5
162 163 Kapitel 1.15 Arabische Stadt Die filmische Repräsentation der Städte Nord- afrikas im Hollywood-Kino ist per definitionem eine westliche Imagination, die dem europäi- schen Alltag diametral entgegensteht. Es lassen sich mindestens drei Grundtypen von filmischen Städten für Nordafrika unterscheiden:Während eine Stadt als Zielort westlicher Paradiesfan- tasien gedeutet werden kann, als Ort, an dem alle Bedürfnisse erfüllt werden, wird der andere Typus als Durchgangsort in eine andere Welt gezeichnet. Die filmische Konstruktion dieser Städte sucht immer eine Anbindung in der his- torischen und alltäglichen Lebenswelt, um die Zuschauer von der Authentizität der Erzählung zu überzeugen. Der dritte Typus der Filmstadt ist die imaginäre Stadt des Märchens, der nach- folgend nicht weiter behandelt wird. Einige Einstellungen und Kameraschwenks genügen in der Regel, um eine Stadt im Rah- men einer Spielfilmhandlung zu definieren, und einige wenige Referenzen dieses Ortes erzeu- gen beim Zuschauer mit seinem Verständnis der Alltagswelt die filmisch erzählte Stadt oder Landschaft. Die „Cinematic City“ setzt sich aus szenischen Einheiten zusammen, die kontext- abhängig isoliert werden können. Aber erst die Gesamtheit der einzelnen Orte erschafft den imaginativen Ort. Aus diesen Bildern entsteht in kontinuierlicher Fortschreibung ein filmisches Image, das aufeinander aufbauend das Kon- strukt einer „Cinematic City“ ausmacht. Film und Fernsehen kreieren eine Welt und damit Geographien, die Eingang in die Lebenswelt finden. Dabei erhält der Zuschauer gerade so- viel Information über die abgebildeten Orte, wie er benötigt, um der Geschichte folgen zu können und um den dargestellten Ort bzw. die gewünschte Stadt als der lebensweltlichen Wirklichkeit entsprechend zu verstehen und zu akzeptieren. Marrakesch wird als Stadt des Paradieses und des Sinnestaumels und Kairo als Stadt des Durchgangs vom Hollywood-Kino inszeniert, wie sich bei der im Folgenden vorge- stellten Analyse von 18 renommierten Filmen aus den Jahren 1919 bis 1999 zeigte. Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte anton escher und stefan zimmermann Foto 1 Der Platz Jemaa el-Fna in Marrakesch auf einer Postkarte aus den 1920er Jahren

Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

162

163

Kapitel 1.15 Arabische Stadt

Die filmische Repräsentation der Städte Nord-afrikas im Hollywood-Kino ist per definitionemeine westliche Imagination, die dem europäi-schen Alltag diametral entgegensteht. Es lassensich mindestens drei Grundtypen von filmischenStädten für Nordafrika unterscheiden: Währendeine Stadt als Zielort westlicher Paradiesfan-tasien gedeutet werden kann, als Ort, an demalle Bedürfnisse erfüllt werden, wird der andereTypus als Durchgangsort in eine andere Weltgezeichnet. Die filmische Konstruktion dieserStädte sucht immer eine Anbindung in der his-torischen und alltäglichen Lebenswelt, um dieZuschauer von der Authentizität der Erzählungzu überzeugen. Der dritte Typus der Filmstadtist die imaginäre Stadt des Märchens, der nach-folgend nicht weiter behandelt wird.

Einige Einstellungen und Kameraschwenksgenügen in der Regel, um eine Stadt im Rah-men einer Spielfilmhandlung zu definieren, undeinige wenige Referenzen dieses Ortes erzeu-gen beim Zuschauer mit seinem Verständnisder Alltagswelt die filmisch erzählte Stadt oderLandschaft. Die „Cinematic City“ setzt sich ausszenischen Einheiten zusammen, die kontext-abhängig isoliert werden können. Aber erst dieGesamtheit der einzelnen Orte erschafft denimaginativen Ort. Aus diesen Bildern entsteht inkontinuierlicher Fortschreibung ein filmischesImage, das aufeinander aufbauend das Kon-

