch und sportlich betäti-
gen“, sagt der Vater. So spielt Eva noch
Badminton, geht zum Ballett, hat sich für
Querflöte als Instrument entschieden
und geht auch zu den Messdienern. Dass
zwischen diesem strammen Freizeitpen-
sum noch Hausaufgaben stattfinden müs-
sen, wäre für die meisten
Kinder ein Albtraum. „Die
drei sind mit ihren Haus-
aufgaben meistens viel ef-
fektiver, wenn viel auf dem
Programm steht, als wenn
sie einen Nachmittag vertrödeln können“,
stellt die Mutter fest. Auch treffen sie sich
gerne mit Freunden, aber oft sind es die
Freunde, die dann mit den Hausaufgaben
ausgelastet sind.
Umso schöner sind für die drei die Tref-
fen mit anderen Hochbegabten. Daher
sind sie alle Mitglieder im Verein IKuh
und zusätzlich in Mensa. Das ist ein
weltweiter Verein für hochbegabte Men-
schen. Ziel ist es, diese hochintelligen-
ten Menschen über lokale, überregionale
und internationale Treffen zu vernetzen.
Hinter dem Wort Mensa – aus dem Latei-
nischen von Tisch – steckt die Idee der
Gründer, Hochbegabte an einen Tisch
zu bringen. Nicole Spiertz: „Für die Kin-
der ist es wichtig, ganz unkompliziert mit
Menschen zusammen zu sein, die genau
auf ihrer Wellenlänge sind.“
Da Thomas Spiertz Vollzeit arbeitet, ist
die Organisation des Alltags ihrer Töch-
ter die Aufgabe von Nicole Spiertz. „Die
viele Fahrerei ist manchmal anstren-
gend, vor allem seit ich wieder Teilzeit
arbeite“, findet die Mutter, aber die Hoch-
begabung ihrer Töchter hat sowohl ihren
Kindern als auch ihr selbst schon viele
spannende Erlebnisse be-
schert. Als etwa ihre Tan-
te an Leukämie erkrank-
te, wollten die Mädchen
genauer wissen, was da-
hintersteckt. Da sie jedes
Jahr im Frühjahr am Programm der Kin-
deruni Köln teilnehmen, sprachen sie die
Professoren darauf an. Aus dem anfängli-
chen Interesse entwickelte sich ein Buch-
Workshop mit dem Ziel, ein Kinderbuch
über Darmkrebs zu schreiben. Das The-
ma Krebs haben sie daraufhin auch in
der TV-Sendung „Quarks & Co“ vorge-
stellt und mit der Buchidee beim Wett-
bewerb „Forschung für unsere Gesund-
heit“ in ihrer Kategorie den ersten Platz
belegt.
Obwohl bei Marika, Eva und Sandra al-
les ziemlich rund läuft, wissen die Eltern,
wie schnell Hochbegabte in der Kritik ste-
hen und dazu neigen, sich zu verstellen.
Sie selbst ziehen es vor, außerhalb der
Hochbegabtenkreise nicht über das The-
ma zu sprechen und haben das auch ih-
ren Töchtern vermittelt. Entsprechend
gerne fahren sie mittlerweile mit Famili-
en anderer hochbegabter Kinder in den
Urlaub. In den Ferien nehmen die Kin-
der an Hochbegabtenakademien teil. Da
diese Akademien in der Regel subventi-
oniert werden, ist das ein angenehmer
Ausgleich für die Eltern. „Bei drei Kin-
dern mit solchen Hobbys kommt man fi-
nanziell einfach an seine Grenzen. Wenn
dann noch Sprachreisen anstehen, ist
jede Förderung von außerhalb hilfreich.“
Und was ist mit Leerlauf, wenn kein
Programm ansteht? Mittlerweile können
sich die drei sehr gut alleine beschäfti-
gen und fordern. Sie holen sich Blätter
aus dem Wald und mikroskopieren sie
oder spielen mit dem Experimentierkas-
ten. Und irgendwann ist auch mal Feier-
abend. Nachdem Marika als Kleinkind ex-
trem wenig Schlaf benötigte – morgens
um fünf hellwach war und problemlos
ohne Mittagsschlaf bis abends um elf
durchhielt – geht sie momentan zeitig
ins Bett, genau wie ihre Schwestern.
Warum, weshalb, wieso? In ihrer Freizeit beschäftigen sich die drei Mädchen mit etwas anderen Spielsachen als Gleichaltrige und erforschen gerne Neues.
