14

Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

  • Upload
    votuyen

  • View
    216

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler
Page 2: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 1766

B A S I S A R T I K E L

Das der PISA-Studie zugrunde liegende

Verständnis von Lesekompetenz stellt den

kognitiven Prozess der Informationsentnahme

aus Texten in den Mittelpunkt. Dieser Lese-

kompetenzbegriff greift für die Leseförde-

rung in der Schule zu kurz: Sie sollte sich

orientieren an einem theoretisch und didak-

tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-

ler Praxis, das auch motivationale, emotionale

und interaktive Dimensionen mit einschließt.

PISA: Enttäuschung und Bestätigung

Zunächst einmal war PISA einSchock. Im bisher größten interna-tionalen Schulleistungstest erzieltendeutsche Schülerinnen und Schülernicht mehr als mäßige Ergebnisse.In der ersten Erhebungsrunde, de-ren Schwerpunkt das Lesen war, ka-men sie mit ihren Leistungen geradeeinmal auf Platz 21 unter 31 Teil-nehmerstaaten. Charakteristisch fürdie deutschen Resultate war darüberhinaus die sehr große Spannbreiteder Leseleistungen – die Testwerteder besten und der schwächsten Le-

serinnen und Leser lagen weiter aus-einander als in irgendeinem anderenLand. Drittens zeigten die Resulta-te, dass es in den letzten Jahrzehntennicht gelungen ist, soziale Unter-schiede durch Schulbildung auszu-gleichen: Die soziale und ethnischeHerkunft der Schüler bestimmtnach wie vor in starkem Maße dieBildungsbeteiligung, damit die zu-gänglichen schulischen Lernmilieusund entsprechend auch die Lern-leistungen, unter anderem eben imLesen.* Diese Ergebnisse sind selbstver-ständlich nicht monokausal zu er-klären. Dennoch gab es – den vor-sichtigen Interpretationen der PISA-Autoren zum Trotz – sofort eineWelle von Schuldzuweisungen andie Adressen der Schulpolitik, derEltern, der Lehrer – je nach Vormei-nung und politischem Interesse.Was Deutschlehrer und -lehrerin-nen anbelangt, so lässt sich der Lese-teil der Studie aber auch anders –und produktiv – interpretieren: DerDeutschunterricht ist durch die Un-tersuchung in seiner grundlegenden

Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für eindidaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis

Leseleistung – Lesekompetenz

BETTINA HURRELMANNFo

to: d

pa

Page 3: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 176 7

und fächerübergreifenden Bedeu-tung gewürdigt worden, wobei sichalle diejenigen bestätigt wissen dür-fen, die in der Vermittlung vonLesekompetenz eine ihrer zentralenAufgaben gesehen haben. In denletzten Jahren hat es in dieser Hin-sicht viele Irritationen gegeben, istdoch der Deutschunterricht stets ei-ne der ersten Adressen, wenn es umdie gesellschaftliche „Verdauung“soziokultureller Veränderungenund neuer Herausforderungen geht.Insbesondere die Medienentwick-lung war und ist eine solche Heraus-forderung, die zur Integration neuerGegenstände und Vermittlungsver-fahren in den Unterricht zwingt.Nicht immer ist dabei klar geblie-ben, dass schriftsprachliche Kom-petenzen auch in der modernenMedienwelt eine unverzichtbareGrundlage für erfolgreiche Kom-munikation und kontinuierlichesWeiterlernen sind. Der Deutschun-terricht bleibt die wichtigste Siche-rungsagentur für das Lesen, das inder Gegenwart freilich im Kontextunterschiedlichster Medien vor-kommt und beherrscht werdenmuss. PISA hat das Lesen unter die Schlüs-selkompetenzen eingereiht und dieVermittlung der Lesefähigkeit da-mit im internationalen Maßstab alseine der Hauptaufgaben des mutter-sprachlichen Unterrichts bestätigt.Die Frage ist freilich, ob das Kom-petenzkonstrukt, das der Untersu-chung zugrunde liegt, umfassendgenug ist, nicht nur Leseleistungenzu definieren, sondern auch lese-und literaturdidaktische Prozessezu orientieren. Lernen aus PISAheißt meines Erachtens auch, dieUnterschiede zwischen Leseleis-tung und Lesesozialisation, genauer:zwischen Leistungsmessung undEinführung in die Welt der Schrift-sprache, zu sehen. So viel sei schonhier gesagt: Die PISA-Studie istdurch das Literacy-Konzept deranglo-amerikanischen Forschungbestimmt, das für die internationaleUntersuchung vorgegeben war.Entsprechend wird in Aufgaben-stellungen und Ergebnisinterpreta-tionen ein instrumentell geprägterBegriff von Lesekompetenz ge-braucht, der den kognitiven Prozessder Informationsaufnahme aus Tex-ten in den Mittelpunkt stellt. ImEinzelnen geht es um die Testungvon Teilkompetenzen, die sich alsunterschiedliche Dimensionen derkognitiven Leseleistung statistisch