strukt einer „Cinematic City“ ausmacht. Filmund Fernsehen kreieren eine Welt und damitGeographien, die Eingang in die Lebensweltfinden. Dabei erhält der Zuschauer gerade so-viel Information über die abgebildeten Orte,wie er benötigt, um der Geschichte folgen zukönnen und um den dargestellten Ort bzw.die gewünschte Stadt als der lebensweltlichenWirklichkeit entsprechend zu verstehen und zu akzeptieren. Marrakesch wird als Stadt desParadieses und des Sinnestaumels und Kairo als Stadt des Durchgangs vom Hollywood-Kinoinszeniert, wie sich bei der im Folgenden vorge-stellten Analyse von 18 renommierten Filmenaus den Jahren 1919 bis 1999 zeigte.

Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte

anton escher und stefan zimmermann

Foto 1 Der Platz Jemaa el-Fna in Marrakesch

auf einer Postkarte aus den 1920er Jahren

Page 2: Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

Cinematic City MarrakeschMarrakesch war eine der ersten Städte in Nord-afrika, die als Realkulisse genutzt wurde. Dieswar nicht nur in der Vielfältigkeit filmisch nutz-barer historischer Bauten und attraktiver Schau-plätze begründet, sondern muss auch mit denbeständigen Klima- und ausgezeichneten Licht-verhältnissen sowie der schon in französischerProtektoratszeit relativ gut entwickelten Infra-struktur in Zusammenhang gebracht werden.Seit dem Aufkommen der Photographie sind esdie in Europa überall verbreiteten Postkarten,welche die breite Masse der Bevölkerung überfremde und unbekannte Orte und Landschafteninformieren. Während der Entstehung des Kinossuchten die Filmemacher und Regisseure Vor-bilder und Referenzen, um dem Publikum dieImagination der dargestellten Orte und gezeig-ten Landschaften als echt zu vermitteln. Sieentdecken die Postkarte als mustergültiges Vor-bild. Der Effekt des Wiedererkennens im Licht-spieltheater ist und war von höchster Wichtig-keit beim Zuschauer.

Heute spielt die Postkarte für die Touristenebenfalls noch eine große Rolle. Die aktuellenAngebote, die in Marrakesch an Kiosken undSouvenirläden verfügbar sind, greifen die glei-chen Motive auf wie vor 80 Jahren. Lediglich dietechnische Entwicklung und neue Formen derÄsthetisierung lassen die Motive in einemgeringen Umfang variieren.

Topographie der „Cinematic City Marrakesch“Die „Cinematic City Marrakesch“ wird in derRegel über den weltberühmten Platz Jemaa el-Fna eingeführt [Foto 1]. Die Perspektiven auf den Platz laden den Betrachter dazu ein, sichauf „Cinematic Marrakesch“ einzulassen. Da-nach wird mit Hilfe eines Überblicks über dieAltstadt, einem Schwenk über die flachen Ter-rassendächer der Medina, die Stadt als Gan-zes präsentiert. Die Abbildung der Sûq-Gassen[Foto 2] führt dem Zuschauer das Innere derStadt vor Augen. Sie vermitteln Furcht, Angstund Ungewissheit, denn sie umfassen undumschließen die Menschen wie ein Labyrinth.

Foto 2 Eine Gasse im Sûq von Marrakesch

auf einer Postkarte in den 1920er Jahren

Page 3: Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

Kapitel 1.15 Arabische Stadt

164

165

Der letzte konstituierende Ort für „CinematicMarrakesch“ ist das Innere des Inneren derStadt, das Wohnhaus. Das Haus erscheint als Ortder Befreiung und der Befriedigung. Die Angstund die Furcht der Gassen sind überwundenund die mögliche Erfüllung sinnlicher Wünscheund Bedürfnisse vor exotischem Interieur stehtbevor. Der Platz und das Haus, der einführendeund der ausschließende Ort der „CinematicCity Marrakesch“ sind für das Image und für

die Wiedererkennung des filmischen Marra-kesch prägend. Sie vermitteln dem Kinogängerzusammen mit den zusätzlichen Eindrückender Dächer und der Gassen: Diese Geschichtespielt in Marrakesch.