Die Treffen mit anderen
Hochbegabten sind sehr wichtig
ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 77
Hochbegabung gibt es nicht, das ist
ein Hirngespinst von ehrgeizigen
Eltern“, konnte sich Joëlle Henselmann
von der Leiterin der Kindertagesstätte
in Düsseldorf anhören, die ihr vierjähri-
ger Sohn Dorian 2004 besuchte. Ihr Sohn
müsse sich anpassen, war das Fazit eines
Gesprächs zwischen Kitaleitung, Grup-
penleiterin und der Mutter. „Über Wo-
chen hatte ich versucht, mit der Grup-
penleiterin ins Gespräch zu kommen“,
erinnert sich Joëlle Henselmann.
Dass Dorian anders war als die ande-
ren Kinder, war den Erzieherinnen auch
aufgefallen. Mit zwei Jahren sprach er
flüssig vollständige Sätze, mit drei Jah-
ren addierte und subtrahierte er im 20er-
Bereich, mit vier Jahren brachte er sich
selbst das Lesen bei. Kontakt zu den an-
deren Kindern seiner Gruppe hatte er
kaum und seine Mutter hatte fast das
Gefühl, dass er bewusst isoliert wurde.
„Wenn Ausflüge in den Wald anstanden,
was er liebte, wurde er nicht mitgenom-
men.“ Aus Sicht von Joëlle Henselmann
waren die Erzieherinnen mit seiner an-
deren Art einfach überfordert. „Sie leg-
ten mir im Beisein anderer Eltern nahe,
mit Dorian zum Psychiater zu gehen, da
er nicht normal sei.“
Als Dorian schließlich von sich selbst
sagte, „ich habe eine Komplizierung im
Gehirn“, war für die Mutter der Zeitpunkt
erreicht, seine Intelligenz testen zu las-
sen. Dorian war viereinhalb. „Eigentlich
zu früh für einen Intelligenztest. Je nach
Umwelteinflüssen und Förderangeboten
kann Intelligenz noch stark, in etwa bis
zum Ende der Grundschulzeit, schwan-
ken“, wusste Joëlle Henselmann. Der Test
bestätigte ihr Gefühl: Dorian ist hochbe-
gabt, sein IQ lag weit über 130. „Ich habe
versucht, für meinen Sohn einen ande-
ren Kindergartenplatz zu finden, weil die
Kommunikation mit den Erzieherinnen
überhaupt nicht klappte. Sie empfahlen
sogar eine Rückstellung und Einschulung
erst mit sieben Jahren. Aber in ganz Düs-
seldorf fand sich kein Platz. Zum Ende
seiner Kitazeit bekam ich eine Entwick-
lungsmappe, die einen einzigen Handab-
druck von Dorian enthielt und mir noch
einmal deutlich dokumentierte, welche
Barriere zwischen den Erzieherinnen
und meinem Sohn stand.“
Nach dem Testergebnis meldete Joëlle
Henselmann ihren Sohn bei MinD Mensa
in Deutschland e. V. an, damit er wenigs-
tens außerhalb der Kindergartengruppe
mit Kindern zusammentraf, bei denen er
sich nicht andersartig fühlte und geisti-
ge Anregung bekam. „Ich habe mich bei
Mensa selbst früh engagiert“, erzählt sie,
„da ich gemerkt habe, wie gut Dorian die-
se Treffen getan haben.“ Mittlerweile ist
sie Beisitzerin für den Be-
reich Kids & Junior bei
MinD Mensa in Deutsch-
land, kümmert sich um
bundesweite Elternanfra-
gen und bietet Familien-
treffen im Düsseldorfer Raum und im
Bergischen Land an. Auf internationaler
Mensa-Ebene ist sie ebenfalls vernetzt.
Als Dorian in die Schule kommt, hofft
sie auf einen Neuanfang. Bei der Anmel-
dung sagte sie bewusst nichts von einer
Hochbegabung. Obwohl Dorian schon
deutlich vor Schulbeginn lesen konnte,
fällt es seiner Lehrerin im Schulalltag
nicht auf, so sehr verheimlicht er sein
Können. „Für ihn kam die Einschulung
zu spät, mit all dem, was er schon wuss-
te“, merkte seine Mutter. Hinzu kam, dass
er sich dem für ihn zu langsamen Klas-
senrhythmus anpassen musste und kei-
ne Herausforderungen kennenlernte. Un-
endlich oft Buchstaben schreiben, alles
quälend oft wiederholen, das langweilte
ihn zu Tode. Er schaltete ab und zeigte
nicht, was er eigentlich konnte. Under-
achiever oder Minderleister werden sol-
che Hochbegabte genannt, die weit un-
ter ihren Fähigkeiten bleiben. Sie haben
nicht rechtzeitig gelernt, Leistung zu
bringen, an ihre Grenzen zu gehen, Kon-
kurrenz zu ertragen und mit Misserfol-
gen umzugehen.
