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http://www.mediaculture- online.de Autoren: Wagner, Hans- Ulrich / Hörburger, Christian. Titel: Hören hat seinen Preis. Eine Chronik der Preisträger. Quelle: Bund der Kriegsblinden Deutschlands/Filmstiftung Nordrhein- Westfalen (Hrsg.): HörWelten. 50 Jahre Hörspielpreis der Kriegsblinden. Berlin 2001. S. 89- 190. Verlag: Aufbau Verlag. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Christian Hörburger/ Hans- Ulrich Wagner Hören hat seinen Preis – Eine Chronik der Preisträger Inhaltsverzeichnis 1952. DARFST DU DIE STUNDE RUFEN? .............................................................................................................. 6 ERWIN WICKERT.................................................................................................................................................................. 6 Undiplomatischer Diplomat und Schriftsteller .............................................................................................. 6 Darfst Du die Stunde rufen? ............................................................................................................................... 7 1953. DIE ANDERE UND ICH..................................................................................................................................... 8 GÜNTER EICH..................................................................................................................................................................... 8 Das »Eich- Maß« und sein Preis .......................................................................................................................... 8 Die Andere und ich ............................................................................................................................................. 10 1954. NACHTSTREIFE............................................................................................................................................... 11 HEINZ OSKAR WUTTIG..................................................................................................................................................... 11 Alltagsgeschichten .............................................................................................................................................. 12 Nachtstreife ........................................................................................................................................................... 13 1955. PRINZESSIN TURANDOT............................................................................................................................. 13 WOLFGANG HILDESHEIMER................................................................................................................................................. 13 Der Skeptiker ........................................................................................................................................................ 14 Prinzessin Turandot ............................................................................................................................................ 15 1956. PHILEMON UND BAUCIS.............................................................................................................................. 15 LEOPOLD AHLSEN.............................................................................................................................................................. 15 Medientransfer ..................................................................................................................................................... 16 Philemon und Baucis .......................................................................................................................................... 16 1

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Autoren: Wagner, Hans- Ulrich / Hörburger, Christian.

Titel: Hören hat seinen Preis. Eine Chronik der Preisträger.

Quelle: Bund der Kriegsblinden Deutschlands/Filmstiftung Nordrhein- Westfalen

(Hrsg.): HörWelten. 50 Jahre Hörspielpreis der Kriegsblinden. Berlin 2001. S. 89-

190.

Verlag: Aufbau Verlag.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Christ ian Hörburger / Hans- Ulrich Wagner

Hören hat seinen Preis – Eine Chronik der Preisträger

Inhaltsverzeichnis1952. DARFST DU DIE STUNDE RUFEN?..............................................................................................................6

ERWIN WICKERT..................................................................................................................................................................6

Undiplomatischer Diplomat und Schriftsteller ..............................................................................................6

Darfst Du die Stunde rufen? ...............................................................................................................................7

1953. DIE ANDERE UND ICH.....................................................................................................................................8

GÜNTER EICH.....................................................................................................................................................................8

Das »Eich- Maß« und sein Preis..........................................................................................................................8

Die Andere und ich .............................................................................................................................................10

1954. NACHTSTREIFE...............................................................................................................................................11

HEINZ OSKAR WUTTIG.....................................................................................................................................................11

Alltagsgeschichten ..............................................................................................................................................12

Nachtstreife ...........................................................................................................................................................13

1955. PRINZESSIN TURANDOT.............................................................................................................................13

WOLFGANG HILDESHEIMER.................................................................................................................................................13

Der Skeptiker ........................................................................................................................................................14

Prinzessin Turandot ............................................................................................................................................15

1956. PHILEMON UND BAUCIS..............................................................................................................................15

LEOPOLD AHLSEN..............................................................................................................................................................15

Medientransfer .....................................................................................................................................................16

Philemon und Baucis..........................................................................................................................................16

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1957. DIE PANNE.........................................................................................................................................................17

FRIEDRICH DÜRRENMATT...................................................................................................................................................17

Schuld und Verhängnis .....................................................................................................................................17

Die Panne ...............................................................................................................................................................18

1958. DIE VERSUCHUNG..........................................................................................................................................19

BENNO MEYER- WEHLACK.................................................................................................................................................19

Humanität bewahren .........................................................................................................................................19

Die Versuchung ....................................................................................................................................................21

1959. DER GUTE GOTT VON MANHATTEN.....................................................................................................21

INGEBORG BACHMANN.......................................................................................................................................................21

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar .................................................................................................21

Der gute Gott von Manhatten ..........................................................................................................................23

1960. AUF EINEM MAULWURFSHÜGEL..............................................................................................................23

FRANZ HIESEL..................................................................................................................................................................23

Archivar, Sammler und Poet...........................................................................................................................24

Auf einem Maulwurfshügel ..............................................................................................................................24

1961. DER MINOTAURUS.........................................................................................................................................25

DIETER WELLERSHOFF........................................................................................................................................................25

Nähe und Entfremdung .....................................................................................................................................25

Der Minotaurus ....................................................................................................................................................27

1962. TOTENTANZ.....................................................................................................................................................27

WOLFGANG WEYRAUCH.....................................................................................................................................................27

Alle Figuren sind Stimmen ................................................................................................................................27

Totentanz ...............................................................................................................................................................29

1963. GEH DAVID HELFEN......................................................................................................................................29

HANS KASPER..................................................................................................................................................................29

Ernster Spaßvogel ................................................................................................................................................29

Geh David helfen .................................................................................................................................................30

1964. DER BUSSARD ÜBER UNS............................................................................................................................31

MARGARETE JEHN.............................................................................................................................................................31

Die Außenseiterin ................................................................................................................................................31

Der Bussard über uns .........................................................................................................................................32

1965. NACHTPROGRAMM.......................................................................................................................................32

RICHARD HEY..................................................................................................................................................................32

Wachhund und Narr ..........................................................................................................................................33

Nachtprogra m m ..................................................................................................................................................34

1966. MISERERE...........................................................................................................................................................35

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PETER HIRCHE..................................................................................................................................................................35

Im Schatten des Wirtschaftswunders .............................................................................................................35

Miserere ..................................................................................................................................................................36

1967. ZWIELICHT........................................................................................................................................................36

ROLF SCHNEIDER...............................................................................................................................................................36

Irritation auf dem diplomatischen Parkett ..................................................................................................36

Zwielicht .................................................................................................................................................................37

1968. DAS AQUARIUM..............................................................................................................................................38

CHRISTA REINIG...............................................................................................................................................................38

Dialog als Handlung ...........................................................................................................................................38

Das Aquarium ......................................................................................................................................................39

1969. FÜNF MANN MENSCHEN.............................................................................................................................40

ERNST JANDL/F RIEDERIKE MAYRÖCKER..............................................................................................................................40

Der Meilenstein .....................................................................................................................................................40

Fünf Mann Menschen .........................................................................................................................................41

1970. PAUL ODER DIE ZERSTÖRUNG EINES HÖRBEISPIELS.......................................................................41

WOLF WONDRATSCHEK.....................................................................................................................................................41

Opposition ..............................................................................................................................................................42

Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels................................................................................................42

1971. ZWEI ODER DREI PORTRÄTS.....................................................................................................................43

HELMUT HEISSENBÜTTEL....................................................................................................................................................43

Alles ist möglich, alles ist erlaubt ....................................................................................................................43

Zwei oder drei Porträts ......................................................................................................................................44

1972. PREISLIED..........................................................................................................................................................45

PAUL WÜHR.....................................................................................................................................................................45

Das Falsche ............................................................................................................................................................45

Preislied ..................................................................................................................................................................46

1973. DER TOD MEINES VATERS..........................................................................................................................47

HANS NOEVER..................................................................................................................................................................47

Dekonstruktion .....................................................................................................................................................47

Der Tod meines Vaters. Originalton - Projekt ...............................................................................................48

1974. DAS GROSSE IDENTIFIKATIONSSPIEL....................................................................................................49

ALFRED BEHRENS..............................................................................................................................................................49

Atmende Leichen im Mediendschungel .........................................................................................................49

Das große Identifikationsspiel ..........................................................................................................................50

1975. GOLDBERG- VARIATIONEN........................................................................................................................51

DIETER KÜHN...................................................................................................................................................................51

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Hörspiel- Variationen ..........................................................................................................................................51

Goldberg - Variationen ........................................................................................................................................52

1976. CENTROPOLIS..................................................................................................................................................53

WALTER ADLER................................................................................................................................................................53

Vom Kunstkopf – zum Kunsthörspiel.............................................................................................................53

Centropolis .............................................................................................................................................................54

1977. FERNSEHABEND..............................................................................................................................................54

URS WIDMER....................................................................................................................................................................54

Deutschland vor der Glotze ..............................................................................................................................54

Fernsehabend .......................................................................................................................................................55

1978. VOR DEM ERSTICKEN EIN SCHREI...........................................................................................................56

CHRISTOPH BUGGERT........................................................................................................................................................56

Zwei Gesichter eines Hörspielers.....................................................................................................................56

Vor dem Ersticken ein Schrei............................................................................................................................57

1979. FRÜHSTÜCKSGESPRÄCHE IN MIAMI......................................................................................................58

REINHARD LETTAU............................................................................................................................................................58

Literatur und Politik ...........................................................................................................................................58

Frühstücksgespräche in Miami ........................................................................................................................59

1980. DER TRIBUN.....................................................................................................................................................59

MAURICIO KAGEL.............................................................................................................................................................59

Wider Diktatoren und Verführer ....................................................................................................................60

Der Tribun .............................................................................................................................................................60

1981. MOIN VADDR LÄBT.......................................................................................................................................61

WALTER KEMPOWSKI.........................................................................................................................................................61

Deutsche Familiengeschichte ...........................................................................................................................61

Moin Vaddr läbt. A Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde Jesann von Wullar

Kinnpusku ..............................................................................................................................................................62

1982. HELL GENUG - UND TROTZDEM STOCKFINSTER.............................................................................63

PETER STEINBACH.............................................................................................................................................................63

Hörspiel- Kino.......................................................................................................................................................63

Hell genug – und trotzdem stockfinster ........................................................................................................64

1983. DIE BRAUTSCHAU DES DICHTERS ROBERT WALSER IM HOF DER ANSTALTSWÄSCHEREI

VON BELLELAY............................................................................................................................................................65

GERT HOFMANN...............................................................................................................................................................65

Schauplatz Menschenkopf ................................................................................................................................65

Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der Anstaltswäscherei von Bellelay, Kanton

Bern .........................................................................................................................................................................66

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1984. WALD. EIN DEUTSCHES REQUIEM............................................................................................................67

GERHARD RÜHM...............................................................................................................................................................67

Poetische Konstruktionen ..................................................................................................................................67

Wald. Ein deutsches Requiem ..........................................................................................................................68

1985. NACHTSCHATTEN.........................................................................................................................................69

FRIEDERIKE ROTH.............................................................................................................................................................69

Poetische Imaginationen ...................................................................................................................................69

Nachtschatten ......................................................................................................................................................70

1986. DIE BEFREIUNG DES PROMETHEUS. HÖRSTÜCK IN NEUN BILDERN..........................................70

HEINER MÜLLER/ HEINER GOEBBELS..................................................................................................................................70

Text als Landschaf t .............................................................................................................................................71

Heiner Goebbels: Die Befreiung des Prometheus. Hörstück in neun Bildern. Nach einem Text von

Heiner Müller........................................................................................................................................................72

1987. DREI MÄNNER IM FELD................................................................................................................................73

LUDWIG HARIG.................................................................................................................................................................73

Sprachsteller .........................................................................................................................................................73

Drei Männer im Feld...........................................................................................................................................75

1988. LEBEN UND TOD DES KORNETTISTEN BIX BEIDERBECKE AUS NORD- AMERIKA. EINE

RADIO- BALLADE........................................................................................................................................................75

ROR WOLF.......................................................................................................................................................................75

Fußballphäno menologe und Radiokünstler .................................................................................................75

Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord- Amerika. Eine Radio- Ballade..........76

1989. WER SIE SIND....................................................................................................................................................77

PETER JACOBI...................................................................................................................................................................77

Lauschangriffe .....................................................................................................................................................77

Wer Sie sind ...........................................................................................................................................................78

1990. EIN NEBULO BIST DU....................................................................................................................................79

JENS SPARSCHUH...............................................................................................................................................................79

Anspielungsreich .................................................................................................................................................79

Ein Nebulo bist du ...............................................................................................................................................80

1991. STILLE HELDEN SIEGEN SELTEN...............................................................................................................80

KARL- HEINZ SCHMIDT- LAUZEMIS/R ALPH OEHME..............................................................................................................80

Wir sind das Volk.................................................................................................................................................81

Stille Helden siegen selten .................................................................................................................................82

1992. DIE SEHR MERKWÜRDIGEN JAZZABENTEUER DES HERRN LEHMANN.....................................82

HORST GIESE....................................................................................................................................................................82

Der Preis.................................................................................................................................................................82

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Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann. Ein Jazz - Hörspiel............................83

1993. SENSE...................................................................................................................................................................84

WERNER FRITSCH..............................................................................................................................................................84

Verstörend: Der Bodensatz der Gesellschaft ................................................................................................84

Sense ........................................................................................................................................................................85

1994. UNSER BOOT NACH BIR OULD BRINI.....................................................................................................86

CHRISTIAN GEISSLER..........................................................................................................................................................86

Utopia in der Wüste .............................................................................................................................................86

Unser Boot nach Bir Ould Brini.......................................................................................................................87

1995. APOCALYPSE LIVE.........................................................................................................................................88

ANDREAS AMMER/FM EINHEIT, D. I. FRANK MARTIN STRAUSS...........................................................................................88

Große Form ...........................................................................................................................................................88

Apocalypse live. Ein Hörspiel in 22 Gesängen .............................................................................................90

1996. FRAUENTAGS ENDE ODER DIE RÜCKKEHR NACH UBLIADUH....................................................91

FRITZ RUDOLF FRIES.........................................................................................................................................................91

Geschichte und Geschichten .............................................................................................................................91

Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh ...............................................................................92

1997. COMPAGNONS UND CONCURRENTEN ODER DIE WAHREN KÜNSTE.......................................93

INGOMAR VON KIESERITZKY................................................................................................................................................93

Humor und Komik ...............................................................................................................................................93

Compagnons und Coneurrenten oder Die wahren Künste .....................................................................94

1998. DIE GRAUE STAUBIGE STRASSE...............................................................................................................95

ILONA JEISMANN/P ETER AVAR...........................................................................................................................................95

Sound - Engineering .............................................................................................................................................95

Die graue staubige Straße ................................................................................................................................96

1999. RAFAEL SANCHEZ ERZÄHLT: SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD.....................................................97

EBERHARD PETSCHINKA/R AFAEL SANCHEZ..........................................................................................................................97

Hörspielkino ..........................................................................................................................................................97

Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod...............................................................................98

2000. UNTER DEM GRAS DARÜBER....................................................................................................................99

INGE KURTZ/J ÜRGEN GEERS..............................................................................................................................................99

Radiotag .................................................................................................................................................................99

Unter dem Gras darüber. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland ................................................101

2001. PITCHER..........................................................................................................................................................101

WALTER FILZ.................................................................................................................................................................101

Auf Stimmenfa ng ..............................................................................................................................................101

Pitcher ..................................................................................................................................................................102

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STATUT DES HÖRSPIELPREISES DER KRIEGSBLINDEN.............................................................................103

1952. Darfst Du die Stunde rufen?

Erwin Wickert

* 7.1.1915 Bralitz bei Freienwalde/Mark Brandenburg

Undiplomatischer Diplomat und Schriftsteller

»Er verkörpert den undiplomatischen Diplomaten« – so der Fernsehjournalist

Ulrich Wickert über seinen Vater – »und auch als Schriftsteller entspricht er nicht

der Norm. Denn er sitzt nicht im Elfenbeinturm, schreibt nicht über seinen Nabel,

sondern über Zeitmaschinen, die Macht oder Revolutionen.«

Erwin Wickert studierte zunächst in Heidelberg und Berlin Philosophie und

Kunstgeschichte, danach Volkswirtschaft und Politische Wissenschaften in den

USA. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Shanghai und Tokio im

deutschen diplomatischen Korps und begann ab 1947 seine schriftstellerische

Laufbahn. Von 1955 bis 1980 war Wickert erneut in diplomatischen Diensten in

London, Bukarest und Peking.

Der junge Autor sah im Hörspiel eine der ganz wichtigen Ausdrucksformen der

Nachkriegszeit. Sein hörspieltheoretischer Aufsatz »Die innere Bühne«, 1954

erstmals in der Zeitschrift »Akzente« veröffentlicht, gehört noch immer zu den

fundiertesten Beschreibungen der radiophonen Kunstgattung und ihren

Möglichkeiten, Raum und Zeit beliebig zu verschränken.

Mit seinen Hörspielen, darunter »Alkestis« (SDR 1951), »Der Klassenaufsatz« (SWF

1954), »Cäsar und Phönix« (SWF 1956), »Robinson und seine Gäste« (NDR/BR

1960) und »Der Kaiser und der Großhistoriker« (NDR/SR/SWF 1987), will Wickert

Fragen stellen und sittliche Konflikte vor den Hörern ausbreiten.

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In seinem preisgekrönten Hörspiel »Darfst Du die Stunde rufen?« schildert er den

Gewissenskampf einer von einer unheilbaren Krankheit heimgesuchten Frau: Darf

sie ihren Tod selbst bestimmen? Nach inneren Konflikten entscheidet sie sich,

das Leiden bis zum würdevollen Ende auf dem Krankenlager zu ertragen.

Wickerts preisgekröntes Hörspiel stand bei der Jurysitzung im Frankfurter

Funkhaus in direkter Konkurrenz zu Günter Eichs »Träume«, das zu einem der

wichtigsten Hörspiele avancierte. Wickert griff die öffentliche Diskussion in seiner

Dankesrede bei der Preisverleihung indirekt auf, als er sagte: »Wenn Sie trotzdem

dem Hörspiel »Darfst Du die Stunde rufen?« den Preis zuerkannten, so ist das

wohl nur so zu erklären, daß außer ästhetischen und formalen Gründen noch

andere Ausschlag gaben. Das Entscheidende war für Sie vielleicht nicht allein die

dramaturgische Durchführung, eine Glätte oder Eleganz der künstlerischen

Lösung, sondern die Wirkung auf den Hörer, auf den Menschen.«

Darfst Du die Stunde rufen?

Produktion: SDR 1951

Mitwirkende: Elisabeth Höbarth (Christine Ellermann); Walter Andreas Schwarz(Bertram Ellermann, ihr Mann); Alfred Hansen (Professor Dr. Glaser); JohannesSchütz (Hildebrand, Oberarzt einer Klinik); Hertha Fuchs (Krankenschwester);Franz Rücker (Bender, Patient); Armas Sten Fühler (Hans Egon, FreundEllermanns); Hans Rewendt (Wärter); Gertrud Wächterhäuser (Exaltierte Dame);Anneliese Miltenberger (2. Dame); Erich Krempin (1. Herr); Edgar Bamberger (2.Herr)

Musik: Hans Vogt

Regie: Walter Knaus

Dauer: 56'05

Ursendung: SDR, 4.4.1951

»Das Preisgericht hatte die Aufgabe, die im Jahre 1951 gesendeten Hörspielenicht nur nach ihrer künstler ischen Quali tät, sondern zugleich auch nach dem

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Maß ihrer menschlich gewinnreichen Aussage zu prüfen. Die Wahl fiel nacheingehendem Abwägen auf Erwin Wickert ›Darfst Du die Stunde rufen?‹, weil hierebenso mutig wie verantwortungsvol l ein menschliches Problem unserer Zeitaufgegri f fen wird, nämlich die Bewältigung des Leidens und Sterbens. Dabei kannes nach Meinung des Preisgerichts nicht Aufgabe des Hörspiels sein, endgült igeAntworten zu geben, sondern es soll Anlaß zum Nachdenken und zur Besinnungbieten. Diese Aufgabe erfül l t Wickerts Hörspiel in einer besonders glückl ichenund dem Rundfunk gemäßen Weise, auch wenn die dramaturgische Gestaltungnoch einzelne Wünsche offenläßt.« (Aus der Jurybegründung zum 1. Hörspielpreisder Kriegsblinden)

chh

1953. Die Andere und ich.

Günter Eich

* 1. 2. 1907 Lebus an der Oder

† 20.12.1972 Salzburg

Das »Eich- Maß« und sein Preis

Eigentlich ist er Lyriker – Günter Eich, mit über 200 Hörspielen und Hörfolgen

einer der wahrscheinlich produktivsten Rundfunkautoren in Deutschland. Als

junger Student in Berlin verknüpften sich seine literarischen Anfänge mit der in

Dresden erscheinenden Literaturzeitschrift »Die Kolonne«. Doch der Traum vom

Lyriker endete jäh. »Meine schriftstellerische Tätigkeit dient seit Anfang 1933 fast

ausschließlich dem Rundfunk«, bilanzierte Günter Eich im Dritten Reich. In der

Phase des politischen Umbruchs 1932/33 gelang ihm die Karriere als

Rundfunkautor. Mehr als 100 Arbeiten entstanden allein für den von den

Nationalsozialisten kontroll ierten Rundfunk. In fast schizophrener Weise

entledigte sich Eich seiner immer wieder neu eingegangenen Verpflichtungen. Er

litt darunter, aber eine Krise fand nicht statt. Nur gelegentlich genügte ein

sarkastisches Auf- Distanz- Gehen, ein süffisantes Sich- Mokieren, aber der Bruch

mit dem Medienbetrieb wurde gescheut.

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Am Ende des Zweiten Weltkrieges, den er als Soldat von 1940 an miterlebte,

stand für kurze Zeit der Versuch, diesem Dilemma zu entkommen. Doch die

wirtschaftlichen Probleme Eichs waren bedrückend. Schon bald ergaben sich erste

Kontakte zum Rundfunk, und der versierte Rundfunkautor ging neue Bindungen

ein. Zu Beginn der 50er Jahre hatte Eich in der föderalistisch strukturierten

Rundfunklandschaft Westdeutschlands Fuß gefasst. Das Wort vom »Eich«- Maß in

puncto Hörspiel machte bald seine Runde.

»Ich hoffe, mich mit Hilfe der Rundfunkarbei t im Laufe des Jahres aus demfinanziel len Abgrund emporzuarbei ten.« (Günter Eich an Alfred Andersch, 24. 5.1950)

Am 3. März 1953 erhielt Günter Eich für »Die Andere und ich« den »Hörspielpreis

der Kriegsblinden« überreicht. Er stand auf dem Höhepunkt seiner

Rundfunkarbeit in der Nachkriegszeit. Bald schon häuften sich die Aufträge, die

Verpflichtungen gegenüber den einzelnen ARD- Rundfunkanstalten nahmen zu.

»Die Andere und ich« verdankte seine Entstehung einer solchen vertraglichen

Bindung des Autors an eine der neuen Hörspieldramaturgien. 1951 hatte Gerhard

Prager (1920- 1975) den ehemaligen »Hörspiel- Pionier« mit einem Jahresvertrag

an den Stuttgarter Sender gebunden; die Verpflichtung des Autors umfasste vier

Hörspielarbeiten und drei Hörfolgen. »Die Andere und ich«, im November 1951

geschrieben, bildete – nach »Sabeth oder Die Gäste im schwarzen Rock«, »Fis mit

Obertönen« und »Verweile, Wanderer« – die letzte der vertraglich zugesicherten

Hörspielarbeiten.

Die Jury hatte sich am 10. Februar 1953 in Mainz mit zehn von zwölf Stimmen für

das Hörspiel entschieden, »weil es mit einer ungewöhnlichen Beherrschung

rundfunkgemäßer Mittel eine wahrhaft dichterische Aussage verbindet; das Leid

des anderen ist dein Leid, er trägt es für dich.« (Pressemeldung)

»Eine Amerikanerin, die Italien bereist, fährt in einem kleinen trost losen undarmen Ort an einer alten Frau vorüber, deren Blick ihr im Gedächtnis bleibt. Alssie später nach dieser Frau sucht, durchkreuzen und verbinden sich ihr Lebenund das Leben der Fremden; Ellen aus Washington und Camilla in Comacchio sindwie zwei Hälften der gleichen Existenz. Der einen ist davon alles Helle, der anderndie Dunkelhei t zuteil geworden. Ellen ist dem Menschen begegnet, der ihre Bürde,ihr Leiden, ihre Armut stellvert retend übernommen hat, – eine Begegnung, die es

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ihr von nun an unmöglich macht, Glück ohne Schuldgefühl hinzunehmen. Einesolche Begegnung gibt es freil ich nur im Märchen, und als ein modernes Märchen,nicht etwa als ein Fall von Seelenwanderung und Okkult ismus, sollte diesesHörspiel gehört werden.« (Pressetext des Bayerischen Rundfunks für eineWiederholungssendung; nach einem Entwurf von Günter Eich vom 31. Juli 1960)

Die Andere und ich

Produktion: SDR Stuttgart 1952

Mitwirkende: Edith Heerdegen (Ellen/Camilla); Harald Baender (lohn); HansGünther Gromball (Bob); Ingeborg Engelmann (Lissy); Erich Ponto (Der Vater); ElsaPfeiffer (Die Mutter); Hans Mahnke (Giovanni); Gerd Fürstenau (Carlo); RolfSchimpf (Antonio); Horst Zeller (Antonio als Kind); Maria Wiecke (Eine Tante);Christa Hoffmann (Filomena); Peter Höfer (Ein Herr)

Musik: Rolf Unkel

Regie: Cläre Schimmel

Dauer: 69'00

Ursendung: SDR 1, 3.2.1952

Produktion: NWDR Hamburg 1952

Mitwirkende: Gisela von Collande (Ellen); Hilde Krahl (Camilla); Eduard Marks(Giovanni); Wolfgang Wahl (Carlo); Herbert A. E. Böhme (Vater); Martina Otto(Mutter); Hardy Krüger (Antonio); Hubert Fichte (Umberto); Charlotte Joeres(Lidia); Inge Windschild (Filomena); Hans Paetsch (lohn); Manfred Lotsch (Bob);Ingrid Andree (Lissy)

Musik: Johannes Aschenbrenner

Regie: Gustav Burmester

Dauer: 78'00

Ursendung: NWDR 2 Nord, 6.2.1952

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Das Hörspiel »Die Andere und ich« wurde – in der damaligen Hörspielpraxis nicht

unüblich – parallel vom NWDR in Hamburg und vom SDR in Stuttgart inszeniert;

beide Einspielungen lagen der Jury vor. Der unterschiedliche Regieansatz ergab

sich aus der Frage, ob Camilla und Ellen mit einer oder zwei Sprecherinnen zu

besetzen sei.

huw

Friedrich Wilhelm Hymmen, Initiator des

Hörspielpreises der Kriegsblinden und

Vorsitzender der Jury von 1951- 1995

1954. Nachtstreife.

Heinz Oskar Wuttig

* 19.7.1907 Berlin

† 12. 3. 1984 Berlin

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Alltagsgeschichten

Sein Name wird heute kaum mehr mit seinen Hörspielerfolgen verbunden: Heinz

Oskar Wuttig ist bekannt als Drehbuchautor der unterhaltenden TV- Serien »Alle

meine Tiere«, »Der Forellenhof«, »Salto Mortale«, »MS Franziska« und »Drei

Damen vom Grill«. »Die Popularität seiner Tele- Familien erklärt sich aus der

Wirklichkeitsnähe ihrer Probleme, Sorgen und Späße«, urteilte man unter der

Überschrift: »Heinz Oskar Wuttig schreibt TV- Serien wie am Fließband. Der Mann,

der populäre Fernsehfamilien produziert« (Die Welt, 2.1.1978).

Dabei erprobte Wuttig auch andere Medien. Als Student gehörte er in Berlin zu

einer Gruppe »junger« Literaten, die sich um den Verleger Viktor Otto Stomps

sammelte und zu denen auch Günter Eich und Peter Huchel zählten. Mit ihnen

teilte er am Ende der Weimarer Republik die Suche nach Arbeit, so dass

Tätigkeiten als Nachtwächter, Kellner, Verkehrsflieger, Buchhändler, Hilfspolizist

und Maurer ebenso zu seiner Biographie gehören wie der Versuch, als Literat und

Journalist ein Auskommen zu finden. Schon bald kam Wuttig auch mit dem

Rundfunk in Kontakt.

Als Soldat geriet Wuttig in sowjetische Gefangenschaft, aus der er erst 1950 nach

Berlin zurückkehrte. Das radiophone Schreiben, das packende und anrührende

Erzählen hatte er nicht verlernt. Mit der aufpeitschenden, gegen die Sowjetunion

gerichteten doku- fiktionalen »Hörfolge« »Ich komme aus Stalingrad« meldete er

sich zurück. Doch dem Hörspiel als politischer Waffe folgten bald andere Stücke.

Mit »Asternplatz« (RIAS 1952), »Großer Ring mit Außenschleife« (HR/SDR 1954),

»Der Mann aus den Wäldern« (NWDR 1954 und SDR 1954) und »Nachtstreife«

(RIAS 1953) entstand sein Image, »eine Art Großmeister des Liebenswürdig-

Kleinen, der genrehaft populären Bürgerlichkeit« (Oliver Storz) zu sein. Denn

heiter und rührselig agieren seine »Helden«: Franz Lehmhuhn, stolzer

Familienvater und einst glücklicher Straßenbahnfahrer, holt seinen Wagen eines

Nachts aus dem Depot (»Großer Ring mit Außenschleife«); nachdenklich werden

die gute alte Zeit und die moderne Industriegesellschaft einander

gegenübergestellt (»Der Mann aus den Wäldern«); kleine menschliche Schwächen,

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sympathische Hoffnungen und bald behobene Ängste liegen eng beieinander

(»Nachtstreife«).

