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Verdi-Requiem … Theater des Todes – für die Lebenden Spuren zu Verdis Requiem Seit Wochen höre ich kaum etwas anderes als Verdis Requiem. Das Werk lässt mich nicht mehr los. Es stürzt mich jedes Mal aufs Neue durch ein Wechselspiel von Empfindungen, die im Reiz überfluteten Alltag rar geworden sind. Ich lerne auf neue Weise Schmerz zu durchleiden und Licht zu sehen. Vermeintliche Nebensächlichkeiten erlangen Bedeutung. Immer öfter bleibe ich stehen, wenn ein goldbraunes Herbstblatt zum Boden schwebt oder verspätete Blüten noch den einbrechenden Frösten widerstehen. Ich freue mich auf den Winter, der neues Leben entstehen lässt. Solche Augenblicke des Innehaltens sind in der modernen Gesellschaft, die auf Verkürzungen von Prozessen ausgerichtet ist, allzu oft verloren gegangen. Verdi führt sie, lange vor Satie und Cage, vor Ohren. Den dramatischsten Phasen in seinem Requiem folgen oft so helle und stille Momente, dass der Puls der Uhr, die unser Leben antreibt und gliedert, gebannt zu sein scheint. Nach Verklingen des letzten Tones fühle ich mich an das Ende von Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium erinnert, das in Thomas Manns Doktor Faustus beschrieben wird: „das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, […] wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“ Ich stelle mir vor, wie spannungsvoll sich diese „tosende Stille“ in der Thomaskirche ausbreitet, wenn kein verfrühter Beifall in den Alltag zurückruft. „Es ist diese wunderbare Stille, die die günstige Gelegenheit schenkt, manchmal die Möglichkeit bietet, wirklich glücklich zu sein, und wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, dessen Dauer nicht zu ermessen ist.“ (Yves Klein) Die Wurzeln von Verdis Requiem führen zurück ins Jahr 1868. Am 13. November starb Rossini in Passy, einem heutigen Stadtteil von Paris. Vier Tage später schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi: „Um Rossinis Andenken zu ehren, möchte ich gern, daß die hervorragendsten Komponsten in Italien eine Requiem-Messe schreiben, die am Jahrestag seines Todes aufgeführt werden soll. […] Die Messe soll in San Pietronio in Bologna, Rossinis wahrer musikalischer Heimat aufgeführt werden. Nachdem sie einmal aufgeführt worden ist, soll sie versiegelt und in den Archiven des Liceo Musicale verwahrt werden, von wo sie nie entfernt werden darf. Vielleicht könnten Ausnahmen an Rossinis Jahrestagen gemacht werden, falls die Nachwelt diese zu feiern wünscht.“ Eine Kommission gliederte den lateinischen Requiemtext in 13 Abschnitte, traf bestimmte Vereinbarungen wie Besetzung, Form, Aufführungsdauer und beauftragte die vorgesehenen Komponisten, darunter Verdi.

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Verdi-Requiem …

Theater des Todes – für die Lebenden Spuren zu Verdis Requiem

Seit Wochen höre ich kaum etwas anderes als Verdis Requiem. Das Werk lässt mich nicht mehr los. Es stürzt mich jedes Mal aufs Neue durch ein Wechselspiel von Empfindungen, die im Reiz überfluteten Alltag rar geworden sind. Ich lerne auf neue Weise Schmerz zu durchleiden und Licht zu sehen. Vermeintliche Nebensächlichkeiten erlangen Bedeutung. Immer öfter bleibe ich stehen, wenn ein goldbraunes Herbstblatt zum Boden schwebt oder verspätete Blüten noch den einbrechenden Frösten widerstehen. Ich freue mich auf den Winter, der neues Leben entstehen lässt. Solche Augenblicke des Innehaltens sind in der modernen Gesellschaft, die auf Verkürzungen von Prozessen ausgerichtet ist, allzu oft verloren gegangen. Verdi führt sie, lange vor Satie und Cage, vor Ohren. Den dramatischsten Phasen in seinem Requiem folgen oft so helle und stille Momente, dass der Puls der Uhr, die unser Leben antreibt und gliedert, gebannt zu sein scheint. Nach Verklingen des letzten Tones fühle ich mich an das Ende von Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium erinnert, das in Thomas Manns Doktor Faustus beschrieben wird: „das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, […] wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“ Ich stelle mir vor, wie spannungsvoll sich diese „tosende Stille“ in der Thomaskirche ausbreitet, wenn kein verfrühter Beifall in den Alltag zurückruft.

