21
Vorwort Der Verfasser hält seit etlichen Jahren an der Universität der Bundeswehr München im Vertiefungsstudium (Masterstudium) eine Wahlpflichtvorlesung Beurteilung und Er- tüchtigung historischer Tragwerke, die getreu dem Leibnizschen Motto Theoria cum Praxiden Bogen von der In-situ-Untersuchung eines Bauwerks bis zu seiner rechneri- schen Analyse schlägt und sich nicht zuletzt deswegen großer Beliebtheit erfreut. Diese Vorlesung ist etwa hälftig dem Tragverhalten historischer Wölbkonstruktionen und der Analyse historischer Holztragwerke gewidmet. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der aktu- ellen Forschungsschwerpunkte und Praxistätigkeiten des Autors. Besonderes Gewicht hat die Gewölbestatik in den Lehr- und Forschungsarbeiten des Verfassers gewonnen, seit es die 2011 erstmals durchgeführte Erste Europäische Sommerschule zur Bautech- nikgeschichtevorzubereiten galt, die damals in Cambridge ebenfalls zum Thema der Gewölbe abgehalten worden ist. Hinzu kamen Kurse zum Thema Gewölbefür Trag- werksplaner in der Fortbildungseinrichtung Propstei Johannesberg bei Fulda. In allen diesen Lehrveranstaltungen und in Gutachten zu realen Objekten konnte eine Fülle von Informationen und Erkenntnissen gesammelt werden, die hier verarbeitet sind. In letzter Zeit ist ausgelöst nicht zuletzt durch die Richtlinie für die Über- wachung der Verkehrssicherheit von baulichen Anlagen des Bundes(2008) eine verstärkte Aktivität bei der Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke zu beobachten. Der Aufgabe, eine historische Konstruktion aus zimmermannsmäßigem Holztragwerk und gemauerter, ggf. gewölbter Unterkonstruktion zu analysieren, hat die Lehre der letzten Jahrzehnte im Bauingenieurwesen nicht viel gegenüberzustel- len; entsprechend unsicher ist sich manch ein Tragwerksplaner und im schlimmsten Fall sind unangemessene Ertüchtigungsmaßnahmen die Folge. Ein aktuelles Lehr- buch zu historischen Tragwerken existiert in deutscher Sprache nicht und auch die Lehrbücher aus dem benachbarten Ausland helfen zum Teil nur wenig weiter. Dafür existiert eine im Verlauf von mehr als zweihundert Jahren angewachsene, unüber- schaubare Fülle an Spezial-Fachliteratur vor allem zur Gewölbestatik. Im vorliegen- den Buch ist der Versuch unternommen worden, diese Spezialliteratur in englischer, italienischer, französischer und deutscher Sprache zusammenzufassen, weiterzuent- wickeln und wieder für die praktische Anwendung zu erschließen. Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke folgen dem Prinzip Erst ge- nau hinschauen und verstehen, dann rechnen, dann erst ertüchtigen. Besonderes Gewicht wird hier den ersten beiden Schritten zugemessen. In der heutigen Praxis steht allzu oft die durchzuführende Maßnahme schon fest, ehe auch nur eine brauch- bare Bau- und Zustandsaufnahme stattgefunden hat. So wird man einem historischen Bauwerk aber nicht gerecht. Manch eine Beobachtung, die zunächst übersehen wor- den ist, hilft später, die Bau-, Schadens- und Reparaturgeschichte aufzuklären und macht andere, ins Auge fallende Schädenverständlich oder relativiert sie gar völ- lig. Kein historisches Gewölbe ist ungerissen. Dem heutigen Bauingenieur ist dies aber viel weniger bewusst als die Tatsache, dass auch beim modernen Stahlbeton Risse zwingend zum Tragverhalten dazugehören. Manche Abweichungen histori-

Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Embed Size (px)

DESCRIPTION

978 3 433 02959 6, Mauerwerkskonstruktionen,

Citation preview

Page 1: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Vorwort

Der Verfasser hält seit etlichen Jahren an der Universität der Bundeswehr München imVertiefungsstudium (Masterstudium) eine Wahlpflichtvorlesung „Beurteilung und Er-tüchtigung historischer Tragwerke“, die getreu dem Leibniz’schen Motto „Theoria cumPraxi“ den Bogen von der In-situ-Untersuchung eines Bauwerks bis zu seiner rechneri-schen Analyse schlägt und sich nicht zuletzt deswegen großer Beliebtheit erfreut. DieseVorlesung ist etwa hälftig dem Tragverhalten historischer Wölbkonstruktionen und derAnalyse historischer Holztragwerke gewidmet. Sie ist unmittelbarer Ausdruck der aktu-ellen Forschungsschwerpunkte und Praxistätigkeiten des Autors. Besonderes Gewichthat die Gewölbestatik in den Lehr- und Forschungsarbeiten des Verfassers gewonnen,seit es die 2011 erstmals durchgeführte „Erste Europäische Sommerschule zur Bautech-nikgeschichte“ vorzubereiten galt, die damals in Cambridge ebenfalls zum Thema derGewölbe abgehalten worden ist. Hinzu kamen Kurse zum Thema „Gewölbe“ für Trag-werksplaner in der Fortbildungseinrichtung Propstei Johannesberg bei Fulda. In allendiesen Lehrveranstaltungen und in Gutachten zu realen Objekten konnte eine Fülle vonInformationen und Erkenntnissen gesammelt werden, die hier verarbeitet sind.

In letzter Zeit ist – ausgelöst nicht zuletzt durch die „Richtlinie für die Über-wachung der Verkehrssicherheit von baulichen Anlagen des Bundes“ (2008) – eineverstärkte Aktivität bei der Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke zubeobachten. Der Aufgabe, eine historische Konstruktion aus zimmermannsmäßigemHolztragwerk und gemauerter, ggf. gewölbter Unterkonstruktion zu analysieren, hatdie Lehre der letzten Jahrzehnte im Bauingenieurwesen nicht viel gegenüberzustel-len; entsprechend unsicher ist sich manch ein Tragwerksplaner und im schlimmstenFall sind unangemessene Ertüchtigungsmaßnahmen die Folge. Ein aktuelles Lehr-buch zu historischen Tragwerken existiert in deutscher Sprache nicht und auch dieLehrbücher aus dem benachbarten Ausland helfen zum Teil nur wenig weiter. Dafürexistiert eine im Verlauf von mehr als zweihundert Jahren angewachsene, unüber-schaubare Fülle an Spezial-Fachliteratur vor allem zur Gewölbestatik. Im vorliegen-den Buch ist der Versuch unternommen worden, diese Spezialliteratur in englischer,italienischer, französischer und deutscher Sprache zusammenzufassen, weiterzuent-wickeln und wieder für die praktische Anwendung zu erschließen.

Beurteilung und Ertüchtigung historischer Tragwerke folgen dem Prinzip „Erst ge-nau hinschauen und verstehen, dann rechnen, dann erst ertüchtigen“. BesonderesGewicht wird hier den ersten beiden Schritten zugemessen. In der heutigen Praxissteht allzu oft die durchzuführende Maßnahme schon fest, ehe auch nur eine brauch-bare Bau- und Zustandsaufnahme stattgefunden hat. So wird man einem historischenBauwerk aber nicht gerecht. Manch eine Beobachtung, die zunächst übersehen wor-den ist, hilft später, die Bau-, Schadens- und Reparaturgeschichte aufzuklären undmacht andere, ins Auge fallende „Schäden“ verständlich oder relativiert sie gar völ-lig. Kein historisches Gewölbe ist ungerissen. Dem heutigen Bauingenieur ist diesaber viel weniger bewusst als die Tatsache, dass auch beim modernen StahlbetonRisse zwingend zum Tragverhalten dazugehören. Manche Abweichungen histori-

Page 2: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

scher Gewölbe von der erwarteten Form sind schon Jahrhunderte alt, andere akut.Hier richtig zu urteilen, ist essentiell. Ein richtiges Urteil kann aber nur abgeben,wer über entsprechendes Hintergrundwissen verfügt. Dieses Hintergrundwissen zuvermitteln, ist Ziel des Buches. Es will kein Handbuch zum Nachweis nach Normsein, sondern eine Anleitung zum Hinsehen, Denken, Verstehen.

Nunmehr liegt endlich der von vielen lange erwartete erste Band zum Mauerwerkvor. Schwerpunktmäßig behandelt der Band gewölbte Strukturen. Wände, Strebe-pfeiler und Fundamente werden gewissermaßen nur als „Unterbau“ der gewölbtenRaumdecke behandelt. Die Kürze des entsprechenden Kapitels resultiert aus derschmalen Informationsbasis, auf die man bei Wänden und Fundamenten beim realenObjekt üblicherweise zurückgreifen kann. Auch gibt es zur Theorie des Tragverhal-tens mehrschaliger Wände nur wenige Vorarbeiten.