Wuttigs Hörspiele sind Milieustudien und Alltagsgeschichten, die weniger einer

komplexen psychologischen Motivation folgen als vielmehr einer typologischen

Gegenüberstellung. In den 50er Jahren nehmen sie einen festen Platz im

Hörspielrepertoire ein.

Nachtstreife

Produktion: RIAS 1953

Mitwirkende: Jochen Brockmann (Franke); Reinhold Bernt (Müller); EduardWandrey (Fenske); Hugo Kalthoff (Strehlow); Horst Niendorf (Schäfer); GudrunGenest (Hilde Schäfer); Ruth Schwinning- Thomas (Lucile); Ralf Lothar (Renè);Klaus Schwarzkopf (Léon); Herbert Weissbach (Lange); Albert Johannes(Apotheker); Marianne Dohm- Franke (Fräulein Weber); Clemens Hasse (Korte);Max Grothusen (Dicker Herr); Walter Bluhm (Bildhauer); Ursula Diestel (Elli); AlfredBalthoff (Dr. Altkirch); Günter Pfitzmann (Otto); Alice Engel (Frau Dr. Altkirch);Eduard Wenck (Krüger) u. a.

Regie: Peter Thomas

Dauer: 66'45

Ursendung: RIAS 1, 28.1.1953

»Daß ich persönlich mit Bedacht bei meiner Arbeit Themen aus dem Alltagunserer Gegenwart bevorzuge (..), das liegt einfach daran, daß ich meine Aufgabeals Schrif tstel ler und Rundfunkautor darin sehe, den Versuch zu machen, mit demMedium des Hörspiels mitzuhelfen, brennende Fragen unserer Gegenwart hierund da ein wenig zu entwir ren (...).« (Heinz Oskar Wuttig bei der Preisverleihungam 27. April 1954)

huw

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1955. Prinzessin Turandot.

Wolfgang Hildesheimer

* 9.12.1916 Hamburg

† 21. 8. 1991 Poschiavo/Schweiz

Der Skeptiker

Günter Sawatzki beschrieb 1954 die vielfältige und bunte Hörspiellandschaft mit

dem Hinweis: »Böll z. B. ist mit unerschütterlicher Demut bereit, die

Geistesfreiheit asketischer Armut zu preisen; seine Unbürgerlichkeit richtet sich

gegen falsche Autorität, und es ist nicht seine Schuld allein, wenn diese

Frömmigkeit manchmal als verhaltene Aufsässigkeit wirkt. Hildesheimer feiert

den Sieg des Außenseiters, des Hochstaplers über dumme Legitime: Könige,

Gesellschaftslöwen, Sachverständige.« Der Hamburger Hörspieldramaturg hatte

damit das Thema von »Prinzessin Turandot« angeschlagen, ein Hörspiel, das

Hildesheimer in der Dramenfassung von 1955 nochmals entscheidend zuspitzte

und des wankelmütigen Happy- Ends entkleidete. Das Hörspiel ließ eine Hochzeit

mit dem trügerischen Prinzen von Astrachan immerhin für möglich erscheinen,

während das Drama (radikaler, ja pessimistischer) Heirat und Kaiserwürde

ausschließt.

Wolfgang Hildesheimer, der gebürtige Hamburger, besuchte von 1929 bis 1933

die Odenwaldschule, nach dem Aufflammen des Naziterrors wanderte er nach

Palästina aus. In Jerusalem erlernte er das Tischlerhandwerk und studierte in

London Bühnenbild, Malerei und Textil. Von 1943 bis 1946 war er beim Public

Information Office der britischen Regierung in Jerusalem tätig und arbeitete

danach bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Simultandolmetscher.

Hildesheimers erste Erzählung »Der Kammerjäger« erschien 1950 in der

»Süddeutschen Zeitung«, gefolgt von dem Roman »Paradies der falschen Vögel«

sowie dem Hörspiel »Das Ende kommt nie« (NWDR 1952). Bald zählte Wolfgang

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Hildesheimer zu den produktivsten Dramatikern (»Der Drachenthron«, 1955;

»Nachtstück«, 1963; »Der Lauf der Welt«, 1985) und war einer der wichtigsten

Hörspielautoren der fünfziger und sechziger Jahre. Vor allem prägte er das

»dialogische Worthörspiel«, jene Hörspielkunst also, die aus der Schule des

Theaters kommend, auf den Disput der Meinungen und Überzeugungen setzen

durfte; überzeugende Hör- Beispiele hierfür: »Begegnungen im Balkanexpress«

(NWDR 1953) und »Die Bartschedel- Idee« (NDR/BR 1957).

Bei der Preisverleihung am 22. März 1955 gab Hildesheimer seinen jüngeren

Kollegen folgenden Rat: »Es empfiehlt sich für den Autor, seine Dialoge mehrmals

laut vorzusprechen. Denn es gilt, während der Arbeit die existierende Sprache

einer ständigen und eingehenden Prüfung zu unterziehen. Die Sprache nutzt sich

ab; was gestern noch echt und richtig geklungen haben mag, das klingt heute

durch Gebrauch – meist Mißbrauch abgenutzt und hohl.«

Prinzessin Turandot

Produktion: NWDR 1954

Mitwirkende: Dagmar Altrichter (Turandot); Trudik Daniel (Sklavin Liang);Anneliese Römer (Sklavin Prina); Eduard Marks (Kaiser von China); Will Quadflieg(der falsche Prinz von Astrachan); Robert Meyn (Kanzler Hü); Helmut Peine(Zeremonienmeister); Jochen Meyn (echter Prinz von Astrachan)

Musik: Johannes Aschenbrenner

Regie: Gert Westphal

Dauer: 62'30

Ursendung: NWDR, 29.1.1954

Eine zweite Fassung mit einem veränderten Schluss strahlte der SDR unter der

Regie von Otto Kurth am 10.10.1954 aus, prämiert wurde jedoch die Hamburger

Produktion und deren Textgrundlage.

»In dieser spannungsreichen und beschwingten Komödie werden Macht undFreiheit miteinander konfront iert. Der Energie der szenischen Entwicklung

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entspricht eine geistvol l sprühende Wortkunst. Das Stück gehört zu dendichterischen Hörspielen unserer Zeit.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)

chh

1956. Philemon und Baucis.

Leopold Ahlsen

* 12.1.1927 München

Medientransfer

Zwei Jahre lang war Leopold Ahlsen Soldat, bevor er nach dem Ende des Krieges

Theaterwissenschaften und Germanistik studieren und eine Schauspielausbildung

absolvieren konnte. Von 1947 bis 1949 arbeitete er an verschiedenen Bühnen als

Schauspieler und Regisseur und war danach bis 1960 als Lektor für die

Hörspieldramaturgie des Bayerischen Rundfunks tätig. Mit seinen Erfolgen als

Hörfunk- , Fernseh- und Bühnenautor machte er sich selbständig.

Ahlsens preisgekröntes Hörspiel »Philemon und Baucis« ist das Beispiel für einen

geglückten Medientransfer: Nach den Rundfunkaufnahmen 1955 präsentierten

die Münchner Kammerspiele eine Bühnenadaption und noch im selben Jahr fand

das Werk unter der Regie von Werner Völker den Weg in die deutschen

Fernsehstuben.

Zu Leopold Ahlsens bemerkenswerter Erfolgsstory als Autor gehören die

Hörspiele »Die Zeit und der Herr Adular Lehmann« (BR 1951), »Die Ballade vom

halben Jahrhundert« (BR 1956), »Tod eines Königs« (BR 1964), »Fettaugen« (BR

1969) und »Denkzettel« (BR 1970) sowie vor allem in späteren Jahren die

Fernsehproduktionen »Die Berliner Antigone« (ZDF 1968), »Die Dämonen« (NDR

1977), »Vom Webstuhl zur Weltmacht« (BR 1983) und »Klassentreffen« (ZDF

1989). Zu erwähnen sind ebenso seine zahlreichen Drehbücher zur ZDF- Reihe

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»Der Alte«. 1998 veröffentlichte Ahlsen seine »sämtlichen Erzählungen und

Verse« unter dem Titel »Liebe und Strychnin«.

»Philemon und Baucis« – ein Mythos aus Ovids »Metamorphosen«: Zeus belohnt

die beiden alten Eheleute für ihre selbstlose Gastfreundschaft und erlaubt ihnen,

im selben Augenblick sterben zu dürfen. Leopold Ahlsen siedelte den Stoff in

Griechenland im Jahr 1944 an, als deutsche Soldaten das Land besetzt halten.

Nikolaos und seine Frau Marulja beherbergen – nach dem Gesetz der Götter: »Wer

an meine Hütte klopft, ist mein Gast« – zwei verwundete Deutsche vor den

Partisanen. Doch der griechische Gastgeber wird von den eigenen Landsleuten

des Verrats angeklagt und muss sterben; Philemon folgt ihm – wie im antiken

Mythos – in den Tod.

Philemon und Baucis

Produktion: NWDR 1955

Mitwirkende: Paul Bildt (Nikolaos); Hedwig Wangel (Marulja); Hermann Schomberg(Petros, ein Partisanenoffizier); Heinz Reincke (Alexandros, Partisan); Krafft - GeorgSchulze (Georgios, Partisan); Joseph Dahmen (Panagiotis, Partisan); Gisela vonCollande (Alka, ein junges Mädchen); Hanns Lothar (ein deutscher Soldat)

Musik: Johannes Aschenbrenner

Regie: Fritz Schröder- Jahn

Dauer: 63'25

Erstsendung: NWDR, 6.10. 1955

Die Ursendung erfolgte vom BR am 3. 5. 1955; ausgezeichnet wurde jedoch dieNWDR-Fassung.

»Der junge bayerische Dramatiker Leopold Ahlsen hat – ein ganz seltener Fall –bereits mit seinem Erstlingswerk ›Philemon und Baucis‹ bald nach der Ursendung(aus München) die Chance einer zweiten Produktion erhalten. Der NWDR Hamburgregte den ungewöhnl ich mutigen und sprachmächtigen Dichter zudramaturgischen Änderungen an und gab seinem Werk eine Besetzung von hoherVollkommenheit: Hedwig Wangel sprach, nein verkörperte (neben dem exzellentenBildt als Philemon) den Part der urwüchsigen, fast männl ich robustengriechischen Bäuerin (...). Die achtzigjähr ige Künstlerin, einst eine der Großen in

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Max Reinhardts großer Zeit, sprach, als seien die Jahrzehnte spurlos an ihrvorübergegangen.« (Die Zeit, 13.10. 1955)

chh

1957. Die Panne.

Friedrich Dürrenmatt

* 5. 1. 1921 Konolfingen/Schweiz

† 14. 12. 1990 Neuchâtel/Schweiz

Schuld und Verhängnis

Friedrich Dürrenmatt, Enkel des Satirikers und Politikers Ulrich Dürrenmatt,

wuchs in einem protestantischen Pfarrhaus auf. Lange Zeit konnte er sich nicht

zwischen dem Beruf des Malers und dem des Dichters entscheiden. Er studierte

Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften. 1947 kam es zur Uraufführung

seines Schauspiels »Es steht geschrieben«. Welt und Theater sollen in der

Auffassung des Dichters »spielerisch und kritisch«, dabei »unideologisch und mit

Phantasie« betrachtet werden. Weltberühmtheit erlangten die Dramen »Der

Besuch der alten Dame« (1956), »Die Physiker« (1962), »Der Meteor« (1966) und

»Achterloo« (1983).

Neben dem preisgekrönten Hörspiel »Die Panne« schrieb Dürrenmatt sieben

weitere Hörspiele: »Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen« (BR

1952), »Der Prozeß um des Esels Schatten«- (BR 1952), »Stranitzky und der

Nationalheld« (NWDR 1952), »Herkules und der Stall des Augias« (NDWR 1954),

»Das Unternehmen Wega« (BR/SDR/NDR 1955), »Abendstunde im Spätherbst«

(NDR 1957) und »Der Doppelgänger« (NDR/BR 1960).

Das Hörspiel »Die Panne« dürfte 1955 kurz vor der gleichnamigen Erzählung

entstanden sein. Eine spätere Einrichtung als Fernsehspiel unter der Regie von

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Fritz Umgelter fand im Februar 1957 statt. Die Vorlage wurde 1960 für die Bühne

(New York) unter dem Titel »A Deadly Game« von James Yaffe bearbeitet. Drei ihre

Pension auskostende Juristen – ein Richter, ein Staatsanwalt und ein

Strafverteidiger – nehmen bei ihren abendlichen Zusammenkünften die großen

Prozesse der Weltgeschichte noch einmal durch, doch lieber ist ihnen »lebendiges

Material«. Den unerwarteten Gast, Generalvertreter Alfredo Traps, der sich

zunächst unschuldig wähnt, »überführen« die weintrunkenen Juristen der Schuld

am Tode seines einstigen Chefs. Kurz vor der »Hinrichtung« wird der Spuk als

böses Spiel der alternden Akademiker aufgelöst – doch der ambivalente

Schuldspruch bleibt, trägt die Handschrift unerbitt l icher Rachegötter. Gerhard P.

Knapp stellt in seiner Monographie über Dürrenmatt fest: »In seiner Konzeption

eines neuen, jeder Verbindlichkeit entkleideten Gerechtigkeitsbegriffs ist das

Funkspiel als Variante der gleichzeitig entstandenen Komödie ›Der Besuch der

alten Dame‹ zu betrachten.« Selbstverschuldete Katastrophen sind zum

Normalfall geworden. Das gilt für die korrupte Dürrenmatt - Metropole »Güllen«

ebenso wie für die schicksalhafte Absteige des Hörspiels. Sophokleische

Verhängnisse lauern überall und scheinen unausweichlich.

Die Panne

Produktion: NDR Hamburg 1956

Mitwirkende: Kurt Meister (Alfred Traps); Albert Florath (Richter); Paul Bildt(Staatsanwalt); Günther Hadank (Verteidiger); Ludwig Linkmann (Pilet); RuthPoelzig (Simone); Werner Schumacher (Garagenbesitzer); Rudolf Fenner (Wirt);Joseph Offenbach (Tobias)

Regie: Gustav Burmester

Dauer: 68'30

Erstsendung: NDR 1, 19.5. 1956

Die Ursendung veranstaltete der BR, der »Die Panne« am 17. 1. 1956 in der Regievon Walter Ohm ausstrahlte. Der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden lagjedoch die Hamburger Fassung zum Abhören vor.

»Je mehr ich mich in meinem Berufe, oder besser, mit meinem Berufebeschäft igte, desto klarer ist es mir geworden, daß ich meine Stoffe im Alltag,

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jenseits der Fiktionen, in der Gegenwart zu suchen habe. Wir müssen den Muthaben, zu unserer Zeit zu stehen. Nur getrost, auch sie hat ihre Helden undRaubrit ter, und in der Wirtschaft geht es nicht gnädiger zu als in der Schlacht imTeutoburger Wald.« (Friedrich Dürrenmat t bei der Verleihung des Hörspielpreisesder Kriegsblinden am 30. März 1957 in Berlin)

»Ein aufregendes, beklemmend in die Tiefe zielendes Hörspiel! Und dabei soliebenswürdig in den Mitteln, so versöhnl ich in den Farben, so weit weg vonKanzel - Pathos und betul icher Ermahnung! Ohne Frage ein Kunstwerk,durchpoint ier t bis zur letzen Zeile (bisweilen darin fast zu penetrant) und beialler spielerischen Eleganz ein zentrales Thema unserer Zeit aufgreifend.Burmesters Regie ließ den Kontrast zwischen der behaglichen Atmosphäre derRunde und dem Unheimlichen des Gegenstandes sehr deutlich werden. Es bedarf– wie bei den meisten Hamburger Inszenierungen – kaum der Erwähnung, daßhervorragende Sprecher die Aufführung zu einem ungetrübten Genuß machten.«(epd/Kirche und Rundfunk, 17.9. 1956)

chh

1958. Die Versuchung.

Benno Meyer- Wehlack

* 17. 1. 1928 Stettin

Humanität bewahren

Benno Meyer- Wehlack wuchs in Kiel, Hiddensee und Berlin auf. Unmittelbar vom

Gymnasium kam er noch vor Kriegsende zum Militär. Nach 1945 schlug er sich

zunächst als Verlagsbote, Bauhilfsarbeiter und Landvermessungsgehilfe durch,

nahm Schauspielunterricht und war Regieassistent. Von 1959 bis 1961 arbeitete

er als Fernsehspieldramaturg beim SWF in Baden- Baden, danach von 1965 bis

1967 beim SFB in Berlin.

Neben seiner umfangreichen Hörspielarbeit fanden auch seine Fernsehspiele –

darunter das Bauarbeiterstück »Modderkrebse« – internationale Beachtung. Seit

1967 entstanden auch Texte und Stücke in Zusammenarbeit mit Irena Meyer-

Wehlack, geborene Vrkljan.

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In den fünfziger Jahren machte sich der Autor bereits einen Namen mit seiner

sehr reduzierten, nahezu minimalistischen Hörspielästhetik. Nicht der große

dramatische Weltentwurf stand in seinen Hörspielen im Vordergrund, vielmehr

die Entwicklung einer humanitären Zwischenmenschlichkeit in introspektiven, oft

imaginären Hörräumen. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang sein Hörspiel

»Kreidestriche ins Ungewisse« (NDR 1957), ein eindringlicher Dialog zwischen

Vater und Sohn in einem Hotel. Beide erschaffen sich eigene und neue

Phantasieszenarien und überleben damit die Widrigkeiten der sie umgebenden

Realität. Neben dem preisgekrönten Hörspiel »Die Versuchung« sind überdies

»Die Grenze« (NWDR 1955), »Das goldene Rad« (NDR 1956), »Das Buch des

Lebens« (SDR/SWF 1978) »Die Frau in Blau« (SDR 1981) und »Der alte Mann und

das Stilleben« (SWR 1999) zu erwähnen.

Das 1957 – wegen seiner Sendelänge von nur knapp 35 Minuten – oft als

»Kurzhörspiel« titulierte Radiostück »Die Versuchung« berichtet von einem alten

und einem jungen Mann, die sich an einer zufällig angetriebenen Wasserleiche

bereichern könnten, denn der Tote hat jede Menge Geldscheine in der Tasche.

Die Männer erträumen sich eine behagliche Zukunft mit Zigarrenladen oder

Würstchenbude als Anfang eines neuen Lebens. Doch beide widerstehen der

Versuchung und bewahren damit ihre unbestechliche Humanität im Umfeld ihrer

kleinen, scheinbar unbedeutenden Biographie.

Die Jury für den 7. Hörspielpreis der Kriegsblinden argumentierte in ihrer

Entschließung: »Die besondere Kunst Meyer- Wehlacks besteht darin, der

Wirklichkeit mit verklärender Phantasie und doch mit geringstem Aufwand eine

überraschende Fülle zu geben, dabei aber alles Triviale und auch alles

Pessimistische zu vermeiden. Es zeigt sich hier ein neues

Wirklichkeitsbewußtsein, das in seiner inneren Wahrhaftigkeit wegweisend ist und

über die Mittel des Naturalismus hinauswächst.«

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Die Versuchung

Produktion: NDR 1957

Mitwirkende: Erich Weiher (ein alter Mann); Gerd Martienzen (ein junger Mann)

Regie: Fritz Schröder- Jahn

Dauer: 31'40

Ursendung: NDR 1, 21. 3. 1957

»Benno Meyer - Wehlack bringt nun in der Tat einen neuen Ton in dieseliterarische Gattung, er hat einen neuen, eigenwil l igen und sehr poetischenZugrif f auf den Stoff, den sich das Ohr des Hörers erst gewinnen muß. Es ist zuhoffen, daß die Wahl seines Spiels ›Die Versuchung‹ die Aufmerksamkeit derHörer für diesen eigenwil l igen, neuen Ton weckt. Es wäre ein Gewinn für dasHörspiel und damit für den Hörer selbst. Das Hörspiel des jungen Preisträgerszeichnet sich vor allem dadurch aus, daß es mit allen gegebenen Mittelnunüberbietbar sparsam umgeht.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 3. 1957)

chh

1959. Der gute Gott von Manhatten.

Ingeborg Bachmann

* 25. 6.1926 Klagenfurt /Kärnten

† 17. 10. 1973 Rom/Italien

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar

»... Und sie redete nicht, sie flüsterte, sie sprach mit Zartheit und mit

Hemmungen – man hätte ihr am liebsten dort oben auf dem Rednerpodium zu

Hilfe kommen mögen.« – So erinnerte sich Friedrich Wilhelm Hymmen, der

langjährige Juryvorsitzende, an die Hörspielautorin und Dichterin, als sie zur

Preisverleihung in Bonn erschien. Bis heute wird die stille, nach innen gekehrte

Lyrikerin neben den Hörspielkoryphäen der Anfangsjahre, Dürrenmatt und Eich,

genannt.

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Ingeborg Bachmanns Vater war Lehrer, die Familie der Mutter betrieb eine

Strickwarenfabrik in Niederösterreich. Ingeborg besuchte das Ursulinen-

Gymnasium und legte 1944 die Matura ab. In dieser Zeit entstanden erste

Gedichte und ein fünfaktiges Versdrama. Von 1945 an studierte sie

Rechtswissenschaft, Philosophie, Psychologie und Germanistik, 1950 promovierte

sie in Wien über Martin Heidegger. Nach längeren Aufenthalten in Paris und

London arbeitete sie bis 1953 als Redakteurin bei der Sendergruppe

»Rot/Weiß/Rot« in Wien. Dort entstand 1952 ihr Hörspieldebut »Ein Geschäft mit

Träumen«, ein surreales Stimmenspiel über Lebensschmerz und - lust. Ihm

folgten 1955 das »Erzählhörspiel« »Die Zikaden«. Dazwischen lag ihr Durchbruch

als Lyrikerin, nachdem sie 1953 mit dem Preis der »Gruppe 47« ausgezeichnet

worden war. Ihre Gedichte »Die gestundete Zeit«, »Anrufung des Großen Bären«,

»Im Gewitter der Rosen, »Große Landschaft bei Wien« haben bedeutende Spuren

hinterlassen. Walter Helmut Fritz hielt fest: »Das Unausweichliche war das, was

Leser und Kritiker beim Erscheinen der Gedichte dieser Frau sofort faszinierte.

Man begriff, daß es entscheidend für sie war, Sätze haltbar zu machen und

damit auszuhalten in dem Bimbam von Worten , wie sie in ihrem Anna

Achmatova zugedachten Gedicht Wahrlich schrieb.«

Ingeborg Bachmann lebte seit 1953, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, in

Italien, vornehmlich in Rom. 1958 schrieb sie die Hörballade »Der gute Gott von

Manhattan«; 1959/60 hielt sie als erste Gastdozentin ihre viel beachteten

Frankfurter Poetik- Vorlesungen. In den 60er Jahren arbeitete sie vor allem an

Prosaprojekten, darunter dem groß angelegten »Todesarten»- Zyklus, von dem

nur dessen Auftakt »Malina« 1971 veröffentlicht werden konnte. Ingeborg

Bachmanns tragischer Tod, ausgelöst durch einen Brandunfall in ihrem römischen

Domizil, erschütterte im Oktober 1973 die literarische Welt.

»Der gute Gott von Manhattan« wurde gelegentlich als »moderne Romeo- und-

Julia- Paraphrase« (Münchener Abendzeitung, 29. 5. 1958) gedeutet. Doch ist die

Ballade über die Liebenden Jan und Jennifer in der zeitgenössischen Presse

keineswegs einhellig gebilligt und verstanden worden. Häufig gab es Irritationen

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und Mißverständnisse, nicht selten war die Hörspielkritik verunsichert. Während

man »Bedeutungshuberei« beklagte (epd/Kirche und Rundfunk, 7. 7. 1958) und

Ror Wolf in einem Rückblick auf das Hörspiel der fünfziger Jahre in der Zeitschrift

»Merkur« 1970 nicht ohne Schärfe von einem »Traum in beschädigten Bildern«

und »Scheinfragen« sprach, hieß es dagegen in der »Frankfurter Rundschau«:

»Das oft Traumhaft - Versponnene, Tiefverhüllte ist kaum in glasklare Helligkeit

zu heben, es sei denn, man ginge an dem Eigentlichen ihrer Dichtung vorbei. Es

wird zuweilen ein Spiel mit Zeichen und Chiffren getrieben, das mehr vom

Hintergründigen der Wirklichkeit zeigt als die Wirklichkeit selbst« (29.5. 1958).

Der gute Gott von Manhatten

Produktion: BR/NDR 1958

Mitwirkende: Ernst Schröder (Der gute Gott); Fritz Schröder- Jahn (Richter); HorstFrank (Jan); Margrit Ensinger (Jennifer); Hans Clarin (Frankie); Carl Lieffen (Billy);Adalbert von Cortens (Gerichtsdiener); Gustl Datz (Wärter); Anja Buczkowski(Zigeunerin); H. W Zeiger (Portier); Rainer Loose (Liftboy); Ilwa Günten (Frau); HansQuitschorra (Polizist); Mario Adorf (Barmann); Nils Clausnitzer, Ursula Kube, LeoBardischewski, Horst Raspe, Alexander Malachowski (Stimmen); Bettina Braun, ElliHaase, Hartmut Friedrich (Kinder)

Regie: Fritz Schröder- Jahn

Dauer: 81'50

Ursendung: BR/NDR, 29.5.1958

Am selben Tag gab es auch eine eigenständige Ausstrahlung vom SWF unter derRegie von Gert Westphal.

»Die zwingende Kraft der Fragen, die Ingeborg Bachmann, ohne selbst grif f igeLösungen anzubieten, dem Hörer aufdrängt, Ernst und Intensität der Bewältigungeines durch die Niederungen bil l iger Literatur geschleif ten Themas haben die Juryzu ihrer Entscheidung mitbest immt (...). ›Der gute Gott von Manhatten‹ handeltvon der Explosivkraf t einer vollkommen auf sich selbst bezogenen Liebe zweierMenschen, die, aus dem Zusammenhang mit der Welt und ihren Ordnungengelöst, in Selbstvernichtung endet. Ingeborg Bachmann leugnet die Ordnungenkeineswegs, doch sie hat, ohne sich auf das sichere Terrain einer bil l igen Moralversöhnl icher ›Lösungen‹ oder selbstgefäl l iger Resignation zurückzuziehen, denMut zur konsequenten Härte des Konfl ik ts.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 3.1959)

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chh

1960. Auf einem Maulwurfshügel.

Franz Hiesel

* 11. 4. 1921 Wien

† 2. 11. 1996 Mannersdorf /Burgenland

Archivar, Sammler und Poet

Aus der Hörspielgeschichte ist er nicht wegzudenken: Franz Hiesel, der Dichter,

Archivar und Hörspielmacher. 1969 besorgte er als Dramaturg zusammen mit

Heinz Schwitzke, dem umtriebigen Hamburger Hörspielleiter, mit Werner Klippert

und Jürgen Tomm die Edition des legendären »Hörspielführer« im Reclam Verlag.

Zwanzig Jahre später – Hiesel war längst zum Leiter der Abteilung Hörspiel und

Literatur am ORF avanciert – publizierte er ein voluminöses »Literaturdenkmal-

Hörspiel«, ein zweibändiges Nachschlagewerk zur Geschichte des deutschen und

internationalen Hörspiels, das »Repertoire 999«. Eigenwillig und souverän

beschrieb der gebürtige Wiener darin Glanz und Höhepunkte des Hörspiels,

bibliographierte und annotierte knapp tausend Titel der Hörspielgeschichte.

Hiesel war durch und durch Praktiker. In den 30er und 40er Jahren arbeitete er

als Drogist, Soldat, Waldarbeiter, Straßenbahnschaffner und Bibliothekar, von

1960 bis 1967 leitete er die Hörspieldramaturgie beim NDR, von 1976 bis 1983

die Produktionsabteilung »Hörspiel und Literatur« beim ORF.

Als Autor war er vielseitig und erfolgreich. Die ersten der mehr als 200

Prosaveröffentlichungen entstanden 1948; ihnen folgten Bühnenstücke wie »Die

enge Gasse« (1952) und »Menschen ohne Himmel« (1953). Franz Hiesel schrieb

im Verlauf der Jahre mehr als zwanzig Hörspiele, darunter »Die gar köstlichen

Folgen einer mißglückten Belagerung (SFB/HR 1975) und »Was halten Sie von Irma

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Prein?« (BR/SFB 1976). Schließlich wechselte Hiesel gelegentlich auch zum

Fernsehen, beispielsweise mit den Drehbüchern für die Fernsehfilme »An der

schönen blauen Donau« (NDR 1965), »Blaues Wild« (BR 1970) und »Die

Ausnahme« (ORF 1977).