„Bereits in den Herbstferien hatte ich
einen Schulverweigerer zu Hause“, stell-
te Joëlle Henselmann fest. Dorian hat
keine Lust mehr auf Schule und boykot-
tierte alles. Die fehlende Anerkennung in
der Schule vermittelte ihm: „Das interes-
siert die sowieso nicht.“ Nach etlichen
Anläufen, mit der Lehre-
rin und der Schulleitung
ins Gespräch zu kommen,
springt Dorian endlich
zum Halbjahreswechsel
in die zweite Klasse. „Die
Lehrer und die Schulleitung haben das
allerdings in keiner Weise positiv beglei-
tet“, musste die Mutter enttäuscht fest-
stellen. Entsprechend galt er unter den
alten Klassenkameraden als Verräter und
die Neuen wollten ihn als Baby auch nicht
haben. Eine schwierige Situation.
Seine Akzeptanz sank immer mehr.
Mobbingattacken nahmen zu. Schuhe,
Herausforderungen gesucht: In seiner Freizeit nimmt Dorian mit Begeisterung an Workshops wie dem eines Hospitals teil, bei dem er Ein blicke in Chirurgie, Erste Hilfe, Eingipsen, EKG und anderes erhielt.
Minderleister heißen jene Hochbegabte,
die unter ihren Fähigkeiten bleiben
78 ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013
Das sind wir
die in der Schultoilette versenkt wur-
den, gehörten noch nicht einmal zu dem
Übelsten, was er über sich ergehen las-
sen musste. Die Tatsache, dass er Schu-
le als etwas verinnerlicht hatte, wo man
keine Leistung zeigt, räch-
te sich. „Dorian hatte über-
haupt nicht gelernt zu ler-
nen. Obwohl ich wusste,
dass er ein ganz anderes
Potenzial hat, sackte er in
den Noten immer mehr ab.“ Als die Klas-
senlehrerin ihm eine Realschulempfeh-
lung ausspricht, konnte die Mutter diese
Einschätzung nicht nachvollziehen. Sie
setzte sich mit dem Schulamt in Verbin-
dung. Deren Aussage, dass Hochbegabte
eine Gymnasialempfehlung bekommen,
führte dazu, dass die Grundschule in Do-
rians Schulakte vermerkt, seine Mutter
habe die Gymnasialempfehlung erzwun-
gen. Dorian ist mittlerweile acht Jahre alt.
In vielen Bundesländern lässt sich das
gesetzlich zugesicherte Recht von hoch-
begabten Schülerinnen und Schülern auf
eine besondere, individuelle Förderung
direkt aus dem Schulgesetz ableiten. In
der Realität sieht es allerdings oft noch
anders aus. Die Studie des Instituts für
Demoskopie Allensbach „Schul- und Bil-
dungspolitik in Deutschland 2011“ fragte
Lehrer nach den gezielten
Fördermöglichkeiten von
begabten Kindern. 58 Pro-
zent der Lehrer gaben an,
dass solche Fördermög-
lichkeiten an einer guten
Schule unbedingt gegeben sein müssen.
Aber nur 17 Prozent der Lehrer kreuz-
ten bei dieser Frage an: „Trifft auf mei-
ne Schule zu.“
Dorians negative Erfahrungen setzen
sich auf dem Gymnasium fort. Seine Mut-
ter lässt ihn am Ende der fünften Klasse
noch einmal testen. Das Ergebnis ist ein
IQ mit Werten bis 155 (Prozentrang über
99,9). Er steckt in einem Kreislauf von kei-
ne-Leistung-zeigen und stören fest. Seine
Klassenlehrerin stuft ihn als hyperaktiv
und ADHS-Kandidaten ein. Die Konfron-
tationen zwischen Mutter und Lehrerin
nehmen zu, ihr wird massiv geraten, mit
ihrem Sohn zum Psychologen zu gehen.
Das Ergebnis ist, das Dorian Ritalin ver-
schrieben bekommt.
„Nachdem der Junge ein Schatten sei-
ner selbst und zunehmend depressiv
wurde, sich nur noch auf seinem Zim-
mer einschloss und Hausaufgaben ein
nachmittäglicher Albtraum waren, haben
wir es wieder abgesetzt, in der Schule
ist es niemandem aufgefallen. Das waren
schlimme Jahre. Ich wusste nicht mehr,
was ich machen sollte und kam an mei-
nen Sohn kaum noch heran“, erinnert
sich Joëlle Henselmann. Dorian spricht
nicht gerne über diese Zeit. Der dauern-
de Vorwurf, er hätte keine soziale Kompe-
tenz, machte ihn sehr traurig. „Es stimmt
doch gar nicht, dass ich mich nicht ein-
füge. Ich werde doch ausgegrenzt, nur
weil ich anders bin“, sagte er seiner Mut-
ter seinerzeit.