Im vorliegenden Buch ist soweit wie irgend möglich originales, neues Bildmaterialverwendet worden. Diagramme, Zeichnungen und Fotos wurden fast ausnahmslosentweder selbst angefertigt oder aus originalen, bauzeitlichen Quellen entnommen.Grafiken aus zweiter Hand wurden vermieden. Einem aussagekräftigen Foto einesBefundes wurde der Vorzug vor einer Skizze gegeben, um dem Leser die Chance zugeben, sich selbst ein Bild zu machen. Risse wurden daher in Fotos nicht von Handnachgezeichnet. Angesichts der Schwierigkeit, von Rissen und ähnlichen Befundenaussagekräftige Fotos anzufertigen, wurde manchmal auch auf etwas entlegene Bau-werke zurückgegriffen.

Dieselbe Bemühung um originale, neue Informationen, die die Auswahl des Bild-materials des vorliegenden Buches kennzeichnet, ist auch den vorgestellten Ansätzender Analyse zuteil geworden. Keine Formel oder Aussage aus der Literatur ist einfachungeprüft übernommen worden. Manches Neue hat dem Wissensstand wohl hinzuge-fügt werden können. Zu hoffen ist, dass das reiche Material, das hier präsentiert wird,einer möglichst großen Zahl von Lesern zu einem schonenden und verständnisvollenUmgang mit historischen Tragwerken verhelfen wird. Sollten Fehler gefunden wer-den oder Korrekturen nötig sein, sind entsprechende Hinweise sehr willkommen.

Gedankt sei den künftigen Lesern, vor allem aber auch dem Verlag Ernst & Sohnund in besonderer Weise Frau Claudia Ozimek für die fast unendliche Geduld, mitder man auf das Werk gewartet und auch dessen Anwachsen zu einem zweibändigenOpus toleriert, wenn nicht gar unterstützt hat. Auch Ermunterung zwischendurchwar nötig und ist gewährt worden.

Unendliche Geduld hat auch meine Familie aufbringen müssen, die selbst auf denUrlaubsreisen stets noch meine Jagd auf Risse, Schäden an Gewölberippen oder in-teressante Beobachtungen in Dachräumen historischer Großbauten erduldet hat. Rei-serouten wurden gezielt an solchen Punkten orientiert und der Großteil der gemein-samen Freizeit zuhause und unterwegs ist in den vergangenen Jahren der das ganzeBerufs- und Privatleben ergreifenden Leidenschaft für die historische Konstruktionzum Opfer gefallen. Meiner Frau und meinen Töchtern sowie allen Mitarbeitern,Kollegen und Freunden, die zum Entstehen des Werkes passiv und aktiv ihren Bei-trag geleistet haben, danke ich an dieser Stelle ganz herzlich.

München, im Mai 2013 Stefan M. Holzer

VorwortVIII

Page 3: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

tere Konfigurationen, in denen der Stichkappenanschluss bis in die Zone der Bruch-fugen der Haupttonne reicht, hat Krausz nicht betrachtet.

4.2.2 Baupraktische Verfahren zur Standsicherheitsbeurteilung

Wie beim gemauerten Bogen, so sind auch bei tonnen- oder kreuzgewölbten Räu-men die Lage des Angriffspunkts und die Größe des Gewölbeschubs die wichtigstenInformationen, die man zur Standsicherheitsbeurteilung benötigt. Die einfachste Ab-schätzung überhaupt ergibt sich aus der von Jacques Heyman herangezogenen„Membrantheorie“ [Heyman 1966, S. 269–274]. Membrantheorie bedeutet, dass Bie-getragwirkungen völlig vernachlässigt werden (Die „Stützlinie“ oder besser „Stütz-fläche“ ist dann identisch mit der Schalenmittelfläche). Das Flächentragwerk kannnur Spannungen in seiner Tangentialebene aufnehmen. Das Tragverhalten wird aus-schließlich durch die geometrische Form bestimmt. Materialgesetze gehen nicht ein,es handelt sich um eine reine Gleichgewichtsbetrachtung, also um eine statisch be-stimmte Idealisierung des Tragwerks.

Ist die Wölbung in Längsrichtung des überdeckten Raumes eine stetig gekrümmteTonne (Halbkreistonne oder elliptische Tonne), deren Scheitel ungebrochen durch-läuft, so kann man im Rahmen der Membrantheorie auf ein aus dem Scheitel-bereich herausgeschnittenes Stück der Tonnenschale die „Kesselformel“ anwenden:Der radial auf die Schale wirkende Druck p bewirkt in einer dünnen Zylinderscha-le mit dem Radius R und der kleinen Dicke t die Tangentialspannung σt ¼ pR=t(tangential zur Leitkurve des Zylinders). Dies ist die Membranlösung eines unend-lich langen Zylinders. Sie ist auf den Scheitelbereich des zylindrischen Tonnenge-wölbes anwendbar, denn im Scheitel der Tonne wirkt das Eigengewicht ρgt ver-tikal, also radial, die Tangentialspannung σt hingegen horizontal. Da derGewölbeschub in jedem Schnitt des Gewölbes gleich groß sein muss, ergibt sichder Horizontalschub des Gewölbes je Meter Längenerstreckung einfach zu Rρgt.Stichkappen, Widerlagerwinkel, vorhandene Hinterfüllungen oder dergleichen ge-hen in diese Membran-Berechnung nicht ein, sie haben keinerlei Einfluss auf dasErgebnis! Der einzige maßgebende Einflussfaktor ist die Krümmung des Gewölbesim Scheitelbereich. Auf spitzbogige Gewölbe ist Heymans Ansatz somit nicht an-wendbar.

Bei einem dünnen Kreuzgewölbe über einem Grundrissquadrat mit 2R Seitenlängeergibt sich nach der Membrantheorie für das ganze Gewölbejoch ein Horizontal-schub von H ¼ 2R2ρgt. Für ein nicht hinterfülltes Kreuzgewölbe mit 0° Widerlager-winkel gibt [Heyman 1966, S. 270] als Gewichtskraft einer Gewölbehälfte den Wert2;28 � R2ρgt an. Diese Kraft wirkt nach Heyman im Abstand von 0;468R von derSchildwand. Daraus ergibt sich dann mit Hilfe von simplen Gleichgewichtsbetrach-tungen (vertikale und horizontale Kräfte, Momente) an einer Gewölbehälfte, dassder Schub des Kreuzgewölbes in einer Höhe von 0;466R über der Widerlagerebeneabzufangen ist [Heyman 1966, S. 271]. Dies ist ohne Zweifel eine garantierte obereSchranke für den tatsächlich auftretenden Gewölbeschub unter Eigengewicht. Im Fol-genden wird anhand verbesserter Traglastabschätzungen ermittelt, ob die Genauigkeitdieser Abschätzung für die Praxis ausreichend ist.

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 207

Page 4: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Zunächst soll aber noch das in dem bei Tragwerksplanern bis heute beliebten Buchvon Klaus Pieper [Pieper 1983, S. 52–53] beschriebene Vorgehen zur Analyse desKreuzgewölbes kurz charakterisiert werden. Zunächst idealisiert Pieper das Gewölbeals ebenen Dreigelenkbogen. Die Gelenke werden als zentrische Gelenke auf Höhedes optischen Widerlagers und am Gewölbescheitel gewählt. Damit ergibt sich derBogenschub des Kreuzgewölbe-Joches über quadratischem Grundriss zuH ¼ 1;06 � R2ρgt, also nur noch rund halb so groß wie aus der Membrantheoriebzw. Kesselformel Heymans. Der vermeintlich geringe Gewölbeschub wird durchBiegung in den Schenkeln des Dreigelenkbogens erkauft, während bei Heyman dasgesamte Flächentragwerk biegungsfrei angenommen wird. Pieper bemerkt sodann,dass die einfache Abschätzung mit dem Dreigelenkbogen nicht stimmen kann, weildie Bogenschenkel des Dreigelenkbogens die ihnen zugewiesene Biegung nicht auf-nehmen können.