Auf einem Maulwurfshügel

Produktion: NDR/ORF 1959

Mitwirkende: Walter Kohut (Georg); Hans Thimig (Sebastian); Adrienne Gessner(Georgs Mutter); Maria Emo (Hannemarie); Eva Zilcher (Leutnant Lydia); AdrianFedorowski (russischer Oberst)

Regie: Egon Monk

Dauer: 54'50

Ursendung: NDR 1, 25.10. 1959

»Herr Georg, der Held des Stückes, nimmt sich so wicht ig, daß er alle, auch dieintimsten Lebensäußerungen von sich selbst und seiner Familie, seiner Frau vorallem auch, für spätere wissenschaft l iche Auswertung auf Tonband genommenhat. Nun will er sein Werk mit der Dokumentat ion seines Selbstmordes krönen.Während die Vorberei tungen von seinem Diener Sebastian zelebriert werden,erfähr t er durch den Zufall eines Telefonats, daß der alte Sebastian dieTonbänder, die sein Leben dokument ieren, bereits an eine Illustr ier te verkaufthat. Und auf einmal wird ihm klar, daß er nicht auf einem Gipfel steht, sondernauf einem Maulwurfshügel.« (Franz Hiesel über sein Hörspiel »Auf einemMaulwurfshügel« in: Repertoire 999, Nr. 242)

Nach den Jahren der ernsten und hintergründigen Selbstbesinnung schien die

Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden Ende der 50er Jahre regelrecht froh zu

sein, auch einmal die komödiantische Sicht der Welt prämieren zu können. Die

Frankfurter »Abendpost« kommentierte: »Hiesel wollte seinen Hörern Spaß

machen, und das wurde ihm gelohnt. Nach oft schwerer Kost im

Hörspielprogramm – bei der Preissitzung war das nicht anders – atmete das

erschöpfte Publikum auf, wenn jemand die Welt ein wenig aufspießt und der

autonome Mensch daran sein Mütchen kühlen kann.« (10.3. 1960)

chh

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1961. Der Minotaurus.

Dieter Wellershoff

* 3.11.1925 Neuss

Nähe und Entfremdung

Das Hörspiel war für ihn nach eigenem Bekunden nur ein »Probierfeld«, freilich

ein äußerst wichtiges. Über ein Dutzend Hörspiele schrieb Dieter Wellershoff für

die Rundfunkanstalten in der Zeit zwischen 1956 und 1973, darunter »Die

Sekretärin« (NDR 1956), »Die Bittgänger« (SDR 1958), »Der Minotaurus« (SDR

1960), »Bau einer Laube« (SDR/NDR 1964), »Null Uhr Null Minuten und Null

Sekunden« (WDR 1973). Doch damit nicht genug. Neben seinem Arbeitsfeld als

Romancier und Essayist erprobte Wellershoff, der experimentelle Verfechter einer

neuen Literaturerfahrung, dem es immer wieder darum ging, tradierte

Sichtweisen zu erschüttern und zu verrücken, sich auch als Theaterautor,

Librettist und als Verfasser hintergründiger Fernsehdrehbücher.

Dieter Wellershoff, der als Gymnasiast zum Arbeitsdienst und zum Militär

einberufen wurde, schloß sein Studium 1952 mit einer Promotion über Gottfried

Benn ab und wurde Redakteur bei der »Deutschen Studentenzeitung«. Von 1956

an freier Autor mit ersten literarischen Veröffentlichungen, wechselte er 1959 in

den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, bei dem er bis 1981 verschiedene

Lektorate leitete.

Bis heute entstand ein umfangreiches literarisches Werk, das zahlreiche Romane

und Novellen umfasst, darunter »Zikadengeschrei« (1995) und der als

Meisterwerk gerühmte Liebesroman »Der Liebeswunsch« (2000). Hinzukommen

eine Fülle von literatur- und zeitkritischen, poetologischen und essayistischen

Veröffentlichungen wie etwa »Das geordnete Chaos. Essays zur Literatur« (1992)

und die Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel »Das Schimmern der

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Schlangenhaut. Existenzielle und formale Aspekte des literarischen Textes«

(1996).

In einem dieser Essays notierte Wellershoff auch einige »Bemerkungen zum

Hörspiel«. 1961, in dem Jahr, in dem er den Hörspielpreis der Kriegsblinden

erhielt, führte er aus: »Es ist überhaupt fragwürdig, über die Dramaturgie des

Hörspiels zu sprechen, weil jedes charakteristische Stück seine eigene

Dramaturgie hat, weil die Ausdrucksmöglichkeiten des Genres ihren Sinn und

Ausdruckswert erst aus Idee und Gehalt des jeweiligen Stückes bekommen.«

Wellershoffs Hörspiel »Der Minotaurus« wurde von der Kritik einhellig positiv

bewertet. Der kühl- distanzierte Doppelmonolog eines sich entfremdenden Paares

definiert in letzter Konsequenz die einsame Frau als unangefochtene

Sympathieträgerin. Sie obsiegt gegen männlichen Dünkel, der sich noch einmal

auslebt, und erschüttert wie ganz selbstverständlich ein wankendes Patriarchat.

Dieter Hasselblatt, der spätere Hörspieldramaturg beim Bayerischen Rundfunk,

schrieb am 10. März 1961 im »Badischen Tagblatt«: »Das Hörspiel ›Der

Minotaurus‹ besticht durch die intensive Deutung unserer widersprüchlichen und

problematischen Gegenwart. Dieter Wellershoff hat in dem auf nur zwei Stimmen

aufgebauten Hörspiel die Bewußtseinssituation des modernen Menschen erhellt;

die auf jede Situation eingespielte Intelligenz bietet die Möglichkeit zu Ausflucht

und Zerstörung.«

Der Minotaurus

Produktion: SDR 1960

Mitwirkende: Hans Quest (Er); Julia Costa (Sie)

Musik: Enno Dugend

Regie: Friedhelm Ortmann

Dauer: 58'00

Ursendung: SDR, 22.6. 1960

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»Es mag Autoren geben, denen der letzte Satz keine Schwierigkei ten macht. Siehaben ihn schon in der Tasche, bevor sie zu schreiben beginnen. Sie sindbeneidenswert, sie werden nicht irri t ier t. Allerdings glaube ich, daß sie währenddes Schreibens keine Erfahrung machen, daß ihnen nichts passiert, weil sie nurfleißig und geschickt ein Schema ausfül len. Ich glaube ihnen ihre letzten Sätzenicht. Sie sind eilfert ige Lieferanten. In einer verworrenen, schwerdurchschaubaren Welt besteht ein großer Bedarf an letzten Sätzen, summarischenWeisheiten, strahlenden Eindeutigkeiten – die Psychologie nennt diesen Drang zurVereinfachung die Prägnanztendenz.« (Dieter Wellershof f bei der Preisverleihungam 21. März 1961)

chh

1962. Totentanz.

Wolfgang Weyrauch

* 15.10.1904 Königsberg

† 7.11.1980 Darmstadt

Alle Figuren sind Stimmen

Er gehört zu den Hörspielautoren der Frühzeit: Bereits 1931 reüssierte der

27jährige Schauspieler und Student mit »Anabasis« beim jungen Medium

Rundfunk. Der antike Stoff, der Gewaltmarsch der vom Tod bedrohten

griechischen Soldaten unter Xenophon, wurde gemeinsam mit Ernst Gläser für

den Rundfunk eingerichtet. Der in Königsberg geborene und in Frankfurt am

Main aufgewachsene Wolfgang Weyrauch wurde mit einem Schlag bekannt. Zügig

folgten eine stattliche Reihe von Buchveröffentlichungen, zahlreiche Erzählungen

und Essays sowie eine lebenslange produktive Auseinandersetzung mit der

Hörspielform.

Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, den er als Soldat erlebt

hatte, widmete sich Weyrauch wieder der Hörspielarbeit; zum Repertoireautor

avancierte er in den 50er und frühen 60er Jahren, u. a. mit den Hörspielen »Die

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Minute des Negers« (SDR 1953), »Die japanischen Fischer« (BR 1955), »Das grüne

Zelt« (1957) sowie dem 1962 preisgekrönten »Totentanz«.

Bei aller formalen Vielfalt, die Weyrauch in seiner Rundfunkarbeit demonstrierte,

die Form der Ballade, das Konzert der Stimmen waren seine Charakteristik. Martin

Walser, der als Hörspielregisseur des öfteren Weyrauchs Texten zum Ausdruck

verholfen hatte, lieferte in seinem Nachwort zu »Dialog mit dem Unsichtbaren« –

einer Auswahl von Weyrauch- Hörspielen aus dem Jahr 1962 – eine eindrucksvolle

Schilderung dieser balladesken Hörspielform. »Weyrauch ist von allen mir

bekannten Hörspielautoren der radikalste. Was er handeln und leiden läßt,

handelt und leidet lediglich als Stimme. Der Schleichweg zur Szene bleibt

unbenutzt (...): Die Figuren setzen sich nicht ein, um für ihre Handlungen

Verständlichkeit zu erkämpfen. Sie sind dazu da, um einen sie übersteigenden

Prozeß sichtbar zu machen: Weyrauchs Ballade von den Zuständen der Welt. Und

diese Ballade ist ein Monolog. Alle Figuren sind Stimmen, in die sich Weyrauchs

Monolog vervielfältigt, sind letzten Endes Instrumente, durch die er seinen

Monolog vortragen läßt, als Gleichnis und Warnung oder als Klage.«

Doch Weyrauch war nicht nur zeitlebens ein produktiver, kritischer und politisch

engagierter Hörspielautor. Besonders seine Anthologien – sie entstanden vor

allem in seiner Zeit als Redakteur und Lektor im Rowohlt - Verlag – und seine

Essays wirkten auf die literarische Nachkriegsgesellschaft. So prägte etwa

»Tausend Gramm«, die Prosa- Anthologie von 1949, den »Kahlschlag«- Begriff,

und der Titel seines Aufsatzes »Mein Gedicht ist mein Messer« avancierte zum

Schlagwort für kritisch engagierte Lyrik. Doch Weyrauch, ein schwierig

einzuordnender Sonderfall zwischen widerständlerischem Engagement und

formaler Raffinesse, spielt mittlerweile – sicherlich zu Unrecht – eine

untergeordnete Rolle im literarischen Bewusstsein.

Totentanz

Produktion: NDR/BR 1961

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Mitwirkende: Robert Graf (W.); Richard Münch (T.); Hans- Helmut Dickow (Polizist);Sascha von Sallwitz (1. Junge); Klaus von Twardowsky (2. Junge); ChristianMachalet (3. Junge); Hans Goguel (Lehrer); Armas Sten Fühler (Männliche Stimme);Werner Schumacher (Pilot); Horst Breitkreutz (1. Passant); Hans Emons (2.Passant); Rudolf Ferner (Straßenkehrer); Wolfgang Katzke (4. Junge); Hartmut Reck(Junger Mann); Conrad Mayerhoff (Mann); Manfred Steffen (Redner); Eduard Marks(Alter Mann); Angela Schmid (Mädchen); Gudrun Gerlach (2. Mädchen); GüntherDockerill (2. junger Mann); Klaus Höhne (3. junger Mann); Brigitte Gerloff(Freundin); Herbert Fleischmann (Vertreter)

Regie: Martin Walser

Dauer: 53' 10

Ursendung: NDR 1, 22.11. 1961

»Ein seltsamer Mann in einer der verkehrsreichen Großstadtstraßen spricht daund dort Menschen an, die ihn nicht verstehen, geht weiter durch dasgleichgült ige Gewühl, hält wieder jemanden auf, nennt wieder einunverständliches Datum – alles mit der Bestimmtheit eines Richters. Es istderjenige, der über jeden Urteil zu sprechen hat: das Todesurtei l. Auch derDichter, auch der Hörer, alle Menschen müssen es vernehmen.« (Pressemeldungzu »Totentanz«)

huw

1963. Geh David helfen.

Hans Kasper

*24.5.1916 Berlin

† 3. 9. 1990 Frankfurt am Main

Ernster Spaßvogel

Die Fachkritik machte es sich mit der Jury- Entscheidung für Kaspers erstes

Hörspiel »Geh David helfen« nicht leicht. Im Nachhinein diskutierten Journalisten,

ob nicht zum Beispiel auch Dieter Meichsner, Ilse Aichinger, Jürgen Becker oder

gar Peter Weiß – namhafte Autoren, die mit ihren Hörspielarbeiten zur Auswahl

gestanden hatten – preiswürdig gewesen wären. Vor allem wurde in den

Zeitungen diskutiert, ob der Rückgriff auf einen antiken Stoff – hier das

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Lysistrata- Motiv – sich mit den aktuellen Ansprüchen der Radiokunst in Einklang

bringen lasse.

Doch was das »beste« Hörspiel des Jahres sei, das war und ist gar nicht so

eindeutig zu entscheiden und unterliegt vielen Faktoren: ästhetischen

Einschätzungen der Jury und den Launen der örtlichen Regie beim Abhören.

Werner Klippert brachte es auf den Punkt:

»Glaube niemand, der Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinden würde insti l ler Versenkung ausgewählt. Die achtzehn Preisrichter sitzen nicht inselbstzufr iedener Zurückgezogenheit beieinander, um dann, nachdem sie acht bisvierzehn vorgeschlagene Hörspiele kommentar los über sich ergehen ließen, zurWahl zu schreiten. Im Gegenteil! Die Wahl eines Hörspielpreist rägers ist einProzeß der Meinungsbi ldung, der sich zwischen den Hörspielen und denAnwesenden und unter den Anwesenden abspielt. Fast immer geht es hoch her,und ein klein wenig hat Fortuna ihre Hand im Spiel.« (Abendpost, Frankfur t amMain, 14.3. 1963)

Von 18 Jury- Mitgliedern stimmten zehn für Hans Kaspers Hörspiel, das den

männlichen Hurra- Patriotismus für Krieg und Vaterland am Rande eines antiken

Schlachtfelds mit Witz und Biss aufs Korn nimmt. Die Frauen obsiegen, ähnlich

wie im klassischen Vorbild, über den Wahnwitz der Krieger, auch wenn sie selbst

dem Schlachtenlärm in ironischen Volten zu huldigen scheinen.

Hans Kasper, der mit bürgerlichem Namen Dietrich Huber hieß, schrieb viele

Jahre in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Aphorismen und hintersinnige

Verse. Über zwanzig Hörspiele hat Kasper nach seinem Debüt 1962 zu Papier

gebracht, dazu Schauspiele wie »Die Flöte von Jericho«. Kaspers Credo lautete:

»Manchmal scheint mir, einige Weltanschauungen könnten angenehm verdünnt,

einige Kriege unterblieben sein – wenn die kompetenten Herren sich aus

lieblicheren Gründen hätten als Helden fühlen können.«

Geh David helfen

Produktion: RB/HR 1962

Mitwirkende: Helga Feddersen (Berenice); Elisabeth Widemann (Larissa); MichaelHinz (Hurra); Hermann Schomberg (Asklepiodor); Hans- Otto Hilke (der großeSoldat); Eric Schildkraut (der kleine Soldat)

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Regie: Ulrich Lauterbach

Dauer: 66'05

Ursendung: RB, 23.2. 1962

»›Geh David helfen‹ ist ohne Zweifel ein gekonntes, ein bravouröshingeschriebenes Hörspiel – eines der wenigen aus der einheimischenProduktion, über die man wirkl ich lachen kann. Die Geschichte von den beidenGriechenmädchen, die sich zwei Soldaten der gegnerischen Heere für den privatenBedarf beiseite schaffen und auf eine friedfert ige Lebensweise dril len, ist gewißnachahmenswert, und zu beherzigen ist nicht weniger die Schlußmetapher desHörspiels, daß man nur dort leben könne, wo man die Türen respektiert, weshalbeiner der beiden Krieger wieder auszieht, um dem winzigen Soldaten David zuhelfen, der eben bei ihm angeklopf t und nicht nach Kriegerart die Tür eingetretenhatte.« (Die Welt, 15.2. 1963)

chh

1964. Der Bussard über uns.

Margarete Jehn

* 27.2.1935 Bremen

Die Außenseiterin

Die Presse sprach von einer »Außenseiterin«, als Margarete Jehn mit dem

Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde, eine junge Autorin, gerade

einmal 28 Jahre alt, Frau eines Organisten und Mutter zweier musikalischer

Kinder. Doch die eigentliche Überraschung: Margarete Jehn hatte ihren

Hörspieltext gar nicht selbst an den Sender geschickt. Eine Freundin, die das

Manuskript als Weihnachtsgeschenk erhalten hatte, fand das Stück so

beeindruckend, dass sie es versuchshalber beim SWF einreichte. In Baden- Baden

wurde man hellhörig und übergab die Antikriegsparabel dem Brecht- Schüler

Peter Schulze- Rohr zur Inszenierung. Nach dem überraschenden Durchbruch in

der Hörspielkunst schrieb Margarete Jehn insgesamt noch acht weitere

Originalhörspiele, übersetzte zahlreiche Hörspiele aus dem Skandinavischen,

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darunter Stücke der Autoren Gunnar Pettersson, Åke Hodell und Ole Henrik Kock.

Beim SWF arbeitete sie viele Jahre als Lektorin für skandinavische Literatur. Sie

schrieb mehrere Kinderhörspiele und erhielt in den Jahren 1985 und 1987 den

Hörspielpreis von »terre des hommes«. Wer übrigens jemals den kleinen

Straßenfegern aus der Hörspielserie »Papa, Charly hat gesagt« im Radio erlegen

ist, ist Margarete Jehn ganz unweigerlich wieder begegnet: als Autorin der Folgen

»Die Pille« und »Homosexualität«.

Heute leitet die Bremer Schriftstellerin gemeinsam mit ihrem Mann und den

Söhnen den Autorenverlag »Worpsweder Musikwerkstatt«, gestaltet

Musikseminare für Lehrer und Erzieher und gibt Liederbücher, Liederhefte und

CDs heraus.

Der Bussard über uns

Produktion: SWF/NDR 1963

Mitwirkende: Jürgen Goslar (Jascha); Siegfried Wischnewski (der Bussard); HellmutLange (der Schlaf); Fritz Rasp (der Sandmann); Hanni Schneider- Wenzel (eineFrauenstimme)

Musik: Peter Zwetkoff

Regie: Peter Schulze- Rohr Dauer: 40'30

Ursendung: SWF, 19.1. 1963

»Margarete Jehn verbindet in ihrem preisgekrönten Erstl ing beides:Zeitgeschehen und funk - eigene Mittel, Realität und Traumwelt, Barbarei desKrieges und die noch in der äußersten Bedrohung ›heile‹ Welt des Kindes. ›DerBussard über uns‹ – das ist ein anderer ›Gesang im Feuerofen‹, das Kinderliedvom Plumpsack, der umgeht, auch wenn die Bomben fallen, wenn ein braununiformier tes Sandmännchen noch im Angstt raum der Kinder als Gehirnwäscherauftaucht oder wenn ihr Balalaika spielender Kamerad, ein russischerKriegsgefangener, vor ihren Augen von einem deutschen Kapozusammengeschlagen wird. Dies ist mit hörspielgerecht ineinanderglei tendenSpielebenen und einem sicheren, mitunter etwas weichen Gefühl für Sprache undSprachklang (die Autorin hat Musik studiert) wirkl ich ein ›Spiel für Stimmen‹, vorallem für Kinderst immen, die Peter Schulze- Rohr in seiner hervorragendenInszenierung so natürl ich geführt hat.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 3.1964)

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chh

1965. Nachtprogramm.

Richard Hey

* 15.5.1926 Bonn

Wachhund und Narr

Auf die Frage, warum er Hörspiele schreibe, antwortete Richard Hey in einem

fingierten Selbst- Interview 1966: »Früher aus Ahnungslosigkeit, Neugier, Zufall,

eine Möglichkeit zum Geldverdienen vermutend – wie man eben so anfängt.

Später aus sportlichem Vergnügen, ob es mir gelingen würde, mit den inzwischen

erkannten Schwierigkeiten fertig zu werden. Heute, weil das Hörspiel offiziell

kaum mehr beachtet wird (...). Das Hörspiel genießt Narrenfreiheit. Es ist also

mehr denn je geeignet zu ernsthafter Arbeit, zur Entwicklung neuer Formen, zur

Mitteilung von Wahrheiten.« Das Hörspiel musste sich, nicht zum ersten und

nicht zum letzten Mal, der Konkurrenz durch das Fernsehen erwehren.

Doch der vielseitige Autor Richard Hey beschränkte sich niemals auf die

Radioarbeit. Seine bislang mehr als 70 Hörspielproduktionen bilden nur eine von

vielen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten, flankiert von Theaterstücken,

Übersetzungen, Filmdrehbüchern und Romanen.

Richard Hey startete seine schriftstellerische Karriere in den Nachkriegsjahren.

Dem Studium, der Regieassistenz beim Film, der gelegentlichen Arbeit als

Journalist und Musikkrit iker folgten erste Theaterstücke Mitte der 50er Jahre.

Dem jungen Dramatiker, eingeladen bei der Gruppe 47, wurden 1955 der

Schiller- Gedächtnispreis und 1960 der Gerhart- Hauptmann- Preis verliehen. In

dieser Zeit entstanden auch seine ersten Hörspiele, zeitkrit ische Stücke wie »Kein

Lorbeer für Augusto« (NWDR 1954) über die Wiederbewaffnung in der

Bundesrepublik und »Olga 17« (NDR 1956), die ausdrucksstarke Geschichte über

einen Spreekahnreeder im geteilten Berlin.

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Der radikale Demokrat, der leidenschaftlich engagierte Autor beherrschte die

radiophonen Ausdrucksmittel souverän, als er 1964 mit dem fingiert -

dokumentarischen, Authenzität vortäuschenden Hörspiel »Nachtprogramm« ein

satirisch entlarvendes Zerrbild der restaurativen Nachkriegsgesellschaft entwarf.

»In ›Nachtprogramm‹ wird die Analyse eines Offiziers aus dem letzten Kriegversucht – anhand von Tonbandfragmenten, die unter den Trümmern eineszerbombten Hauses gefunden worden sind. Sie enthalten dieTonbandaufzeichnung der Sitzung eines besorgten Familienrats, der in derletzten Phase des Krieges die Entmündigung eines Familienmi tg l iedes, nämlichdes besagten Offiziers, verhandelt hat. Leider ist die gesamte Familie mit all ihrenVorsätzen durch die Bombe getötet worden, nur der Gegenstand der Verhandlung,weil er nicht zugegen war, ist am Leben.« (Pressemeldung des NDR- Hörspiels)

Spektakulär wie sein Hörspiel geriet auch der Auftritt bei der Preisverleihung im

Bundesrat im März 1965. In Gegenwart von Bundeskanzler Adenauer und

Bundesinnenminister Höcherl griff Hey die deutsche Politik an:

»Die Demokrat ie, die die Spielregeln für alle Widersprüche festlegt, stirbt ebennicht, wie ihre Gegner hoffen, an ihren Widersprüchen. Sondern sie stirbthöchstens an der Verkleisterung ihrer Widersprüche. Der Schrif tstel ler, der nunzusieht, wie dieser Kleister etwas außerhalb der Legalität angerühr t wird, täuschtsich allerdings meistens sehr über die Wirksamkeit seines Protestes.«

Im Gegensatz zum tödlichen Ende in »Nachtprogramm« führte Hey, der sich als

»Wachhund und Narr« begriff, aus:

»In Wirkl ichkei t, das wissen Sie so gut wie ich, leben diese Leute alle noch, habenneues Geld und alte Vorurteile, sprechen nach demokrat ischen Gesetzen Recht,sind demokrat ische Staatssekretäre, tragen die Entwürfe zu demokrat ischenNotstandsgesetzen unter dem Arm und planen einen demokrat ischen Atom-Minengürtel quer durch Deutschland. Ich habe sie alle aus dem Spiel entfernt.Aber eben nur aus meinem.«

Auch wenn Heys im letzten Jahrzehnt entstandene Hörspiele immer große

Beachtung fanden, einer breiteren literarischen Öffentlichkeit ist der in Berlin und

in Italien lebende Autor eher als Krimi- Schriftsteller und Verfasser einiger

»Tatort«- Fernsehfilme bekannt sowie schließlich der Fan- Gemeinde als Science-

Fiction- Autor. 1983 erhielt er den Kurd- Laßwitz- Preis für den SF-Roman »Im Jahr

95 nach Hiroshima«, 1997 den »Ehren- Glauser« auf der Criminale Jever.

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Nachtprogramm

Produktion: NDR/HR/SFB 1964

Mitwirkende: Hans Clarin (Autor); Wolfgang Büttner (Katasterbeamter); RobertLossen (Leupold); Konrad Georg (Anton); Rolf Nagel (Arthur); Renate Danz(Adelheid); Heinz Schimmelpfennig (Fotograf)

Regie: Fritz Schröder- Jahn

Dauer: 58'30

Ursendung: NDR 1, 22.4. 1964

»Hey gehört zu den Autoren, für die Resignation ein Fremdwort ist: das kommtdaher, weil er genug Phantasie hat, sich immer alles ganz anders vorstellen zukönnen.« (Karlheinz Braun)

huw

1966. Miserere.

Peter Hirche

* 2.6.1923 Görlitz

Im Schatten des Wirtschaftswunders

Wohlmeinende Stimmen betonten seit Anfang der 60er Jahre, der ehemalige

Kabarettist und Gelegenheitsarbeiter aus Görlitz hätte schon seit längerem den

Hörspielpreis verdient. Vor allem sein Hörspiel »Die seltsamste Liebesgeschichte

der Welt« (NWDR 1953), das radiophone Märchen einer monologischen

Traumbegegnung, wurde weltberühmt und fand Eingang in viele Schulbücher, die

sich mit der Radiokunst beschäftigen. Die Entortung der Wirklichkeit im Hörspiel

generell, die Hirche so meisterhaft vorführte, wurde in dieser Zeit als Möglichkeit

verstanden, sich aus neuer Perspektive über die Gegenwart zu verständigen.

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Hirches preisgekröntes Hörspiel »Miserere« Mitte der 60er Jahre gab im Sinne

eines simultanen Abbilds Einblick in ein Mietshaus. Eine viersätzige »schreckliche

Sinfonie monotoner Hoffnungslosigkeit« schwärmte der »Hörspielpapst« Heinz

Schwitzke. Denn Hirche zeigte hier die Menschen in liebloser Traurigkeit; eine

akustische Depression, die möglicherweise eine Antwort darstellte auf die

florierende Außenfassade der Republik, die viele ihrer Bürger im Schatten des

Wirtschaftswunders vergaß. Der Hörspielhistoriker Stefan Bodo Würffel schrieb

über »Miserere«: »Auf diese Weise verdeutlicht das Hörspiel noch einmal, wie in

diesen Jahren Kritik an gesellschaftlichen Zuständen innerhalb der Gattung

geäußert wurde: die sich am Schluß unter ganz normalem Erwachsenengerede

entfernenden Kinder werden zu Symbolen einer äußeren Entartung, die gerade in

ihrer eigentümlichen Vermischung von heiterem Spiel und grausamem Ernst

verstören, erschrecken soll, um die nicht explizite Kritik an den alltäglichen

Zuständen beim Hörer zu wecken.«

Miserere

Produktion: WDR 1965

Mitwirkende: Hannes Messemer (Edmund); Cornelia Boje (Sigrid); HerbertFleischmann (Klaus); Otto Rouvel (Herr Kubak); Lilly Towska (Frau Kubak); RudolfJürgen Bartsch, Manfred Georg Herrmann, Lothar Ostermann (3 Zeitungsleser)

Regie: Oswald Döpke

Dauer: 28'00

Ursendung: WDR, 10. 11. 1965

»Vielstimmig und temperamentvol l konzert ierend, aber in kompositor ischerStrenge und mit sprachlicher Präzision beschwört Peter Hirche am Beispiel vonein paar Mietshausbewohnern das Böse und die Bedrohthei t unserer Welt. Erentwir f t ein zwar düsteres Bild, aber es ist ohne jeden Zynismus von leiderfül l terMenschlichkei t getragen. Seine Trauer um die Hinfäll igkei t des Menschenverbrämt Hirche weder mit poetisierender modischer Ornament ik noch mitpharisäerhaf ter Rhetorik. Um so eindringl icher klingt sein notvol ler Ruf:›Miserere‹ – Erbarme Dich!« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)

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chh

1967. Zwielicht.

Rolf Schneider

* 17.4.1932 Chemnitz

Irritation auf dem diplomatischen Parkett

Zwischen Ost und West tobte der Kalte Krieg, Ludwig Erhard übermittelte eine

Friedensnote zur Abrüstung und Entspannung an fast alle Staaten – nur die

Machthaber in der DDR bekamen keine Post vom Kanzler. In diesem eisigen Klima

setzte sich der Bund der Kriegsblinden Deutschlands über alle Feindseligkeiten

der Tagespolitik hinweg und zeichnete erstmals einen Autor jenseits der Mauer

aus.

»Musstet Ihr nun ausgerechnet einen Repräsentanten der Unfreiheit und der

totalitären Staatlichkeit aller Lebensbereiche erwählen«, umriss Friedrich Wilhelm

Hymmen rhetorisch jene skeptisch fragenden Stimmen, die nicht verstehen

mochten, dass der Hörspielpreis sich nicht politisch vereinnahmen lassen würde

und stets eine künstlerische Auszeichnung war und ist.

Die Auszeichnung des damals in Ost- Berlin lebenden Schriftstellers Rolf

Schneider traf den Nerv deutsch- deutscher Befindlichkeit: Immerhin musste die

feierliche Preisübergabe erstmals in der Provinz stattfinden. Der Bonner

Plenarsaal blieb versperrt; das Münchner Funkhaus wurde zum diplomatischen

Ausweichquartier. Verständlich, dass alle führenden Bonner Politiker sich zum

Festakt hatten entschuldigen lassen: Auf die Vergabe des Hörspielpreises für

einen »real existierenden« östlichen »Bruder« war niemand vorbereitet.

Rolf Schneider, der Jahre später zum konstruktiven Grenzgänger zwischen den

beiden deutschen Staaten werden sollte, hüben und drüben auf dem Theater

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inszenierte, 1976 zu den Unterzeichnern der Protestresolution gegen die

Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR zählte, er schlug mit seinem Hörspiel

»Zwielicht« eine zunächst fragile Brücke zwischen den Systemen.