„Es ist diese wunderbare Stille, die die günstige Gelegenheit schenkt, manchmal die Möglichkeit bietet, wirklich glücklich zu sein, und wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, dessen Dauer nicht zu ermessen ist.“

(Yves Klein) Die Wurzeln von Verdis Requiem führen zurück ins Jahr 1868. Am 13. November starb Rossini in Passy, einem heutigen Stadtteil von Paris. Vier Tage später schrieb Verdi seinem Verleger Tito Ricordi: „Um Rossinis Andenken zu ehren, möchte ich gern, daß die hervorragendsten Komponsten in Italien eine Requiem-Messe schreiben, die am Jahrestag seines Todes aufgeführt werden soll. […] Die Messe soll in San Pietronio in Bologna, Rossinis wahrer musikalischer Heimat aufgeführt werden. Nachdem sie einmal aufgeführt worden ist, soll sie versiegelt und in den Archiven des Liceo Musicale verwahrt werden, von wo sie nie entfernt werden darf. Vielleicht könnten Ausnahmen an Rossinis Jahrestagen gemacht werden, falls die Nachwelt diese zu feiern wünscht.“ Eine Kommission gliederte den lateinischen Requiemtext in 13 Abschnitte, traf bestimmte Vereinbarungen wie Besetzung, Form, Aufführungsdauer und beauftragte die vorgesehenen Komponisten, darunter Verdi.

Im September des folgenden Jahres lagen die Manuskripte vor und auch ein Textbuch war bereits gedruckt. Dennoch kam die geplante Aufführung zum Jahresgedenken nicht zustande. Die Gründe gleichen über weite Strecken einem Kleinkrieg verletzter Eitelkeiten; und Verdis Resümee, auf einen Freund gemünzt, „die talentierten Menschen“ seien „fast immer große Kinder“, gelten für ihn nicht minder. Es wurde still um das Werk. Erst 1970 entdeckte David Rosen im Archiv von Ricordi Manuskripte der „Requiem-Messe“ und forschte über deren Entstehungsgeschichte. 1986 stand das Werk im Mittelpunkt eines Kongresses der Internationalen Bachakademie Stuttgart, in Stuttgart wurde es auch uraufgeführt: am 11. September 1988 unter der Leitung von Helmuth Rilling. Verdi hatte für das Gemeinschaftswerk den letzten Satz komponiert: Libera me … („Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod“). Er hielt es, wie auch einige andere Autoren des Gemeinschafts-Opus, nicht für ausgeschlossen, später einmal eine „Messa als Ganzes zu schreiben“. Jedoch zögerte er noch, weil es „so viele, viel zu viele Totenmessen“ gäbe. Es sei „unnötig, ihnen noch weitere hinzuzufügen“, meinte er. 1873 änderte ein Ereignis die Situation: Der Schriftsteller Alessandro Manzoni starb. Sein Roman Il promessi sposi („Die Verlobten“), der zum literarischen Inbegriff des geeinten Italiens wurde, war Verdi seit dem 16. Lebensjahr vertraut. Er schätze es als „eine tröstliche Botschaft für die ganze Menschheit“. 1868 hatte der Komponist den Dichter persönlich kennen gelernt. Der Tod traf Verdi so tief, dass er sich unfähig fühlte, an der offiziellen Beisetzung teilzunehmen. Er hielt kurze Zeit später persönliche Zwiesprache am Grab. Und er entschied, das Requiem zu schreiben: „Es ist ein Impuls, oder besser gesagt, ein Herzensbedürfnis, das mich drängt, diesen Großen, den ich als Schriftsteller sehr geschätzt und als Mensch verehrt habe, so gut ich mag zu ehren!“ Im April 1874 schloss er das Manuskript ab. Am 22. Mai des Jahres fand die Premiere statt: in der Mailänder Kirche San Marco, zum ersten Todestag des Schriftstellers.