Um eine andere Gelenklage zu begründen, greift Pieper auf die Betrachtung realerRissbilder zurück. Er nimmt ein Rissbild an, das zwischen den Idealisierungen „Sa-bouret“ und „Kappe bleibt an der Haupttonne hängen“ liegt (Bild 4.17). Sodannsetzt Pieper willkürlich das Gelenk in die Höhe 0; 6R über der Widerlagerebene undbestimmt damit den Schub H ¼ 1;4 � R2ρgt, also immer noch deutlich weniger alsHeyman. (Die in Bild 4.17 angegebenen Zahlenwerte beziehen sich auf ein Vierteldes Gewölbes, nicht auf eine Gewölbehälfte). Am hintermauerten Widerlager gibtPieper allerdings einen höheren Wert des Gewölbeschubs an, nämlichH ¼ 1;76 � R2ρgt, ohne anzugeben, wie dieser Wert gewonnen wurde. Gilt das Prin-zip des Gleichgewichtes der horizontalen Kräfte hier nicht mehr? Eine Verbesserunggegenüber Heymans Ansatz ist nicht erkennbar; vielmehr hat eine Willkür Einzuggehalten. Die Formel von Pieper ist somit unbrauchbar.

Bild 4.17 Inkonsistente Bestimmung des Schubs an einem Viertelsausschnitt

des Kreuzgewölbes durch [Pieper 1983, S. 53].

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen208

Page 5: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Weder von Pieper noch von Heyman wird der Fall der Stichkappentonne behandelt,also der Fall von Kappen, die nicht ganz bis zum Scheitel der Haupttonne reichen.Für spitzbogige Gewölbe (oder beliebige andere Gewölbeformen) wird von beidenAutoren die Methode Mohrmanns empfohlen, von der man aber auf Grundlage derArbeiten Robert Marks und Rainer Barthels annehmen kann, dass sie vermutlichweit – allzu weit – auf der sicheren Seite liegt.

Verbesserungen gegenüber dem Vorgehen von Heyman und Pieper mit dem Zieleiner schärferen Abschätzung des real auftretenden Gewölbeschubs sind nur unterfolgenden Voraussetzungen möglich:– Berücksichtigung der Biegetragwirkung,– Berücksichtigung der endlichen Druckfestigkeit,– Berücksichtigung der real auftretenden Risskonfigurationen bzw. Mechanismen,– Bestimmung der Gelenklage nicht heuristisch, sondern mit einem Optimierungs-

algorithmus.

Zu diesem Zweck wurde speziell für die Beurteilung gewölbter Bestandsbauten eineinfaches Berechnungsprogramm entwickelt, das auf folgenden Voraussetzungen be-ruht:– Es werden nur ebene Mechanismen betrachtet.– Die drei relevanten Rissmechanismen „Sabouret“, „Kappe bleibt an der Hauptton-

ne hängen“ sowie „Kappe reißt von der Haupttonne ab und bleibt für sich stehen“werden alle berücksichtigt.

– Die Gelenkbildung wird – wie beim ebenen Bogen – unter Berücksichtigung derendlichen Mauerwerksdruckfestigkeit modelliert. Dabei wird vereinfachend unter-stellt, dass in jedem zur Längsachse der Haupttonne parallelen Schnitt ein überdie Tonnenlänge gleichbleibender Beanspruchungszustand herrscht.

– Es wird unterstellt, dass über die Lagerfugen Schub übertragen werden kann. Ei-ne genaue Analyse des Spannungszustands innerhalb der ungerissenen Kappen-teilstücke erfolgt nicht.

Für den in der Praxis bedeutsamsten Fall der rund- oder korbbogigen, symmetri-schen Stichkappentonne unter Eigengewicht weist das betrachtete Optimierungspro-blem („Finde die maximal mögliche Schubkraft des sich einstellenden Dreigelenkbo-gens“) nur einen einzigen Freiheitsgrad auf – die Lage der „Bruchfuge“ auf denBogenschenkeln. Somit kann für diesen Fall eine Lösung durch einfaches Auspro-bieren erfolgen. Nur für spitzbogige Tonnen (unbekannte Lage des scheitelnahenGelenks) und unsymmetrische Tonnen oder Stichkappen ist wieder ein „Hill-clim-bing“-Algorithmus zur Lösung eines Optimierungsproblems mit drei Freiheitsgradenerforderlich. Für den Rissfall „Sabouret“ kann nicht auf vorausberechnete Gewichts-kräfte und Momente zurückgegriffen werden, weil die Größe der statisch wirksamenrotierenden Gewölbeteile von der Bruchfugenlage bzw. Risslage abhängt. Die Be-rechnung wird in diesem Fall daher etwas aufwendiger als beim einfachen ebenenBogentragwerk.

Bei einem Kreuzgewölbe bzw. einer Stichkappentonne wird die Haupttonne durchdie Stichkappe „aufgeschnitten“ (Bild 4.18). Diese Öffnung wird durch die Stich-kappe wieder verschlossen. In Abhängigkeit von der Güte der Verzahnung zwischen

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 209

Page 6: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Stichkappe und Haupttonne kann ein Teil der in der Tonne zum Widerlager hinstrebenden Druckkräfte in die Kappen eingeleitet werden. Die übrigen Spannungs-anteile müssen um das durch die Stichkappe geöffnete Loch herumgeleitet werden.In diesem Bereich wird sich in der Tonnenschale ein Entlastungsbogen ausbilden,der die Druckspannungen zu den schmalen Tonnenstreifen hinleitet, die vom Auf-lager übrig bleiben. In den nach unten hin immer schmaler werdenden Tonnenschen-keln wird sich somit kein gleichmäßiger Spannungsverlauf in den Lagerfugen ein-stellen. Geht man jedoch vereinfacht davon aus, dass die Variation der Spannungenin den Lagerfugen längs der Tonnenachse nicht besonders groß sein wird, so kannman die eigentlich erforderliche Bestimmung einer dreidimensionalen, in allen Rich-tungen räumlich gekrümmten „Stützfläche“ wieder durch die Berechnung einer ebe-nen „Stützlinie“ bzw. – unter Berücksichtigung der begrenzten Druckfestigkeit desMaterials – eines ebenen „Stützbandes“ am Tonnenquerschnitt ersetzen. Berechnetwird die gelochte Tonne also de facto als ebener Bogen variabler Breite. Aufgrundder nach unten hin immer schmaler werdenden Tonnenschenkel sind die Druckspan-nungen dort erheblich größer als in einem gleich weit gespannten Bogen bzw. unge-lochten Tonnengewölbe konstanter Breite.

Auch Barthel hat bereits – mindestens für den Fall des „römischen Kreuzgewöl-bes“ – eine solche vereinfachte Analyse versucht und dabei die beiden Rissmecha-nismen „Sabouret“ und „Stichkappe rotiert mit der Haupttonne“ untersucht [Barthel1993, S. 112–114]. Das dort zur Bestimmung der Gelenklage verwendete Kriteri-um, „dass an den Gelenken die dort wirkende Resultierende parallel zum Rand“sein müsse, ist allerdings inkorrekt. Am Gelenk ist die Stützlinie tangential zumRand, nicht aber die Resultierende, denn auch über die Gelenkfuge kann Schubübertragen werden (Verwechslung zwischen Seillinie und Stützlinie, vgl. [Heyman2009]). Dadurch ergeben sich in Barthels Rechnung fälschlicherweise zu geringeWerte des Schubs (H ¼ 1;4 � R2ρgt für den Rissfall „Sabouret“ bzw.H ¼ 1;35 � R2ρgt für den Rissfall „Kappe rotiert mit der Haupttonne“, wohingegendie korrekten Zahlenwerte H ¼ 1;57 � R2ρgt und H ¼ 1;44 � R2ρgt lauten würden).Außerdem ist bei Barthel die begrenzte Druckfestigkeit des Materials nicht berück-sichtigt, die Gelenke liegen also direkt am Intrados bzw. Extrados, was zu einerweiteren Verminderung des aufzunehmenden Schubs gegenüber einer realistischerenBetrachtung führt.

Bild 4.18 Modell „gelochte Tonne“.

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen210

Page 7: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Gewählt wird für die Berechnungsbeispiele Gewölbe mit 25 cm Stärke (einheitlichfür Haupttonne und Kappen und ohne Dickenabstufung) und einem MittelradiusR ¼ 5 m (Lichtweite somit 9,75 m). Die Länge des betrachteten Joches betrage10,25 m, entsprechend der Jochbreite einschließlich der Kappenstärke von beidseitigjeweils 25 cm. Es wird davon ausgegangen, dass im Bereich der Stichkappen dieSchiffsbreite 10 m beträgt (d. h. die Wandvorlage entspricht der Gewölbestärke). Zuuntersuchen sind zylindrische Stichkappen mit geradem Scheitel und Mittenradienvon 3,00 m, 4,25 m und 5,00 m. Die letzte Variante ergibt ein „römisches Kreuzgrat-gewölbe“. Bei der Berechnung der „Stützzone“ wird von einer Druckfestigkeit desMauerwerks βMW ¼ 1;5 MN=m2 ausgegangen. Die Wichte des Wölbmaterials betra-ge 18 kN=m3. Bei den folgenden Zahlenbeispielen wird ein Keilsteinwinkel von0,5° vorausgesetzt.