Über 50 Hörspiele, ein Opernlibretto (»Europa und der Stier«) und rund ein

Dutzend Theaterstücke (»Die Mainzer Republik«, »Die Juden von Paris. Heine und

Börne. Eine Collage«) hat Schneider inzwischen verfasst. Seine Radioarbeit hat

zum Teil vorweggenommen, was erst spät eingelöst werden konnte: die Deutsche

Einheit im Spiegel ihrer heterogenen gemeinsamen Geschichte.

Zwielicht

Produktion: BR/HR/WDR 1966

Mitwirkende: Lina Carstens (Sie); Friedrich Maurer (Er)

Regie: Otto Kurth

Dauer: 45'45

Ursendung: BR, 16.11. 1966

»In den fünfziger Jahren wurde vor einem polnischen Wojewodschaftsgericht einsonderbarer Prozeß geführ t. Eine Bauernfami l ie in entlegener Gegend hattewährend des Krieges einen jüdischen Flüchtl ing versteckt, gegen Bezahlung. Umdiese Einkünfte nicht zu verlieren, ließ man den Flüchtl ing in dem Glauben,Hitlers Herrschaft dauere immerfor t. « (Vorspruch zum Hörspiel »Zwielicht«)

»Wie behutsam ist hier inszeniert worden. Das echte Pathos hätte ständig insfalsche umschlagen können. Otto Kurth hat die Gefahr jedoch vermieden. DieRegie kannte den großen Unterschied zwischen dem Simplen und dem Einfachen,zu dem Lina Carstens ein wenig leichter fand als Friedrich Maurer. Vergessen wirnicht: Es ist sehr schwer für den Schauspieler, das Einfache zu finden – die›Natürl ichkei t des Gefühls‹, wie es G. B. Shaw nannte.« (Stuttgarter Zeitung, 23. 6.1967)

chh

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1968. Das Aquarium.

Christa Reinig

* 6.8.1926 Berlin

Dialog als Handlung

Ihre Hörspiele, sechs an der Zahl – »Die kleine Chronik der Osterwoche« (SDR

1962), »Der Teufel, der stumm bleiben wollte« (RIAS 1963), »Tenakeh« (SDR

1965), »Das Aquarium« (SDR 1967), »Wisper« (SDR/HR/SR/SWF1968) und

»Mädchen in Uniform« (SWF 1979) – sind allesamt hintergründige Spiele mit dem

Surrealen, Phantasiedialoge, ohne zeitliche und räumliche Fixierung. Die Sprache

selbst wird zum dramatischen Mittelpunkt des Geschehens und zeigt die Welt als

ein widerstreitendes Stimmenspiel, das sogar der traditionellen Fabel entbehren

kann. Diesen damals neuen Ton beschrieb der Literaturwissenschaftler Stefan

Bodo Würffel mit den Worten: »Wenn man einerseits meint, Verbindungen mit

einzelnen Elementen der Spiele Ilse Aichingers und Ingeborg Bachmanns ›Knöpfe‹

und ›Zikaden‹ aufzeigen zu können, so erscheinen andererseits noch wichtiger

die Bezüge zu den Formen des Neuen Hörspiels, in denen ein logischer

Handlungszusammenhang nur noch in Ausnahmefällen angestrebt wird.«

Christa Reinig hatte zunächst als Blumenbinderin am Alexanderplatz in Ost-

Berlin gearbeitet, bevor sie an der Humboldt - Universität Kunstgeschichte und

Archäologie studieren konnte. Als junge Autorin hatte sie nach 1948 zu den

Beiträgern der satirischen DDR- Zeitschrift »Ulenspiegel« gehört. Doch Christa

Reinig eckte bei den Offiziellen sehr bald an. In einem bissigen Prosatext mit dem

Titel »Ein Dichter erhielt einen Fragebogen« enthüllte sie, was sie von der

Kulturpolit ik der DDR hielt, wenn dort die Frage gestellt wurde: »Können Sie uns

ein Arbeitsmittel zur Anfertigung möglichst hochwertiger Kunstwerke nennen,

das in unserem Wirtschaftsbereich nicht als Mangelware eingeplant ist?« 1964

kehrte Christa Reinig, als sie für ihren Band »Gedichte« (1963) mit dem

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Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen ausgezeichnet wurde, der DDR den

Rücken. In den 70er und 80er Jahren in der Frauenbewegung stark engagiert,

wird die Autorin vom offiziellen Literaturbetrieb wenig beachtet. Christa Reinig

lebt, infolge eines Unfalls schwerbehindert, in München.

Das Aquarium

Produktion: SDR 1967

Mitwirkende: Gustl Halenke. (Weißer Engel, genannt Argil); Giselheid Hönsch(Schwarzer Engel, genannt Bruno); Jürgen Goslar (Morgen Montag, ein toterFroschmann); Elisabeth Schwarz (Li, seine Frau); Peter Roggisch (Japser, seinBruder); Hans Timerding (Der Vater); Mila Kopp (Die Mutter); Günther Lüders(Kapitän Asmos Dunbar); Heinz Schimmelpfennig (Staunton, sein Offizier);Herbert Drubow (Ein Maat); Marisa Gaffron (Dispatcherin); Lotte Betke (FrauNeumann)

Regie: Raoul Wolfgang Schnell

Dauer: 49'05

Ursendung: SDR, 19.7. 1967

»Aus Rede und Gegenrede entstehen Motive, in Rede und Gegenrede werdenMotive aufgenommen und weitergeführ t bis zu dem letztmögl ichen denkbarenEnde. Das Drama des Lebens endet nie, es erscheinen immer neue Personen, diedie Handlung aufnehmen und weiterführen. Das Drama des Wortes endet mit demletzten logischen Wort, das in einem Dialog oder in einer Kombination vonDialogen gesprochen werden kann. Der Dialog ist nicht Begleittext einerDarstellung, gleichsam der Ton zum Film. Der Dialog ist die Handlung selbst.«(Christa Reinig in ihrer Ansprache bei der Preisverleihung am 8. Mai 1968)

chh

1969. Fünf Mann Menschen.

Ernst Jandl/Friederike Mayröcker

* 1. 8. 1925 Wien

† 9. 6.2000 Wien/

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* 20.12. 1924 Wien

Der Meilenstein

»Man kann wieder Radio hören«, titelte begeistert die »Süddeutsche Zeitung« im

April 1969. Es war mehr als eine freundliche Grußadresse an die beiden

Hörspielautoren Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Ihr gerade einmal

viertelstündiges Hörspiel hatte die Jury beeindruckt. 17 von 18 Stimmen, das

Ergebnis spricht für sich. Die Gründe für die Entscheidung lagen in einer

doppelten Richtung: Einmal bewies das Autorenpaar unter der maßgeblichen

Regie von Peter Michel Ladiges, dass die neue Technik der Stereophonie im

Hörspiel tatsächlich so etwas wie einen ästhetisch- akustischen Quantensprung

bedeutete und ganz spezifische Hörräume eröffnen konnte. Hinzukam die neue

Hörspielsprache im semantischen Bereich: die Reduktion der Worte und der Bilder

auf archetypische Grundmuster und Lebensläufe, die bei aller Lakonie auch auf

die eigene Biographie des Hörenden verwies.

Das experimentelle oder auch so genannte »Neue Hörspiel« war geboren. »Noch

verweist diese Sprache auf eine Wirklichkeit«, gab der Hörspielhistoriker Stefan

Bodo Würffel zu bedenken, »doch wird zugleich deutlich, daß diese Wirklichkeit

mit Hilfe der collagierten Sprachtrümmer nur noch unvollkommen erfaßt werden

kann und die Sprache daher im Begriff ist, sich selbst absolut zu setzen und die

Sprachtrümmer des Alltagsgeredes als einzige Wirklichkeit zu stiften.«

Das preisgekrönte Hörspiel der beiden Wiener Dadaisten und Avantgardisten

Mayröcker und Jandl ist der akustische Meilenstein; ein Glücksfall der

Hörspielgeschichte, ganz gewiss, denn nach der Ablehnung des Bayerischen

Rundfunks, das Hörspiel zu produzieren, verlangte es den Baden- Badener

Hörspielmachern Mut ab, sich auf das Experiment einzulassen.

»Fünf Mann Menschen« ist bescheiden in seinen zeitlichen Ausmaßen, aber um so

wirkungsvoller für jene Ohren, die gewillt waren und sind, zu hören und sich

einzulassen auf eine akustische Provokation in vierzehn Szenen.

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Fünf Mann Menschen

Produktion: SWF 1968

Mitwirkende: Günther Neutze (Ansager); Helmut Wöstemann, Jürgen Schmidt,Friedrich von Bülow, Gian Fadri Töndury, Gerhard Remus (Stimmen 1- 5); HansTimerding (Vater); Ellen Xenakis (Mutter); Heiner Schmidt (Berufsberater,Unteroffizier, Offizier, Richter); Dinah Hinz (Kellnerin, Krankenschwester,Schwester 1); Christine Davis, Ute Remus, Isabel Stumpf, Renate E. Bauer(Schwester II bis V)

Regie: Peter Michel Ladiges

Dauer: 15'00

Ursendung: SWF, 14.11. 1968

»Das einzelne Wort wird – vom Klang und von der Bedeutung her – isoliert, dieSprache streng und doch mit poetischer Phantasie auf ein Minimum reduziert.Wiederholende Sätze, die nur Markierungen eines unter Zwang mechanis ier tenLebenslaufs sind, führen nun vom Babygeschrei bis zur Füsilierung. Mit neuemBabygeschrei endet das Stück. In der Begründung der Entscheidung heißt es, beibeiden Autoren seien zum erstenmal in einem Hörspiel die Möglichkei tenkonkreter Poesie beispielhaft eingesetzt. Sie zeigten exemplarische Sprach- undHandlungsvorgänge, in denen der zur Norm programmierte menschlicheLebenslauf nicht abgebildet, sondern evoziert werde.« (Frankfurter AllgemeineZeitung, 2.4.1969)

chh

1970. Paul oder die Zerstörung eines

Hörbeispiels.

Wolf Wondratschek

* 14. 8. 1943 Rudolstadt

Opposition

Die außerparlamentarische Opposition, der Protest gegen alles Etablierte und

Eingeschliffene, erreichte 1970 auch die Feierstunde anlässlich der

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Preisverleihung. Wolf Wondratschek, gerade einmal 27 Jahre alt, verbat sich ganz

entschieden eine Zeremonie im Plenarsaal des Bonner Bundesrates. In einem

offenen Brief an die Jury stellte er dezidiert fest: »Auf mich trifft nicht zu, was

doch offensichtlich beglaubigt werden soll: Das gute Verhältnis des Schriftstellers

zum Staat.« Erschreckt suchte man ein Ausweichquartier, das man am 20. April

1970 im WDR-Funkhaus in Köln fand. Statt Festredner einzuladen, wurde eine

Diskussionsrunde einberufen; eine Veranstaltung, die freilich nicht ohne

Verunsicherung und Polemik ablaufen sollte.

Wolf Wondratschek markierte mit seinem Hörspiel »Paul oder die Zerstörung

eines Hörbeispiels« die radikale Inanspruchnahme neuer Erzählperspektiven, die

entschiedene Verabschiedung von Introspektion und Innerlichkeit im akustischen

Raum. Provokant und doch folgerichtig lautet es in seinem Hörspiel: »Ein Hörspiel

muß nicht unbedingt ein Hörspiel sein, d. h. es muß nicht den Vorstellungen

entsprechen, die ein Hörspielhörer von einem Hörspiel hat. Ein Hörspiel kann ein

Beispiel dafür sein, daß ein Hörspiel nicht mehr das ist, was lange ein Hörspiel

genannt wurde.«

Es war ein Jahrgang voller Vielfalt und Qualität, wie in der Kritik positiv vermerkt

wurde. Wolf Wondratschek hatte sich u. a. gegenüber den nominierten Stücken

von Jürgen Becker (»Häuser»), Ferdinand Kriwet (»One two two»), G. F. Jonke (»Der

Dorfplatz»), Ilse Aichinger (»Die Schwestern») und Heinrich Böll

(»Hausfriedensbruch») durchgesetzt.

Wolf Wondratschek, der als freier Schriftsteller in München lebt, veröffentlichte

Gedichte und Prosa. Bislang schrieb er sieben Hörspiele und mehrere

Drehbücher. Zuletzt publizierte er »Kelly Briefe« (1999), eine Mischform aus Lyrik

und Kurztexten. Der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott notierte dazu: »Der

Typ Wondratschek als Lebensform ist historisch geworden (...). Gegenwärtig

bleibt der sanfte Wahnsinn in den starken Worten einer beachtlichen Zahl schöner

Gedichte.

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Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels

Produktion: WDR/BR/HR/SR 1969

Mitwirkende: Brigitte Dryander, Peter Fitz, Werner Hanfgarn, Erich Herr, GerdPeiser, Olaf Quaiser, Arnold Richter, Lothar Rollauer, Werner Rundshagen, RobertSeibert und Jodoc Seidel

Regie: Heinz Hostnig

Dauer: 25'40

Ursendung: WDR, 6.11. 1969

»Wolf Wondratschek macht es den Hörern leicht, die geläufigen Hörgewohnheitenzu verlassen und eine neue Hörfähigkei t zu entwickeln. Er negiert mit seinemStück überkommene Formen, die eine Geschlossenheit vorgeben, wo Realität sichheute nicht mehr als eine Totale begreifen läßt. Konsequent setzt er an Stelleeines Bewußtseinsf lusses exakt gefügte Bewußtseinsspl i t ter und läßt ausMentali tät, Umwelt, Biographie und Psyche eines Lastwagenfahrers, aber auch desAutors, der über ihn reflekt iert, ein Mosaik entstehen, das neue Denkschemataerkennbar macht und dessen akustische Musterung das Ohr auf eigentüml iche,ganz dem Rundfunk zugeordnete Weise reizt.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)

chh

1971. Zwei oder drei Porträts.

Helmut Heißenbüttel

* 21. 6. 1921 Rüstringen

† 19.9. 1996 Glückstadt

Alles ist möglich, alles ist erlaubt

1968, auf der internationalen Hörspieltagung der Deutschen Akademie der

Darstellenden Künste in Frankfurt am Main, formulierte Helmut Heißenbüttel

seine Vorstellungen von moderner Literatur: »Literatur ist nur da aktuell, wo sie

sich in Kontakt weiß mit dem zeitgenössischen historischen Anspruch. (...) Erst

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was von der Literatur sagbar gemacht wird, bestimmt das Sagbare; ja, bestimmt

das, was es überhaupt gibt, denn es gibt nur das, was ausgesprochen werden

kann. Darüber gibt es keine Vorbestimmung. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.«

Der Lyriker, Erzähler, Essayist und Kritiker Helmut Heißenbüttel war ein homme

de lettres , ein experimenteller Spracherneuerer und er war – was häufig

vernachlässigt wird – ein professioneller Rundfunkmacher. Von 1959 bis 1981

baute er die Redaktion »Radio- Essay« am SDR zu einem wichtigen literarischen

und musikalischen Brennpunkt in der deutschen Radiolandschaft aus.

In diesen Jahren entstanden seine avantgardistischen Hörspiele mit Titeln wie

»Was sollen wir überhaupt senden?« (SDR 1970), »Projekt Nr. 2« (WDR 1970) oder

»Warzen und alles« (WDR 1973). Diese experimentellen Arbeiten sind allesamt

von einem anarchischen Spielwitz getragen, der auslotet, »was sprachlich

artikulierbar ist«. Trotz seines Credos »Alles ist möglich. Alles ist erlaubt«, das

zum Schlagwort des Neuen Hörspiels avancierte, sah Heißenbüttel die Einbindung

des Hörspiels in ein öffentlich- rechtliches Korsett verschiedenster

Verantwortlichkeiten recht nüchtern: »Kein Hörspielleiter oder Dramaturg kann

sich darüber hinwegsetzen, daß er das Hörspiel plazieren muß. Alle ästhetischen

und werkimmanenten Kriterien müssen auf den Plazierungszwang bezogen

werden. Denn ungesendet ist das Hörspiel nichts als ein Manuskript unter

anderen. Hier sind zunächst die Differenzen zu sehen, die das Hörspiel als

Literatur von der übrigen literarischen Szene scheidet.« (Helmut Heißenbüttel:

Hörspielpraxis und Hörspielhypothese, 1969)

Zwei oder drei Porträts

Produktion: BR/NDR/SWF 1970

Mitwirkende: Hans Wieder (1 M); Christoph Quest (2 M); Rüdiger Bahr (4 M); PaulHoffmann (7 M); Heinz Baumann (9 M); Heinz Musäus (10 M); Michael Lenz (3 M);Hannelore Cremer (5 F); Imo Heite (6 M); Ilse Neubauer (8 F); Gert Heidenreich (11M); Wolfgang Hess (12 M); Rosemarie Seehofer (13 M)

Regie: Heinz Hostnig

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Dauer: 37'45

Ursendung: BR, 8. 5. 1970

»Heißenbüttels ›Zwei oder drei Portraits‹ erinnert an seinen ersten Roman:›D'Alemberts Ende‹ (1970). In einem Kapitel dieses Buches wird eine Person aussich variierenden, sich widersprechenden, wiederholenden, einander ergänzendenSätzen rekonstru iert. Das Stereo- Hörspiel Heißenbüttels könnte einNebenproduk t dieses Romankapitels sein. Auch hier die Collage aus einerDécollage, das Herstellen der Figur eines Kunstkr i t i kers – wobei sich erweist, daßTeile dieses Porträts mit denen eines zweiten identisch sind (und wie imVexierbild erkennt sich der Autor im drit ten Porträt). Das Faszinierende,Erschreckende, Belustigende ist das Auswechselbare der versammelten Zitate,Bilder, Vorstel lungen, die auf zahlreiche Meinungen, Standorte, Assoziat ionen –auch Trugschlüsse und Ideologien – beruhen.« (Helmut M. Braem in derStuttgarter Zeitung, 18. 2. 1971)

chh

1972. Preislied.

Paul Wühr

* 10. 7.1927 München

Das Falsche

Er ist ein bajuwarischer Filou, ein Münchner Sprachpoet, der von einer

eingeschworenen Leser- Gemeinde verehrt wird, ein kryptischer, im eigenen

Verwirrspiel sich versteckender Autor: Paul Wühr, der bis zu seiner vorzeitigen

Pensionierung 1984 als Hauptschullehrer in Gräfelfing und Lochham arbeitete

und seit den 50er Jahren Gedichte, Kinderbücher und Hörspiele sowie als

besonderes Kennzeichen dickleibige experimentelle Romane veröffentlicht. Sein

literarischer Ansatz: Die Lehre vom Falschen, folgt man beispielsweise seinem

1987 erschienenen, 715 Seiten starken Diarium »Der faule Strick«. Das Falsche ist

demnach ein poetisches Spielsystem, das – so Wühr – sich gegen »das Richtige«

wendet, wie es die Gesellschaft mit planmäßiger, zielgerichteter Entwicklung

verkörpert, in der das Erreichenwollen sich mit Gewalt Recht verschafft. Poesie

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dagegen das Falsche – ist richtungslos, wahllos, mäandrierend, geriert sich als

Sprung, als Spiel und manchmal auch als »freischaffender Blödsinn«.

Mit diesem nach und nach immer ausgefeilteren poetischen Ansatz wandte sich

Paul Wühr Anfang der 60er Jahre auch dem Hörspiel zu. Ansprechpartner wurde

zunächst die Kölner Hörspieldramaturgie, nachdem der Bayerische Rundfunk

»Das Experiment« und »Wer kann mir sagen, wer Sheila ist?«, erste

sprachexperimentelle Versuche, abgelehnt hatte. Eine Annäherung an den

Heimatsender fand erst Anfang der 70er Jahre statt, als Wühr sein großes

Städtebuchprojekt »Gegenmünchen« im Carl- Hanser- Verlag hatte veröffentlichen

können. Statt des ursprünglichen Plans, aus dem »Gegenmünchen«- Material ein

Hörspiel zu produzieren, entwickelte sich im Kontakt mit dem Münchner

Dramaturgen Christoph Buggert im Herbst 1970 die Idee, mit einem

Aufnahmegerät auf die Straße zu gehen und die Münchner Bürger zu befragen,

wie sie sich in diesem Staate fühlen und wie sie ihre derzeitigen

Lebensbedingungen beurteilen.

Paul Wühr berichtete in einem Vorspruch zum »Preislied« über den Ansatz seiner

O- Ton- Arbeit: »Befragt wurden Personen aus allen sozialen Schichten und allen

Altersgruppen (...): insgesamt 22 Personen (...). Das ist klar: Individuelle

Aussagen und Meinungen wurden durch Kombination verändert. Blieb ihr Sinn

zwar unangetastet, so bekamen sie doch in einem anderen Zusammenhang einen

anderen Stellenwert. Hatten die Äußerungen der einzelnen Personen vorher ihre

persönlichen Meinungen wiedergegeben, so drückten sie nun die Meinungen

eines Gesamtbewußtseins aus. Mit der freimütigen Übergabe ihrer Stimmen

ermöglichten die Beteiligten also dieses Spiel.«

In den folgenden Jahren überraschte Paul Wühr immer wieder mit spektakulären

Hörspielarbeiten, darunter die aufwendige Sound- Collage »Soundseeing

Metropolis München« (WDR 1987). Mit seinen O- Ton- Produktionen dagegen stieß

er des öfteren auf Ablehnung. »Trip Null«, Aufnahmen mit jugendlichen

Drogenabhängigen, wurde 1971 vom BR abgesetzt; »So eine Freiheit« wurde 1972

vom WDR wegen »peinlichen Voyeur- (ecouter- )ismus« abgelehnt.

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Preislied

Produktion: BR/NDR 1971

Mitwirkende: Vom Autor gesammelte Originalstimmen

Musik: Enno Dugend

Realisation: Paul Wühr

Dauer: 55'20

Ursendung: BR 2, 4. 6. 1971

»Durch geschickte Montage ergibt sich so (..) eine mit Allgemeinplätzen,Privatphi losophien, Lebensleitsätzen und Geschwätz gepflaster te ›Gesellschaft alsKunstwerk‹. Das Un- Sinnige von Klischees, das Systemimmanente vonSprichwörtern und sogenannten Lebensweisheiten deckt sich auf.« (BarbaraBronnen in der Münchner Abendzeitung, 4. 6. 1971)

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1973. Der Tod meines Vaters.

Hans Noever

* 10. 5. 1928 Krefeld

Dekonstruktion

Als Hans Noever im Mai 1973 für sein Hörspieldebüt »Der Tod meines Vaters« der

Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht wurde, war der streitbare und

unangepasste Dramatiker, Romancier und Journalist in der literarischen

Öffentlichkeit der Bundesrepublik noch so gut wie unbekannt. In Krefeld

aufgewachsen, mit 17 Jahren zum Militär eingezogen, war er erst 1955 nach

Deutschland zurückgekehrt, nach 3 600 Kilometer Fußmarsch über Afrika,

Spanien und Italien. Ein Theaterstück war entstanden, das 1961 in Paris

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aufgeführt worden war; ein Erzählband lag seit 1966 vor – »Venedig liegt bei

Cleve« - , in dem er seine Nachkriegsodyssee verarbeitet hatte; daneben hatte

Noever seit Ende der 60er Jahre erste Kontakte zur Münchner Filmszene

geknüpft.

Im Februar 1971 hatten Christoph Buggert, den Hörspieldramaturgen des

Bayerischen Rundfunks, »einige Gedanken zu einem Original- Hörspiel« erreicht.

Mit einem Kurzdialog hob das Exposé an:

A: Herr W. hat sich erschossen.

B: Und warum hat Herr W. sich erschossen?

A: Er hatte bemerkt, dass er zweimal dieselbe Geschichte erzählte.

Das »Originalton- Projekt« wurde realisiert. Zweimal erzählt Hans Noever darin die

Geschichte vom Tod seines Vaters. Zunächst offen assoziativ in einem Kreis

zufällig anwesender Freunde, dann als Beifahrer während einer Autofahrt in der

Umgebung Münchens. Ein Manuskript wurde nicht erstellt; lediglich Mikrophon

und Bandgerät waren bereit. Damit nicht genug: In einem zweiten Arbeitsschritt

unterzog Noever dieses Basismaterial einer Bearbeitung. Beide Erzählabläufe

wurden parallelisiert und ineinandermontiert, wobei sich ergab, dass die

unterschiedlichen Erzählanlässe sich erheblich beeinflusst hatten. Die beiden

Berichte über ein- und dasselbe Erlebnis wiesen überraschende Unterschiede auf.

Die Geschichte alten Stils war aufgebrochen; die Grenzen zwischen der reinen

Fiktion und der konkreten Wirklichkeit waren gesprengt. Noever und mit ihm eine

ganze Autorengeneration hatten sich auf die Suche nach einer radikalen,

durchaus subjektiv gefärbten Aufrichtigkeit begeben. Wie hatte Noever in seinem

Exposé formuliert: »Je weniger Gegenwart, Bereitschaft zur Erfahrung im

Augenblick, desto dicker bläst sich die Erinnerung als Mittel zum

Gegenwartsersatz auf.«

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Der Tod meines Vaters. Originalton- Projekt

Produktion: BR/WDR 1972

Sprecher: Erzähler (Hans Noever)

Realisation: Hans Noever

Dauer: 39'50

Ursendung: BR 2, 4.2.1972

Parallel zu seinem von einigen umjubelten, von anderen als verstörend

empfundenen Hörspieldebüt startete der Autodidakt Hans Noever Anfang der

70er Jahre eine steile Karriere als Filmemacher und Fernsehregisseur. Zahlreiche

Spielfilme folgten dem deutsch- französischem Erstling »Zahltag« seit 1973,

darunter »Die Frau gegenüber« (1978), »Die Nacht mit Chandler« (1980) und

»Lockwood Desert Nevada« (1987), ausgezeichnet mit einem Bayerischen

Filmpreis.

huw

1974. Das große Identifikationsspiel.

Alfred Behrens

* 30. 6. 1944 Hamburg

Atmende Leichen im Mediendschungel

Der in Berlin lebende Alfred Behrens ist ein Medienprofi par excellence. Er hat als

Werbetexter, Journalist und Übersetzer sowie als »Programme Assistant« bei der

BBC gearbeitet und gehört heute zu den produktivsten Hörspielautoren in der

Bundesrepublik. Nur einige Titel aus seinem radiophonen Œuvre seien angeführt:

»Frischwärts in die große Welt des totalen Urlaubs« (SDR 1974), »Tagebuch einer

Liebe oder Jetzt erzählen wir uns eine Geschichte, in der jetzt immerzu jetzt

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bleibt« (SDR 1978), »Die Reise an den Anfang der Erinnerung« (SDR 1980),

»Autoreverse« (SWF/SFB 1987) sowie »Die Fabrik, das Zimmer, die Fabrik«,

HR/BR/SWF 1990). Darüber hinaus hat sich Behrens inzwischen auch einen

ausgezeichneten Namen als Drehbuchautor für dokumentarische Szenarien

gemacht.

Seine Hörspiele waren und sind stets auf der Höhe der radiophonen Entwicklung.

Sie erproben jeweils das dramaturgisch und technisch Machbare, ohne dabei

modischen Trends zu unterliegen. Das galt für die faszinierende O- Ton- Reise

durch Europa in »Locomotion« (HR/BR/SFB 1987) ebenso wie für das

preisgekrönte Science- Fiction- Stück »Das große Identifikationsspiel«, ein Hörspiel

aus dem anbrechenden Zeitalter des Starkults und der Massenmanipulation bei

gleichzeitiger Kommunikationslosigkeit in einer überlauten Mediengesellschaft.

Mit kritischer Ironie und bissigem Zungenschlag werden willfährige

Medienkonsumenten als manipulierbares »Identifikationsmaterial« im Glamour

der elektronischen Scheinwelt missbraucht. Die Süchtigen werden

»zwangsgetrippt«, sodass die Privatdetektive Dai Brysin und Lemmy Fergusson

alle Mühe haben, die »atmenden Leichen« kontroll iert aus ihren Träumen

abstürzen zu lassen.

In der Regieanweisung zu dem preisgekrönten Hörspiel notierte der Autor: »Für

die Realisation dieses Hörspiels stellen meine Ohren sich eine durchgehende

elektronische Musik- Geräusch- Montage vor, die die Funktion erfüllt, die drei

textl ichen Hauptelemente – Thriller, Kino und ScienceFiction – radiophonisch

wirksam werden zu lassen.« Der Berliner Popmusiker Klaus Schulze setzte dies

um, ein Künstler, der zuvor bei »Tangerine Dream« und »Ash Ra Temple« gespielt

hatte.