unterscheiden lassen. Beweggründefür das Lesen, Gefühle beim Lesen,das Gespräch über Gelesenes – sol-che motivationalen, emotionalenund interaktiven Dimensionen desLesens als einer kulturellen Praxisdes Umgangs mit einer schrift-sprachlichen Symbolwelt bleibenweitgehend außen vor. In eine kul-turelle Praxis einzuführen ist aberdie Aufgabe des Sprach- und Lite-raturunterrichts. Entsprechend be-tonten die PISA-Autoren selbst,dass „das empirische Kompetenz-modell“, das sie der Leistungsmes-sung zugrunde legen, nicht „als di-daktisches Modell missverstandenwerden“ sollte (S. 88). Dieser Hin-weis ist ernst zu nehmen. Es wäreein grobes Missverständnis, die In-strumente und Ziele der Leistungs-messung im Lesen in eins zu setzenmit den Wegen und Zielen sprach-licher und literarischer Bildung –wenngleich Letztere ohne die ko-gnitive Fähigkeit des Textverständ-nisses natürlich nicht zu haben ist.Darauf hat PISA mithinreichender Deut-lichkeit aufmerksamgemacht. Im Folgenden soll derVersuch gemacht wer-den, die für die Didak-tik wichtigen Er-kenntnisse der PISA-Studie herauszuarbei-ten – zugleich aberihren engen Begriffvon Lesekompetenzwieder zu erweiternauf ein didaktisch ori-entiertes, umfassende-res Konzept von Le-sen als historisch ver-änderlicher kulturel-ler Praxis. Um ein sol-ches Konzept hat sichdie neuere Lesesozia-lisationsforschung in interdiszi-plinä-rer Diskussion bemüht.1) Esscheint mir aus verschiedenenGründen für die Orientierung lesepädagogischerProzesse eine notwendige Ergän-zung zu PISA zu sein.

PISA: „Reading Literacy“ als Basiskompetenz

PISA hat bekanntlich die Aufgabe,den Mitgliedstaaten der OECD inwiederkehrenden UntersuchungenInformationen zur Effektivität ihrerBildungssysteme zu geben, indem

vergleichende Daten zu den Grund-fähigkeiten der Heranwachsendenam Ende ihrer Pflichtschulzeit zurVerfügung gestellt werden. Die Da-ten beziehen sich auf die Bereiche„Lesekompetenz“, „mathematischeGrundbildung“, „naturwissenschaft-liche Grundbildung“ und „fächer-übergreifende Kompetenzen“ derSchülerinnen und Schüler. Diesegelten als Basiskompetenzen, weilangenommen werden kann, dassihre Beherrschung in modernen Ge-sellschaften „für eine befriedigendeLebensführung in persönlicher undwirtschaftlicher Hinsicht sowie füreine aktive Teilnahme am gesell-schaftlichen Leben“ nötig ist (S. 16).In diesem Sinne wird von „Lite-racy“ nicht nur im Hinblick auf Le-sefähigkeiten gesprochen, sondernzum Beispiel auch in Bezug auf ma-thematische und naturwissenschaft-liche Fähigkeiten. „Literacy“ meint in jedem der un-tersuchten Gebiete eine hinreichen-de Ausrüstung der nachwachsenden

Generation mit bereichsspezifi-schen Kenntnissen, Fertigkeitenund Strategien zum Problemlösenund kontinuierlichen Weiterlernen.Welche Leistungsdimensionen je-weils Berücksichtigung finden undwelches Fähigkeitsniveau angesetztwird, bestimmt sich in allen Berei-chen aufgrund instrumenteller Be-züge zu gesellschaftlichen Anforde-rungen. So auch im Bereich des Le-sens.Lesen gilt dem „Literacy“-Konzeptentsprechend als basale Kulturtech-nik. „Reading Literacy“ bedeutetdas Verfügen über ein Kulturwerk-zeug, das in modernen Gesellschaf-

Aus PISA lässtsich lernen, die Unterschie-de zwischenEinführung indie Welt derSchriftspracheund Leistungs-messung zusehen.

Foto

: dpa

Page 4: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 1768

ten für die Bewältigung von proto-typischen Kommunikations- undHandlungssituationen unerlässlichist. Die „funktionale Sicht [...] ist eincharakteristisches Merkmal der an-gelsächsischen ‚Literacy‘-Konzep-tion“, stellen die PISA-Autoren fest(S. 20). Dieser Denktradition folgtdie Definition von „Lesekompe-tenz“ in der internationalen Ver-gleichsstudie: Unter „Lesekompe-tenz“ versteht PISA die Fähigkeit,„geschriebene Texte zu verstehen,zu nutzen und über sie zu reflektie-ren, um eigene Ziele zu erreichen,das eigene Wissen und Potentialweiterzuentwickeln und am gesell-schaftlichen Leben teilzunehmen“(S. 23). Es handelt sich um ein sehrpragmatisches Konzept, das bil-dungstheoretische Problematisie-rungen, wie sie insbesondere imdeutschsprachigen Kulturraum ge-läufig sind, weitgehend ausblendet.

PISA: Lesen als kognitiver Prozess

Der Lesekompetenzbegriff von PI-SA konzentriert sich auf Lesever-ständnis als Informationsverarbei-tung und „Bedingung einer zielori-entierten und flexiblen Wissensan-

eignung“ (S. 70). Das Modell desTextverstehens, das dem internatio-nalen Test zugrunde gelegt wurde,ist denn auch vorwiegend kogni-tionspsychologisch orientiert. Esgreift auf bewährte Ansätze zurTextverarbeitung in der Psycholin-guistik zurück2), außerdem auf in-ternationale empirisch-statistischeÜberprüfungen der Leistungsdi-mensionen beim Lesen3). Ausge-hend von diesen Prämissen wird dieStruktur von Lesekompetenz in derPISA-Studie wie im Kasten obendargestellt modelliert.Das Modell stellt die theoretischangenommenen Teilleistungen desLeseverständnisses in hierarchischerGliederung vor. Grundlegend ist dieUnterscheidung von textimmanen-ten und wissensbasierten Verste-hensleistungen: „Im ersten Fall sinddie im Text enthaltenen Informatio-nen ausreichende Grundlage“ fürdas Verstehen; „im zweiten Fallmuss eine situationsadäquate Inter-pretation unter Rückgriff auf nichtim Text enthaltenes Vorwissen ent-wickelt werden“ (S. 82). Entspre-chend wurden die Aufgaben im in-ternationalen Test konstruiert – ihrVerhältnis betrug etwa 70 % zu30 %. Zum Modell des Textverste-hens gehören aber grundsätzlich