Die Modellrechnungen werden alle an einem Gewölbe mit Widerlagerwinkeln von0° und 180° durchgeführt, ausgehend vom Fall nicht ausgefüllter Zwickel. Bei goti-schen Kreuzgewölben und frühneuzeitlichen Stichkappentonnen kommt diese Situa-tion nicht ganz selten vor. Ein ebener Bogen mit der genannten Dicke, demselbenÖffnungswinkel und Radius ist nicht standfähig. Bei einem Tonnengewölbe, das bei-derseits eine dichte Folge von Schildkappen bzw. Stichkappen aufweist, ist das Feh-len einer Hinterfüllung jedoch nicht so problematisch wie bei einem ebenen Bogen:Die unteren, fast senkrecht aufsteigenden Teile der Stich- bzw. Schildkappen wirkenfür die Haupttonne wie Strebewände, die den unteren Teil der Haupttonne effektivdaran hindern, nach außen umzufallen. Über Schub in der selbst bei Kufverbandtypischerweise guten Verzahnung zwischen Stichkappe und Haupttonne im unterstenGewölbeabschnitt wird ein Teil der Druckkräfte aus dem unteren Tonnenteil in dieStichkappe eingeleitet. Die Stützlinie des ganzen Gewölbejoches kann daher in die-sem Bereich aus der Haupttonne nach oben austreten, auch wenn die Hintermaue-rung fehlt. Es kann sich kein Fünfgelenkmechanismus einstellen, der zum Einsturzführen würde. Besser ist es natürlich, wenn die Hintermauerung vorhanden ist, zu-mal sie auch das Gewicht des Gewölbes erhöht, ohne den Schub zu vergrößern, undsomit dem Unterbau hilft, die Horizontalkomponente der Gewölbekräfte weiterzulei-ten. Die Berechnung mit nicht ausgefüllten Zwickeln ermöglicht den direkten Ver-gleich mit den Ansätzen Heymans und Piepers. Außerdem wird es sich ohnehinherausstellen, dass die parallel zur Raumachse verlaufenden Gelenklinien in derHaupttonne immer höher liegen, als eine übliche Zwickelhinterfüllung hinaufreicht,so dass die Höhe der Zwickelfüllung für die Größe des Gewölbeschubs ohne Belangist. Nach der Membranmethode von Heyman, also nach der „Kesselformel“, ergibtsich für den Schub eines ganzen derartigen Joches unabhängig von Vorhandenseinund Form der Stichkappen als auf der sicheren Seite liegende Abschätzung der WertH ¼ 236 kN.

Betrachtet wird zunächst die Tonne mit Stichkappen, deren Radius 3,00 m beträgt.Das Gesamtgewicht des Gewölbejoches beträgt in diesem Fall 645 kN. Mit demProgramm wird bei der gewählten Geometrie unabhängig vom angenommenen Me-chanismus ein Gewölbeschub H ¼ 173 kN für das Gewölbejoch bestimmt(Bild 4.19). Die unteren Bruchfugen stellen sich bei einem Winkel von rund 43,5°gegenüber der Horizontalen ein, liegen also weit über dem Stichkappenscheitel, so

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 211

Page 8: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

dass die Stichkappen ohne Einfluss auf den Gewölbeschub bleiben. Bei derart klei-nen Stichkappen sind in der Praxis die Gewölbezwickel mindestens bis zur halbenStichhöhe der Haupttonne hinterfüllt, so dass die Gewölbeschenkel unterhalb derGelenklinien nicht nach außen rotieren können. Daher ist das untersuchte Gewölbestandsicher, obwohl die Berechnung ausweist, dass unterhalb eines Winkels vonrund 25° gegenüber der Horizontalen die „Stützzone“ nach oben aus der Haupttonneheraustritt.

Bei größerer Stichkappenabmessung werden die Unterschiede zwischen den drei be-trachteten Mechanismen wirksam. Gewählt wird nunmehr ein Stichkappenradiusvon 4,25 m (Bild 4.20), was einem Gesamtgewicht des Gewölbejoches von 689 kNentspricht. Man beachte, dass mit wachsender Größe der Stichkappe das Gesamt-gewicht des Gewölbes nicht zu-, sondern abnimmt. Mit der größeren Stichkappeergibt sich, dass die Stichkappen auf jeden Fall in den Fuß der statisch wirksamenHaupttonne hineinragen, also über die sich einstellenden Gelenklinien nach obenhinaufreichen. Die Zahlenwerte für den Rissfall „Stichkappe reißt längs des Gratesvon der Haupttonne ab“ ändern sich allerdings kaum gegenüber jenen der Tonnemit kleineren Stichkappen (H ¼ 173 kN, Bruchfuge bei 45,5°). Nimmt man an, dass

Bild 4.19 Schematische Darstellung der

Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien

für den Fall der Stichkappe mit 3,00 m

Radius. Die kleinen Stichkappen haben auf

das Tragverhalten der Haupttonne keinen

Einfluss.

Bild 4.20 Schematische Darstellung der

Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien

für den Fall der Stichkappe mit 4,25 m

Radius für das Rissbild der mit der

Haupttonne rotierenden Stichkappe.

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen212

Page 9: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

die Stichkappe längs des Kappengrates fest mit der Haupttonne verzahnt ist unddem rotierenden Schenkel der Haupttonne folgt (Bild 4.20), so stellt sich die Bruch-fuge des Gewölbes bei einem Winkel von nur 34° gegenüber der Horizontalen einund der Gewölbeschub fällt auf H ¼ 163 kN. Aufgrund des rückwärts drehendenMomentes der rucksackartig an der Haupttonne hängenden Stichkappe stellt sichrechnerisch ein schlangenlinienförmiger Verlauf der Stützzone ein; das zurückdre-hende Moment ist auch für den geringen Wert des Gewölbeschubs verantwortlich.Als maßgeblicher Rissfall kann nunmehr jedoch der Fall „Sabouret“ identifiziertwerden (Bild 4.21), der allerdings zahlenmäßig kaum von jenem der abreißendenStichkappe abweicht (H ¼ 173 kN, Bruchfuge bei 41,5°). Auch hier tritt wieder imGewölbezwickel die Stützzone aus der Gewölbeschale, aber wiederum in einem Be-reich, der in der Praxis fast immer hinterfüllt ist. Außerdem kann hier der stehen-bleibende untere Teil der Stichkappe gut als eine Art Strebemauer fungieren. Ange-sichts des geringen Unterschiedes zwischen dem Sabouret-Mechanismus und derstehenbleibenden, von der Haupttonne abreißenden Kappe ist es klar, dass in derPraxis beide Rissmechanismen gleichermaßen möglich sind und der tatsächlich sicheinstellende Rissverlauf durch untergeordnete Einflüsse bestimmt werden kann.

Erhöht man den Stichkappenradius schließlich auf 5,00 m, so erhält man das „römi-sche Kreuzgewölbe“. Das Gewicht dieser Gewölbeform beträgt nur noch 568 kN.Nunmehr ist nicht mehr der Fall der an der Haupttonne hängenbleibenden Stich-bzw. Schildkappe derjenige, der den geringsten Schub liefert und somit am wenigs-ten wahrscheinlich ist. Vielmehr stellt es sich nunmehr heraus, dass der geringsteHorizontalschub zum Fall der stehenbleibenden, von der Haupttonne abreißendenKappe gehört (H ¼ 160 kN mit Bruchfugen bei 51,5°). Nimmt man hingegen an,dass der obere Teil der Schildkappe mit der Haupttonne rotiert, so erhöht sich derGewölbeschub auf H ¼ 168 kN (Bruchfugen bei 31,5°, siehe Bild 4.22). Dabei trittdie Stützzone jedoch beiderseits des Gewölbescheitels nach oben aus der Tonne he-raus. Da die Berechnung auf der Annahme einer dort fest mit der Haupttonne ver-bundenen Stichkappe beruht, ist dies zulässig und bedeutet, dass im Scheitelbereichdie Druckspannungstrajektorien auch in die Stichkappe hineinlaufen und sich erst

Bild 4.21 Schematische Darstellung der

Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien

für den Fall der Stichkappe mit 4,25 m

Radius für das Rissbild „Sabouret“.