2010 steht Dorian vor dem Ende der
sechsten Klasse. In NRW endet die Er-
probungszeit auf dem Gymnasium. Die
Lehrer bescheinigen ihm, dass er nicht in
die siebte Klasse versetzt wird. Die Mut-
Trotz seines großen Potenzials sackte
Dorian in der Schule immer weiter ab
Joëlle Henselmann berät in ihrem eigenen Institut Familien mit hochbegabten Kindern. Ihr Tipp an die Eltern: den Kindern außerhalb der Schule viele Erfolgserlebnisse ermöglichen.
ÖKO-TEST Kinder Kinder 4 I 2013 79
ter wendet sich an andere Gymnasien,
die zunächst signalisieren, dass sie für
Dorian einen Platz hätten. Einige Tage
später bekommt sie von allen Schulen
Absagen. „Mein Rechtsanwalt, den ich
nach einem extremen Mobbingfall einge-
schaltet hatte, riet mir, mit Dorian vom
staatlichen ins private Schulwesen zu
wechseln.“ Nach den Sommerferien 2010
fängt Dorian auf einer Privatschule neu
an, er darf die siebte Klasse besuchen
und scheint endlich das für ihn richtige
Umfeld gefunden zu haben. „Die Lehrer
und der Schulleiter sind cool und fair“,
findet er. In seiner kleinen Klasse mit 13
Schülern wird er entsprechend gefordert.
Seine Lieblingsfächer sind Physik, Kunst
und Englisch.
Das Wichtigste für die Mutter: Das so-
ziale Klima an der Schule ist ein ganz an-
deres. Ihr Sohn ist mittlerweile wie ausge-
wechselt. „Er steht morgens freiwillig auf,
geht mit Spaß zur Schule und hat wieder
Lust auf Hobbys.“ Beim Sommerfest der
Schule im vergangenen Jahr stellte sie er-
staunt und zugleich glücklich fest, dass
Dorian, der sonst immer an ihr klebte,
überall herumschwirrte und sich sicht-
lich wohlfühlte. Das Schönste für Dori-
an: Er hat immer mehr Erfolgserlebnisse,
gute Noten und freut sich auf seine Frei-
zeit. „Seit einigen Wochen lerne ich end-
lich Klavier spielen.“ Außerdem besucht
er einen Computerkurs, geht schwimmen
und begeistert sich für Wing Tsun. Was er
selbst im Rückblick über die ersten Schul-
jahre sagt: „Ich bin aus dem finstersten
Schwarz endlich wieder ins helle Licht
zurückgekehrt.“
Als Mensa-Beauftragte und auch in ih-
rem eigenen Institut zur Beratung von
Familien mit hochbegab-
ten Kindern wird Joëlle
Henselmann immer wie-
der mit Fällen wie dem ih-
rigen konfrontiert. Sie rät
den Eltern, Ruhe zu bewah-
ren und dem Kind außerhalb der Schule
viele Erfolgserlebnisse zu ermöglichen.
Einen Kampf mit der Schule anzufangen,
hält sie für wenig hilfreich. Und die Alter-
native könne nicht immer Privatschule
heißen. Das wäre auch das falsche Sig-
nal. Hochbegabte seien ein wichtiger Teil
der Gesellschaft, die es zu fördern gel-
te und das sei auch Aufgabe der staatli-
chen Schulen.
Um die Schwierigkeiten in der Reali-
tät weiß allerdings auch das Bundesmi-
nisterium für Bildung und Forschung. In
einem Ratgeber von 2010 für Eltern, Er-
zieher und Lehrer heißt es, „dass Lehre-
rinnen und Lehrer in ihrer Ausbildung
bisher in aller Regel nicht auf die Un-
terrichtung und Erziehung hochbegab-
ter Schülerinnen und Schüler vorberei-
tet werden. (...) Auch fehle es noch an
geeigneten Materialien für
die individualisierte Förde-
rung dieser Schülerinnen
und Schüler ...“
Für Hochbegabte ist es
aber enorm wichtig, dass
ihr Anderssein als etwas Selbstverständ-
liches akzeptiert und gefördert wird – da-
mit sie auf ihre hohe Begabung stolz sein
können und sie nicht als Komplizierung
im Gehirn empfinden.
Ich bin aus dem finstersten Schwarz endlich wieder ins
Licht zurückgekehrt
Erlebte harte Zeiten: Seine Mitschüler mobbten ihn, seine Lehrerin stufte ihn als hyperaktiv ein. Nach einem Schulwechsel hat Dorian endlich auch wieder Lust auf Hobbys.