Die Fachkritik feierte Behrens mit dieser Mischung aus Krimi, Science- Fiction und

handfester Medienkrit ik als einen weiteren Vertreter des so genannten Neuen

Hörspiels. Harry Neumann sprach anerkennend vom »reinsten Andy- Warhol-

Hörspiel« und ergänzte: »Eines der (noch) seltenen Hörwerke, in denen die

Stereophonie nicht bloß zusätzliches Reizmittel, sondern integrierender

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Bestandteil des Stoffes ist« (Funk- Korrespondenz, 28.2. 1974). Winfried Geldner

hob hervor: »Die Wahl der Synchronsprecherstimmen, der unterlegte futuristische

Geräuschteppich, Zwitschern, Dröhnen, vielfach moduliert, Collagen aus

Twentieth Century Fox- und MGM- Thema, Eurovisionsthema und Filmmusiken,

Wembley- Hits, Stadionatmosphäre mit exakt aufgelegter Reportage zeigten, zu

welchem Faszinationsgrad sich das Hörspiel noch immer aufschwingen kann.«

(epd/Kirche und Rundfunk, 22. 8. 1973)

Das große Identifikationsspiel

Produktion: BR/RIAS 1973

Mitwirkende: Christian Brückner (Erzähler); Wolfgang Hess (Jack The Tripper); LeoBardischewski (Jackie The Tripper); Hellmut Lange (Dai Brysin); Fred Maire (JimBurns); Margot Leonhard (Betty Bums); Niels Clausnitzer (Sam Change); KlausKindler (Lemmy Ferguson); Rudolf Neumann (Dev Neidlinger); Christian Marschall(Jenkins); Michael Lenz (Myers); Manfred Seipold (Snatcher); in weiteren Rollensprechen: Marlis Compere, Heinz Detlev Bock, Josef Manoth, Leon Rainer, KlausSeidel, Martin Urtel

Musik: Klaus Schulze

Regie: Alfred Behrens

Dauer: 68'40

Ursendung: BR, 17. 8. 1973

»Behrens kennt sich in den von den Medien geschaffenen Traumräumen so gutaus, weil er von der Pike auf gelernt hat, wie man Bewußtsein verändern kann. Erist ein ebenso erfahrener wie gewitzter Psychologe der Werbestrategie, die daraufaus ist, dem Konsumenten vorzugaukeln, die Scheinreali tät sei die eigentl icheRealität. Der Autor macht sich diese Strategie zu eigen, dreht jedoch den Spießum, indem er zeigt, daß – zum Beispiel – die angeschwärmten Idole (Filmstars,populäre Fußballspieler) gar nicht mehr als Personen, sondern nur noch alssynthetische Medien existieren.« (Helmut M. Braem in der Stuttgarter Zeitung, 28.3. 1974)

chh

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1975. Goldberg- Variationen.

Dieter Kühn

*1. 2. 1935 Köln

Hörspiel- Variationen

Dieter Kühn ist seit den 80er Jahren vor allem als Romancier bekannt, als intimer

Kenner mittelalterlicher Literatur, als meisterhafter Übersetzer aus dem

Mittelhochdeutschen und als Biograph. »Ich Wolkenstein« (1977), »Herr Neidhart«

(1981), »Der Parzival des Wolfram von Eschenbach« (1986), »Neidhart aus dem

Reuenthal« (1988) sowie »Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg« (1991)

– lauten die Stationen eines beispiellosen Erfolgs. Die Kenntnis dieser Literatur

und das Interesse an diesen Texten schafften im Zuge einer allgemeinen

Mittelalter - Begeisterung den Sprung über das Mediävistik- Seminar in die breite

Öffentlichkeit. Doch Dieter Kühn – der Hörspielautor?

Sieht man von einigen Hörspielen über Bettine von Arnim und Clara Schumann in

den 80er und 90er Jahren ab, ist der Schwerpunkt der radiophonen Arbeit Dieter

Kühns zwei Jahrzehnte zuvor anzusiedeln. Diese literarischen Anfänge in einem

mittlerweile immensen Gesamtoeuvre sind heute nahezu vergessen. Dazu hat

auch der Autor selbst beigetragen, da seine mehr als siebzig Hörspieltitel

schwierig zu überblicken sind. Er ließ sich nicht an eine Hörspielabteilung

binden, die seine Produktionen pflegte, sondern produzierte seit 1960 für fast

alle Rundfunkanstalten. Er nutzte das Radio als Experimentierfeld, ergriff die

Chance, Revisionsfassungen zu erstellen und verschiedene Inszenierungen

anzuregen (auch die preisgekrönten »Goldberg- Variationen« haben neben der

Inszenierung durch Regisseur Heinz von Cramer eine weitere, 1975 in Graz durch

den Autor selbst eingespielte Fassung, in der die ursprünglich von Dieter Kühn

vorgesehene Musikimprovisation des Jazzkomponisten Wolfgang Breuer

verwendet wurde). Einen letzten Grund schließlich für diese Unüberschaubarkeit

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des Kühnschen Radiowerks nennt Eva-Maria Lenz: »Kühns unermüdliche

akustische Expeditionen schließen auch das Risiko beträchtlicher

Niveauschwankungen der Ergebnisse, ja des gelegentlichen Mißlingens ein. So

hat der Autor Ende der siebziger Jahre (...) einen großen Teil früherer Hörspiele

gesperrt, darunter eine Handvoll Debütstücke.« Lenz, die sich intensiv mit den

Kühnschen Rundfunkarbeiten beschäftigt hat, spricht von »Hörlustspielen« (u. a.

»Die Fünf- Uhr- Marquise«, WDR 1969), »Sprachregelungsspiele« (u.a. »Große Oper

für Stanislaw den Schweiger«, BR/NDR/WDR 1973) sowie von »Kontroversen von

Text und Musik zu Kunst und Leben«. Zu dieser letztgenannten Kategorie

gehören »Schlachtsinfonie« (WDR 1970), in der sich Kühn mit dem ersten Teil von

Beethovens einst überaus populärer Battaglia »Wellingtons Sieg«

auseinandersetzt, sowie mehrere Arbeiten um den Komplex Richard Wagner und

Ludwig Il. Im Zentrum dieser Text- Musik- bzw. Kunst- und- Leben- Hörspiele aber

stehen die »Goldberg- Variationen«.

Goldberg- Variationen

Produktion: BR/HR 1974

Mitwirkende: Ernst Jacobi (Graf Keyserlingk)

Regie: Heinz von Cramer

Dauer: 52'25

Ursendung: BR 2, 28. 6. 1974

»Dieses Hörspiel geht aus von einer histor ischen Vorlage: ein Musiker, Goldberg,steht im Dienst eines Fürsten, Keyserlingk. Freil ich wird die Beziehung dieserbeiden histor ischen Figuren nicht rekonstru ier t, hörbar wird vielmehr ein Modell,das vorspiel t und durchspielt, wie (auch) Musik dienstbar gemacht werden kann.Oder: welche Funktionen (auch) Musik auferlegt werden können und was solcheFunktionen aus Musik machen können (...). Es findet statt ein Dialog zwischeneinem Sprecher und einem Musiker, der freil ich nur in Musik präsent ist, nichtselbst zu Wort kommt. Das Hörspiel ist eine Variationsreihe, wie schon der(übernommene) Titel andeutet: in immer neuen Konstellat ionen wird dasVerhältnis von Sprechen und Musikmachen durchspielt. « (Dieter Kühn an dieHörspielabtei lung des Bayerischen Rundfunks, 28. 6. 1973)

huw

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1976. Centropolis.

Walter Adler

* 14. 9. 1947 Dümpelfeld bei Adenau/Eifel

Vom Kunstkopf – zum Kunsthörspiel

Er gehört heute zu den führenden und wichtigsten Hörspielregisseuren in der

Radiolandschaft der Bundesrepublik Deutschland. Kein Hörspielprospekt von

einer der öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten ohne seinen Namen: Walter

Adler. Er bürgt für modernes (aber keineswegs modisches) Arrangement der

Stimmen und Figuren. Gerühmt werden seine handwerkliche Perfektion in der

Stimmenführung seiner Schauspieler, so dass seine Regiehandschrift zum

Gütesiegel für zahlreiche Hörspielbearbeitungen geworden ist, die der Autor-

Regisseur nicht selten selbst in die Hand genommen hat. Ob er beispielsweise

den Kriminalroman »Fahrstuhl zum Schafott« von Noël Calef für eine herrliche

Krimistunde einrichtet (SWR 1999) oder in Max Frischs »Triptychon«

(DLF/SDR/SFB/WDR 1979) die Regie führt – immer kann der Hörer sicher sein, ein

exzellentes radiophones Stück zu Gehör zu bekommen, in ästhetischer und in

technischer Hinsicht.

Diese Karriere im Dienste des Hörspiels war keineswegs voraussehbar: Nach einer

Lehre als Industriekaufmann betätigte sich Adler als Bühnenarbeiter, Schauspieler

und Regieassistent, bevor er schließlich von 1969 bis 1971 als Regiedebütant in

die Hörspielabteilung des Südwestfunks gelangte. Danach war Walter Adler vor

allem freiberuflich tätig.

In »Centropolis«, dem 1976 preisgekrönten Hörspiel, stach vor allem die

Erprobung der neuen »Kunstkopf - Tontechnik« hervor. Ein neuer, nahezu

dreidimensionaler Tonraum war durch die technische Errungenschaft möglich

geworden, der deutlich präziser als bei den stereophonen Produktionen zwischen

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»vorne« und »hinten« unterscheiden konnte. Diese »Kunstkopf«- Technik, die

beim Hörer freilich immer einen Kopfhörer zur Voraussetzung hatte, setzte sich

später nicht durch; sie sollte eine Episode in der Hörspielentwicklung bleiben. Die

Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden konstatierte über »Centropolis« und

über die »Kunstkopf«- Möglichkeiten: »Frappierend und für das Hörspiel

konstitutiv ist die Genauigkeit, mit der Adler falsche Sprache, Klischees, die

Leerformeln der Medien zu entlarven weiß. ›Centropolis‹ demonstriert, daß

Spannung und Unterhaltsamkeit noch und wieder ohne Preisgabe von Qualität

möglich sind.«

Centropolis

Produktion: WDR/BR/SWF 1975

Mitwirkende: Ernst Jacobi (Balt); Cordula Trantow (Pat); Eva-Katharina Schulz(Mary); Hans Korte (Kain); Gustl Halenke (Aufnahmeleiterin); Hans Caninberg(Chefarzt); Michael Degen (Lautsprecher); Rosel Schäfer (Terroristin); sowie inweiteren Rollen: Gertraud Heise, Marianne Lochert, Gerd Andresen, Heinz Meier,Michael Thomas, Heiner Schmidt u. a.

Realisation: Walter Adler

Dauer: 48'35

Ursendung: WDR, 2.12.1975

»Wo befinden wir uns? Im New York von heute oder von morgen? Mit Hilfe einerverfeinerten Stereophonie, der sogenannten Kunstkopf technik, werden wir mitdem Science- fiction - Hörspiel ›Centropol is‹ von Walter Adler (...) in eineunheiml iche Welt staatl ich sanktionier ter Verbrechen hineingeführ t,hineingesogen. Im Grunde herrscht Anarchie. Aber diese Anarchie stell t sich darim Gewande einer alles überwachenden, jede Freiheitsregung drosselnden totalenHerrschaft.« (Kurt Lothar Tank im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt,28.3.1976)

chh

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1977. Fernsehabend.

Urs Widmer

* 21. 5. 1938 Basel/Schweiz

Deutschland vor der Glotze

Vierzig oder mehr Hörspiele dürfte der Schweizer Nachbar Urs Widmer im Laufe

der Jahre gewiss geschrieben und produziert haben. Er ist dabei vor allem dem

ehemaligen Südwestfunk und seinem Chefdramaturgen Heinz Naber treu

geblieben, produzierte aber auch für andere ARD- Rundfunkanstalten.

Den begehrten Karl- Sczuka- Preis des Südwestfunks errang der Autor- Regisseur

bereits 1974 mit seinem Hörspiel »Die schreckliche Verwirrung des Guiseppe

Verdi« (SWF 1974). In der Laudatio zu dieser Auszeichnung formulierte der Juror

Tibor Kneif treffsicher: »Aber zweifelsohne ist in der ästhetischen Botschaft des

Werkes eine andere, gesellschaftskrit ische verschlüsselt, die uns alle brennender

denn je angeht. Es kommt darauf an, welche Schlüssel man zu ihrer Enträtselung

verwendet. Ideologisch Verbogene werden, so scheint es, zu Urs Widmers

Hörstück keinen Zugang finden.« Kurz: Widmers Hörspiele eignen sich in der Tat

nicht für irgendeine Vereinnahmung. Sein Witz ist hintergründig und macht einen

großen Bogen ums einfache Verlachen und alle Stammtischgrimassen, auch die

akustischen.

»Fernsehabend« nahm bereits 25 Jahre vor »Big Brother« die Debilisierung und

mentale Analphabetisierung des Fernsehkonsumenten im Angesicht des medialen

Entertainments kritisch unter die Lupe. Das Lachen hält dem Lacher immer

zugleich den eigenen Spiegel vor Ohren und das macht die Botschaften des

Schweizers immer auch etwas unbequem für die (deutschen) »Lauscher«. Der

Autor: »Ich bin nicht gekränkt, wenn jemand ein Hörspiel von mir kurzweilig

findet, im Gegenteil. Wenn sich aber die Forderungen nach der unaufhörlichen

Unterhaltung im Rundfunk durchsetzen, werde ich nicht mehr vergnügt sein

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können, weil meine Heiterkeit als Tarnung für sehr unheitere Vorgänge wirken

wird.«

Fernsehabend

Produktion: SWF 1976

Mitwirkende: Dieter Eppler (Mann); Elisabeth Schwarz (Frau); Johannes E. Naher(Kind)

Regie: Urs Widmer

Dauer: 36' 10

Ursendung: SWF, 6. 5. 1976

»Ein Hauch von Melancholie und surrealem Widersinn gibt Widmers kleinemStück, das im übrigen klug, freundlich und mit Witz einen Verschnit tbundesbürgerl icher Normali tät aufbereitet, so etwas wie Tiefgang. VormFernsehschirm, der von Fußball über Parlamentsdebatte bis Tierfi lm das Üblichepräsentiert, reden Mann und Frau über Gott und die Welt. Sie reden überBeckenbauer und Invasionen von einem anderen Stern, über Kampfbienen amAmazonas und Störche, über das Glück und übers Sterben – viel gehobenesMassenmedienhalbwissen und ein kleiner Rest Selbsterfahrenes.« (HeinrichVormweg im Kölner Stadt - Anzeiger, 14. 4. 1977)

chh

1978. Vor dem Ersticken ein Schrei.

Christoph Buggert

* 17. 6.1937 Swinemünde

Zwei Gesichter eines Hörspielers

Nur einmal in der Geschichte des Hörspielpreises der Kriegsblinden wurde die

Auszeichnung an einen amtierenden Hörspielchef verliehen. 1978 erhielt sie

Christoph Buggert als Verfasser einer bitterbösen, aggressiven Satire; zu einem

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Zeitpunkt, als der 40Jährige bereits seit zwei Jahren sehr erfolgreich die

Hörspielabteilung des Frankfurter Senders leitete.

Der Hörspielautor und der Hörspieldramaturg, der Romancier und der Redakteur

– diese produktive Spannung war und ist konstitutiv für den 1937 auf der Insel

Usedom in einem Pfarrhaus geborenen, in Pommern und in Bremen

aufgewachsenen Christoph Buggert. Seit Schülertagen schreibt er; in der

Freiburger Studentenzeit entstand ein unveröffentlichter Roman; seit 1972 –

zunächst als Hörspieldramaturg beim BR, dann als Abteilungsleiter beim HR – ist

sein Name untrennbar mit der Geschichte des deutschen Hörspiels verknüpft.

Bisherige Bilanz: Mehr als ein gutes Dutzend Hörspiele in 30 Arbeitsjahren, dazu

ein autobiographisch verdichteter Roman mit dem Titel »Das Pfarrhaus. Buch der

Entzückungen« (1988); daneben das nicht zu quantifizierende Wirken etwa als

Förderer des Kurzhörspiels in den 70er Jahren und des O- Ton- Hörspiels seit den

70er und 80er Jahren sowie als Mentor der groß angelegten »Radiotage« des

Hessischen Rundfunks in den späten 90er Jahren. Zwei Gesichter, zwei Seiten

eines »Hörspielers«.

»Unter allen Deutungen der Situation, in der wir leben, ist die für mich die

einleuchtendste, daß wir uns in einen Zustand der totalen Desorientierung

hineinbewegen«, äußerte der Autor Christoph Buggert 1977 über seinen

literarischen Beweggrund und führte über »Vor dem Ersticken ein Schrei« aus:

»Mein Hörspiel ist eine Beschreibung der zunehmenden Müdigkeit in uns, der

Erschöpfung, der Unfähigkeit, weiterhin auseinanderzuhalten, was eigentlich sein

sollte und was so nicht sein darf.« In einer Collage grotesker, absurd zugespitzter

Kleinszenen brachte Buggert diese seine Entfremdungsobsession zum Ausdruck,

bannte die »wahnsinnigen« Phänomene der Gesellschaft.

»Vor dem Ersticken ein Schrei« bildete den ersten Teil einer »Trilogie des

bürgerlichen Wahnsinns«, deren zweiter – »Nullmord« – 1987 und deren dritter

Teil unter dem Titel »Blauer Adler, Roter Hahn« 1989 beim WDR produziert

worden sind.

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Vor dem Ersticken ein Schrei

Produktion: WDR/BR 1977

Mitwirkende: Eva Garg, Ingeborg Schlegel, Sigrun Höhler, Gisela Claudius(Weibliche Stimmen); Charles Wirths, Christian Brückner, Rudolf Jürgen Bartsch,Josef Meinertzhagen (Männliche Stimmen); Elsbeth Heurich (Alte Frau); Will Court(Alter Mann); Jan Mehrländer (Kind)

Regie: Raoul Wolfgang Schnell

Dauer: 67'48

Ursendung: WDR, 20.9. 1977

»Eine Frau soll ihren wahrscheinl ich verunglückten Mann beschreiben, ihr fälltnichts ein. Auf einer Urlaubsfahrt durch Südfrankreich kommt einem Ehepaar dereigene Name, die eigene Adresse abhanden. Ein Mann zieht den Schluß, daßPartnerschaft auf Angestell tenbasis zeitgemäßer ist als jedes überl iefertePartnerschaftspr inzip. Und so weiter ... (Aus dem Pressetext zum Hörspiel »Vordem Ersticken ein Schrei«)

huw

1979. Frühstücksgespräche in Miami.

Reinhard Lettau

* 10.9.1929 Erfurt

† 17. 6. 1996 Karlsruhe

Literatur und Politik

In der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur nimmt Reinhard Lettau eine

besondere Stellung ein: Ein deutscher Literaturwissenschaftler, der in Harvard

promovierte und viele Jahre in den USA lehrte, ein Prosaautor, dessen schmales

Werk zwischen 1962 und 1994 erschien und von Perioden literarischer Abstinenz

gezeichnet war. Ein Poet und Essayist, der zeitgenössisch immer wieder für

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Aufsehen sorgte und trotzdem bei seinem frühen überraschenden Tod 1996 den

Lesern von den Feuilletonisten erst wieder ins Bewusstsein gebracht werden

musste.

Lettau debütierte 1962 mit »Schwierigkeiten beim Häuserbauen«, parabolischen

Erzählungen voller hintergründig- groteskem Humor. Dem Prosaband folgten

»Auftritt Manigs« (1963), »Gedichte« (1968), »Feinde« (1968) und »Immer kürzer

werdende Geschichten & Gedichte & Porträts« (1973) – Veröffentlichungen, über

die Karl- Heinz Bohrer urteilte, dass darin »die Widerlegung autoritären Denkens

durch seine absurden Konsequenzen« erfolge. Lettau war ein hochpolitischer

Autor, ein Schriftsteller jedoch, der Schreiben und Handeln kategorisch trennte.

»Wenn ich Politik machen will, gibt es Tribünen, von denen ich meine Ideen

ausdrücken kann«, erklärte er 1963, zu einem Zeitpunkt, als junge Intellektuelle

in Deutschland den Tod der Literatur auf ihre Fahnen schrieben. Auf eine Rede

hin, in der Lettau 1967 in Berlin die Springer- Presse attackierte, wurde er als

amerikanischer Staatsbürger aufgefordert, die Bundesrepublik zu verlassen. Er

ging zurück in die USA, wo er eine Literatur- Professur an der Universität von

Kalifornien in La Jolla übernahm.

»Die Frühstücksgespräche in Miami« waren 1977 – nach »Täglicher Faschismus.

Amerikanische Evidenz aus 6 Monaten«, einer dokumentarischen Analyse über

die Frage »Welche Verbrechen teilen uns die Mächtigen in ihren Medien mit?« –

ein literarisches Comeback, ein Text, in dem sich Lettau das erste und einzige

Mal an der dramatischen Form versuchte. Die Gesprächsszenen um

lateinamerikanische Diktatoren in einer Hotelhalle in Florida waren vom

Süddeutschen Rundfunk im April 1978 als Hörspiel eingespielt worden, das

Stadttheater Gießen führte das Stück im September des selben Jahres auf.

Reinhard Lettau kehrte nach der Vereinigung 1991 aus den USA nach

Deutschland zurück. 1993 erhielt er den Berliner, 1995 den Bremer Literaturpreis

verliehen. Sein literarisches Gesamtwerk, das nach seinem Tod neu

herausgegeben wird, findet große Aufmerksamkeit.

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Frühstücksgespräche in Miami

Produktion: SDR/HR/WDR 1978

Mitwirkende: Karl- Maria Schley (Vorsitzender); Hannes Messemer (PräsidentAmulio Manuel Rosa); Wolfgang Engels (General Wessin y Wessin); Traugott Buhre(General Miguel Mimosa); Ulrich Matschoss (General Luis Torrijos); Ernst Jacobi(Der Professor) sowie Brigitte Buhre, Monika Debusmann u. a.

Musik: Peter Zwetkoff

Regie: Walter Adler

Dauer: 65'20

Ursendung: Südfunk 2, 27.4. 1978

»Ein Hotel in Miami (USA) beherbergt abgehalf terte lateinamerikanischeDiktatoren, Generäle, Gefolgsleute, Geheimdienste. Unabgerissen sind dieBeziehungen zum Vaterland und zum Gastland; zwischen Gegenwart undVergangenheit, Persönlichem und Polit ischem fetzen die Szenen und Gesprächeauseinander.« (Presseankündigung des Süddeutschen Rundfunks)

huw

1980. Der Tribun.

Mauricio Kagel

* 24. 12. 1931 Buenos Aires/Argentinien

Wider Diktatoren und Verführer

Mauricio Kagel, obwohl im südamerikanischen Buenos Aires geboren, ist

maßgeblicher Erneuerer des deutschen Hörspiels, ein Sprech- und Klangvirtuose,

der Ton und Wort souverän zu verschränken weiß. In seinem internationalen

Schaffen verbindet sich das, was im besten Sinne als multikulturelle Leitkultur zu

verstehen wäre. Nach ersten musikalischen Engagements in Argentinien kam

Kagel 1957 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in die

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Bundesrepublik. Von 1969 an leitete er das Institut für Neue Musik an der

Rheinischen Musikschule und wurde 1974 zum Professor für Neues Musiktheater

an der Musikhochschule in Köln ernannt. Vor allem sein Kurs »Musik als

Hörspiel« fand breite Beachtung. Für sein Hörwerk »Die Umkehrung Amerikas«

wurde Kagel 1977 mit dem Prix Italia ausgezeichnet; zweimal – 1970 und 1995 –

erhielt er den Karl- Sczuka- Preis für seine beim WDR produzierten Stücke »Ein

Aufnahmezustand« sowie »Nah und Fern. Radiostück für Glocken und Trompeten

im Hintergrund«.

Als ihm 1980 für »Der Tribun« der Hörspielpreis der Kriegsblinden zuerkannt

wurde, gab es Stimmen in der Jury, die fast wehmütig attestierten, Mauricio Kagel

hätte den Hörspielpreis eigentlich schon viel früher verdient: zum einen für

»Soundtrack« (WDR 1975), zum anderen für »Die Umkehrung Amerikas« (WDR

1977). Kagel zeigte im »Tribun« – übrigens in einer interessanten Fortschreibung

der Lettauschen Diktatoren- Satire des Vorjahrs – die Kritik an mächtigen

politischen Marionetten. Kagel, Skriptschreiber, Regisseur und Sprecher in einem,

zeigt im »Tribun« das vollständige Spektrum dessen, was Hörspiel als ars sui

generis auszeichnen kann: kunstvolle Sprache und Musik, einmalig und

unverwechselbar konzipiert für die medialen Möglichkeiten des Rundfunks und

seine Hörer.

Der Tribun

Produktion: WDR 1979

Mitwirkende: Mauricio Kagel (Der Tribun)

Musik: Mauricio Kagel

Regie: Mauricio Kagel

Dauer: 55'55

Ursendung: WDR, 19.11. 1979

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»Während einer Reihe von Jahren versuchte ich, gewisse Elemente zuabstrahieren, die zu poli t ischen Reden gehören. Ich schrieb etwa 500 Karteikartenmit stichwortar t igen Themen. Die Entstehung meines Hörspiels ›Der Tribun‹bestand daraus, in ein Studio eingeschlossen zu werden, um mit Hilfe derKarteikarten stundenlang zu improvis ieren und somit in den Zustand einesPolitikers zu kommen, der überzeugen muB. Ich habe nicht (einen bestimmtenText) gelesen, sondern meine Rede frei gehalten, mit Hilfe einer breiten Palettevon Wut bis Pseudoliebe, von verwerf l icher Rhetorik bis Betonung vonEdelgedanken, um einen Zustand unaufhörl ichen Sprechens zu rekonstru ieren.«(Mauricio Kagel in dem Vortrag »Realität und Fiktion im Radio und Hörspiel« aufder Hörspiel tagung der European Broadcasting Union (EBU) in Berlin, 27. 11. 1981)

chh

1981. Moin Vaddr läbt.

Walter Kempowski

* 29.4.1929 Rostock

Deutsche Familiengeschichte

Sein Name verband sich lange Zeit ausschließlich mit seinen Romanerfolgen (und

deren Verfilmungen): »Tadellöser & Wolff« (1971) und »Uns geht's ja noch gold«

(1972) – Chroniken der deutschen Geschichte und immer auch die Saga der

eigenen Familie. Es war eine bemerkenswerte literarische Karriere, die den Sohn

eines Rostocker Reeders zu einem der meist gelesenen deutschen

Gegenwartsautoren werden ließ.

In Walter Kempowskis Biographie spiegelte sich bis dahin vieles der deutsch-

deutschen Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit wider: Aus dem Flakhelfer der

letzten Kriegstage wurde nach 1945 ein Druckerlehrling, der zwischen West und

Ost, zwischen Wiesbaden und Rostock pendelte. 1948, bei einem Besuch der

Elternstadt, wurde er unter Spionageverdacht verhaftet und von einem

sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Mehrere Jahre

saß er in Bautzen ein, bevor er 1954 amnestiert wurde. Im Westen dann holte er

das Abitur nach, studierte Pädagogik und wurde Landschullehrer in

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Niedersachsen. 1980 ließ er sich beurlauben und lebt seither als freier

Schriftsteller in Haus Kreienhoop bei Nahrtum.

In diesem Jahr 1980 gründete Kempowski ein eigenes zeithistorisches Archiv, in

dem er begann, Lebenszeugnisse zu sammeln – Fotos und Briefe, Tagebücher

und Berichte, Biographien und Erinnerungsnotate –, geschichtliche Dokumente

von Privatpersonen, Augen- und Ohrenzeugen, so genannten kleinen Leuten; mit

überwältigender Resonanz, wie bislang 3000 Familiennachlässe und rund 200

000 Fotos bei ihm demonstrieren. Erwies sich der Autor Kempowski bereits in

seinen früheren Veröffentlichungen als scharfsinniger Protokollant und

aufmerksamer Chronist des deutschen Bürgertums, so steigerte der Sammler und

Arrangeur Kempowski das Collage- Prinzip in seinem »Echolot«- Projekt zu bislang

ungeahnten Dimensionen. 1993 erschienen die ersten vier – von der Kritik und

dem Publikum euphorisch aufgenommenen – Bände des »kollektiven Tagebuchs

1943 - 1949« unter dem Titel »Echolot«, gefolgt 1999 von weiteren 3 200 Seiten

»kollektiven Tagebuchs« zwischen dem 12. Januar und dem 14. Februar 1945«.

Speziell dieses »Echolot ll«- Material lag einem der spektakulärsten

Rundfunkarbeiten in den 90er Jahren zugrunde, der 14stündigen Ton- Collage

»Der Krieg geht zu Ende. Chronik für Stimmen. Januar bis Mai 1945«, gesendet

zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 7. Mai 1995 als »Radiotag« des

Hessischen Rundfunks. Doch die Beziehung Walter Kempowskis zum Rundfunk

reichte bis in die 70er Jahre zurück. Als kulturkrit ischer Originalton- Autor hatte

er für »Beethovens Fünfte«, einem Originalton- Hörspiel (NDR/SDR 1975/76),

bereits den Karl- Sczuka- Preis erhalten; für »Moin Vaddr läbt« (HR 1980), eine

sensible Hörballade, war dem stark vom Elternhaus und von seinem im Weltkrieg

gefallenen Vater geprägten Autor der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen

worden.

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Moin Vaddr läbt. A Ballahd inne Munnohrd kinstlich med Mosseg unde

Jesann von Wullar Kinnpusku

Produktion: HR 1980

Mitwirkende: Ernst Jacobi (Erzähler); Friedrich Maurer (Mahn 1); Dieter Borsche(Mahn 2); Käthe Haack (Fruè); Bruni Löbel (Fruè 2); Anette Conrad (Kind); BettinaDöser (Kind); Matthias Ebert (Kind); Elisabeth Miserre (Kind); Lars Rösner (Kind);Daniel Sailer (Kind)

Musik: Peter Zwetkoff

Regie: Horst H. Vollmer

Dauer: 33' 15

Ursendung: HR 2, 25.2. 1980

»Kempowski verwendet eine erfundene, aus Elementen des Jiddischen,Schlesischen und Niedersächsischen zusammengesetzte Sprache. Kempowski, dersich hier ›Wullar Kinnpusku‹ nennt, erscheint nicht, wie in seinem Roman, in derDistanz des Erzählers. Er bringt sich als Betroffener ins Spiel. Die sprachlicheVerwebung von Opfern und Tätern und die Versöhnung in der guten Welt derKinder gibt diesem Hörspiel über das ganz Persönliche hinaus den Wert desDokumentar ischen.« (Thomas Thieringer in der Frankfur ter Rundschau,26.3.1981)

huw

1982. Hell genug - und trotzdem stockfinster.

Peter Steinbach

* 10. 12.1938 Leipzig

Hörspiel- Kino

Er sei in »eine Wirklichkeit voller Gewalt« hineingeboren worden, so markierte

Peter Steinbach 1982 den Ausgangspunkt seiner schriftstellerischen

Medienarbeit; in die »Wirklichkeit einer Zivilisation des Grauens«, wie er betonte,

der nur durch den »Mut zur totalen gewaltlosen Verweigerung« zu begegnen sei:

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»Wer Schwerter zu Pflugscharen umschmieden will, der muß die verfluchten

Schwerter erst einmal von sich werfen.« Die Debatte um den so genannten NATO-

Nachrüstungsbeschluss in der Bundesrepublik war auf einem Höhepunkt

angekommen, und die deutsch- deutsche Auseinandersetzung trieb einer neuen

Eiszeit entgegen. In diese Situation hinein hielt Peter Steinbach eine der politisch

markantesten Reden in der Geschichte des Hörspielpreises der Kriegsblinden.