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 213

Page 10: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

weiter unten in der Haupttonne konzentrieren. Maßgebend wird nun allerdings ein-deutig der Sabouret-Mechanismus (Bild 4.23). Auch für diesen Mechanismus ver-lässt die Stützzone in der unmittelbaren Nähe des Scheitels die Tonne nach außen,was aber mit dem angenommenen Mechanismus konsistent ist. Der Sabouret-Me-chanismus liefert einen Schub H ¼ 181 kN und Bruchfugen bei 42°.

Die vorstehenden, ausführlichen Parameterstudien an dem Gewölbe mit geraden,nicht steigenden Stichkappen können wie folgt zusammengefasst werden:– Je nach geometrischer Situation werden verschiedene Mechanismen rechnerisch

maßgebend.– Die Mechanismen unterscheiden sich sehr deutlich in der Lage der rechnerischen

Bruchfuge.– Die zugehörigen Werte des Gewölbeschubs weisen hingegen eine sehr geringe

Bandbreite auf. Der Schub ist fast unabhängig von der Größe der Stichkappen.– Das Gesamtgewicht des Gewölbejoches wird umso geringer, je mehr sich das

Gewölbe einem Kreuzgewölbe annähert.

Bild 4.22 Schematische Darstellung der

Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien

für das „römische Kreuzgewölbe“ im Riss-

mechanismus „Schildkappe rotiert mit der

Haupttonne“.

Bild 4.23 Schematische Darstellung der

Stützzone und der Gelenk- bzw. Risslinien

für das „römische Kreuzgewölbe“ im Riss-

mechanismus „Sabouret“.

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen214

Page 11: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Nun ist es natürlich von höchstem Interesse, die durch eine schnelle Abschätzunggewonnenen Werte des Gewölbeschubes mit den Ergebnissen der genauen Finite-Elemente-Simulationen durch Barthel zu vergleichen. [Barthel 1993, S. 162] hat das„römische Kreuzgewölbe“ über einem quadratischen Joch mit R ¼ 5 m und mit den-selben sonstigen Annahmen wie hier, allerdings mit einer Wichte von 20 kN=m3

gerechnet. Skaliert man Barthels Finite-Elemente-Ergebnisse mit dem Faktor 18/20(strenggenommen wegen der Nichtlinearität der FE-Berechnung unzulässig, hier je-doch ausreichend genau, weil nicht die Druck-, sondern die Zugfestigkeit das Ver-halten dominiert), so erhält Barthel bei starren Auflagern einen Schub H ¼ 231 kN,was exakt der Membranlösung Heymans entspricht. Allerdings nimmt dieser Schubnach Barthel schon bei 2 mm Widerlagerverschiebung, also im praxisrelevanten Fall,auf H ¼ 174 kN ab [Barthel 1993, S. 162]. Die mit dem einfachen Starrkörper-modell bestimmte Horizontalkraft H ¼ 181 kN weist somit nur rund 4 % Abwei-chung von den Finite-Elemente-Ergebnissen auf und liegt auf der sicheren Seite.Hingegen sind die Werte von Pieper mit H ¼ 1;4 � R2ρgt ¼ 158 kN (am Gewöl-bescheitel angegebener Zahlenwert) und H ¼ 1;76 � R2ρgt ¼ 198 kN (am Widerlagerangegeben) erwartungsgemäß weit von den realistischen Ergebnissen entfernt.

Blickt man auf die Berechnungsreihe mit den verschieden großen Stichkappen zu-rück, kann man sogar noch eine weitaus deutlichere Vereinfachung der rechneri-schen Untersuchung von Stichkappentonnen und Kreuzgewölben rechtfertigen: Einereine Tonne ohne Stichkappen übt schätzungsweise einen Schub H ¼ 173 kN aufihren Unterbau aus, das Kreuzgewölbe H ¼ 181 kN. Alle Stichkappentonnen wer-den einen Schub zwischen diesen beiden Werten liefern (gilt nicht für nach innenfallende Stichkappen). In guter Näherung kann man somit in den meisten Fällen dieStichkappen komplett ignorieren und einfach so tun, als liege ein reines Tonnenge-wölbe vor. Überdies stimmt auch die Lage der Gelenklinien beim Sabouret-Riss-mechanismus in sehr guter Näherung mit der Gelenklage einer Tonne ohne Stich-kappen überein (Bruchfugen wandern nur zwischen rund 41° und 45°). Mit etwasVorsicht kann man die gute Übereinstimmung zwischen Tonne (d. h. ebenem Bogen)und Stichkappen- oder Kreuzgewölbe daher sogar ohne größere Bedenken verwen-den, um für den Fall eingetretener Widerlagerverschiebungen größeren Ausmaßesdie maximal bis zum Einsturz mögliche Widerlagerverschiebung geometrisch nicht-linear grob abzuschätzen, was mit jeder anderen Methode nahezu unmöglich ist. ImEinzelnen wäre nun noch zu erforschen, ob die Beobachtungen am Kreuzgewölbeüber quadratischem Grundriss sich auch auf stark queroblonge Kreuzgewölbe, wiesie in gotischen Bauten vorkommen, übertragen lassen.

Vereinfacht man rechnerisch die Stichkappentonne zu einer Tonne ohne Stichkap-pen, so sollte man bei der rechnerischen Weiterleitung der Lasten in den Unterbaunicht vergessen, dass eine reine Halbkreistonne ohne Stichkappen im Beispiel einGesamtgewicht von 725 kN aufweist, während das Gewicht des Kreuzgewölbes we-niger als 80 % des Gewichts der Tonne ohne Stichkappen beträgt. Da der Wert desHorizontalschubs mit größer werdenden Stichkappen kaum abnimmt, sich das Ge-wölbegewicht jedoch verringert, ist der Gewölbeschub des Kreuzgratgewölbes fürden Unterbau rechnerisch kritischer, da das Verhältnis von Schub zu Auflast maß-gebend ist. In der Praxis wird dieses Problem jedoch durch die meist vorhandene

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 215

Page 12: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Zwickelfüllung ausgeglichen, die mit wachsenden Stichkappen meist mitwächst(Auffüllung bis Oberkante Stichkappe), und außerdem ist natürlich der beim Kreuz-gewölbe „punktuell“ auftretende Gewölbeschub leichter durch eine Strebekonstrukti-on aufzunehmen als der „kontinuierliche“ Schub der Tonne.

Fehlt die Zwickelfüllung, kann das Kreuzgewölbe bzw. die Stichkappentonne durchnachträgliches Ausfüllen der Zwickel bis knapp unter halbe Stichhöhe stabilisiertwerden, sofern die dadurch erhöhte Gesamtlast in der Fundamentsohle aufgenom-men werden kann, was in nahezu allen Fällen der Praxis möglich ist. Umgekehrtverdient es Beachtung, dass das in der Praxis immer wieder anzutreffende Ausräu-men von Gewölbezwickeln äußerst schädlich sein kann und daher zu unterlassen ist.Wird die Zwickelfüllung ausgeräumt, weil sie z. B. aus Bauschutt oder anderenschädlichen Materialien besteht (feuchtigkeitsspeichernde Stoffe und dergleichen),ist sie auf jeden Fall durch besser geeignetes Material zu ersetzen. Wird dies unter-lassen, riskiert man neue Schäden am Gewölbe. Bild 4.24 zeigt ein charakteristi-sches Beispiel hierzu: Eine Wallfahrtskirche wurde im 17. Jh. nachträglich mit einerStichkappentonne gewölbt. Das Dachwerk reichte damals mit hölzernen Stempelnweit in die Gewölbezwickel hinunter. Diese Dachwerksstreben waren jedoch bis zurOberkante der Stichkappen in eine Zwickelfüllung eingebettet. Zeugnis dafür ist derheute noch vorhandene Stumpf dieser Streben, der als einziges Teil des alten Dach-werks einen Brand im späten 18. Jh. überlebt hat, weil er durch die Zwickelfüllunggeschützt war. Das damals neu erstellte Dachwerk verwendet die Streben des Vor-gängerdaches nicht.

Bei einer Sanierung im späten 20. Jh. wurden erstmals seit Erbauung des Gewölbesdie Zwickel ausgeräumt und dabei die nur am oberen Ende verkohlten Dachwerks-streben freigelegt. Heute weist das damals sanierte Gewölbe, das eine wertvolle De-koration mit Rokoko-Fresken trägt, neue Risse auf. Auch ohne diesen Effekt stellt

Bild 4.24 Ein Ausräumen der Gewölbezwickel ohne Ersatz der alten Füllung

verringert die Standsicherheit des Gewölbes und führt zu neuen Rissen

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen216

Page 13: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

das Ändern der Kräfteverhältnisse an einem historischen Gewölbebau stets ein Scha-densrisiko dar, das genau abgewogen werden sollte.