„Aber schließlich ist im Leben doch alles Tod?“ (Giuseppe Verdi)

„Fast zwei Jahrtausende lang – ‚von Homer bis Tolstoi’ – blieb im Abendland die Grundeinstellung der Menschen zum Tod nahezu unverändert. Der Tod war ein vertrauter Begleiter, ein Bestandteil des Lebens, er wurde akzeptiert und häufig als eine letzte Lebensphase der Erfüllung empfunden. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Der Tod ist für den heutigen Menschen angsteinflößend und unfassbar, und er ist außerdem in der modernen, leistungsorientierten Gesellschaft nicht eingeplant. Der Mensch stirbt nicht mehr umgeben von Familie und Freunden, sondern einsam und der Öffentlichkeit entzogen, um den ‚eigenen Tod’ betrogen.“

(Philipp Ariès: Geschichte des Todes) Nicht zum ersten Mal hatte der Tod bei Verdi Spuren hinterlassen. Der Komponist war erst Mitte Zwanzig, als er seine beiden Kinder verlor. Ein knappes Jahr später starb seine Frau Margherita. Abschied zu nehmen, wurde für ihn zum Lebensausdruck. Bevorzugt unterzeichnete er Briefe mit „addio addio“; und kaum ein Werk entstand, in welchem er nicht eine Facette des Sterbens darstellte.

Anselm Gerhard beschreibt Verdis Opern als „Theater des Todes“ und verweist zugleich auf dessen andere Seite, „lebensprall“ zu sein „wie kaum eine andere Musik aus dem mittleren und späten 19. Jahrhundert“. Finsternis und Licht lassen sich nicht voneinander trennen. Sie bilden zwei Seiten einer Medaille: vom 1843 entstandenen Albumblatt Cupo è il sepolcro e mutolo („Finster ist das Grabmal und stumm“) bis hin zum bewegenden Liebesduett, mit dem die 1871 in Kairo uraufgeführte Oper Aida schließt.

„Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ (Friedrich Nietzsche)

Neben dem Tod als andere Seite des Lebens setzte sich Verdi in den meisten seiner Werke mit religiösen Fragen auseinander. Aber er war ein kritischer Gläubiger. So schildert er in seinen Opern Religion „als Zuflucht, als verzweifelte Hoffnung auf Rettung“ (Martina Grempler), doch macht er „keine überirdische Instanz für die Irrungen der Menschen verantwortlich“ (Anselm Gerhard). Diese Auffassung spiegelt sein eigenes Verhältnis zum Glauben. Verdi schätzte die Bibel als Tröstung, sogar als Lebenshilfe. Kirchlichen Instanzen stand er gespalten gegenüber. Er ließ sie gelten, soweit sie sich seelsorgerischen Aufgaben widmeten. Kritisch sah er aber deren Einflüsse auf Politik, Erziehung und Zensur. 1870 schrieb er in einem Brief, er könne „Parlament und Kardinalskollegium, Pressefreiheit und Inquisition, das Bürgerliche Gesetzbuch und den Syllabus nicht miteinander vereinbaren“.

„Es muss zwischen Tod und Leben ein hohes Konzentrationsstadium geben, welches durch Singen gefüllt werden kann.“

(Alfred Wolfsohn) Das Requiem, mit dem Verdi Trauerarbeit leistet, lässt sich vielleicht am besten als „Menschheitsdrama“ beschreiben. Es hat seinen Platz nicht in gottesdienstlichen Feiern, sondern spielt auf einer fiktiven Bühne. Die Dramaturgie scheint filmischen Prinzipien zu gehorchen. Es gibt Nah- und Fernaufnahmen, Rückblenden und Ausschnitte, Zeitlupe und Zeitraffer, Überblendungen und Schnitte. Tempo und Perspektiven wechseln. Die Bilder, die Verdi uns vor Ohren führt, überschreiten jede außermusikalische Darstellungskraft. Jeder versteht sie, doch jeder versteht sie anders. So ist es kaum möglich, sie gültig zu beschreiben: die „Sprengschläge“, die „bodenlos stürzenden Schreie des Dies irae“ (Ernst Bloch), mit denen der zweite Satz beginnt und die im überarbeiteten Libera me aus dem früheren Rossini-Gedenkwerk wiederkehren. Oder das „kontrastierende Sed vor Signifer sanctus Michael“ im Offertorium, „durch sieben Takte ausgehalten, und dazu die es umspielende Himmelsmelodie ohne Triumph, mit aufschwebender Hoffnung“ (Bloch). Worte können das innige Gebet Recordare Jesu pie nicht fassen. Oder das „ewige Licht“ (Lux aeterna) im sechsten Satz. Es ist kein Zufall, dass Verdi in seinen Opern die Musik als eigentliches Regiebuch, als „die beste Lehrmeisterin der Schauspieler“ sah.