Dieses Engagement, diese Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Geschichte,

mit dem Kriegsgeschehen und den Erfahrungen der Nachkriegszeit beherrschten

den in Leipzig geborenen, seit 1954 zunächst in Kiel, dann auf einer dänischen

Insel lebenden Fernseh- und Hörspielmacher. In den 60er Jahre entstanden erste

literarische Arbeiten, Theater- und Hörfunkarbeiten, Kinderbücher; Geschichten

von einfachen Leuten, die um das Thema Heimat- und Wurzellosigkeit kreisen.

1974 wurde sein erstes Hörspiel gesendet, »Immer geradeaus und geblasen«,

dessen Recherche- Material auch in das Drehbuch für den Film »Die Stunde Null«

einging, den Edgar Reitz 1976 realisierte. Speziell die Ereignisse dieser

vermeintlichen Wendezeit in Europa und die Entwicklungen ab dieser »Stunde

Null« kehrten von nun an immer wieder: in den Drehbüchern zum dreiteiligen

Fernsehprojekt »Das Dorf« in den 80er Jahren ebenso wie in dem preisgekrönten

Hörspiel »Hell genug – und trotzdem stockfinster«.

In der Begründung der Jury wurde hervorgehoben: »Steinbach schildert

bedrückende Vorgänge bei Kriegsende in einem Dorf, das von den Amerikanern

besetzt wird. Er verbindet die zeitgeschichtliche Dokumentation mit aktueller

Zeit- und Medienkritik, indem er ein Fernseh- Reportageteam, für das die

Menschen nur verwertbares Material sind, jene Vorgänge konstruieren läßt.«

Hörspiel und Fernsehen – in beiden Medien ist Peter Steinbach einer der

produktivsten Autoren. So entstammen seiner Feder nicht nur die Drehbücher zu

Edgar Reitz' »Heimat«- Epos, zur Fernsehverfilmung von Viktor Klemperers

Tagebüchern sowie zusammen mit Christoph Busch zur Verfilmung von Uwe

Johnsons »Jahrestage«, sondern mittlerweile auch mehr als 30 Hörspiele, darunter

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– ebenfalls zusammen mit Christoph Busch »Mein wunderbares Schattenspiel«,

eine westfälische Alltagsgeschichte, in deren Mitte ein kleines Kino steht, eine

Kino- Geschichte im Hörspiel.

Hell genug – und trotzdem stockfinster

Produktion: WDR 1981

Mitwirkende: Klaus Herm (Reporter); Franziska Grasshoff (Assistentin); MichaelGspandl (Kameramann); Wolfgang Wagner (Johannes Gass heute); Marcus Riedel-Weber (Johannes Gass – damals); Günther Mack (Erzähler) sowie Erwin Dittberner;August Dahl; August Schmittinger u. v. a.

Regie: Bernd Lau

Dauer: 59'33

Ursendung: WDR, 8.10.1981

huw

1983. Die Brautschau des Dichters Robert

Walser im Hof der Anstaltswäscherei von

Bellelay.

Gert Hofmann

* 29.1. 1932 Limbach

† 1. 7. 1993 Erding

Schauplatz Menschenkopf

Als ihm 1983 der Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht wurde, war der

50jährige Schriftsteller, Publizist und promovierte Literaturwissenschaftler Gert

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Hofmann zwar kein literarischer Newcomer mehr, doch er stand erst am Beginn

seines fulminanten Schaffensdranges. In den fast eineinhalb Jahrzehnten

zwischen 1980 und seinem Tod 1993 sicherte er sich mit knapp 20 Romanen,

Novellen und Prosaarbeiten einen einzigartigen Ruf als Erzähler in der deutschen

Gegenwartsliteratur. »Die letzte große Hoffnung auf eine zeitgenössische

Prosakunst, die an die Traditionen der Moderne anknüpft«, rühmte Jens Jessen im

Nachruf der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, und der »Tagesspiegel« sicherte

ihm neben den literarischen Paten Thomas Bernhard und Elias Canetti einen

festen Platz zu. Ein faszinierender Ruhm, den sich der eigenwillig melancholische

und gleichzeitig engagiert aufklärerische Prosaist, angefangen bei der Novelle

»Die Denunziation« (1979) über seinen bekanntesten Roman »Der Kinoerzähler«

(1990) bis zum Lichtenberg- Roman »Die kleine Stechardin« (posthum 1994

erschienen) erschrieben hatte.

Gegenüber dem Erzähler Gert Hofmann trat der Dramatiker und Rundfunkautor

im Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück. In den 60er und 70er Jahren, als der

Germanistikdozent zunächst noch an verschiedenen europäischen Universitäten

arbeitete, waren mehrere Bühnenwerke entstanden, und von 1972 an schrieb

Gert Hofmann stetig an einem Hörspielœuvre von annähernd 50 Sendungen, auch

sie jedoch ein integraler Bestandteil des auffallend geschlossenen literarischen

Werkes Hofmanns, eines Kosmos, in dem immer wieder die gleichen Figuren,

Motive und Konstellationen auftauchen und obsessiv umkreist werden. »Mein

Interesse gilt weniger den Möglichkeiten des Mediums«, führte Hofmann bei der

Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden aus, »als denen des Menschen,

mit ihm ist mein Los enger verknüpft. Der Schauplatz meiner Werke, ob man sie

nun liest oder hört, ist und bleibt der Menschenkopf, der, da es ein moderner

Kopf ist, ein unübersichtlicher, heikler, von allen Seiten bedrängter, von Druck,

Lärm und Gestank unablässig überfluteter, mit sich selbst und den anderen

tödlich entzweiter Kopf ist. Davon handle ich.«

Dass gerade ein literarischer »Kopf« wie der des Schweizer Robert Walser

besondere Anziehungskraft besaß, wird vor dem Hintergrund dieser Aussagen

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verständlich. Mehrfach taucht dieser daher im Werk Hofmanns auf, etwa im

Schauspiel »Der Austritt des Dichters Robert Walser aus dem Literarischen

Verein«, 1983 uraufgeführt, sowie im preisgekrönten Hörspiel um dessen

tragikomisches Liebeswerben um eine schlichte, lebenskluge Frau.

Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der

Anstaltswäscherei von Bellelay, Kanton Bern

Produktion: NDR/HR 1982

Mitwirkende: Alfred Eich (Robert Walser); Miriam Spoerri (Frieda Mermet); HorstKeitel (Konsul Hausschild); Rüdiger Schulzki (ein Sprecher); Peter Müller- Buchow(ein Ansager); Pete Sage (eine Geige)

Realisation: Hans Rosenhauer

Dauer: 64' 15

Ursendung: NDR 3, 22.5. 1982

»Die einzigart ige Leistung Hofmanns besteht darin, daß er den Hörer zwarfeinfühl ig in die Sprachwelt Walsers versetzt, diese aber zugleich mit seinemdurchaus eigenen Sprachstil verschmilzt. Kein Experiment also, aber vielleicht istdas der Zukunf tsweg des Hörspiels: anrührende, bewegende Geschichten zuerzählen.« (Friedrich Wilhelm Hymmen im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblat t,27.3. 1983)

huw

1984. Wald. Ein deutsches Requiem.

Gerhard Rühm

* 12. 2. 1930 Wien

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Poetische Konstruktionen

Gerhard Rühm ist ein multimedialer Künstler par excellence: Poet, Komponist und

Maler – oder präziser: klangmalender Schriftsteller, literarischer Komponist,

Verfertiger von Klebegedichten und Schriftbildern, Komponist und Arrangeur von

Klängen, Lauten und Tönen.

Der Sohn eines Wiener Philharmonikers studierte in Wien an der Staatsakademie

für Musik und darstellende Kunst. Seine Künstlerlaufbahn begann er in Wien mit

avantgardistischen Kompositionen, etwa dem gemeinsam mit dem Pianisten Hans

Kann produzierten Tonband »geräuschsymphonie in a« (1951). Bald wurde Rühm

aber auch literarisch tätig und veröffentlichte erste »lautgedichte«. Er gehörte zu

den Mitbegründern der so genannten »Wiener Gruppe«, einer

Autorenvereinigung, zu der neben Gerhard Rühm die Schriftsteller Hans Carl

Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Beyer und Oswald Wiener gehörten, und

die sich in der Nachfolge des Dadaismus und des Surrealismus neuen

experimentellen Ausdrucksformen widmeten. In jenen Jahren entstanden Rühms

»montagen« (1956), zahlreiche Dialektgedichte sowie der Band »konstellationen«

(1961).

Als die »Wiener Gruppe« 1964 auseinanderging, zog Rühm nach Berlin, wo er

seine künstlerische Arbeit fortsetzte. 1972 übernahm er eine Dozentur, später

bis 1995 eine Professur für freie Graphik und künstlerische Teilbereiche an der

staatlichen Kunsthochschule in Hamburg. Der Literaturwissenschaftler Jörg

Drews, ein intimer Kenner des Rühmschen Schaffens, kommentierte 1976: »Seine

Herkunft vom Komponieren hat sicher etwas zu tun mit seiner dann auch auf

dem Gebiet der Literatur und des Hörspiels angewendeten Auffassung vom

Material- Charakter aller Teilbereiche von Sprache: Der Laut, der Buchstabe, das

Wort, der Satz sind ihm Ausgangselemente der poetischen Konstruktion, nicht

vorgegebene Gattungen und auch nicht der Stoff, der Inhalt als etwas, das sich

dann schon eine in der Art eines Gefäßes zu denkende, nur lax auf den Inhalt

bezogene Form suchen werde. Kein Parameter künstlerischen Arbeitens und

künstlerischer Gebilde sollte mehr unbefragt, unanalysiert bleiben; Form und

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Struktur sollten tendenziell in jedem Fall erst analytisch und konstruktiv zugleich

gefunden werden.«

Diese Transformation von Texten in Musik, diese interdisziplinäre, multimediale

künstlerische Arbeit setzte Gerhard Rühm seit Ende der 60er Jahre in einer Reihe

von Hörwerken um, die vor allem in enger Zusammenarbeit mit dem WDR 3

Hörspiel- Studio bzw. dem nachfolgenden Studio Akustische Kunst unter seinem

Leiter Klaus Schöning entstanden. Gerhard Rühm erhielt 1977 für sein

»Radiomelodram« »Wintermärchen« den Karl- Sczuka- Preis für Hörspiel als

Radiokunst und 1983 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für »Wald. Ein

deutsches Requiem«.

Wald. Ein deutsches Requiem

Produktion: WDR 1983

Mitwirkende: Elisabeth Hartmann und Matthias Ponnier (Sprecher); OthelloLiesmann (Violoncello); Gerhard Rühm (Stimme und Klavier); Collegium VocaleKöln, Leitung: Wolfgang Fromme (Chor)

Realisation: Gerhard Rühm

Dauer: 32'25

Ursendung: WDR 3, 6.12. 1983

»Das Hörspiel faßt, wie von selbst, auf konzentr ierte Weise verschiedeneakustische und im engeren Sinn radiophone Ausdrucksformen wie Feature,Hörbild, O- Ton (Meinungsumfrage), Magazin, Nachrichten, Melodram zu einermontagehaften Einheit zusammen. Dieses Hörspiel sollte vor allem eine durchkünstler ische Mittel besonders eindringl ich gewordene Mitteilung sein, die – ohneKommentar, ohne Polemik und durch kein persönliches Credo belastet – denHörer zu eigener Stellungnahme provozieren will.« (Gerhard Rühm in derPresseankündigung zu »Wald. Ein deutsches Requiem«)

huw

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1985. Nachtschatten.

Friederike Roth

* 6.4.1948 Sindelfingen

Poetische Imaginationen

»Ein bißchen Gott spielen am Schreibtisch« – das ist in Friederike Roths Worten

der Akt des Schreibens. Seit 1979 arbeitet sie als Hörspieldramaturgin beim SDR

bzw. beim SWR. Sie studierte Philosophie und Linguistik und promovierte bei Max

Bense.

Ihre frühen Hörspiele – »Klavierspiele« (WDR 1980), »Der Kopf, das Seil, die

Wirklichkeit« (SDR 1981) – spiegeln vor allem die Lust und die Leidenschaft, die

Welt mit der Architektur der Sprache neu zu schöpfen. Die Schauspiele »Ritt auf

die Wartburg« (1982), »Krötenbrunnen« (1984), »Das Ganze ein Stück« (1986),

»Erben und Sterben« (1992) brachten ihr wohlwollende Aufmerksamkeit der Kritik

ein. Sie erhielt den Stuttgarter Literaturpreis (1982), den Ingeborg- Bachmann-

Preis (1983) und wurde ein Jahr später Stadtschreiberin von Bergen- Enkheim.

In den 90er Jahren zog sie sich, selbstgewollt, aus dem aktiven literarischen

Betrieb zurück. Radiohörer von SDR und SWR werden freilich durch die eine oder

andere Hörspielbearbeitung aus ihrer Feder nach Texten von Javier Tomeo, Philip

Roth oder Ivan Goncarov entschädigt.

Elf Tage haben 1984 die Hörspielaufnahmen zu »Nachtschatten« unter der Regie

von Heinz von Cramer gedauert, eine lange Produktionszeit für ein Zwei-

Personen- Hörspiel. Nicht zuletzt die musikalischen Einschübe, die Zwiesprache

der Geschlechter, machen den Zuhörer vergessen, dass »Nachtschatten« kein

analytisches Hörgeschehen verfolgt. Der Hörer soll eintauchen in entwickelte

Weltgefühle, ohne den Verstand zu entmündigen. Auffallend ist in diesem

Hörspiel die Vorliebe der Autorin für archaisierende Wendungen und Bilder, ihre

Neigung zur Auflösung der grammatikalischen Ordnung mit Hilfe von Inversionen

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und anderen syntaktischen Effekten. »Nachtschatten«, das ist akustisch

geronnene Schöpfungssehnsucht, verschränkt mit einem wild auflauernden

Vernichtungstrieb.

»Ganz wunderbar und überzeugend ist Heinz von Cramers Inszenierung diesesverwegen schwierigen und vieltönigen, langen Gedanken - und Wortspiels.« (RolfVollmann in der Stuttgar ter Zeitung vom 17.11. 1984)

Nachtschatten

Produktion: SDR/NDR/RIAS Berlin 1984

Mitwirkende: Walter Renneisen (Der Mann); Hille Darjes (Die Frau)

Musik: Salvatore Sciarrino; Giacinto Scelsi; Ludwig van Beethoven; Bob Dylan

Regie: Heinz von Cramer

Dauer: 67'05

Ursendung: SDR, 15.11. 1984

»Die Welten, deren Erschaffung mir vorschwebt, sind vornehmlich Welten ausStimmen und Tönen, was an meiner individuellen Wahrnehmungs - , Erinnerungs - ,und Assoziat ionsstruk tu r liegen mag. Was dabei idealerweise entstehen soll: einGewebe aus Stimmen – Geraune, Geflüster, Geschrei, und Geseufze, Geplapper,Geschwätz – aber auch Beschwörung und Vergewisserung der Existenz aus ihrenWörtern; ein Stimmengewebe also als Versuch der Rekonstrukt ion, nicht jedochbloßer Abbildung des menschlichen Diskurses. Das Hörspiel bietet sich hier, wiekeine andere Gattung sonst, als Medium an. (Aus der Preisrede von FriederikeRoth, gehalten am 25. April 1985 in Bonn)

chh

1986. Die Befreiung des Prometheus. Hörstück

in neun Bildern.

Heiner Müller / Heiner Goebbels

* 9. 1. 1929 Eppendorf /Sachsen

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† 30. 12. 1995 Berlin/

* 17. 8. 1952 Neustadt /Weinstraße

Text als Landschaft

Seine Hörspiele, seine Kompositionen und Performances veränderten in den 80er

Jahren die Hörspiellandschaft grundlegend. In der Diskussion um eine

Musikalisierung der Hörspielform war eine neue Stimme zu hören, die sich mit

überwältigendem Erfolg Gehör verschaffte. Vor allem die Reihe mit Produktionen,

die der seit 1972 in Frankfurt am Main lebende Musiker und Komponist Heiner

Goebbels nach Texten des in der DDR lebenden Dramatikers Heiner Müller

vorstellte, war imposant, darunter: »Verkommenes Ufer« (HR 1984), »Die

Befreiung des Prometheus« (HR/SWF 1985), »Der Mann im Fahrstuhl« (ECM 1988)

und »Wolokolamsker Chaussee I – V« (SWF/BR/HR 1989). Die Auszeichnungen

ließen nicht auf sich warten, allein drei Mal der Karl- Sczuka- Preis – 1984, 1990

und 1992 –, dazu der Prix Futura 1990 und der Hörspielpreis des Jahres 1997;

nicht zu vergessen der Hörspielpreis der Kriegsblinden am Beginn dieser

Erfolgskurve 1986.

Fasziniert waren die Jurys sowie ein zahlreiches Konzert - und Rundfunkpublikum

von Heiner Goebbels Umgang mit Texten. Er selbst beschrieb sein

kompositorisches Verfahren mehrfach, indem er den »Materialcharakter der

Texte« betonte und den Anspruch hervorhob, diesen »mit musikalischen Mitteln

transparent zu machen«. Es sei eine »Expedition«, auf die er sich einlasse, ein

Vordringen in eine »Textlandschaft«. In seinem Essay »Text als Landschaft«

führte Goebbels aus: »Wenn ein Text auch in seinen Bauprinzipien, seiner

Schreibweise auf den Inhalt, oder sagen wir besser die Inhalte verweist, Hinweise

aufstellt – was bei Texten Müllers immer der Fall ist –, erweist sich dieses

Verfahren eben doch nicht als formal; sondern es reflektiert rhythmische,

strukturelle, architektonische Referenzen. Kompositorische Arbeit damit,

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ermöglicht – jenseits interpretatorischer Illustration – ein Hörbarmachen dieser

Schichten, Transparenz der schriftstellerischen Strategie und Erfahrung an Text.«

Ausgangspunkt für das Hörstück »Die Befreiung des Prometheus« ist ein kurzer

Prosatext, der in Müllers Theaterstück »Zement« integriert war. Mit Songs und

Collagen, in einer raffinierten, am Film orientierten Technik des Schnitts und der

Rückblende näherte sich Goebbels diesem Text, um zweierlei hörbar zu machen,

wie er in der Presseankündigung schrieb: »Die große Faszination, die die

unvorstellbaren Dimensionen von Arbeit und Zeit, Kot und Gestank auf mich

ausüben; und die (nach André Gide und Franz Kafka) neuen politischen

Perspektiven der Arbeit am Mythos, mit denen Müller den Doppelcharakter des

Prometheus humorvoll ausstattete. Einmal ist er als Feuerräuber Helfer der

Menschen, zum anderen ist er Gast am Tisch der Götter.«

Heiner Goebbels: Die Befreiung des Prometheus. Hörstück in neun

Bildern. Nach einem Text von Heiner Müller

Produktion: HR/SWF 1985

Mitwirkende: Otto Sander; Heiner Müller; Angela Schanelec; Jacob Goebbels-Rendtorff; Walter Raffeiner (Gesang)

Komposition: Heiner Goebbels

Realisation: Heiner Goebbels

Dauer: 44'39

Ursendung: HR 2, 3.10. 1985

Gleich am Beginn der dramatischen Arbeiten Heiner Müllers stand ein Hörspiel:

»Die Korrektur«, 1957 im Rundfunk der DDR urgesendet. Es folgten mehrere

Rundfunkarbeiten, z. T. zusammen mit Inge Müller verfasst, sowie Müllers

Lieblingshörspiel »Der Tod ist kein Geschäft« 1961, ein Kriminalhörspiel, das er

während der Zeit seines Aufführungsverbotes unter dem Pseudonym Max Messer

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geschrieben hatte. 1990 wurden im Rahmen der »Experimenta 6« in Frankfurt am

Main, die Heiner Müller gewidmet war, in einer Werkschau mehr als 25

Hörspielproduktionen öffentlich und im Programm des HR präsentiert.

»Müllers Texte sind selbst musikal isch, im strengen Sinn; eher verwandt derMusik Bachs oder Schönbergs als der Chopins oder Strawinskys (...). Der Lesereines Textes von Heiner Müller geht Wege zurück, genauer: oft vor und zurück,Wege zwischen den Worten, weil präzise Auslassungen, Verkürzungen immerwieder zu diesen Wegen einladen.« (Reiner Goebbels in einer Rede auf derExperimenta 6, 1990)

huw

1987. Drei Männer im Feld.

Ludwig Harig

* 18. 7.1927 Sulzbach/Saar

Sprachsteller

Ausgangspunkt seiner gesamten literarischen Arbeit sei, so Ludwig Harig in

einem Interview 1989, die »innere Notwendigkeit, daß etwas gesprochen und

nicht gelesen, daß etwas gehört und nicht gelesen« werde. Als ihn prägendes

Beispiel führt er Raymond Queneaus »Exercises de style« an, jene 99 Variationen

des Sprechens, die er zusammen mit Eugen Helmle aus dem Französischen

übersetzt hatte. Ludwig Harig also weniger ein Schriftsteller als vielmehr ein

Sprachsteller, ein Hörsteller?

Der 1927 in Sulzbach im Saarland geborene Autor kann zwar mittlerweile auf ein

umfangreiches Œuvre blicken: Romane und Novellen, Gedichte aller Art, darunter

Sonette und Haikus, Texte zu Foto- und Graphikbänden, Essays und

Übersetzungen. Doch zu diesen Veröffentlichungen im Druck gesellt sich noch

einmal eine Vielzahl an Rundfunksendungen. Radioarbeiten, wie Features,

Reiseberichte, Radio- Essays und Kindersendungen, deren Honorare es ihm

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möglich machten, seinen von 1950 bis 1970 ausgeübten Beruf als

Volksschullehrer zu quittieren und seither als freier Schriftsteller zu leben; sowie

schließlich mehr als ein Dutzend großer Hörspielarbeiten, von denen nahezu jede

Produktion – darunter »Starallüren« (SR/SDR 1967), »Ein Blumenstück«

(SR/SDR/HR/SWF 1968), »haiku hiroshima« (SR/WDR 1969) und »Staatsbegräbnis«

(SR/WDR 1969) – in der Geschichte der Weiterentwicklung des Sprachspiels, des

O- Ton- Verfahrens und der stereophonen Möglichkeiten im so genannten »Neuen

Hörspiel« einen besonderen Platz einnimmt. Zu Recht wird dieses

medienspezifische Merkmal der literarischen Arbeit Harigs mittlerweile in

Lexikoneinträgen und Porträts gewürdigt.

1987, dem Jahr, in dem Harig der Hörspielpreis der Kriegsblinden überreicht

wurde, war eine Auswahl seiner bisherigen Hörspielarbeiten unter dem Titel

»Akustische Kunst im Radio« in der Audiothek der Kasseler Documenta zu hören.

Der Preis galt der beim WDR realisierten Produktion »Drei Männer im Feld«, einem

Hörspiel, das Erfahrungen verarbeitet, die der Autor bei den Recherchen auf den

französischen Schlachtfeldern für seinen Roman »Ordnung ist das ganze Leben«

gesammelt hatte. Dieser 1986 erschienene Vater- Roman, der vor dem

Hintergrund der deutsch- französischen Auseinandersetzung im Ersten Weltkrieg

spielt, war damals vielfach beachtet worden und wurde vom Rundfunk mit einer

Reihe von Lesungen, Gesprächen und Geschichten flankiert.

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Drei Männer im Feld

Produktion: WDR 1986

Mitwirkende: Ludwig Harig (Ich); Alois Garg (Vater); Paul Hoffmann (Thiele); EvaGarg (Sprecher)

Musik: Alfons Nowacki

Realisation: Hans Gerd Krogmann

Dauer: 59'40

Ursendung: WDR 1, 20.2. 1986

»Ich erzähle dieses Leben meines Vaters, ich erkläre es nicht (...). Ich bin nicht inder Lage zu entscheiden, was gut und böse, was richtig und falsch war und ist. Esgeht mir vielmehr um das Erzählen von Lebenssi tuationen, wie sie mir bekanntwurden und ich sie selbst miterlebt habe: wie mein Vater die prägenden Normenaus Anlage und Erziehung erfahren und vermit tel t hat (...), wie er sein Lebengeordnet und die Ordnung zum Maß der Dinge gesetzt hat.« (Ludwig Harig in derPresseankündigung des Hörspiels »Drei Männer im Feld«)

huw

1988. Leben und Tod des Kornettisten Bix

Beiderbecke aus Nord- Amerika. Eine Radio-

Ballade.

Ror Wolf

* 29.6.1932 Saalfeld/Thüringen

Fußballphänomenologe und Radiokünstler

Mit dem Sammelband »Das nächste Spiel ist immer das schwerste«

verabschiedete sich Ror Wolf 1990 nach 25jähriger offensiver literarischer

Begleitung des Fußballgeschehens aus einer Arena, die er in Wort und Ton

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meisterlich festgehalten und persifliert hatte. »Der Fall ist beendet. Das ist mein

Abschied vom Fußball« – eine Entscheidung, die überraschte. Die Fachkritik

musste erst einmal durchatmen, denn immerhin hatte der nonkonformistische

Prosaist und Dokumentarist etliche Fußball- Hörspiele – jeweils schwebend

zwischen knallharter Reportage und surrealer Adaption – hinterlassen, darunter:

»Die heiße Luft der Spiele« (SDR/SR/ SWF 1973), »Cordoba Juni 13 Uhr 45« (HR

1979), »Der Ball ist rund« (HR 1979).

Aber das ist nicht alles. Seine Prosatexte »Nachrichten aus der bewohnten Welt«,

»Aussichten auf neue Erlebnisse« belegen die fulminanten Sprachspiele zwischen

Burleske, Collage und Traktat. Der Österreicher Gert F. Jonke urteilte über den in

Mainz lebenden Autor: »Ror Wolf ist an einigen Techniken, die er perfekt

beherrscht und immer wieder anwendet, sofort zu erkennen, da wäre

beispielsweise seine Angewohnheit, an bestimmten Stellen zunächst alles

möglichst rhythmisch aufzuzählen, vor allem Namen, Personen, Gegenstände (...).

«

»Bix Beiderbecke« ist sicherlich sein poetischstes Hörspiel, mit musikalischen

Einschüben und Ritardandi, die immer wieder die Ohren betören und den Hörer

von einem Atlantis der Jazzgeschichte träumen lassen. Nicht nur eine Jazzlegende

und ihr tragischer Fall kommen zum Ausdruck, sondern eben auch Jazzlyrismen,

die den Musikexperten Ror Wolf verraten, der die alten Schellackplatten, die im

Hörspiel zu hören sind, in mühevoller Kleinarbeit in Europa und Übersee

höchstpersönlich ausgegraben hat.

Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord- Amerika.

Eine Radio- Ballade

Produktion: SWF/HR/NDR/WDR 1986

Mitwirkende: Walter Gontermann (Erzähler); Wolfgang Hess (Jackson/Armstrong);Olaf

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Queiser (Jones/Mares); Michael Thomas (Carmichael); Helmut Wöstmann(Trumbauer); Douglas Welbat (Mezzrow); Christian Bruckner (Beiderbecke);Siemen Rühaak (McPartland); Christian Mey (Russell); Hans Wyprächtiger(Whitman); Heinz Hostnig (Böser Mann); Andreas Szerda, Karl- Rudolf Menke,Jürgen Franz, Peter Weis, Gerhard Hinze (Stimmen)

Regie: Heinz Hostnig

Dauer: 71'30

Ursendung: SWF, 12.2. 1987

»Ror Wolf beschreibt am Beispiel des legendären Musikers Bix Beiderbecke einStück Jazz- Geschichte der zwanziger Jahre. Das persönliche Schicksal desKornett isten zeigt das Scheitern des Künstlers, wenngleich nicht seiner Kunst, anden harten Bedingungen des Musikmarktes. Der weitschwingende Erzählbogenverbindet sich mit den originalen Tondokumenten zu einer mitreißendenpolyphonen Ballade. Der epische Gestus des Hörspiels und seine Musikal i tätmachen das Werkfür viele Hörer zugänglich. Ror Wolfs eigenständige undeigenwi l l ige fast zwanzigjähr ige Beschäftigung mit der Radiokunst hat damiteinen neuen Höhepunkt erreicht.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)

chh

1989. Wer Sie sind.

Peter Jacobi

* 30. 5. 1951 Meiningen/Thüringen

Lauschangriffe

Über ein Dutzend Hörspiele hat Peter Jacobi – ehemaliger Buchhändler, Student

der Theaterwissenschaften, der Anglistik und Philosophie – bislang geschrieben,

darunter »Tümpners Neunte« (SFB 1980), »Mordende Worte« (WDR 1983) und »Ein

Fallenlassen« (SR 1987). Theaterstücke wie »Fußballplatz« oder »Der Sohn der

Eltern des Chefarztes« kommen hinzu und – nicht zu vergessen – die kleine

epische Capriole »Mein Leben als Buch« (2000), ein schmales »sprechendes«

Bändchen über das personifizierte Leben als veritables Buch im Regal und

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zwischen neugierigen Händen seiner Leserinnen und Leser. Was Peter Jacobi auch

zu Papier bringt, der Welt und ihren unausweichlichen Zwischenfällen werden bei

ihm die komischen und skurrilen Seiten abgelauscht. Die Comédie Humaine ist

sein literarischer Tummelplatz.