„Cinematic Marrakesch“ ist als die Stadtder geheimnisvollen Ereignisse und des unbe-grenzten Genusses durch die dargestellten vierOrte definiert. Dieses Marrakesch – eine Stadtdes Orients – erwartet der Kinobesucher zu be-treten [Foto 3]. Das ist der Grund, warum diepräsentierten Images und Orte über Jahrzehntenur gering oder gar nicht variieren. Die „Cinema-tic City Marrakesch“ ist ein Beispiel dafür, wiekongruent die aufgegriffenen filmischen Ima-ges trotz der verschiedenen Produktionsländerund -teams sind. Auch wenn sich Geschichtenund Erzählungen der Filme vor ihrem zeitlichenHintergrund unterscheiden und entwickeln,bleibt für das Kino festzuhalten: „CinematicMarrakesch“ bleibt „Cinematic Marrakesch“.

Fotos 3, oben Das Ehepaar MacKenna im Restaurant Dar es-

Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“

im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

Foto 4, Mitte Blick über das „virtuelle Kairo“ im Spielfilm

„The Mummy“ (1999) von S. Sommers

Foto 5, unten Nach seiner Rückkehr aus der Wüste bestellt

Lawrence im Offiziersclub in Kairo eine Limonade; Spielfilm

„Lawrence of Arabia“ (1962) von D. Lean.

Page 4: Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

Kairo – Icons und Images verweisen auf OrteDie Analyse zeigt, dass keiner der Filme überKairo ohne die Icons Pyramiden und Sphinxauskommt. Ebenso erscheinen in allen Filmendie Images Wüste, Dachterrassen-Landschaft,Gassengewirr und Minarett. Pyramiden undSphinx weisen auf die Stadt Kairo hin, währenddie Wüste, Dachterrassen-Landschaft, Gassen-gewirr und Minarett den Zuschauer davonüberzeugen sollen, dass er sich im Orient be-findet [Foto 4].

Schließlich kommen noch komplexe Ima-ges hinzu, die sich aus nicht unmittelbar örtlichlokalisierbaren Stereotypen und exotischem Beiwerk zusammensetzen: Dies sind fremd aus-sehende und nicht-europäisch gekleidete Men-schen [Foto 5], exotisch anmutende Tiere wieKamel, Affe, Papagei, nicht-europäische Pflanzenwie Palmen und, nicht zu vergessen, Schrift-züge in Arabisch. Weiterhin erscheinen beson-ders exotische Früchte wie Orangen, Dattelnund Zitronen im Bild. Und sehr wichtig: Fernvon Europa, fern der Heimat und scheinbar fernjeglicher Zivilisation zeigt das ständige Tragenvon Waffen deutlich, dass sich die Protagonis-ten in einer fremden und gefährlichen Weltbefinden.

Das exotische Beiwerk kann als „orientali-sche Grundausstattung“ des Filmsets verstan-den werden. Es sind jedoch nicht nur ethnischeund rassische Klischees, die auf diese Weise immer wieder bedient werden, sondern auch Zu-schreibungen, die darüber hinausgehen um den„Orient“ zu erschaffen.

Die Meta-Story in Hollywoods KairoBetrachtet man die Erzählungen der ausgewähl-ten Kairo-Filme immer wieder, und reduziertman die Geschichten der Filme auf die Orte undFunktionen, wird folgende Meta-Story lesbar:Menschen aus der westlichen Kultur begeben

sich aufgrund von Ereignissen, die sie nichtselbst bestimmen, sondern die durch Widerfahr-nisse induziert werden, nach Kairo. Dort wer-den sie in eine andere, fremde, exotische Weltgeworfen, ja in den diametralen Gegensatz zureigenen, vertrauten Welt oder sogar in eine völlig andere Dimension des Seins. Die Akteuredurchschreiten auf der Suche nach fundamen-talen Sinnelementen und verlorenen Werten in ihrem Leben im wahrsten Sinne des Wortesein Stargate, ein Tor zu den Sternen. Dabeibekommt „Welt“ eine andere Bedeutung zuge-schrieben, wobei die eigene Existenz physischund psychisch bedroht wird. Vernunft schwin-det und Wahn greift Raum! Zeichen kehren sichum, Orientierungen verändern und Normen ver-schieben sich oder verkehren sich in das Gegen-teil. Der Hauptprotagonist pendelt als Aben-teurer, der arabischen Sprache kundig, zwischender abendländischen, eigenen Kultur und dermorgenländischen, fremd-exotischen Kultur. Ertritt als Grenzgänger auf und ermöglicht demRezipienten, an verschiedenen Welten teilzuha-ben. Kairo ermöglicht und induziert den Durch-gang oder Übergang zwischen sich gegenseitigfremden und qualitativ inkompatiblen Welten.