beide Leistungen. Sie werden aufder konkretesten Ebene des Modellsausdifferenziert in insgesamt fünfKompetenz-Dimensionen. Im Er-gebnisbericht wurden sie letztend-lich zu nur drei empirisch unter-scheidbaren Teildimensionen derLesekompetenz zusammengefasst:Informationen ermitteln, textbezo-genes Interpretieren, Reflektierenund Bewerten. Im nationalen Teilkam als eigener Bereich noch dasLernen aus Texten hinzu, das aber –weil es zusätzlich auf Gedächtnis-leistungen rekurriert – eine eigeneStruktur hat (vgl. S. 83 ff.).Im Hinblick auf das testzentrale, in-ternationale Modell stellt Reflektie-ren und Bewerten die höchste Formdes Textverständnisses dar, da esvom Leser verlangt, die Textinfor-mationen mit eigenen Wissensbe-ständen in Beziehung zu setzen. Diesentspricht den empirischen Ergeb-nissen, die die Kognitionspsycho-logie über den Leseprozess gewon-nen hat.4) Die differenzierte Betrach-tung der Resultate in den drei un-terschiedenen Subdimensionen der Lesefähigkeit zeigt, dass deutscheSchüler und Schülerinnen im Länder-vergleich insbesondere bei den Auf-gaben größere Schwächen aufweisen,die das Reflektieren und Bewerten

Theoretische Struktur der Lesekompetenz in PISA

Text als Ganzes betrachten

Informationenermitteln

Eine textbezogeneInterpretation

entwickeln

aus:

Deu

tsch

es P

ISA

-Kon

sort

ium

, 200

1, S

. 82

Lesekompetenz

Externes Wissen heranziehen

Inhalt Struktur

Unabhängige Einzelinformationen

Beziehungen verstehen

Sich auf bestimmteTextteile

konzentrieren

Ein allgemeinesVerständnis des

Textes entwickeln

Über den Inhalt des Textes

reflektieren

Über die Formdes Textes

reflektieren

Primär textinterneInformationen nutzen

Page 5: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

9

von Texten erfordern (S. 103 f.). Lehrerinnen und Lehrer erfahrenjeden Tag, wie voraussetzungsreichgerade das Reflektieren und Bewer-ten von Texten ist. Sie werden überdie kognitive Leistung hinaus aberan motivationale und emotionaleAspekte des Leseverständnissesdenken, etwa an die Fähigkeiten,vom Lesen einen persönlichen Ge-winn zu erwarten, mit emotionalerBeteiligung zu lesen, auch an dieFähigkeit, über das eigene Textver-ständnis mit anderen zu sprechen;Aspekte von Lesekompetenz, dievor allem – aber nicht nur – im Lite-raturunterricht eine prominenteRolle spielen. Diese Dimensionensind im Kompetenz-Modell derPISA-Studie, das auf die Messungvon Leseleistung ausgerichtet ist,weitgehend ausgeblendet.

PISA: Lesetraining alsdidaktische Aufgabe

Im Interesse an der Ermittlung vonInterventionsmöglichkeiten geht esPISA nicht nur um die Beschrei-bung, sondern auch um die Er-klärung der gemessenen Leistungs-unterschiede der Schülerinnen undSchüler im Lesen.PISA kann und will in dieser Hin-sicht weder familiensoziologischenoch unterrichtsdidaktische Ursa-chenforschung betreiben. Vielmehrhält sich die Studie in der Auf-klärung der Resultate eng an dietheoretisch vorausgesetzte kogni-

tive Struktur der Leseleistungenselbst und berücksichtigt in derstatistischen Auswertungsprozedurprimär die Faktoren, von denen eineunmittelbare Beziehung zur gemes-senen kognitiven Leseleistung ange-nommen werden kann. In diesemRahmen wurden aufgrund verschie-dener Zusatztests zwei Vorhersage-modelle für die Lesekompetenz er-rechnet: zum einen im Hinblick aufdie Ergebnisse im internationalen,zum anderen im Hinblick auf dieErgebnisse im nationalen Test, derdas Lernen aus Texten in den Mit-telpunkt stellte.Die resultierenden Vorhersagemo-delle weisen die statistisch bedeutsa-men Prädiktoren der Lesekompe-tenz aus. Dies sind die kognitiveGrundfähigkeit als eine das Lesenübergreifende Intelligenzvorausset-zung, die Dekodierfähigkeit als die