4.2.3 Besonderheiten von Rippengewölben

Obwohl die Rippen gotischer Gewölbe nicht als tragendes Skelett wirken, das diegesamte Auflast der Kappen zu tragen hat, sondern die Kappen sich vielmehr selbsttragen, verdienen dennoch die Rippen besondere Aufmerksamkeit. Im günstigstenFall binden die Rippen so tief in das Kappenmauerwerk ein, dass jeder einzelneRippenstein fest an der Kappe hängt. In diesem Fall werden die globalen Verfor-mungen des Gewölbefeldes auch den Rippen aufgezwungen, was bei gleichen Rota-tionen aufgrund des längeren Hebelarms bei den Rippen stärkere Schäden auslöstals beim Kappenmauerwerk. So entstehen zum Beispiel tiefe, klaffende Fugen, wennsich das Gelenk des Gewölbes nach unten öffnet (Bild 4.25).

Binden die Rippensteine nicht oder nur wenig in die Schale ein, können sie sichrelativ zur Kappe verschieben. Da der Rippenbogen für sich einen geringeren Krüm-mungsradius aufweist als die Kappe, hat die Rippe bei nachgebenden Widerlagerndie Tendenz, tangential zur Kappe zu rutschen und sich radial abzulösen. BeidenBeanspruchungen hat die Konstruktion nur wenig Widerstand entgegenzusetzen. Da-her kann sich der Rippenbogen unter solchen Umständen in weiten Bereichen vonder zugehörigen Kappe lösen. Bild 4.26 zeigt eine nur mit einer flachen Abdachungin die Gewölbekappe einbindende Werksteinrippe eines Backsteingewölbes, diedurch einen durchgehenden Riss von der Kappe getrennt ist. Schlimmstenfalls kön-nen aus solchen Rippenbögen einzelne Steine abstürzen. Fotos kriegsbeschädigterGewölbe zeigen sehr oft abgefallene Rippen bei ansonsten intakter Wölbfläche (z. B.[Grassnick 1963, Abb. 31]). Besonders bei nach unten klaffenden Fugen (Bild 4.25)ist die Gefahr gegeben, dass einzelne Steine herausfallen, obwohl die Standsicher-heit des Gewölbes als Ganzes gewährleistet ist.

Die Schlusssteine binden meist in die Gewölbeschale ein oder durchdringen sie so-gar völlig. Zwischen den Schlusssteinen spannen sich die Rippenbögen dann „frei“,also mechanisch mehr oder weniger unabhängig von den Kappen. Diese Situation

Bild 4.25 Nach unten klaffendes Gelenk in einem Rippenbogen (Kathedrale Antwerpen).

4.2 Grenzzustandsbetrachtungen an gerissenen Schiffswölbungen 217

Page 14: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

ist für die engmaschigen spätgotischen Gewölbe typisch. Bei stärkeren Verformun-gen des Gewölbes als Ganzes werden die in die Kappe einbindenden Schlusssteinegezwungen, deren Verformungen mitzumachen. Die Rippensteine der anschließen-den Rippenbögen müssen dann mit diesen Verschiebungen ihrer Widerlager zurecht-kommen, was zur Ausbildung „plastischer Gelenke“ bis hin zum Abplatzen vonRippenbruchstücken führen kann. Bild 4.27 zeigt ein Beispiel, in dem ein mit derKappe rotierender Schlussstein zu Schäden in den anschließenden Rippenbögen ge-führt hat. Das Beispiel macht deutlich, dass das Rippennetz statisch ein gewisses„Eigenleben“ führt. Herabfallende Rippenbruchstücke stellen eine Gefährdung derVerkehrssicherheit dar und sind daher durch Sichern zu verhindern. Eine solche Si-cherung setzt jedoch eine genaue Bestandsaufnahme voraus, im Rahmen derer ge-klärt wird, welche Steine lediglich ohne Verband unter der Kappe liegen und wel-che einbinden. Die einzelnen Rippensteine können mit Hilfe stählerner Haken, diedurch die Kappe hindurchgehen und auf deren Oberseite verankert sind, befestigtwerden.

Bild 4.26 Rippe ohne Verband zum

Kappenmauerwerk. Die restauratorische

Öffnung zeigt, dass die Rippe oberseits

flach abgedachte Form aufweist

(Münster Ingolstadt; Foto: Clemens Voigts).

Bild 4.27 Abplatzende Rippenvorderkante im Anschluss eines Rippenbogens

an einen Schlussstein (Kapitelsaal, Kloster Fontenay/Frankreich).

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen218

Page 15: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Rippen in den seltensten Fällen das Tragver-halten des Gewölbes beeinflussen. Vielmehr hängt das Rippennetz mit einzelnenZwangspunkten an der Gewölbeschale. Deren Verformung wird durch die globaleSituation des Gewölbes in einem Langraum, an den gegebenenfalls Strebepfeiler,Strebebögen oder Seitenschiffe angrenzen, bestimmt und gleicht der Verformung ei-nes rippenlosen Gewölbes. Für die Standsicherheit des Gewölbes als Ganzes sinddie Rippen bedeutungslos. Selbst stark geschädigte Rippen rechtfertigen keineStandsicherheitsmaßnahme am Gesamtgewölbe, solange dessen Verformungen inden Grenzen bleiben, die man auch bei einem rippenlosen Gewölbe fordern würde.Vielmehr führt die Verkehrssicherungspflicht an einem Rippengewölbe im schlimms-ten Fall dazu, dass alle Rippensteine an die Kappen zurückgehängt werden müssen,um einem Absturz zuvorzukommen. Sind Kantenabsplitterungen an einzelnen Rip-pensteinen vorhanden, sollte vor einer kraftschlüssigen Neuverfugung geprüft wer-den, ob diese nicht den nachteiligen Effekt weiterer Abplatzungen zur Folge habenwird. Ausgebröckelte Fugen dienen dem Rippennetz als Bewegungsfreiheitsgrade,die die Aufnahme der tages- und jahreszeitlichen Verschiebungen aus Temperatur-schwankungen ermöglichen.

4.3 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystemdes Gewölbebaus und Ertüchtigung

Im vorliegenden Kapitel wurde der Fall eines tonnen- oder kreuzgewölbten Lang-raums behandelt. Der Schub des Gewölbes des Langraums muss durch die Seiten-wände bzw. vorgelegte Strebepfeiler aufgenommen werden. Manche Gebäudetypolo-gien, z. B. barocke Wandpfeilerkirchen, verdanken ihre historische Popularität dereffektiven und dauerhaft zuverlässigen Ableitung des Gewölbeschubs des weit-gespannten Schiffes. Gewölbte Langräume sind häufig auch Bestandteil mehrschiffi-ger Bauten, z. B. einer Hallenkirche (mehrere etwa gleich hohe Schiffe) oder einerBasilika (überhöhtes Mittelschiff). Charakteristische Beispiele für beide Bauformensind in Bild 4.28 dargestellt. Der linke Teil der Abbildung zeigt einen Blick entlangeinem der Hauptpfeiler der Basilika Saint-Denis nach oben. Deutlich ist zu sehen,dass sich oberhalb der Seitenschiffe die Mittelschiffswand aufgrund des Gewöl-beschubs der Hochschiffsgewölbe leicht nach außen neigt. Unterhalb der Höhe desAnschlusses der Seitenschiffsgewölbe ist die Neigung deutlich geringer, so dass andieser Stelle ein auffällig sichtbarer Knick im Pfeiler entsteht. Derartige Beobachtun-gen kann man an fast jeder gotischen gewölbten Basilika machen, ganz unabhängigdavon, ob ein Strebewerk aus äußeren Strebebögen und Strebepfeilern vorhanden istoder nicht. Vor Ort ist die Verformung stets noch viel deutlicher zu sehen als aufjedem Foto. Manchmal kehrt sich die Neigung unterhalb der Seitenschiffsgewölbesogar um und die Wand neigt sich im unteren Bereich nach innen. Im rechten Teilvon Bild 4.28 ist ein Blick in das Seitenschiff der Kirche San Fortunato in Todi/Umbrien zu sehen. Es handelt sich um eine Hallenkirche mit gleich hohen, jedochsehr unterschiedlich breiten Schiffen. Besonders beim zweiten Pfeiler fällt im Ver-gleich mit der geringeren Neigung der anderen Pfeiler dessen starke Neigung nachaußen auf. In allen Jochen hat man versucht, die Schiefstellung der Pfeiler durchStrebebögen unterhalb der Seitenschiffsgewölbe aufzuhalten. Die Ursache der

4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem 219

Page 16: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

Schiefstellung ist in der sehr unterschiedlichen Größe des Schubs aus dem sehr brei-tem Mittelschiff und den sehr schmalen Seitenschiffen zu suchen. Eine derartigeSchiefstellung ist ebenfalls bei fast allen Hallenkirchen in mehr oder weniger aus-geprägtem Maße festzustellen. Wenn die Schiefstellung nicht zunimmt, ist sie keinAnlass zum Eingriff. Aufgrund des langsamen Erhärtens der historischen Mörtel hatsich die Schiefstellung oftmals schon in den Jahren unmittelbar nach Einwölbungergeben. Auch die Strebebögen in Bild 4.28 rechts sind fast bauzeitlich. SchlechteGründung oder bindiger Boden lassen die Situation unausgeglichenen Gewöl-beschubs allerdings manchmal zum Problem werden.