Die Intensität der Schilderungen überwältigt mich bei jeder Begegnung aufs Neue, so, als erlebe ich das Werk zum ersten Mal. Nie gewinne ich das Gefühl, dass die Sprache sich abnutzt, Gewohnheit einkehrt. Das Requiem gehört zu den Werken, von denen ich mir gewiss bin, sie begleiten mich ein Leben lang. Jedes Mal nehme ich bislang Unerhörtes wahr. Oft frage ich mich, woher diese Ausdruckskraft rührt. Einige Momente fallen mir immer wieder auf: 1.) die große Bedeutung des Raumes in Verdis Musik. Nicht nur das Nahen der Trompeten weckt diesen Eindruck, sondern auch das Wechselspiel von Solostimmen, Stimmgruppen und voller Besetzung. – 2.) Mit dem vielschichtigen Raumkonzept eng verknüpft ist Verdis sensibler Klangsinn. Oftmals findet er verblüffende Lösungen: So erreicht er das intensivste Pianissimo mit voller Besetzung. Und welche Wirkung entfaltet das Fagott-Quartett im letzten Satz, bevor der Sopran von Zittern und Zagen singt. – 3.) Verdi gewinnt dem Wort so vielfältige Ausdruckswerte ab wie nur wenige Musiker seiner Zeit. Oft wechselt der Gestus innerhalb kürzester Zeit. Dies gilt für die vokalen Solostimmen ebenso wie für den stark differenzierten Chor und die Klangrede der sensibel registrierten Instrumente. Dabei legt Verdi größten Wert auf Textverständlichkeit. – 4.) Häufig genügen wenige Töne, um das Unaussprechbare des Wortes zu vermitteln. Nicht nur am Anfang des Werkes. – 5.) Allzu oft spricht man bei Musik nur von akustisch wahrnehmbaren Tönen. Die größte Konzentration resultiert jedoch meist aus dem Schweigen. (Deshalb sollte künftig nicht mehr nur von Ton-, sondern von Ton- und Pausensatz-Unterricht gesprochen werden!) Pausen trennen die Silben beim Sprechen. Sie ermöglichen erst Konzentrationsräume. Die Stille zu Beginn und am Ende des Werkes stehen Erfahrungen nahe, die die Organistin Almut Rößler Arbeitstreffen mit Olivier Messiaen verdankt: „das Gefühl, Zeit zu haben, die Stücke, vor allem, bevor sie angefangen und nachdem sie verklungen sind, mit einem Zeit-Raum zu umgeben“. Uwe Schweikert erinnert der Ausklang des Werkes an „die betende Amneris über dem geschlossenen Grab am Ende von Aida“: „Kein erlösendes Heilsversprechen, sondern Unsicherheit, nicht Glaubensgewißheit, sondern kraftlose, tonlose Verzweiflung steht am Ende dieser Totenmesse. Verdis Musik spendet keinen Lichtschein in die Finsternis, breitet kein verklärendes Amen über die Trostlosigkeit des Todes. Gott schweigt in einer Welt der Ungewißheit und Finsternis.“ Liegt darin nicht auch ein Prinzip Hoffnung verborgen, dass der Mensch seine Verantwortung erkennt und sich nicht auf himmlische Mächte verlässt?

„[…] das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, […] wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“

(Thomas Mann)

“Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten.”

(Ernst Bloch, am Ende von: „Das Prinzip Hoffnung“)

„Es war, als ob Engel in der Hölle singen würden“: Verdis Requiem in Theresienstadt