lesespezifische Fähigkeit, die kor-rekte Bedeutung von Sätzen schnellzu erfassen, das Lernstrategiewissen,bezogen auf das Lernen aus Texten,und schließlich das Leseinteresse.Das errechnete Vorhersagemodellfür die Ergebnisse des internationa-len Tests (Varianzaufklärung 64 %)ist im Kasten oben dargestellt: Der Faktor, der für die Vorhersageeindeutig das größte Gewicht hat,ist die kognitive Grundfähigkeit derSchülerinnen und Schüler (gemes-sen als abstrakte räumliche undverbale Intelligenz). Es folgen dasLernstrategiewissen und die Deko-dierfähigkeit. Das generelle Interes-se am Lesen hat in Bezug auf die in-ternationalen Testergebnisse einenzwar eigenständigen, aber nur ge-ringen Vorhersagewert – in Bezugauf die Ergebnisse des nationalenTests (Lernen aus Texten) bleibt essogar ganz ohne Einfluss. Maßnahmen zur Verbesserung derLesekompetenz – dies ist im vorge-gebenen Untersuchungsmodell nurkonsequent – müssen sich auf be-deutsame und beeinflussbare Fakto-ren der Leseleistung konzentrieren.Daher gelten die didaktik-orientier-ten Empfehlungen der PISA-Studievor allem dem Ausbau von Lernstra-tegiewissen. Dabei soll nicht nur dieAnwendung von Lesestrategien und-techniken geübt werden wie Nach-erzählen, Zusammenfassen, Fragen-stellen an den Text, Klären von Un-verstandenem, Vorhersagen vonTextinhalten ... Es soll vielmehr auchdie Bedeutung solcher Lese- undLernstrategien vermittelt werden,sodass die Lernenden sie mehr undmehr selbstständig und bewusst zurÜberwachung und Steuerung der ei-genen Leseprozesse einsetzen kön-nen (vgl. S. 131 ff.; siehe dazu auchdas Unterrichtsmodell von Baur-

PISA kann und will wederfamiliensozio-logische nochunterrichts-didaktischeUrsachen-forschungbetreiben.

Foto

: DIZ

Modell zur Vorhersage der Lesekompetenz im internationalen Lesetest

aus:

Inte

rnat

iona

les

PISA

-Kon

sort

ium

, 200

1, S

. 129

Lesekompetenz

Kognitive Grundfähigkeit

Decodierfähigkeit

Lernstrategiewissen

Leseinteresse

.52

.11

.22

.23

Page 6: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 17610

„Müssen wir jetzt Deutschland rausreißen.“(Hauptschülerin, sehr ernst zu einer Studentin, die ihreinige Leseaufgaben aus der PISA-Studie vorgelegthatte)

1 Was hat die PISA-Studie mit Pisa zu tun, undwer hat die Studie in Auftrag gegeben?Mit der Stadt in Italien hat die PISA-Studie nichts zutun. PISA steht vielmehr für Programme for Interna-tional Student Assessment. Dieses Projekt versucht,Schülerleistungen im internationalen Vergleich zu er-fassen. Durchgeführt werden diese und vergleichbareUntersuchungen durch die OECD, die Organisationfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung. Es ist die Absicht der beteiligten Staaten, über dieErgebnisse solcher Untersuchungen Anhaltspunktezur Verbesserung von Bildung, Schule und Unterrichtzu erhalten.

2 Was wurde im Jahr 2000 erfasst und wie gehtes weiter?PISA 2000 hat bei 15-Jährigen gegen Ende der Pflicht-schulzeit drei Bereiche erfasst: die Lesekompetenz alsSchwerpunkt sowie die mathematische und die natur-wissenschaftliche Grundbildung. Vergleichbare Un-tersuchungen mit wechselnder Schwerpunktsetzungsollen künftig alle drei Jahre stattfinden (also 2003,2006 ...).

3 Worin sehen die Autoren die Bedeutung derStudie – insbesondere der zur Lesekompetenz?Hinreichendes Leseverständnis wird als notwendig er-achtet, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissenund die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln undum am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können(S. 80)1).

4 Was versteht die Studie unter Lesekompetenz?Die Studie geht davon aus, dass es für das Lesen – un-abhängig vom jeweiligen Bildungssystem und vonLehrplänen – grundlegende Fähigkeiten gibt. Wer le-sen kann, ist fähig, Informationen aus Texten zu ent-nehmen, Aussagen zu verstehen und auch den Inhaltsowie die Form von Texten zu deuten und zu bewer-ten. Das gilt für verschiedene Lesesituationen undTextsorten. Die Studie unterscheidet „kontinuierli-che“ und „nicht-kontinuierliche“ Texte. Kontinuierli-che Texte sind Texte, die man Wort für Wort, Zeile fürZeile liest (Beispiel: Sachtexte, Briefe); nicht-kontinu-ierliche Texte sind Texte, bei denen man die Informa-tionen an verschiedenen Stellen entnimmt und wo derText einen ersten Überblick über einen Sachverhalt er-möglicht (Beispiele: Tabellen, Schaubilder; vgl. S. 80ff.).

5 Kann die Befragung in Deutschland als reprä-sentativ bezeichnet worden?Der Auswahl der befragten 15-Jährigen in Deutsch-land liegt ein sorgfältiges Verfahren zugrunde, das un-serem stark gegliederten Schulsystem Rechnung trägt.Alle 220 Schulen, die nach einem mehrstufigen Ver-fahren ausgewählt wurden, beteiligten sich an der Studie. Die Ergebnisse einer Schule blieben schließ-lich unberücksichtigt, weil sich dort zu wenig Schü-lerinnen und Schüler am Test beteiligten. Die Be-fragung ist trotzdem für Deutschland repräsentativ (S. 36 ff.).

6 Wie ist die Studie durchgeführt und wie ist mitden Schulen zusammengearbeitet worden?Organisation und Durchführung der Untersuchungwurden durch drei Gruppen vorgenommen. Die Lei-tung hatte in Absprache mit dem Max-Planck-Institutfür Bildungsforschung ein unabhängiges Datenzen-trum in Hamburg. Testleiterinnen und Testleiter wa-ren Studierende höherer Semester (Lehramt, Psycho-logie, Erziehungswissenschaft), die zuvor von Mitar-beitern des Datenzentrums geschult worden waren.Beide Gruppen wurden durch Lehrer als Schulkoordi-natoren unterstützt, die die Schulleitungen der betei-ligten Schulen vorgeschlagen hatten. Der Test fand imMai bis Juni 2000 jeweils an zwei Tagen im Beisein desSchulkoordinators oder der Schulkoordinatorin statt,wobei pro Schule im Durchschnitt je 23 per Zufall aus-gewählte Schülerinnen und Schüler an den Tests teil-nahmen (S. 53 ff., S. 514).