Die Darlegungen zum Tragverhalten von Bögen und gewölbten Langräumen ver-deutlichen, dass solche Systeme wie die in Bild 4.28 dargestellten positionsweisedurchgerechnet werden können: Die Gewölbe verwandeln sich durch Riss- bzw. Ge-lenkbildung in statisch bestimmte Teiltragwerke. Deren Auflagerreaktionen werdenmit dem Traglastverfahren ermittelt und auf den Unterbau angesetzt. Größe und An-griffspunkt der Gewölbelasten ergeben sich aus der Mechanismusanalyse.

Die Pfeiler und Wände des Gewölbebaus sind dann wiederum statisch bestimmteKragarme, die am unteren Ende in das Fundament eingespannt sind. Diese Kragar-

Bild 4.28 Wirkung des Gewölbeschubs auf den Unterbau. Links: Basilika; in Höhe des

Angriffspunktes des Schubs des Seitenschiffsgewölbes ist ein Knick im Pfeiler zu erkennen

(Saint-Denis); rechts: Hallenkirche mit sehr unterschiedlich breiten Schiffen. Aufgrund

des größeren Schubs des Mittelschiffs neigen sich alle Pfeiler mehr oder weniger stark nach

außen (San Fortunato, Todi/Umbrien).

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen220

Page 17: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

me können für sich nachgewiesen werden. Maßgeblicher Lastfall ist nahezu immerder Lastfall Eigengewicht mit Wind. Vor allem bei gotischen Bauten liefern die ho-hen und großen Dächer und die schlanken und hohen Außenwände erheblicheWindlasten, die auf der windabgewandten Seite des Bauwerks in dieselbe Richtungwirken wie der Gewölbeschub.

Eine interessante Frage ist nun noch, ob bei der Berechnung derartiger Gewölbebau-ten für alle Gewölbe – für die des Seitenschiffs genauso wie für die des Mittel-schiffs – der Zustand „tendenziell nachgebende Widerlager“ angenommen werdensoll oder nicht. Oftmals findet man die Aussage, das Seitenschiffsgewölbe werdedurch den Schub des Mittelschiffs zusammengedrückt, befinde sich also im Zustand„tendenziell zusammenrückende Widerlager“ und weiche nach oben aus. Der Verfas-ser des vorliegenden Werkes ist der Auffassung, dass diese Situation weitaus selte-ner auftritt, als behauptet wird. Sie kann sich nur dann einstellen, wenn die Außen-mauer des Seitenschiffs wesentlich steifer ist als die übrigen Pfeiler. Diese Situationist nicht sehr wahrscheinlich. Da die Auflast der Binnenstützen meist höher ist alsdie der Außenstützen, ist die Exzentrizität der Last in diesen Stützen auch nichtgrößer als bei den Außenwänden. Bei genauem Hinsehen zeigt sich meist auch imSeitenschiff ein durchgehender Scheitelriss auf der Gewölbeunterseite. GenauenAufschluss über die Situation kann nur eine exakte Nachmessung der Schiefstellun-gen der Binnen- und Außenstützen bringen. Ist die Differenz zwischen der Kopfaus-lenkung der Innen- und Außenstützen tatsächlich negativ, so sollte man für die Be-messung der Außenwände den maximalen Schub der Seitenschiffsgewölbe ansetzen.Für alle anderen Bauteile liegt der Ansatz des minimalen Schubs auf der sicherenSeite.

Die Frage ist nun, wie man den „maximalen Schub“ eines Tonnengewölbes mitStichkappen oder eines Kreuzgewölbes bestimmt. Der Zustand „tendenziell zusam-menrückende Widerlager“ wird für Tonnengewölbe mit Stichkappen und Kreuzge-wölbe durch die Traglastanalyse nicht abgedeckt. Mangels Beobachtungen an realexistierenden Gewölben ist es schwierig, zu beurteilen, welche Mechanismen sicheinstellen. Der Sabouret- oder Schildbogenriss wird sich bei zusammenrückendenWiderlagern schließen und die Schildkappen werden für die Haupttonne als eine Art„Strebepfeiler“ wirken. Da auch in einschlägigen Berichten über tatsächlich nachoben ausweichende Gewölbe (z. B. in den äußeren Seitenschiffen des fünfschiffigenDoms zu Augsburg, vgl. [Barthel/Maus/Jagfeld/Kaiser 2010]) keine Details zu denentsprechenden Mechanismen mitgeteilt werden, wird vorgeschlagen, den Schub fürdie Situation tendenziell zusammenrückender Widerlager in solchen Fällen auf dersicheren Seite liegend anhand der Tonne unter Vernachlässigung der Schildkappenbzw. Stichkappen zu ermitteln. Die Untersuchungen des vorliegenden Kapitels recht-fertigen es in vielen Fällen, das Tragverhalten der Gesamtstruktur an einem ebenenQuerschnitt durch den mehrschiffigen Bau zu untersuchen. Der Querschnitt wirddurch die Pfeiler und Gurtbögen gelegt. Diese Art der Analyse hat eine lange, bisins 19. Jh. zurückreichende Tradition. [Ungewitter/Mohrmann 1890, Bd. 2, S. 331–404] untersuchen eine Vielzahl von Gebäudetypologien in den Lastfällen Eigenge-wicht und Eigengewicht mit Wind. Diese Analysen haben auch heute noch weit-gehend Gültigkeit und können angewendet werden. Nur in Ausnahmefällen wird

4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem 221

Page 18: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

sich die Herstellung eines räumlichen Finite-Elemente-Modells empfehlen, zumaldessen nichtlineare Berechnung eine Fülle neuer, schwieriger Probleme aufwerfenund letztlich an der Grundaussage der Analyse wenig ändern wird.

Solange die Verformungen insgesamt kein besorgniserregendes Maß erreicht haben,sind auch die Risse im Gewölbebau kein Problem. Ist die Schiefstellung der Mittel-schiffspfeiler oder -wände jedoch so groß, dass tatsächlich keine ausreichende Sicher-heit gegen Einsturz mehr gegeben ist (Schiefstellung, Bodenpressung in der Fun-damentsohle), so führt an einer Ankerung des Mittelschiffes mit dem Ziel derVerringerung (nicht kompletten Aufhebung) des Schubs keinWeg vorbei. Auch die Sei-tenschiffsaußenwände können durch den erhöhten Schub in Gefahr geraten. In diesemFall müssen die Anker über die gesamte Breite des Gewölbebaus geführt werden. Beiallen Ankern ist dafür Sorge zu tragen, dass die Spannkraft nicht zu stark durch Tem-peraturschwankungen beeinflusst wird: Dazu kann die Führung innerhalb des tempe-rierten Innenraums ebenso ausreichen wie eine hinreichend starke Vorspannung. Schlaffdurchhängende Anker sind wirkungslos und können im schlimmsten Fall noch nichteinmal einen Einsturz verhindern. Anker sind also wenigstens mit einer Kraft vor-zuspannen, die durch Temperaturschwankungen nicht gänzlich abgebaut werden kann.