Die Hörspieljury darf sich zugute halten, Peter Jacobis verspielte Späße richtig

bewertet und für nicht zu leicht befunden zu haben. Nicht der spektakuläre

radiophone Kunstgriff wurde 1989 von der Jury belohnt, sondern das listig-

vertrackte Spiel zweier Berufsspione und - abhörer, die möglichwerweise im

Dienste irgendeiner fremden Macht stehen. (Die Normannenstraße, ihre

Tonbandarchive und die MfS- Mannschaft lassen da ganz munter grüßen.) Doch

wer wen abhört und belauscht, bleibt im Hörspiel listig offen. Das kollegiale

Vertrauen wird schließlich erschüttert, als die Geheimdienstler erkennen müssen,

dass sie sich nichtsahnend gegenseitig abhören und dabei ihr unschickliches Tun

noch via Radio gesendet wird. Wer hier eigentlich für wen Programm macht, ist

eine weitere sarkastische und medienspezifische Frage des Hörspiels an seine

Hörer.

In der Jurysitzung des Jahres 1989 anlässlich der Vergabe des Hörspielpreises der

Kriegsblinden gab es einige Stimmen, die intern von einer »Verlegenheitslösung«

sprachen, obwohl die respektable Zeitsatire die meisterliche Könnerschaft Jacobis

nachdrücklich unter Beweis stellte. Hinter solchen Minderheitsvoten verbarg sich

die bekannte (aber unbegründete) Furcht vor der Leichtigkeit des Hörspiels. Doch

die Fraktion der Sparte »U« konnte sich in der Schlussabstimmung dann deutlich

gegen die Abteilung »E« durchsetzen.

Wer Sie sind

Produktion: WDR 1988

Mitwirkende: Ulrich Friedrichsen (Schnödl); Gerd Baltus (Baader); Eva Garg(Frauenstimme); Wolfgang Grönebaum (Jacobi)

Regie: Dieter Carls

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Dauer: 36' 15

Ursendung: WDR, 11. 12. 1988

»›Wer Sie sind‹, heißt dieses Hörspiel des 38jährigen Autors Peter Jacobi, der sichschon mit so manchem Text lakonisch und bissig auf die Medienwirk l ichkei teingelassen hat. Diesmal wagt er sich weit vor, indem er die zeitgenössischenAbhörängste kombinier t mit Räsonnieren über die scheinbar so elitäreHörspielkunst, die Untertanen - Mentali tät der schnüffelnden Beamten und ihrekaum kaschierten Zweikämpfe kontrast iert mit der Schauspielerarbeit im Studio(...). Jede Pause, jeder akustische Akzent, jedes Wort sitzt in diesem komisch -grotesken Dialog der beiden Abhör - Darsteller.« (Mechthi ld Zschau in derFrankfur ter Rundschau, 30. 3. 1989)

chh

1990. Ein Nebulo bist du.

Jens Sparschuh

* 14. 5. 1955 Karl- Marx- Stadt/heute: Chemnitz

Anspielungsreich

In den Feuilletons ist man sich einig: Jens Sparschuh, 1955 in der DDR geboren,

seit den 80er Jahren literarisch tätig, gehört zu den wichtigsten Vertretern einer

so genannten neuen ostdeutschen Literatur: Ein politisch integrer Schriftsteller,

denn der seit 1983 in Berlin arbeitende Romancier, Dramatiker und

Kinderbuchautor engagierte sich Ende der 80er Jahre im Neuen Forum und einige

Zeit später im Bündnis 90; ein intelligent - anspielungsreicher Literat, der den

Goethe- Adlatus zu Wort kommen lässt in seinem Roman »Der große Coup. Aus

den geheimen Tage- und Nachtbüchern des Johann Peter Eckermann« (1987)

oder in dem preisgekrönten Hörspiel »Ein Nebulo bist du« mit Immanuel Kant und

seinem Diener ein Kapitel Philosophiegeschichte von unten schreibt; sowie

schließlich ein unterhaltsamer, witziger Romancier, dessen satirischer

»Heimatroman« »Der Zimmerspringbrunnen« (1995) etwa als höchst vergnügliche

Satire auf die »Ostalgie« gefeiert wird.

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»Hörspiel ist die hohe Schule des Seelenvermögens. Jemand spricht. Und während

des Sprechens verwandelt sich Jemand in eine Gestalt, bekommt Hand und Fuß,

steht auf eigenen Füßen, geht, geht nicht, geht dann doch, kommt wieder –

spricht. Und wenn er das alles mit genug Eigenart getan hat, dann geht er

plötzlich ... uns nicht mehr aus dem Kopf. Wir werden zu Ohrenzeugen eines

reinen Schöpfungsaktes.« Mit diesen Worten formulierte Jens Sparschuh sein

Credo an die radiophone Form. Eine Liebeserklärung, deren praktische

Umsetzung bis in das Jahr 1980 zurückreicht, als »Adieu mein König Salomo«

beim Rundfunk der DDR produziert wurde. Diesem Auftakt folgten mehrere

Hörspiele und Features, für den Rundfunk der DDR ebenso wie bereits vor 1989

für den Norddeutschen Rundfunk und Radio Bremen.

Obwohl Jens Sparschuh, wie er sagt, mit der offiziellen Kulturpolit ik der DDR

kaum in Berührung gekommen ist, war dem »groß angelegten Projekt der

zwangsweisen Besserung des Menschen durch Aufklärung«, wie »Ein Nebulo bist

du« in eigentümlicher Beziehung zur DDR schildert, vor der Wende kein Erfolg

beschieden. Der monologische Text des Martin Lampe, des Dieners von

Immanuel Kant, war bereits in den Leningrader Studententagen von Sparschuh

Mitte der 70er Jahre entstanden, doch die Veröffentlichung 1980 blieb

unbeachtet. Den Titel entlieh er einem lateinischen Studentenspruch, der zu

Kants Jugendzeit in Königsberg kursierte: »vacca, eine Zange, forceps, eine Kuh,

rusticus, ein Knebelbart, ein nebulo bist du«. Als ein solcher Nebulo, ein

Flatterwesen, sei der große Philosoph in den Augen seines Dieners Lampe

erschienen, bewundernswert in der Theorie, ein Ignorant jedoch gegenüber den

alltäglichen Dingen des Lebens.

Ein Nebulo bist du

Produktion: SR/SWF/SDR 1989

Mitwirkende: Manfred Steffen (Martin Lampe)

Realisation: Norbert Schaeffer

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Dauer: 62'52

Ursendung: SR, 14.9. 1989

»In argumentat iven Slapsticks stolpert der Diener virtuos am Rande der Kluftzwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen dahin. Ähnlich komisch wieNestroy nimmt Sparschuh Metaphern beim Wort (...). Und wenn der Diener über›Kompromit t ierende Kompromisse‹ an der Seite des Genies klagt, tri t t ersozusagen in die Fußstapfen von Karl Kraus. « (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

huw

1991. Stille Helden siegen selten.

Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis/Ralph Oehme

* 3. 5. 1946 Berlin

* 28. 8.1954 Geithain/Sachsen

Wir sind das Volk

1989, Montagsdemonstrationen: In Leipzig und anderen Städten der DDR

versammelten sich Bürgerinnen und Bürger, um friedlich gegen die DDR-

Regierung zu demonstrieren. Im Herbst des Jahres fiel die Mauer: Die Wende, die

Geschichte der DDR ging ihrem Ende entgegen. Ein großes zeithistorisches

Ereignis, das nachdrückliche Spuren beim Einzelnen hinterließ, das Fragen

aufwarf, Wünsche und Hoffnungen freisetzte, aber auch Enttäuschungen und

Zorn hervorrief.

Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis, freier Film- , Fernseh- und Hörfunkautor, griff im

Herbst 1989 die Initiative von Christoph Buggert, dem Hörspielleiter des HR, auf,

nach Leipzig zu gehen, um das turbulente Geschehen akustisch zu

dokumentieren. Unterstützung bot ihm die von Peter Leonhard Braun geleitete

Feature- Abteilung des SFB. In der sächsischen Handelsmetropole erhielt er

Produktionshilfe durch Ralph Oehme, der als freier Autor in Leipzig lebte.

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Gemeinsam nahm man ein halbes Jahr lang, bis zu den ersten freien

Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 rund 120 Stunden Originalton auf,

Mitschnitte von Versammlungen, öffentliche Gespräche, aber auch persönliche

Aussagen von Leipzigern über das, was um sie herum vorgeht, und über das, was

sie in diesen Tagen bewegt. Aus dem reichhaltigen akustischen Material entstand

im Frankfurter Hörspielstudio eine packende einstündige O- Ton- Collage.

Die Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden würdigte das groß angelegte

radiophone Oral - History - Unternehmen »Stille Helden siegen selten«, indem sie

betonte, dass die Zeugenaussagen von den beiden Autoren »zu einer kunstvoll

aufgebauten Erzählung zusammengefügt« worden seien, »in der nicht die

vielgenannten Anführer das Wort haben, sondern unbekannte Menschen,

leidende, aufständische und beglückte, aber auch Stasi- und Parteifunktionäre,

Spekulanten und Nutznießer.« Und sie führte aus: »Die Sendung geht durch ihre

Gliederung, Dramaturgie und durch die deutende Montage weit über

konventionelle Dokumentation hinaus.«

Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis ist dem Publikum nicht nur mit zahlreichen

Hörspiel- und Featureproduktionen bekannt, sondern auch durch seine

Autorschaft bei Film- und Fernsehdrehbüchern, darunter populäre Serien wie

»Verbotene Liebe«, »Dr. Sommerfeld, Neues vom Bülowbogen« und das ZDF-

Kinderprogramm »Löwenzahn«.

Ralph Oehme arbeitet als freier Autor in Leipzig, wo er besonders als Dramatiker

Erfolge feiert, etwa 1998 mit der Komödie »Die spanische Lunte« am Leipziger

Schauspiel.

Stille Helden siegen selten

Produktion: HR/Sachsen Radio/SFB 1990

Mitwirkende: Zeitzeugen der so genannten sanften deutschen Revolution

Realisation: Karl- Heinz Schmidt- Lauzemis und Ralph Oehme

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Dauer: 57'40

Ursendung: HR 2, 8.10. 1990

»Auf ihre Weise nimmt diese Collage die Parole ›Wir sind das Volk‹ beim Wort,indem sie den Bann des Kollekt ivs bricht und Einzelstimmen heraushebt, indemsie nicht Prominenz, sondern den unbekannten Demonstranten Stellung beziehenläßt.« (Eva- Maria Lenz in der Frankfur terAl lgemeinen Zeitung, 4.4.1991)

huw

1992. Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer

des Herrn Lehmann.

Horst Giese

* 1926 Neuruppin

Der Preis

Die Jury war begeistert. 17 von 19 Stimmen entfielen auf die subversive Jazz-

Wort- Collage von Horst Giese. Das radiophon entwickelte Spiel mit alten Jazz-

Schallplatten und der aberwitzigen Handlung um den lautstark in die

Konzertaufnahmen hinein servierenden Kellner Lehmann, der für einen Spion und

für einen Insassen einer Psychiatrie gehalten werden kann, begeisterte die

Juroren. Der Spaß an und mit den hörbaren Jazzabenteuern war groß.

Um so ernüchternder die Folgen dieser Preisentscheidung. Eine auf die

Pressemitteilung hin erfolgte Anzeige entlarvte im Mai 1992 Horst Giese – der in

der DDR als Schauspieler, Stimmenimitator, Regieassistent und als Mitarbeiter bei

der DEFA gearbeitet hatte – als »IM«, als inoffiziellen Mitarbeiter; darüber hinaus

stellte sich heraus, dass Giese zwischen 1961 und 1977 mehrfach für die

»Staatssicherheit« tätig geworden war. Der Juryvorsitzende Friedrich Wilhelm

Hymmen und der BKD als Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinden hielten

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zwar an ihrer Entscheidung fest, verschoben jedoch die Feier auf das Frühjahr

1993.

Der »Fall« Horst Giese beschäftigte die Medien im gerade wiedervereinigten

Deutschland. Ein besonderes Gewicht kam dabei einer Sendung der RIAS-

Redakteurin Gylfe Schollak zu; ihr Titel: Der Preis; Untertitel: Zwischen Stasi und

Jazzabenteuer. Versuch einer Klärung (RIAS, 20. 1. 1993). In den Aussagen von

Horst Giese, seiner Ehefrau Gisela sowie den Stellungnahmen einiger von ihm

bespitzelter und verratener Personen wird die heillose Verstrickung Gieses in ein

skrupelloses System deutlich, seine Unentschiedenheit, sein wirres Leben, das

anderen Tribut abverlangte und für das er selbst einen lebenslangen Preis zahlt.

Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann. Ein Jazz-

Hörspiel

Produktion: RIAS 1990/Eigenproduktion des Autors 1979

Darsteller: Horst Giese in 26 Rollen sowie Originalstimmen bekannterFilmschauspieler

Realisation: Horst Giese

Dauer: 75'21

Ursendung: RIAS, 4. 1. 1991

»Sie hörten: ›Die sehr merkwürdigen Jazzabenteuer des Herrn Lehmann‹. Idee,Manuskr ipt, Musikzusammenstel lung, Trickaufnahmen, Schnit t und Sprechersämtlicher Rollen war Horst Giese (...). Die Produkt ion dieses Hörspiels erfolgtevon Januar bis April 1979 auf zwei Heimtonbandgeräten in Potsdam und durf tebis zur Wende nicht veröffent l icht werden.« (Aus dem Abspann des Hörspiels)

huw

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1993. Sense.

Werner Fritsch

* 4. 5. 1960 Waldsassen

Verstörend: Der Bodensatz der Gesellschaft

Meist riefen seine bisherigen Erzählungen, Stücke und Filmprojekte ein

unterschiedliches Echo hervor.

Für die einen ist der in der Oberpfalz, im deutsch- böhmischen Grenzgebiet

aufgewachsene Autor Werner Fritsch ein eigenständiges hoffnungsvolles Talent in

der Tradition von Marieluise Fleißer, Franz Xaver Kroetz und Herbert

Achternbusch. »Er erfindet für die zur Sprachlosigkeit verrohten Menschen eine

kräftige, ordinäre, verstörende Kunstsprache«, urteilten Kritiker und konstatierten

in Bezug auf den 1992 erschienenen Monolog »Sense«: »Dieser furiose und rauhe

Text ist nicht unmittelbare Weltabbildung, sondern ein ziemlich hinterhältiges

Kunstprodukt«. Luck, der Landwirt aus der Oberpfalz, sei »eine Kunstfigur, dem

über dem Versuch, sich ein Weltbild zu machen, bizarr poetische Bilder

aufsteigen und sich in seine Sprache drängen.«

Für andere ist Werner Fritsch ein Enfant terrible im literarischen Betrieb, ein

Mundart - Kraftmeier, dessen »knorziges Idiom bei Nordlichtern manches skurrile

Mißverständnis provoziere« (Der Spiegel), ein gefährlicher Autor schlechterdings,

der den Protagonisten Bewußtseinsmonologe in den Mund lege, die im

»faschistoiden Sprachbodensatz der Gesellschaft gründeln« (Frankfurter

Allgemeine Zeitung).

Dabei ist das literarische Opus des jungen nordostbayerischen Autors noch

relativ schmal: 1987 das Debüt mit »Cherubim«, das in 203 Einstellungen die

Lebensgeschichte des Bauernknechtes Wenzel erzählt; 1989 »Steinbruch«, ein

Text, in dem der Autor das Bewusstsein eines im Manöver Geschundenen

wiedergibt; 1992 »Fleischwolf«, ein spektakuläres Theaterstück, ein Kriegsdrama

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in Friedenszeiten mit Nutten, Zuhältern, sadistischen Offizieren, in dem sich

»Blut, Schweiß und Sperma« zu einem grässlichen Szenario zusammenfügen.

Darüber hinaus weitere Bühnenstücke und Prosatexte wie »Jenseits« und »Aller

Seelen. Golgotha« (beide 2000 erschienen).

Dazwischen: »Sense«, ein in der Buchfassung 60 Seiten schmaler Monolog,

dessen beim SWF entstandener Radiofassung 1993 der Hörspielpreis der

Kriegsblinden zuerkannt wurde. Mit einem denkbar knappen Vorsprung von nur

einer Stimme setzten sich der beeindruckende Text und die kraftvolle Gestaltung

durch Hans Brenner gegenüber hörspielspezifischen Werken von Simone

Schneider (Roter Stern, BR 1992) und Heiner Goebbels (Schliemanns Radio,

HR/BR/SFB 1992) durch.

Sense

Produktion: SWF 1992

Mitwirkende: Hans Brenner

Musik: Peter Zwetkoff

Realisation: Norbert Schaeffer

Dauer: 75'57

Ursendung: SWF, 22.10. 1992

»Werner Fritsch läßt in einem mehrschicht igen, oft dramatischen Monolog einenalten Bauern zu Wort kommen, dessen enge Erlebniswelt sich überwiegend inKriegserinnerungen und in Klagen über das Ende seines Schäferhundes erschöpft.Als ein Opfer seiner Zeit, macht sich der Bauer Lukas hilf los und verbohrt einenReim auf eine, auch durch gegenwärt ige Katastrophen aus den Fugen gerateneWelt (...). Die rauhe, belebte Sprache wird unter der Regie von Norbert Schaefferdurch die kraftvol le Stimme Hans Brenners in den unterschiedl ichsten Tönungenvom Brutalen bis zum Zärtl ichen, vom Angeberischen bis zur Verunsicherungbedrängend präsent.« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)

huw

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1994. Unser Boot nach Bir Ould Brini.

Christian Geissler

* 25.12. 1928 Hamburg

Utopia in der Wüste

Sein Lebenslauf verlief eher in Sprüngen und verrät den Unangepassten, der sich

nicht vereinnahmen und kaum feiern lässt – schon gar nicht im offiziellen Bonn

bei einer Preisverleihung für eines seiner Hörspiele. »Lehrmeinungen und

Institutionen haben sich in den Augen Geisslers immer wieder unfähig erwiesen,

wirksamen Widerstand gegen herrschendes Unrecht zu leisten«, schrieb der

Literaturwissenschaftler Hans Joachim Schröder und fuhr fort: »Im Kampf gegen

Lüge, Brutalität, Ungerechtigkeit und Unterdrückung war er offenkundig nicht

bereit, sich taktisch zu verhalten und zugunsten irgendeiner Glaubens- und

Parteitreue Kompromisse einzugehen.«

Sein erstes Hörspiel schrieb Geissler 1957: »Es geschah in ... Holland« (WDR

1957); gefolgt von »Jahrestag eines Mordes« (SWF 1968) und

»Verständigungsschwierigkeiten« (SWF 1970). Daneben arbeitete Geissler als

Dokumentarfi lmer für den NDR und war Dozent an der Film- und

Fernsehakademie in West- Berlin. Zusammen mit Egon Monk realisierte er die

Fernsehfilme »Anfrage« (NDR 1962), »Schlachtvieh« (NDR 1963) und

»Wilhelmsburger Freitag« (NDR 1964). Darüber hinaus stehen im Mittelpunkt

seines literarischen Schaffens Romane und Gedichte: »Anfrage« (1960), »Ende der

Anfrage« (1967), »Das Brot mit der Feile« (1973), »Kamalatta« 1988),

»Wildwechsel mit Gleisanschluß« (1996).

Als ehemals aktiver Parteigänger der DKP, als Kämpfer gegen Neonazismus und

Mitglied des Kuratoriums »Kampagne für Abrüstung und Ostermarsch« war

Geissler stets ein entschiedener Pazifist. In der Auseinandersetzung mit seinem

politischen Engagement, mit Terrorismus und Pazifismus sowie mit dem

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Zusammenbruch des Kommunismus kommt dem preisgekrönten Hörspiel »Unser

Boot nach Bir Ould Brini« – parallel zu seiner »Schreibarbeit Februar 89 bis

Februar 92«, veröffentlicht unter dem Titel »Prozeß im Bruch« (1992) – eine

zentrale Stellung zu. Im Hörspiel bedient Geissler sich geheimnisvoller

Sprachchiffren und mythischer Bilder; die Sehnsucht nach sozialistischer oder

urchristl icher Solidarität treibt die facettenreiche Monologe durch eine

mehrdeutige Wüstenlandschaft. Hannelore Hoger hat dem politischen Traumspiel

in der Wüste ihre fein nuancierende Stimme geliehen, und der Autor selbst

spricht und zelebriert unter der überzeugenden Regie von Hermann Naher ein

expressives Epitaph auf zersprengte und verloren gegangene sozialistische

Identitäten.

Unser Boot nach Bir Ould Brini

Produktion: SWF 1993

Mitwirkende: Hannelore Hoger (Sprecherin); Hans Peter Bögel, Helmut Wöstmann,Markus Hoffmann, Sabine Postel, Anette Ziellenbach (Stimmen); Christian Geissler(Stimme des Autors)

Komposition: Cornelius Schwehr

Regie: Hermann Naber

Dauer: 64'20

Ursendung: SWF, 8.4.1993

»FREMD IN BONNgedanken zum verrücktwerdenoder wie ich mich doch auf das bitten verlegte

lieber herr dr. sonntag, lieber herr hymmen, meine damen und herren.

liebe kolleginnen und kollegen aus dem mediengeschäft. liebe freundinnen undfreunde, liebhaber der sprache, genossen im unsinn der tage.

guten tag, herr minister

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drei Leute haben zur entstehung von bir ould brini, ohne davon zu wissenbeigetragen. sie können heute nicht hier sein. darum nenne ich sie mit namen. diegefangene eva haule hat mir einmal ein märchen gezeigt, von ihr erfunden undaufgeschrieben für ein kind draußen in stut tgart. in diesem märchen ist dasbefreite gebiet eine wüste. und die lehrerin brigi t te henke- sechtig will ich grüßenund ihren mann, den lehrer birger henke- sechtig. die beiden machensaharafahrten, haben ihre erfahrungen in einem buch veröffent l icht, haben mirviel erzählt, wicht ige bilder gezeigt – die Schönheit einer Sorgfal t eines muteseiner freude. ich grüße und danke.« (Christ ian Geissler bei der Verleihung desHörspielpreises der Kriegsblinden in Bonn am 24. Juni 1994)

chh

1995. Apocalypse live.

Andreas Ammer/FM Einheit, d. i. Frank Martin Strauß

* 23. 3. 1960 München

* 18. 12. 1958 Dortmund

Große Form

Zu Beginn des Jahres 1990 überraschte ein junger Autor die Hörspielszene:

Andreas Ammer, 1960 in München geboren, abgeschlossenes Studium, freier

Schriftsteller und Journalist. Seine »akustische Enzyklopädie der Geräuschkunst«,

der »Orbis auditus« (BR 1990), machte hellhörig, denn hier spielte einer souverän

mit der Klangkunst, machte die soundpoetry zum akustischen Erlebnis. Ein

selbstvergewissernder Auftakt mit lexikalischem Ansatz, dem folgerichtig

innerhalb des nächsten Jahrzehnts immer neue Ausformungen und

Weiterentwicklungen der Radioform(en) folgten. Mittlerweile mehr als ein gutes

Dutzend großer und kleiner Hörspielwerke – von der großen Hörspiel- Oper bis

zur etüdenhaften Montage und dem Remix – verbinden sich seither mit einer

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stattlichen Anzahl an nationalen und internationalen Auszeichnungen.

Schnappschuss unmittelbar nach der Übergabe der Hörspielpreisplastiken an FM

Einheit und Andreas Ammer (1995); rechts der BKD- Vorsitzende Franz Sonntag.

Vor allem eine Komposition beeindruckte das Hörspielpublikum 1993

nachdrücklich. Gemeinsam mit FM Einheit, dem Musiker und Komponisten, dem

Soundtüftler und langjährigen Schlagzeuger der Gruppe »Einstürzende

Neubauten«, begab sich Ammer auf den akustischen Wellentrip. Weltliteratur als

Ausgangspunkt für Audio Art : »Die Hölle, das ist ein Text von Dante«, und

»Radio Inferno« – so der Titel dieser konzertanten Aufführung im Münchner

Marstall – ist eine groß angelegte Rock- Pop- Oper, eine anspielungsreiche Klang-

und Zitaten- Collage.

Während »Radio Inferno« 1994 in der Juryabstimmung beim Hörspielpreis der

Kriegsblinden nur knapp unterlag, war die Entscheidung ein Jahr später

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eindeutig. Wieder hatte das Duo Ammer/FM Einheit sich einem Text der

Weltliteratur genähert, diesmal einem biblischen Text, der Apokalypse des

Johannes. Im Bayerischen Staatsschauspiel, dem Münchner Marstall, wurde mit

allen erdenklichen musikalischen und stimmkünstlerischen Mitteln das Welt- ende

eingespielt. Für alle, die beim Showdown nicht live dabei sein konnten, gab es

die Aufzeichnung. Denn im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist die

Apokalypse wiederholbar geworden und war am Jahresende 1994 im

Radioprogramm zu verfolgen.

Apocalypse live. Ein Hörspiel in 22 Gesängen

Produktion: BR/Bayerisches Staatsschauspiel (Marstall) /Bayerische Staatsoper

Mitwirkende: Sprache und Gesang: Phil Minton (Hl. Johannes und The Angel); AlexHacke (Die Bibel); David Greiner (Der Kastrat); Hanns- Joachim Friedrichs (Das TV);Pater Karl Kleiner (Der alte Grieche). – Das Orchster: Alex Hacke (ElektrischeGitarre); Ulrike Haage (Flügel und Keyboards); FM Einheit (Schlagzeug und Feuer);Sebastian Hess (Cello)

Komposition: FM Einheit und Ulrike Haage

Realisation: Andreas Ammer und FM Einheit

Dauer: 69'00

Ursendung: BR 2, 9.12. 1994

»Der Weltuntergang wird zum Medienereignis: vielfach gespiegelt undperspektivisch gebrochen, akustisch in allen Versionen und Facetten interpret iert,als grandioses Spektakel in einer Nachrichten - Show zelebriert. In 22 songart igaufgebauten Abschnit ten treibt das Arrangement, das Zitate aus Jazz, Pop,Country, Barock mit Neukomposit ionen und Improvisationen mischt und mitText - Bruchstücken verbindet, die vielfach instrument ier te und raff iniertgeschichtete Oratoriums - Revue vorwärts (...). Ein Bibel - Höhepunkt wandelt sichso zum Sonderprogramm, Untergangsvisionen werden zu Tonträgern vonWerbespots.« (Aus der Begründung der Jury des Hörspielpreises derKriegsblinden)

»Die Intell igenz des Stückes von Ammer und FM Einheit liegt wohl auch darin,dass er kein kul turh is tor isches Lamento anstimmt, nicht ostentat iv überVerfallsprozesse klagt, nicht überdeutl ich etwas anprangert, sondern nur etwasreflekt ier t, krit isch und zugleich nicht aufs Bessere zeigend oder vor dem nochSchlimmeren warnend. Ammers Kunststück ist, nicht einfach glatt

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mitzuschwimmen, nicht einfach bloß ein schickes Medien- Produkt abzuliefern,das besinnungslos ›von heute‹ ist, sondern die Ironie, die Distanz von dem, wasim Augenbl ick so läuft und angesagt wird, ohne großes Pathos dennocheinzukomponieren. Der denkerische oder geschichts - und gesellschaftskr i t ischePunkt, von dem her der Gang der Dinge heute zu kri t isieren wäre, ist einfachnicht zu konstru ieren – es sei denn um den Preis einer besserwisserischenMetaphysizi tät, die einem keiner abnähme. « (Jörg Drews)

huw

1996. Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach

Ubliaduh.

Fritz Rudolf Fries

* 19. 5. 1935 Bilbao/Spanien

Geschichte und Geschichten

Es war die 45. Sitzung in der Geschichte des Hörspielpreises und es war

gleichzeitig die erste Sitzung ohne den Gründungsvater Friedrich Wilhelm

Hymmen, der im Jahr zuvor im Alter von 82 Jahren verstorben war. Aus einem

Kanon diskussionswürdiger und preisverdächtiger Stücke, deren Schwerpunkt auf

der Geschichte ruhte und um das Erzählen von Geschichten kreiste, ging Fritz

Rudolf Fries' Hörspiel »Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh«

hervor.

Wesentliche Hörspielmotive hatte der 1935 in Spanien geborene, in Leipzig

aufgewachsene und seit 1966 in Berlin lebende Autor seinem Prosaerstling »Der

Weg nach Oobliadooh« (1966) entnommen, den er als DDR- Schriftsteller damals

nur im Westen veröffentlichen konnte. Erst 1989, kurz vor der Wende, hatte der

Roman auch eine DDR- Ausgabe erlebt. Weitere Motive kamen aus seiner 1982

entstandenen Erzählung »Frauentags Ende oder Das Ende von Arlecq und Paasch«

hinzu.

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Ausgangspunkt des vom Mitteldeutschen Rundfunk produzierten Hörspiels ist

der Jahreswechsel 1989/90, wenn sich die beiden Jugendfreunde Arlecq und

Paasch an ihre wilde Zeit in den 50er Jahren erinnern. Alkohol und Mädchen,

Zigaretten und Jazz bestimmen das studentische Leben, Politik ist allenfalls ein

Gegenstand für Parodie.