7 Haben sich die Schülerinnen und Schüler beidieser Untersuchung überhaupt angestrengt?Nach den Ergebnissen einer Zusatzuntersuchung, dievor der PISA-Studie durchgeführt wurde, ist dieseFrage zu bejahen. Schülerinnen und Schüler von dreiGymnasien und fünf Hauptschulen lösten ausgewähl-te Mathematik-Aufgaben unter vier unterschiedlichenVoraussetzungen: Einer Gruppe wurde gesagt, dass siean einer Bildungsstudie mitwirke, einer zweiten wur-de die Rückmeldung der Ergebnisse zugesagt, einerdritten wurde mitgeteilt, dass der Test eine Klassenar-beit ersetze und benotet würde, einer vierten wurdeGeld (je 10 DM) versprochen, wenn der Einzelne bes-ser abschneide als sonst im Fach Mathematik. Wederunter den Gymnasiasten noch unter den Haupt-schülern konnten Unterschiede in der Testmotivationfestgestellt werden (S. 60 ff.).

8 Über welche Lesekompetenz verfügen 15-Jährige an deutschen Schulen?Die Ergebnisse wurden in allen Ländern auf fünf Le-sestufen bezogen, wobei Lesestufe 5 auf hervorragen-de Lesefähigkeiten verweist. 15-Jährige an deutschen

Die PISA-Studie: Dreizehn Fragen – Dreizehn Antworten

Jürgen Baurmann

Page 7: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 176 11

Schulen schneiden nicht gut ab: Lediglich 28 % errei-chen die Stufen 4 und 5, womit insgesamt nur unserebesten Leserinnen und Leser das Niveau vorzüglicherLeserinnen und Leser jener Länder erreichen, die demOECD-Durchschnitt entsprechen. 10 % der deut-schen Schülerinnen und Schüler bewältigen noch nichteinmal Lesestufe 1, insgesamt 23 % bewegen sich mitihren Ergebnissen unter Stufe 2. Zudem haben 26 %der deutschen Schülerinnen und Schüler großeSchwierigkeiten, Gelesenes zu reflektieren und zu be-werten. Die Leseleistungen deutscher Schülerinnenund Schüler streuen beträchtlicher als in allen anderenLändern.

9 Sagen die Ranglisten etwas aus zum jeweili-gen Leistungsstand in den einzelnen Ländern?Eher nicht. Da jede Messung einen (errechenbaren)Messfehler enthält, ist jede Rangliste nach Punktenproblematisch – insbesondere dann, wenn die Wertedicht beieinander liegen. Außerdem setzt der quantita-tive Umfang der Stichproben solchen RanglistenGrenzen. Aus dem Ländervergleich lässt sich lediglichablesen, dass die Leseleistungen der deutschen 15-Jährigen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt lie-gen. 15 von 31 Ländern schneiden beim Lesen deutlichbesser ab als Deutschland, nur 5 Länder weisen ein-deutig schlechtere Ergebnisse auf (vgl. S. 108 ff.). Darüber hinaus wären die kulturellen Unterschiedezwischen einzelnen Ländern bei einer angemessenenWürdigung zu berücksichtigen – etwa die im Ver-gleich mit vielen anderen Ländern längere Schulzeit inDeutschland, die unterschiedliche Entwicklung derJugendlichen in einzelnen Gesellschaften, das Freizeit-verhalten der Heranwachsenden oder der Stellenwert,der dem Lesen zugewiesen wird.

10 Haben die Verantwortlichen der PISA-Studiedie schwierigen Bedingungen an deutschenSchulen berücksichtigt?Bei der Ziehung der Stichprobe sind Bedingungen wieKlassengröße, Sitzenbleiber, Anteil an Migrantenkin-dern berücksichtigt worden. Von vornherein vom Testausgeschlossen wurden zudem die Schülerinnen undSchüler, die als Zuwanderer weniger als ein Jahr inDeutschland am Deutschunterricht teilgenommenhatten (S. 514).

11 Worauf sind die Ergebnisse zurückzuführen?In einem ersten Schritt beschreibt die Studie lediglich,welche Leseleistungen zu einem bestimmten Zeit-punkt (2000) in über 30 Ländern ermittelt werdenkonnten. Ansonsten halten sich die Autoren streng andie mathematisch-statistische Grundregel: Selbst er-rechnete hohe Zusammenhänge (Korrelationen) müs-sen noch nichts über Ursache und Wirkung oder in-haltliche Beziehungen zwischen zwei Größen aussa-gen. Das heißt, dass der in der Studie zweifelsfrei er-mittelte Zusammenhang zwischen Leseleistung undsozialer Herkunft nicht schlicht monokausal interpre-tiert werden darf. Etwa in die Richtung: Sozial schwa-

che (oder überdurchschnittliche) soziale Herkunft be-stimmt allein und ausschließlich den jeweiligen Gradder Lesekompetenz.