Vom Innenraum aus sichtbare Anker (Bild 4.29) sind in Deutschland leider bis heutewenig populär und werden von Denkmalpflegern oft abgelehnt (vgl. [Rehm/Barthel/Maus 2012, S. 359]). In Italien sind hingegen in fast allen historischen Gewölbebau-ten horizontale Anker vorhanden, die die beiden Widerlager der Gewölbe miteinan-der verbinden. Manchmal liegen die Anker auch etwa auf Höhe der beiden „Bruch-fugen“ des Gewölbes. Diese Anker sind in der Mehrzahl der Fälle historisch und oftbauzeitlich. Im Erdbebenland Italien sind derartige Anker sicher dringender notwen-dig als in Deutschland. Ihre Häufigkeit spricht dafür, dass das Material Eisen inItalien in vorindustrieller Zeit leichter zu beschaffen war als in Deutschland. Schon1621 waren dem italienischen Naturwissenschaftler Bernardino Baldi die verschiede-nen Möglichkeiten, derartige Anker anzuordnen, wohlvertraut: „Um diesem Problem

Bild 4.29 Historischer Gewölbeanker (17. oder 18. Jh.) in der 1625 erbauten

Pfarrkirche von Dachau.

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen222

Page 19: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

zu begegnen, haben sich die erfahreneren Baumeister verschiedene Lösungen ent-wickelt: [... dicke Widerlagermauern ...] Des Weiteren verbinden sie Widerlager mitWiderlager durch dort befestigte eiserne Schlaudern sehr wirkungsvoll. [...] Ich aller-dings halte es für noch nützlicher, die Anker [...] im unteren Drittelspunkt der Bo-genschenkel anzuordnen [...]. Die guten Architekten bringen die Anker jedoch seltenauf dieser Höhe an, weil sie der Auffassung sind, dass sie dort die Schönheit desBauwerks beeinträchtigen [...]. Schließlich kann das Problem auch noch in einerdritten Weise behoben werden [... hölzerner Rahmen, der oben um das Gewölbeherumgreift].“ ([Baldi 1621, S. 108–110]; vgl. Bild 2.13).

Die sichtbaren italienischen Anker nimmt der Besucher des Bauwerkes oftmals nichtbewusst wahr, sie gehören selbstverständlich zum Raumbild und sind sogar in Ge-mälden ab dem 15. Jh., die gewölbte Innenräume zeigen, oft dargestellt. In Deutsch-land hingegen erzeugt der Plan, sichtbare Anker in einen historischen Bau einzuzie-hen, meist heftigen Widerstand von Laien und auch von Denkmalpflegern. Diesführt dazu, dass dann über Möglichkeiten nachgedacht wird, die Anker unsichtbarüber dem Gewölberücken zu führen.

Soll ein Gewölbe, dessen Gewölbeschub durch die Unterkonstruktion nicht ausrei-chend aufgenommen werden kann, durch eine Konstruktion über der Gewölbeober-seite zusammengehalten werden, so ist eine biegesteife Klammer in Form eines Rah-mens mit biegesteifen Ecken auszubilden. Die Füße des Rahmens müssen dann dortverankert werden, wo der Gewölbeschub angreift. Ausreichend steif ausgebildeteLösungen dieser Art wurden schon im späten 19. Jh. bei Neubauten realisiert [Brey-mann 1903, S. 305] (vgl. Bild 4.30). Derartige Klammern gehen bei Bestandsbautenfast zwangsläufig mit schwerwiegenden Eingriffen in den historischen Mauerwerks-bestand einher. [Pieper 1983, S. 132] stellt konstruktive Varianten hierzu in einerSerie von Prinzipskizzen vor. Sollen die Umfassungswände selbst Teil der „Klam-mer“ sein, so sind sie in vertikaler Richtung (ggf. exzentrisch) auf Druck vorzuspan-nen, um die Biegemomente des Rahmens aufnehmen zu können. Die Ausbildungbiegesteifer Ecken erfordert weitere, schräg angreifende Spannanker. Ein sehr bie-gesteifer Riegel muss über den Gewölbescheitel gelegt werden. Die Gefahr droht,dass bei solchen Eingriffen, die mit irreversiblen Maßnahmen einhergehen (Injektionvon Verpressmörtel in die Wand, ggf. notwendige „Vernadelung“, usw.) die Gewöl-be selbst und vor allem ein möglicherweise noch vorhandenes historisches Dach-werk in Mitleidenschaft gezogen werden. Des Weiteren sind stählerne Ankerungenim Dachraum einem weitaus höheren Risiko eines Brandes ausgesetzt als Anker imInneren, unterhalb der Gewölbeschale.

Aus allen diesen Gründen möchte der Verfasser an dieser Stelle ein dringendes Plä-doyer für sichtbare Anker abgeben, getreu dem Motto: Das Problem ist dort zu be-heben, wo es auftritt! Die Last sollte nicht auf Umwegen „spazieren geführt“ wer-den. Ein sichtbarer Anker ist wirksamer, ehrlicher und minimalinvasiver als jedeLösung oberhalb des Gewölbes! In Zusammenwirken mit einer Wiederherstellungoder Verbesserung der Ausmauerung oder Hinterfüllung der Gewölbezwickel bietetein gut konstruierter Anker, der nahe dem Gewölbeansatz geführt wird, stets eineeinigermaßen denkmalverträgliche Lösung. In Fällen, in denen bei historischen Bau-ten in Deutschland in zeitlicher Nähe zur Bauzeit Anker notwendig wurden, hat

4.2 Einordnung einer Schiffswölbung in das Gesamtsystem 223

Page 20: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

man diese ohne Bedenken im Rauminneren geführt, selbst in der Barockzeit, in derder Gewölbedekoration höchste Aufmerksamkeit zuteilwurde (Bild 4.29).

Im vorliegenden Kapitel nicht behandelt wurde ein einzelnes Kreuzgewölbe, dasnicht Teil einer Gewölbereihe ist. Im Fall des einzelnen Gewölbes können die vierWiderlager auch in diagonaler Richtung ausweichen. In diesem Fall bilden sich immittleren Bereich des Gewölbes vier Risse, die ein übereck gestelltes quadratischesFeld aus dem Scheitelbereich des Gewölbes isolieren (vgl. Abb. bei [Pieper 1983,S. 50]). Der Fall einzelner Kreuzgewölbe ist mit den im vorliegenden Kapitel vor-gestellten Methoden nicht zu lösen. Zwar ist es in einem solchen Fall immer nochmöglich, die Statik eines diagonal zum Grundriss, also parallel zu den Kreuzgratenverlaufenden, flachgespannten Bogens veränderlicher Breite zu rechnen. Die Über-einstimmung solcher Rechenannahmen mit der Wirklichkeit muss dann aber anhanddetaillierter Rissbeobachtungen vor Ort oder mit Modellexperimenten (vgl. [VanMele/McInerney, DeJong, Block 2013]) überprüft werden. Der Fall „einzelner“Kreuzgewölbe tritt vor allem bei quadratischen Räumen auf, die mit vier Kreuzge-wölben überdeckt sind, die sich auf eine gemeinsame Mittelsäule stützen. Auch insolchen Fällen ist eine sichtbare Ankerung jeder anderen Lösung vorzuziehen.

Bild 4.30 Klammerkonstruktion zum Abfangen des Gewölbeschubs oberhalb der Gewölbeschale

[Breymann 1903, S. 305].

4 Beurteilung des Tragverhaltens der Kreuzgewölbe und Stichkappentonnen224

Page 21: Holzer- Statische beurteilung historischer Bauwerke Bd1

BESTELLFORMULAR Fax: +49 (0) 30 470 31 - 240

Liefer- und Rechnungsanschrift: �privat �geschäftlich

Vertrauensgarantie: Dieser Auftrag kann innerhalb von zwei Wochen beim Verlag Ernst & Sohn, Wiley-VCH, Boschstr. 12, D-69469 Weinheim, schriftlich widerrufen werden.

Datum / Unterschrift *€-Preise gelten ausschließlich in Deutschland. Alle Preise enthalten die gesetzliche Mehrwertsteuer. Die Lieferung erfolgt zuzüglich Versandkosten. Es gelten die Lieferungs- und Zahlungsbedingungen des Verlages. Irrtum und Änderungen vorbehalten. Stand: Juli2013 (homepage_Probekapitel)

Stück Bestell-Nr.: Titel Preis* in €

978-3-433-02959-6 Statische Beurteilung historischer Tragwerke Band 1: Mauerwerkskonstruktionen 55,- Euro

906954 Gesamtverzeichnis Ernst & Sohn 2013/2014 kostenlos

bitte ankreuzen Monatlicher E-Mail-Newsletter kostenlos

Firma

Ansprechpartner Telefon

UST-ID Nr. / VAT-ID No. Fax

Straße//Nr. E-Mail

Land PLZ Ort

Wilhelm Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG Rotherstraße 21, 10245 Berlin Deutschland www.ernst-und-sohn.de