Schon wenige Jahre nach der Wende stach das kunstvoll erzählte Hörspiel von den

vielen Betroffenheitsgesten der ostdeutschen Mentalität ab; der starke literarische

Text des renommierten Prosaautors Fritz Rudolf Fries gewann dem bei ihm so

genannten »dialektischen Umwandlungsprozess« viel Witz und sprachliche

Eleganz ab; die sublime Erzählkunst voller Anspielungen und Verschlüsselungen

bot ein Hörspiel, das viel über den DDR- Alltag und die DDR- Geschichte

berichtete, um gleichzeitig eine ebenso mustergültige Geschichte von zwei

jungen Leuten zu erzählen, die von »Ubliaduh«, dem Märchenland in Dizzie

Gillespies Jazz- Ballade, träumen, aber schließlich von der Realität ihres Staates

und der bürgerlichen Ehe eingeholt werden.

Das Hörvergnügen der Jury im März 1995 wurde nur kurze Zeit später in Frage

gestellt. Im April wurden die weit reichenden Verstrickungen des ostdeutschen

Schriftstellers mit der »Stasi« aufgedeckt. Die feierliche Übergabe des Preises im

Plenarsaal war geplatzt. In den Feuilletons entspannte sich eine lebhafte

Diskussion um den »IM Pedro Hagen« alias Fritz Rudolf Fries, und der

Hörspielpreis der Kriegsblinden geriet in die Schlagzeilen. Während Fries –

gleichermaßen geängstigt wie pikiert schwieg, suchte die Jury eine neue Form für

die Übergabe ihres Preises, der zunächst einmal einem Stück und nicht der

moralischen Qualität einer Person gilt. Die »kritische Öffentlichkeit« statt der

ausgewählten Polit - Prominenz fand sich am 30. Oktober 1995 im Berliner

Künstlerklub »Die Möwe« ein. Fritz Rudolf Fries' Rede bei der Verleihung des

Preises mit dem Titel »Die Gräte im Hals« sowie ein Rundfunkkommentar des

damaligen Münchner Hörspielverantwortl ichen Christoph Lindenmeyer zum »Fall

Fries« werden in diesem Band abgedruckt.

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Frauentags Ende oder Die Rückkehr nach Ubliaduh

Produktion: MDR Leipzig 1995

Mitwirkende: Winfried Glatzeder (Peter Arlecq); Manfred Krug (Klaus Paasch);Andrea Solter (Anne); Frauke Poolmann (Brigitte Lohmann); Horst Hiemer (HerrLohmann); Marylu Poolman (Frau Lohmann); Franziska Troegner (Tante Flora);Eberhard Esche (Gott); Edgar Harter (Stanislaw); Heide Kipp (Frau Schwennicke);Dieter Bellmann (Chefarzt); Siegfried Worch (Hauswirt); Matthias Hummitzsch(Stasi 1); Wolfgang Jakob (Stasi 2); Peter Groeger (Berger) u. a.

Regie: Wolfgang Rindfleisch

Dauer: 59'55

Ursendung: MDR Kultur, 3.10. 1995

huw

1997. Compagnons und Concurrenten oder Die

wahren Künste.

Ingomar von Kieseritzky

* 21. 2. 1944 Dresden

Humor und Komik

Die Schlussabstimmung der Jury wurde spannend. Denkbar knapp fiel 1997 das

Ergebnis zugunsten von Ingomar von Kieseritzky aus, John Berger und Klaus

Buhlert unterlagen mit ihrem medialen Spiel »Will it Be a Likeness«. Ingomar von

Kieseritzky, seit 1971 in Berlin als freier Autor arbeitend, erhielt mit seinem

grotesk- satirischen Dialoghörspiel »Compagnons und Concurrenten oder Die

wahren Künste« jetzt diejenige Auszeichnung zugesprochen, der in den

zurückliegenden Jahren schon so manche seiner Hörspielarbeiten sehr nahe

gekommen war. Allein 1972 und 1980 hatte sich Kieseritzky mit »Zwei Systeme«

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und »Plutonium II« nur mit Platz 2 begnügen müssen, in nahezu allen Jahrgängen

der letzten zwei Jahrzehnte war immer auch ein Hörspiel des Meisters des

radiophonen Dialogs zur Debatte gestanden. 1997 hatte es gereicht.

Es mag Kieseritzkys sage und schreibe 100. (!) Hörspiel gewesen sein oder dieser

runden Bilanz zumindest sehr nahe kommen, wie der Überblick über das große

Hörspielœuvre seit 1969 zeigt. Manfred Mixners polemische Bemerkung im

Nachwort zu einer Auswahledition, mit der Kieseritzkys Verlag Klett- Cotta seinen

Autor vor einigen Jahren bedachte, wurde widerlegt. Der ehemalige Berliner

Hörspielleiter hatte geschrieben: »Wie viele Hörspiel - Manuskripte er in den

vergangenen zwanzig Jahren geschrieben hat, weiß er selbst nicht mehr. Für

keines hat er bislang eine Auszeichnung oder einen Preis bekommen. Das spricht

nicht für den deutschen Hörspielbetrieb.«

Denn seine Hörspiele fanden und finden sich in den Programmen aller

Rundfunkanstalten. In den letzten Jahren betreute besonders die Stuttgarter bzw.

Baden- Badener Hörspieldramaturgie seine Arbeiten. Dazu gehören »Auch Mäuse

haben Parasiten oder Ein Haus wird besetzt« (1995), »Die Fragen des Yeti oder

Die Lichtung« (1994) sowie »Wunschprogramme für Riesenschildkröten« und

»Katzenfutter« (beide 1992).

»Compagnons und Concurrenten oder Die wahren Künste« ist eine Satire auf die

Dichter- Clubs in Weimar nach Goethes Tod 1832, gezeichnet mit dem für

Kieseritzky so typischen intellektuellen Humor. Die Epigonen feiern. Zwischen

dem Zirkel um Huhn und dem um Maushack entwickelt sich eine veritable

Konkurrenz, Kunstwerke produzieren zu müssen. In diversen Musenkränzchen,

Teegesellschaften und Trinkgemeinschaften wird heftigst diskutiert, konversiert,

räsoniert. Man würde den Kanon der Literatur gern durchbrechen, um zu

Dichterruhm zu gelangen, wenn man nur wüßte, wie dieser Kanon beschaffen ist.

Wie in vielen der Kieseritzkyschen Funkarbeiten sind es auch in dem

»Compagnons und Concurrenten«- Stück die skurrilen Helden und die komischen

Vertreter ihres Fachs, mit denen ihr Autor kybernetische Systeme – hier den

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epigonalen Literaturbetrieb – durchspielt. Voller parodistischem Wortwitz, der in

diesem Hörspiel gepaart ist mit dialektaler Vielfalt, voller satirischer

Anspielungen auf Moderne und Postmoderne, entwickelt sich das für alle seine

Hörspiele so charakteristische Hörvergnügen am brillanten Dialog.

Compagnons und Coneurrenten oder Die wahren Künste

Produktion: SDR/DLR Berlin

Mitwirkende: Wolfgang Jakob (Barthels); Dieter Mann (Huhn); Jürgen Holtz(Lüdge); Eberhard Esche (Storch); Klaus Bieligk (Maushack); Axel Wandtke(Ganser); Dirk Audehm (Vetting); Katrin Klein (Ottilie); Gudrun Ritter (WitweWeniger)

Regie: Joachim Staritz

Dauer: 66'32

Ursendung: SDR 2, 11.4.1996

»Eine für Kieseritzky typische Konstel lation: Mit austarierten Kopfgeburten Sinnund Praxis des Lebens auszuloten. Und dabei regelmäßig ins Spannungsfeld vonWitz und Aberwitz zu geraten. So entfaltet sich eine absurde Unterhal tung,angetrieben von federnden Sprachspielen, von grotesken Einfällen, voneigentümlichen Vorstel lungen.« (Aus der Begründung der Jury desHörspielpreises der Kriegsblinden)

huw

1998. Die graue staubige Straße.

Ilona Jeismann/Peter Avar

* 31. 1. 1945 Großsteinberg (Sachsen)

* 4. 6. 1962 Essen

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Sound- Engineering

Zwei Radiomacher oder besser: Insider des ganz praktischen Radiobetriebs am

SFB hatten sich 1997 zusammengeschlossen und erzählten von den

Innenansichten eines russischen Komponisten (Schostakowitsch) und den

ideologischen Exzessen unter Stalin. Der eine Praktiker heißt Peter Avar und ist

seit 1987 Toningenieur und Tonmeister beim SFB; seine Kollegin, Ilona Jeisman,

arbeitet seit vielen Jahren für den Hörfunk in den Abteilungen E-Musik, Hörspiel

und Feature.

»Wirrwar statt Musik«, so war am 28. Januar 1936 ein Artikel in der »Prawda«

überschrieben. Der Gescholtene und Erniedrigte war kein Geringerer als Dimitri

Schostakowitsch, dessen neuer Musikstil als »volksfremd«, »westlich« und

»unnatürlich« gebrandmarkt wurde. Hier setzten Jeismann und Avar mit ihrem

Hörspiel ein, in dem sie in kunstvollen musikalischen Brechungen und fiktiven

Monologen den Kampf des Komponisten gegen Stalinismus, Terror und

Einengung des Individuums spiegeln.

Beeindruckende Sprech- und Rapszenen werden dabei neben die Originalzitate

aus der 10. Symphonie (sie wird nach und nach in voller Länge eingespielt)

gestellt. Der Medienkritiker Jens Balzer kommentierte das neue Hörspielverfahren

folgendermaßen: »Der Tonmeister Peter Avar hat Jeismanns Text in die Musik

eingewirkt, mit allen Tricks des digitalen Sound- Engineering. Sehr kunstvoll nutzt

er Lautstärke, Hall und Verzerrungseffekte, um die wechselnde Distanz des

Sprechenden zum erinnerten Geschehen zu symbolisieren.«

Die zunächst riskante Gratwanderung zwischen Musikgeschichte, Tagespolitik

und Künstlerbiographie verliert durch das musikalische Gewicht der Symphonie

manche bizarre Verkrustung und lässt dann auch das plakative Gedankengut

über das Thema Kunst und Partei zu einem aufregenden Hörerlebnis werden. Die

Verbindung von Sprache und Symphonie sei – so die »Hörzu« – »absolutes

Neuland im Hörspiel - Genre. Und das war es, was die Jury vor allem

beeindruckte.«

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Die graue staubige Straße

Produktion: SFB 1997

Mitwirkende: Dieter Mann (Schostakowitsch); Winfried Wagner (Tuchatschevsky);Klaus Manchen (Stalin); Jürgen Hentsch (Tschechow); Lissy Tempelhof(Achmatova)

Realisation: Ilona Jeismann und Peter Avar

Dauer: 59'57

Ursendung: SFB, 4.11. 1997

»Hier ist die Musik der Ur- Text. Vorlage ist die Zehnte Symphonie vonSchostakowitsch, entstanden nach Stalins Tod im Jahr 1953. In demprogrammatischen Werk spiegeln sich die tragischen Erfahrungen desKomponisten, der die russische Revolut ion künst lerisch feierte, dann aber immerstärker in die Zwänge des Stalinismus verstr ick t wurde. In dieses musikal ischeZeitgemälde, das in voller Länge gespielt wird, ›komponieren‹ Ilona Jeismann undPeter Avar einen übersetzenden Text. Die Themen und Motive, die Zäsuren undRhythmen werden bis in die kleinsten Verästelungen analysiert, gedeutet und indicht geschriebene Aussagen umgesetzt. So entsteht als interpret ierendeSpiegelung ein vielschicht iges Bild der inneren Zustände Schostakowi tschs.« (Ausder Begründung der Jury des Hörspielpreises der Kriegsblinden)

chh

1999. Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das

Lied vom Tod.

Eberhard Petschinka/Rafael Sanchez

* 19. 10. 1953 Crroßmugl /Niederösterreich

* 22. 3. 1975 Basel/Schweiz

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Hörspielkino

Eberhard Petschinka arbeitet seit 1978 als Regisseur, Bühnen- , Film- und

Hörspielautor in Wien. Mit einem »Dramatikerstipendium« entstand 1983 sein

erstes Theaterstück, »Auf zum Tirolerland«, gemeinsam verfasst mit Helmuth

Mößmer. Dem Debüt folgten mehrere Dramen, die von der Kritik und dem

Publikum sehr positiv aufgenommen und mit Preisen bedacht worden sind, so

beispielsweise »Cicciolina und der Papst« (Kleines Theater Bruneck, 1993;

Dramatikerpreis der Stadt Bruneck) und »Goebbels & Guzzi – ein Tattoo« (1997;

Dramatikerpreis des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft,

Forschung und Kunst).

Seit 1986 schrieb Petschinka in steter Folge bislang mehr als zwanzig Hörspiele,

für österreichische und schweizerische Hörspieldramaturgien sowie für

bundesrepublikanische Rundfunkanstalten, vor allem für den WDR. Häufig

werden aktuelle Themen aufgegriffen und satirisch verarbeitet, wie

beispielsweise in dem gemeinsam mit Helmuth Mößmer verfassten »Krok«, einem

grotesken Spiel um gentechnologische Experimente und Gewalt in den Medien

(DRS/ORF 1994; ausgezeichnet mit dem Prix Futura), oder in »Ladykiller« (DLR

1998), in dem die Erinny einen Paparazzo nach dem Tode von Lady Diana zur

Strecke bringen. Häufig erarbeitet Petschinka als Autor die Texte zusammen mit

Kollegen und Freunden, darunter vor allem der Wiener Schriftsteller Helmuth

Mößmer sowie die Autoren Raphael Sanchez, Roland Neuwirth und Friedrich

Berstenreiner. Mit dem amerikanisch jüdischen Schriftsteller David Zane

Mairowitz entstand 1999 die bissig- böse Satire über die Debatte um Nazi- Gold

auf Schweizer Banken (»Goldrausch oder Something for everybody«, DRS).

»Wenn Petschinka, wie er sagt, ›gesellschaft l iche Themen‹ aufgrei f t, sieht er sichin bester Wiener Tradit ion: der des Volkstheaters des neunzehnten Jahrhunderts.Gerne beruft er sich auf Nestroy, der in seinen Komödien, besonders in denCouplets, jeweils aktuelle Anspielungen machte. Vom Wiener Volkstheater hatPetschinka auch gelernt, daß Erkenntnis und Vergnügen, Raffinement undNaivität sich nicht ausschließen.« (Eva- Maria Lenz)

Rafael Sanchez Garcia, Schauspieler und Regieassistent, lebt als spanischer

Staatsangehöriger in der Schweiz. Am »Jungen Theater Basel« war er an den

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Inszenierungen »Morgen bin ich fort« von Paul Steinmann (1994), »Beispiele

geglückten Lebens« von Eberhard Petschinka (1995) und »Die Memphis Brothers«

von Paul Steinmann (1996) beteiligt. Rafael Sanchez schrieb 1993 und 1994 zwei

Hörspiele – »Vom Himmel gefallen« und »Stück 2« –, die nicht zur Aufführung

gelangten.

»Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod« wurde 1996 von dem

Autorenduo Petschinka/Sanchez entworfen und ausgearbeitet. Das ebenso

kunstvoll aufgebaute wie vergnüglich unterhaltende Stück über den Kultfilm

»Spiel mir das Lied vom Tod« wurde im Frühjahr 1998 unter der Dramaturgie von

Angela Diciriaco- Sussdorff beim WDR-Köln als Koproduktion mit dem MDR und

dem ORF realisiert. Neben dem »Hörspielpreis der Kriegsblinden« erhielt es 1998

eine »Special Commendation« beim »Prix Italia« und 1999 den »Premios Ondas«.

»Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod« wurde am »Theater Basel«

in einer Bühnenfassung realisiert.

Rafael Sanchez erzählt: Spiel mir das Lied vom Tod

Produktion: WDR/MDR/ORF 1998

Mitwirkende: Rafael Sanchez (Rafael Sanchez); Nobert Schwientek (Großvater);Jennifer Minetti (Großmutter); Nelly Riggenbach (Pepita); Rodolfo Seas Arayo(Pepitas Ehemann); Carmen Garcia (Nachbarin); Urli Jaeggi (Onkel As); José LuisGarcía (Juan); Erwin Wölkenstein (Ramon); Maurici Farré (Jesús el Baboso); JosefinPlatt (Theresa); Wolfgang Pampel (Konsul); Jose Luis Garcia (Alter Mann);Ferdinando Chefalo (Häftling)

Musik: Wolfgang Mitterer

Realisation: Eberhard Petschinka

Dauer: 58'38

Ursendung: WDR, 11. 3. 1998

»Petschinka und Sanchez machen aus dem auch stark durch die Musik geprägtenKino- mythos ein ganz eigenständiges Hörabenteuer. Der Kunstgri f f: Der durchOriginal - Zitate und durch subjekt ive Schilderungen vergegenwärt igte Film wirdzur biographischen Heimat des heranwachsenden Rafael, der an den Mustern des

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Films seine Phantasien ausbildet und seine eigenen Erfahrungen mit denen derbewunderten Leinwandhelden verschränkt. So entsteht eine vielschicht igverwobene Geschichte, in der dörfl iche und familiäre Lebensreali tät, kindl icheEinbildungskraf t sowie Phantasie - und Lebensmuster der Erwachsenen zu einemlustvol l erzählten Gesamtkunstwerk werden (...).« (Aus der Begründung der Jurydes Hörspielpreises der Kriegsblinden)

huw

2000. Unter dem Gras darüber.

Inge Kurtz/Jürgen Geers

* 9. 3. 1949 Grieskirchen/Österreich

* 30. 7. 1947 München

Radiotag

Die Leute zum Reden zu bringen – so könnte man pointiert Jürgen Geers

radiophonen Ansatz umreissen. Sein Name und der seiner Kollegin und Partnerin

Inge Kurtz sind untrennbar mit den Spielformen des so genannten O- Ton-

Hörspiels verbunden. Als 23jähriger Germanistikstudent in München fing er an.

Paul Wühr hatte 1970 den Plan, ein O- Ton- Stück über die bayerische Metropole

zu machen und erbat sich bei Jürgen Geers Hilfe im Umgang mit Mikrophon und

Aufnahmegerät. Aus dem Plan wurde später die Produktion »Preislied«, die 1972

den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhielt. Für Geers begann eine typische

Karriere beim Rundfunk: freier Mitarbeiter, Regieassistent, Hilfstätigkeiten in

allen Bereichen. Er sah sich bald als der »Kreative vom Dienst« abgestempelt, der

die »Krüppelkinder großziehen« muß, das heißt: Produktionen auf die Beine

stellen sollte, die Autoren mit ihren künstlerischen Plänen technisch und

organisatorisch nicht mehr allein umsetzen konnten.

In den 70er Jahren entstanden aber auch schon erste eigene Hörspielarbeiten,

von Anfang an von der Idee getragen, Zeitzeugen und Zeitgenossen zu befragen,

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Alltagspersonen Stimme zu geben. 1978 wechselte Jürgen Geers nach Frankfurt,

wo er für den Hessischen Rundfunk zu arbeiten begann. Sein Durchbruch kam

ein paar Jahre später mit der vielbeachteten Produktion »Der Meinungscontainer«

(HR 1984). 30 Tage lang stand anlässlich der Kasseler »documenta« ein

barackenähnlicher Kasten in der Fußgängerzone der nordhessischen Stadt. Die

Bürger waren eingeladen, »akustische Graffiti« abzugeben, sie konnten ihre

Stimme abgeben, erhielten Redezeit. 24 000 kamen in den Container, zirka 1 000

Besucher machten davon Gebrauch, ihre Meinung auf Band zu sprechen. Der

25minütige Zusammenschnitt – mit einem Spezialpreis des Prix Italia

ausgezeichnet – galt als der Inbegriff dafür, mit Hilfe des O- Ton- Verfahrens

Brechts theoretische Forderung nach einem Rundfunk, der nicht nur sendet,

sondern auch Kommunikation aufnimmt, einzulösen.

Immer wieder sollte in den folgenden Jahren dieser Ansatz von Jürgen Geers bzw.

dann auch zusammen mit Inge Kurtz ausprobiert und durchexerziert werden. Das

Projekt »Liebes Volk« beispielsweise, bei dem sich 350 »Normalbürger« aus ganz

Deutschland meldeten und sich zutrauten, eine Rede zu halten, maximal 20

Minuten lang. Eine mit Rita Süssmuth, Walter Jens und Dieter Hildebrandt

besetzte Jury wählte aus. Drei prämierte Beiträge wurden ausgestrahlt sowie ein

von den Autoren veranstalteter Zusammenschnitt (HR 1985). Ein Hörfunkbeitrag,

der freilich auch Anstoß erregte, wegen einzelner Sätze, etwa dem, dass »alle

Soldaten Mörder seien«. Die Rundfunkgremien beharrten auf dem verletzenden

Charakter solcher freier Meinungsäußerung und verlangten, die beanstandeten

Passagen herauszuschneiden. Die Initiatoren Geers und Kurtz waren enttäuscht,

dass ihr Konzept, dem »Volk aufs Maul zu schauen« und das Frei- von- der Leber-

weg- Gesagte zu dokumentieren, solchermaßen »beschnitten« wurde.

15 Jahre später waren solche Probleme nicht mehr zu erwarten. Das Konzept von

Jürgen Geers und Inge Kurtz, die Menschen zum Sprechen zu bringen, wurde für

das bevorstehende Millenniumsjahr noch einmal, diesmal in die ganz große Form

umgesetzt. Nicht ein Problem, eine Schicht oder ein spezielles Ereignis wurde

zum Gegenstand genommen, sondern die Geschichte des zu Ende gehenden

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Jahrhunderts selbst. Gespräche mit mehreren Dutzend Zeitzeugen gingen in den

»Radiotag« ein, der am 28. November 1999 eine knapp 16 Stunden lange Collage

aus Originaltönen brachte, Alltagserinnerungen aus 100 Jahren deutscher

Geschichte.

Unter dem Gras darüber. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland

Produktion: HR 1999

Mitwirkende: Unbekannte Zeitzeugen erzählen aus ihrem Leben

Realisation: Inge Kurtz und Jürgen Geers

Dauer: 14 Stunden 45 Minuten 14 Sekunden

Ursendung: HR 2, 28.11. 1999

»Ich erzähle gern. Radio ist ein Erzählmedium. Ich unterhal te mich gern, es ist einDialogmedium.« (Jürgen Geers in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung,5. 12. 1984)

huw

2001. Pitcher.

Walter Filz

* 18. 8. 1959 Köln

Auf Stimmenfang

Seit den 90er Jahren durchpflügt er in allen nur erdenklichen Formen und

Formaten das unerschöpfliche Feld massenkultureller Phänomene: Walter Filz, der

in Köln lebende Radiomacher. Egal, ob High oder Low, ob E oder U – alles, was

sich als Ton, als Geräusch und Klang, als Sound und stereotype Sprechblase in

den Medien äußert, wird ihm zum Material. Mehr als 30 Features seit 1989/90,

ein halbes Dutzend Hörspiele seit 1996 belegen den produktiven Elan, den der

Schriftsteller, Kulturjournalist und Rundfunkautor an den Tag legt.

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Immer ist es ein originär radiophoner Ansatz, den Walter Filz seinen Produktionen

zugrundelegt. In »Apokalypse H0. Der etwas kleinere Weltuntergang« (WDR 1996)

beispielsweise – einer raffinierten Collage aus Originaltönen – brechen sich die

medial vermittelten Katastrophenmeldungen mit der im Interview zu Tage

tretenden beschaulichen Welt des Modelleisenbahners im Hobbykeller. Der

bastelnde Demiurg antwortet mit seiner auf die Spurbreite HO reduzierten

Schöpfung auf die Hysterie der Weltuntergangsszenarien.

Oder »Resonanz Rosa. Eine Frau hört mehr« (WDR 1999), ausgezeichnet mit dem

Publikumspreis der Berliner Akademie der Künste: Rosa, die bei einer Talkshow-

Produktionsfirma arbeitet, hört Rest- Resonanzen, Schallwellen, die nicht verebbt

sind, Stimmen, Gesprächsfetzen, Geräusche. Rosas Hör- Anfälle korrespondieren

mit ihrem alltäglichen Stress des auf Quote und Profit ausgerichteten Small-

Talks, dem leeren Mitteilungs- und Bekenntnisdrang der gecasteten Teilnehmer.

Walter Filz, der seit 1997 ein eigenes Studio aufgebaut hat, arbeitet als freier

Produzent vor allem für den Westdeutschen Rundfunk. Viele seiner

Hörspielsendungen stehen in enger Verbindung mit dem Sendeplatz

»Lauschangriff« im WDR-Programm »Radio Eins Live«, dessen auf ein jüngeres

Zielpublikum ausgerichtete Maxime lautet: »Hören aus lauter Lust«.

Eine Prämisse, die für »Pitcher«, dem 2001 ausgezeichneten Hörspiel, in

besonderem Maße gilt. In dem fiktivem Hörspiel, das vorrangig aus O-

TonMaterial besteht, geht Walter Filz auf Stimmenfang – auf eine

unverwechselbare, komisch- satirische, grotesk- absurde Weise, die dem Thema

Sound- Design gleich noch eine Krimihandlung, eine Kleinbürgersatire und eine

Medienschelte abgewinnt. Ihre Hauptfigur: ein Profi- Synchronsprecher, in

unzähligen Werbespots verschlissen, dessen Auftragslage zurückgeht. Seine

Stimme müsste einmal aufpoliert werden. Für ihn hat Vox, der Boss des

Stimmenkartells, einen Auftrag. Im Erzgebirge, in Schneeberg, soll er den Mann,

der Töne »pitcht«, also Stimmen manipulieren kann, ausfindig machen. Doch der

Sonderauftrag erweist sich als ein eingefädeltes Spiel. Vox, auf der Suche nach

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einer neuen Baby- Stimme, opfert seinen abgehalfterten Sprecher für diese

synthetische Stimme.

Pitcher

Produktion: WDR 2000

Mitwirkende: Walter Filz; Joachim Kerzel

Realisation: Walter Filz

Dauer: 57'35

Ursendung: WDR 1, 10. 10. 2000

»Aus dieser kuriosen Konstellation entwickelt sich ein nicht nur doppel - , sonderngleich mehrfachbödiges skurr i les Spiel. Walter Filz verwertet dabei Radio -Versatzstücke – O- Töne aus Reportagen, Reiseberichten und Interviews – undkombinier t dieses authent ische Material mit fikt iven Passagen. Er inszeniert alsoVorgefundenes, indem er es durch Erfundenes verbindet und konstru ier t so neueSinnbögen und Zusammenhänge (...). Eine raff in ier te Satire mit einer Mischungaus Krimi - Elementen und Anklängen an eine komische Nummern - Opera (Aus derBegründung der Jury des Hörspielpreises der Kriegsbl inden)

huw

Statut des Hörspielpreises der Kriegsblinden(Stand: 22. Oktober 1997)

1. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wird jährlich für ein von einemdeutschsprachigen Sender konzipiertes und produziertes Original- Hörspielverliehen, das in herausragender Weise die Möglichkeiten der Kunstformrealisiert und erweitert. Dieses Original- Hörspiel muss im vorausgegangenenJahr erstmals ausgestrahlt worden sein.

2. Träger des Preises sind der Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V. (BKD)und – seit 1994 – die Filmstiftung Nordrhein- Westfalen GmbH.

3. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden ist ein Ehrenpreis, der dem Autor oderden Autoren zuerkannt wird.

4. Über den Preis befindet eine Jury, die jährlich zusammentritt.Die Jury besteht aus dem Vorsitzenden, neun Kritikern und neun

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Kriegsblinden. Der Vorsitzende und der Stellvertretende Vorsitzende werdenvon den Trägern für die Dauer von drei Jahren berufen. Der StellvertretendeVorsitzende kommt aus dem Kreis der Kriegsblinden. Eine Wiederberufung istmöglich. Der Redaktionsvertreter der Zeitschrift »Der Kriegsblinde« istständiges Mitglied der Jury.Die übrigen Mitglieder der Jury werden von den Trägern berufen. Bei denKriegsblinden geschieht dies durch den Bundesvorsitzenden der KriegsblindenDeutschlands. Bei den durch die Träger zu berufenden Kritikern hat derJuryvorsitzende ein Vorschlagsrecht. Er benachrichtigt die einzuberufendenJurymitglieder.Bei der Berufung beachten die Träger den Grundsatz eines ausreichendenWechsels in der Zusammensetzung der Jury.

5. Die Jury entscheidet über den Preis mit der Mehrheit der abgegebenenStimmen. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Vorsitzenden denAusschlag.

6. Für den Hörspielpreis der Kriegsblinden darf jede der öffentlich- rechtlichenRundfunkanstalten ein Hörspiel einreichen. Außerdem können alle deutschenSender der Jury eine Produktion vorschlagen. Eine höchstens gleich großeAnzahl von Produktionen wie die der eingereichten Titel kann auf Vorschlagvon Jurymitgliedern und auf der Grundlage der Sendervorschläge vomVorsitzenden für die Jurysitzung nominiert werden.

7. Der Vorsitzende des Bundes der Kriegsblinden Deutschlands teilt demPreisträger oder den Preisträgern die Entscheidung der Jury mit.

Bonn

Heinrich Johanning

Bundesvorsitzender des BKD

Düsseldorf

Dieter Kosslick

Geschäftsführer der Filmsti f tungNordrhein - Westfalen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht l ich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist

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ohne Zustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfäl t igungen, Übersetzungen, Mikroverf i lmungen unddie Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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