12 Ist die PISA-Studie wirklich unanfechtbar undüber jeden Zweifel erhaben? Natürlich nicht. Die PISA-Studie ist nur eine Moment-aufnahme, die wie beim Fotografieren eine bestimmteSituation festhält. Dieser Schnappschuss bildet gewissnicht die Realität in ihrer Komplexität ab, doch ver-zerrt sie diese auch nicht bis zur Unkenntlichkeit oderBeliebigkeit. Was das Konzept und die Aufgaben be-trifft, ist die PISA-Studie außerdem ein Kompromisshinsichtlich der Vorstellungen, die in den beteiligtenLändern akzeptiert werden. Die Vergleichsuntersu-chung gilt demnach lediglich im Rahmen des verein-barten Begriffs der Lesekompetenz. Die PISA-Studie erfasst fächerübergreifende Kompe-tenzen und bezieht sich – psychologisch und pädago-gisch inspiriert – vor allem auf das Lernen. Aus fach-didaktischer Sicht ist der Nutzen begrenzt, die Studiegibt allerdings wichtige Impulse, über das Lesen undden Deutschunterricht intensiver nachzudenken. DieStudie selbst kommt über einige Anregungen undVorschläge nicht hinaus (S. 131–134).

13 Welche Folgerungen werden in Deutschlandaus der Studie gezogen, welche sollten Deutsch-lehrerinnen und -lehrer ziehen?Ärgerlich ist der verbreitete Mechanismus, alles mitPISA in Verbindung zu bringen – die Familienverhält-nisse, den Fernsehkonsum, die Lehrerschaft. Kaumweniger ärgerlich: Im bildungspolitischen Umfeldsucht sich jeder das heraus, was ihm in seine vertrauteEinschätzung passt: Entscheidungen für oder gegendas gegliederte Schulsystem, für oder gegen eine straf-fe Auslese, für mehr Bildungsausgaben oder gegen dieunsachgemäße Verwendung von Steuergeldern.Und was ergibt sich ernstlich? Der Schock wirkt nachin einem Land, das sich aufgrund seines Wohlstandsund seiner Bildungstradition anderen oft genug über-legen gefühlt hat. Für Deutschlehrerinnen undDeutschlehrer ist wichtig, was die Studie selbst anKonsequenzen erörtert (Seite 131 ff.):◆ insbesondere die bessere Förderung schwacher Le-

serinnen und Leser;◆ die Verbesserung von Lern-Lese-Strategien und des

inhaltlichen Interesses beim Lesen;◆ die Verbesserung der diagnostischen Fähigkeiten

von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern;◆ die Verbesserung der Lesemotivation und der

Grundeinstellung zum Lesen.

Anmerkung1) Die Seitenangaben beziehen sich auf: Deutsches PISA-Konsortium(Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülernim internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich 2001.

Page 8: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 17612

mann und Müller in diesem Heft).An ihren Interventionsempfehlun-gen – zu denen übrigens auch dieVerbesserung der Diagnosefähigkeitder Lehrenden gehört – zeigt sichnoch einmal sehr klar die kogniti-onstheoretische Orientierung derPISA-Studie. Der Nutzen dieserOrientierung für eine kritischeSelbstreflexion aller, die Deutschun-terricht in Fachdidaktik und Schulegestalten, steht für mich außer Frage:Sie macht klar, dass es beim Textver-stehen um die genaue Rekonstrukti-on des Textsinns von der Worter-kennung bis zur globalen Kohärenz-herstellung, Textsortenkenntnis,Reflexion der Textintention undEinordnung des Textsinns in größe-re Zusammenhänge geht. Sie geht –wie die neuere Lesesozialisations-forschung auch – davon aus, dass esSprach- und Literaturunterricht indieser Hinsicht mit denselbenGrundfähigkeiten zu tun haben,dass also die Unterschiede in der Re-zeption non-fiktionaler und fiktio-naler Texte in kognitiver Hinsichtnachrangig sind.5) Sie belegt, dasssich allgemeine Lesefähigkeiten nachdem Schriftspracherwerb eben nichtselbstläufig weiterentwickeln, son-dern dass wir auf Lesetraining – auchim anspruchsvollen Sinne der meta-kognitiven Überwachung und Kon-trolle des eigenen Textverständnis-ses – als wichtigen Aspekt der Lese-förderung in allen Schulstufen in Zu-kunft mehr Wert legen müssen.Dennoch sieht auch PISA einenzweiten Ansatzpunkt der Leseför-derung beim Leseinteresse und

empfiehlt – über das eigene Kompe-tenzmodell im Grunde hinausge-hend – zur Verbesserung der Lese-leistungen der Heranwachsendeneine Stärkung von „Lesekultur“ als„insgesamt leseförderliche[r] und -motivierende[r] Haltung von Fami-lien, Schulen und außerschulischengesellschaftlichen Institutionen“(S. 133). Damit werden fachdidak-tische Vorschläge zur vernetzten,„systemischen“ Leseförderung auf-genommen und bestätigt, die inzwi-schen in viele – wenn auch offenbarnicht genügend viele – Schulen Ein-gang gefunden haben.6) „Mit Lese-kultur ist [...] eine von vielen Seitengetragene Einstellung dem Lesengegenüber [gemeint], die sich in le-seförderlichen Lesepraxen sowie invielfältigen Anregungen und Unter-stützungsmöglichkeiten äußert, sozum Beispiel in Form von Ge-sprächspartnern, um Verständnis-schwierigkeiten auszuräumen, umLeseeindrücke auszutauschen oderdas eigene Urteil zu schärfen.“(S. 133) Leseförderung in diesemSinne wird als zweite wichtige Inter-ventionsoption empfohlen, obwohlihre Begründung in konzeptuellerHinsicht über den PISA-Ansatzdeutlich hinausgeht (S. 134).Es gibt – so darf man folgern – guteGründe, den Lese- und Literatur-curricula der Schule einen weiterenBegriff von Lesekompetenz zu-grunde zu legen, als dies im Rahmendes pragmatischen Grundbildungs-verständnisses und kognitiven Lese-konzepts in der internationalenLeistungsmessung durch PISA mög-

lich war.