Selten las ich so intensive Schilderungen über Verdis Requiem wie von Überlebenden aus dem „Ghetto“ Theresienstadt. An der Grenze des Lebens mit Hunger, Krankheiten, Verzweiflung und der täglichen Angst vor unberechenbaren Deportationen in die Vernichtungslager, gewann das Werk eine besondere Bedeutung, darunter für viele Kinder. Wenn die Proben im Kellergewölbe des Mädchenheims L 410 stattfanden, schlichen sich einige der jungen Bewohnerinnen vor die Türe, um zu lauschen. „Es war, als ob Engel in der Hölle singen würden“, erinnert sich Handa Pollak. Noch heute hört sie die Stimmen des Chores. Jede Zeile des Werkes ist ihr gegenwärtig, darunter das Libera me: „Befreie mich, o Gott, vom ewigen Tod an diesem schrecklichen Tag, an dem der Himmel und die Erde sich umdrehen.“ Die erste Aufführung im „Ghetto“ fand Anfang September 1943 statt. Dirigent war Rafael Schächter, der in Prag studiert, eine Kammeroper geleitet und am Avantgarde-Theater D-34 von Emil Frantisek Burian mitgearbeitet hatte. Der Komponist Gideon Klein übernahm den Klavierpart, der das Orchester ersetzen musste. Kurz nach der Premiere wurden fast alle der 150 Choristen mit Massentransporten ins KZ Auschwitz deportiert. Schächter begann, eine zweite Premiere vorzubereiten und suchte nach neuen Sängern. Es meldeten sich so viele Interessenten, vor allem unter den Jüngeren, dass er auswählen musste. Herbert Thomas Mandl äußerte 1994 in einem Interview, wie viel „die Aufführungen den Menschen“ gegeben hätten: „Es kann noch heute passieren, daß sich zwei Menschen in Prag begegnen und sagen: ‚Kennen wir uns nicht? Sind Sie in Theresienstadt gewesen? Haben Sie nicht in Schächters Chor gesungen?’ Das war eine sehr tiefe Erfahrung.“ Für die Cembalistin Zuzana Ruzickova war die Musik im Lager ihr „Paradies in der Hölle“. Auch die zweite Besetzung wurde nach wenigen Vorstellungen durch „Transporte“ auseinander gerissen. Häftlinge verlangten nach weiteren Aufführungen. Offenbar stellte das Requiem alle vergleichbaren Konzerte in den Schatten, auch wenn einige angesichts der Verfolgung lieber ein Werk mit jüdischer Thematik gehört hatten. Ein drittes Mal studierte Schächter das Werk ein und führte es mit 60 Choristen wiederholt auf. Eine Vorstellung ordneten die Nationalsozialisten für den 23. Juni 1944 an, als eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes im Lager erwartet wurde. Alles war für diesen Tag freundlich hergerichtet worden. Aus allen Ecken tönte Musik. Auf mehreren Bühnen wurde gespielt. Die Häftlinge mussten nicht zur Arbeit, sondern gingen ins Café. SS-Angehörige mischten sich unter sie, zwanglos plaudernd. Kindern tummelten sich auf Spielplätzen. Die Kommission ließ sich täuschen. Sie bemerkte nicht, dass das eigentliche Spiel auf den Straßen und Plätzen der Als-ob-Welt stattfand und nicht auf den Bühnen. (Konnte oder wollte sie es nicht?) Wenig später wurde der Chor deportiert. Dieses Mal kam auch Rafael Schächter ins Vernichtungslager Auschwitz, mit dem gleichen „Transport“ wie Gideon Klein und der Komponist Victor Ullmann. Keiner der drei Musiker überlebte. Ullmann hatte im Lager eine ausführliche Kritik über Verdis Requiem geschrieben, „verspätete Glossen“, wie er sie nannte. Diese münden in der Hoffnung, „nun einmal auf der Opernbühne Verdi’s eigentliches Vermächtnis zu hören, jenen unvergleichlichen ‚Falstaff’, der als der Weisheit letzten Schluß in des Meisters letzter und gelungenster Fuge verkündet: ‚Alles ist Spaß auf Erden“.

(Thomas Schinköth, November 2006)

CD-Empfehlungen: Giuseppe Verdi: Messa da Requiem (Leitung: John Eliot Gardiner), Philips 442 142-2 Giuseppe Verdi: Messa da Requiem (Leitung: Carlo Maria Giulini), EMI CLASSICS 7243 5 67560 2 1 Giuseppe Verdi and 12 other composero: Messa per Rossini (Leitung: Helmuth Rilling), hänssler CLASSIC CD 98.402 Literatur-Empfehlungen: Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Hrsg.): Verdi Handbuch. Kassel/Stuttgart/Weimar 2001: Bärenreiter/Metzler Giuseppe Verdi: „Messa da Requiem“. Themenheft. Mainz/Bremen [2001]: EuropaChorAkademie Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 11/2005: Deutscher Taschenbuch Verlag Milan Kuna: Musik an der Grenze des Lebens. Frankfurt a. M. ²/1998: Zweitausendeins Hannelore Brenner-Wonschick: Die Mädchen von Zimmer 28. München 2004: Knaur Taschenbuch

Einführungstext für den Leipziger Universitätschor, November 2006