Dabei spielen in ähnlicher Art und WeiseKonstellationen eine Rolle, die als Übergangs-riten bezeichnet werden. Wie auch in derLebenswelt werden in der Welt des Films Orteaufgesucht, die es den Protagonisten ermög-lichen, den eigenen Status zu ändern bzw. eineWandlung zu erfahren, welche die Erzählungund die Exposition des Protagonisten neu defi-nieren. Kairo ist der Ort, an dem die entschei-denden Riten eingeleitet werden können, derOrt, an dem die Übergänge stattfinden und andem von einer in die andere Sphäre gewech-selt wird. Kairo ist der Ort des Portals und damitdas Tor selbst, das durchschritten werden muss,um die spirituelle Wandlung zu erfahren.

Page 5: Hollywoods wahre nordafrikanischen Städte 162 163 anton ... · Salam in Marrakesch im Kampf mit den „Tücken des Orients“ im Spielfilm „The Man Who Knew Too Much“ (1955)

166

167

Kapitel 1.15 Arabische Stadt

Hollywoods wahres NordafrikaKairo liegt in der Wüste Nordafrikas. Eine Wüste,die auf die Länder Marokko und Ägypten redu-ziert ist. Auf dieser filmischen Landkarte befin-den sich die orientalischen Städte Tanger, Casa-blanca, Kairo und Marrakesch [Abb. 1]. Erstaun-licherweise ist die filmische Produktion derStadt Kairo an die Städte Sevilla, Marrakesch,Tunis, Kairouan, Sfax, Venedig und schlussend-lich auch an Kairo selbst gebunden. Anhanddieser Produktionsorte lässt sich belegen, dassfilmisches und lebensweltliches Kairo nichtunbedingt kongruent sind. Kairo als Sujet filmi-scher Erzählung existiert nur zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Selbst wenn die Erzählung desFilms in der Gegenwart spielt, wird Kairo als exo-tisch-historische Kulisse mit technischen Errun-genschaften der damaligen Zeit thematisiert.Dies mag zum einen an der Besonderheit Kairosund dem anhaftenden Image liegen, zum ande-ren aber auch an der Blütezeit des Abenteuer-genres.

Die Wahl eines bestimmten Ortes als Schau-platz und einer bestimmten Zeit ist eindeutigan bestehende Images gebunden. Orte und Zeiten werden gezielt nach dem existierendenImage oder einer bestehenden Idee des Ortesund der Zeit ausgewählt und zielgerichtet ein-gesetzt und nicht nur in Bezug auf die Aussageoder Unterstützung einer Szene. Kein filmi-scher Ort ist zufällig gewählt, immer steckeneine Reihe von Entscheidungen und Abwägun-gen dahinter.

Genauso, wie es mit touristisch interes-santen Orten ist, genauso verhält es sich mitden ausgesuchten Drehorten und den herge-richteten Sets. Die Sichtweise von Touristen und Kinobesuchern ist ähnlich, wenn nichtsogar identisch. Der Tourist sieht unterwegs mit den Augen des Kinobesuchers und umge-kehrt. Letztlich ist es das Sehen, welches fürdas Zustandekommen imaginierter Geogra-phien verantwortlich ist.

Casablanca

Marrakesch / Kairo

Kairo

Tanger

Kairo

Kairo

Kairo

Kairo

Kairoägypten

Schwarzes Meer

Mittelmeer

marokko

Entwurf: S. Zimmermann, Kartographie: K. Schmidt-Hellerau/I. Meyer

Abb. 1 Städte des filmischen Nordafrika

und Kairo-Drehorte

Nordafrikanische Stadt als Ort der Handlung

in Hollywood-Filmen

Drehort von Hollywood-Filmen, in denen Kairo

dargestellt wurde

N