Lesekompetenz als Teilhabean kultureller Praxis

PISA versteht Lesen durchaus auchin dem Sinne, dass der Umgang mitSchriftlichkeit in unserer Kultur ei-ne grundlegende Form der Weltan-eignung darstellt, einen spezifischenHorizont des Weltverstehens undder Erfahrungsverarbeitung eröff-net (vgl. S. 20). Der Gedanke derEnkulturation in die Welt derSchrift als Bedingung der Entwick-lung von Subjekten zu kulturellerTeilhabe spielt aber, wie gezeigt, imdominierend pragmatischen Ansatzund kognitionszentrierten Modellvon Lesekompetenz nur in einge-schränktem Maße eine Rolle.Um es noch einmal klar zu sagen:Ich halte die Untersuchung PISA2000 für einen Meilenstein der inter-national vergleichenden Schulleis-tungsforschung und in diesem Rah-men auch der Leseforschung. DieStudie ist explizit theoretisch fun-diert, ihre Daten wurden außer-ordentlich sorgfältig erhoben undnach allen Regeln der Kunst ausge-wertet. Um die Auseinandersetzungmit den unerfreulichen Ergebnissenkommt die Fachdidaktik nicht he-rum – im Gegenteil: Sie kann ihr nurnützlich sein. Etwas anderes ist es,auf den Unterschied zwischen dem„Literacy“-Modell der Studie unddem der Fachdidaktik hierzulandegeläufigen Konzept sprachlich-lite-rarischer Bildung hinzuweisen, vondem die PISA-Autoren schon in derEinleitung sagen, dass „PISA keineannähernd erschöpfende Auskunftüber diesen zentralen Bereich derAllgemeinbildung“ zu geben bean-spruche (S. 21).Diese Begrenzung unterscheidetden Fokus der Leistungsmessung imLesen vom Aufgabenprofil derschulischen Lesedidaktik, die ers-tens in eine umfassende kulturellePraxis einzuführen hat, zu der nichtnur das (kognitive) Verständnis vonTexten, sondern der gesamte kom-munikative Handlungszusammen-hang gehört, in den das Lesen nor-malerweise eingebettet ist. Enkultu-ration in die Lesekultur meint ja,dass den „Novizen“ ein Mitglied-schaftsangebot gemacht wird, dassie in die Lage versetzt, all die Er-fahrungen mit dem Lesen zu ma-chen, die zur unverkürzten Teilnah-me an der Literalität gehören. Zwei-tens hat die Didaktik die ontogene-tische Perspektive des Erwerbs von

Eine Zusatz-untersuchung

zeigte, dass die15-Jährigen sich

bei den PISA-Tests durchaus

angestrengthaben.

Foto

: dpa

Page 9: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

Lesekompetenz zu berücksichtigen.Sie muss daher entwicklungsspezifi-sche motivationale und emotionaleBedingungen auf Leserseite beson-ders beachten und nicht zuletztKontexte für das Aushandeln vonBedeutungen in Anschlusskommu-nikationen mit anderen bereitstellen(vgl. dazu das Modell von Feilke indiesem Heft). Von der Lese- und Li-teraturdidaktik muss drittens dieFormulierung der normativen Ziel-vorstellungen erwartet werden, diesich mit dem Begriff der Lesekom-petenz im Hinblick auf Subjektbil-dung als historisch veränderlichernormativer Idee verbinden.Aus dem unübersehbaren Unter-schied zwischen Leistungsmessungund sprachlich-literarischer Bildungder Subjekte ergibt sich unabweis-bar die Notwendigkeit, für das Lese-curriculum der Schule einen weite-ren Horizont vorzusehen als dender Übung der Teilleistungen desLesens, die im Kompetenzmodellvon PISA vorgesehenen sind, sowieihrer lernstrategischen Verbesse-rung und Kontrolle. In kulturwissenschaftlicher Per-spektive erweist sich die in PISA für

die Lesekompetenz angesetzte di-mensionale Struktur als ergän-zungsbedürftig. Als Moment realerkultureller Praxis umfasst das Leseneben nicht nur kognitive Prozesse.Zu seiner Aufnahme bedarf es der Motivation, Textverstehen wirdvon Emotionen begleitet, Reflexio-nen und Bewertungen münden einin Anschlusskommunikationen, die allererst die Verbindung herstellenzwischen dem Lesen und der vonPISA postulierten Teilhabe der Le-ser an gesellschaftlicher Kommuni-kation. Wenn der Unterricht dieEinführung in eine alltagskulturellePraxis zum Ziel hat, muss er durch-lässig sein für alle Dimensionen die-ser Praxis. Daher braucht er zurOrientierung ein reichhaltigeres Le-sekompetenzmodell. Um dieses zu umreißen, greife ichim Folgenden zurück auf Ergebnis-se der neueren Lesesozialisations-forschung, die sich in interdiszi-plinärer Zusammenarbeit um dieBestimmung prototypischer Merk-male von Lesekompetenz bemühthat.7) Es geht dabei vorerst nicht umdie Frage, ob sich diese Merkmalefaktorenanalytisch-quantitativ un-

terscheiden lassen, sondern um ihrephänomenale Bedeutung in beob-achtbarer und erlebbarer kulturellerPraxis.Außer den von PISA veranschlagtenkognitiven Teildimensionen der Le-sekompetenz ist danach zusätzlicherstens die Lesemotivation zu be-achten. Es geht dabei um die Fähig-keit, schriftsprachliche Texte als et-was Bedeutungsvolles wahrzuneh-men, ihnen mit einer positiven Gra-tifikationserwartung zu begegnen,in der Rezeption Zielstrebigkeit,Ausdauer und das Bedürfnis nachVerstehen aufrechtzuerhalten, vonder Überzeugung auszugehen, dassLesen auch im interpersonalen Kon-text sinnvoll ist. Lesemotivation istin dieser Sicht nicht nur eine Hin-tergrundsvariable für Leseleistung(in diesem Sinne berücksichtigtPISA das Leseinteresse), sonderndas Motiviert-Sein zum Lesen istselbst ein Teil von Lesekompetenz.Als zweiter unverzichtbarer Teilas-pekt des Lesens als kultureller Pra-xis ist die emotionale Dimension zuergänzen. Sie betrifft die Fähigkeit,Texte bedürfnisbezogen auszu-wählen, eigene Erfahrungen und

Duden. Auf ihn können Sie sich verlassen.

Welcher Name fälltIhnen zuerst ein, wennSie an Wör terbücherdenken? Sehen Sie.Das kommt daher, weilder Duden das meist-verwendete Wör terbuchDeutschlands ist. Übrigens: Beim Gedan-ken an interaktive Lern-hilfen, Online-Services und telefonische Sprachberatung dür ftees Ihnen bald ebensogehen!www.duden.de

Zum Thema PISA würden wir vorschlagen: nachschlagen.

Page 10: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

Gefühlserlebnisse mit der Lektürezu verbinden (von verschiedenenFormen der Identifikation bis hinzur Freude an der kognitivenDurchdringung der Texte), das Ver-mögen, bei Schwierigkeiten Unlustzu balancieren, nicht zuletzt dieFähigkeit zum ästhetischen Wahr-nehmen und Genießen. DieseAspekte sind bisher vor allem in derLiteraturdidaktik beachtet worden.8)

Auch Sachtexte werden aber mitemotionaler Beteiligung gelesen,auch hier ist die Dimension derEmotionen eine wichtige Facetteder Rezeptionskompetenz. Schließlich ist drittens dem kogni-tivistischen Lesekompetenzmodellvon PISA die interaktive Dimensionhinzuzufügen, die Fähigkeit zu An-schlusskommunikationen. Das meintdie Fähigkeit, sich über Gelesenesmit anderen auszutauschen, zur To-leranz bei unterschiedlichen Inter-pretationen, zum Aushandeln vonBedeutungskonsensen. Das Litera-turgespräch im Unterricht hat janicht nur den schulspezifischen Sinnder Überprüfung der „Richtigkeit“von Textrezeptionen. Viel wichtigerist es als Einübung in die Verständi-gung über Verstandenes als sozialeKo-Konstruktion von Bedeutun-gen. In diesem Sinne wird auchaußerhalb der Schule erst über An-schlusskommunikationen die Ver-bindung zwischen individuellerLektüre und Lesekultur sowie derTeilhabe der Leserinnen und Leseram kulturellen und gesellschaftli-

reller und gesellschaftlicher Praxisunverzichtbar macht. Nach allem, was wir über die Lese-sozialisation bisher wissen, ist fürdie ontogenetische Perspektive desErwerbs von Lesekompetenz einüber die kognitiven Teilfähigkeitenhinaus erweitertes Modell derLeseentwicklung unverzichtbar. Obein Kind zum Leser oder zur Lese-rin wird, ist vor allem davon abhän-gig, ob es die Erfahrung machenkann, dass das Lesen seine Bedürf-nisse nach Weltorientierung, sinn-lich-ästhetischer Erfahrung undSelbstaufklärung betrifft und auchim sozialen Zusammenhang Sinnmacht.10) Über die für das Lesen imAlltag konstitutiven Momente derMotivationen, Emotionen und An-schlusskommunikationen darf auchdie Didaktik im Interesse der Unter-stützung des Erwerbsprozesses kei-nesfalls hinwegsehen. Im Gegenteil:Sie muss bemüht sein, die Verbesse-rung kognitiver Textverarbeitungs-kompetenzen so eng wie möglichmit Lesemotivationen, emotionalinvolvierten Lektüreerfahrungenund auch sozio-kommunikativ be-friedigenden Prozessen der An-schlusskommunikation zu verbin-den. Leseförderungskonzepte sinddaher nicht auf die Verbesserung derInformationsverarbeitungskompe-tenz zu beschränken, sondern müs-sen neben der Leseübung immerauch die Einbindung des Lesens indie Lebenswelt der Heranwachsen-den und in die Kommunikations-

Um zu Lesernzu werden,

müssen Kinderdie Erfahrungmachen kön-

nen, dass Lesenihre Bedürfnis-

se nach Welt-orientierung,

sinnlich-ästhe-tischem Erleben

und Selbst-aufklärung

betrifft.

Foto

: dpa

chen Leben hergestellt.9)

Die Ergänzungen sollten deutlichmachen: Das kulturwissenschaftlichorientierte Modell von Lesekompe-tenz, das die neuere Lesesozialisa-tionsforschung entwickelt hat, istnicht nur eine theoretisch produk-tive Erweiterung der kognitivis-tischen Perspektive von PISA. Esstellt auch das didaktisch brauchba-rere Konzept bereit, da der Prozessdes Kompetenzerwerbs ohne dieBerücksichtigung motivationaler,emotionaler und interaktiver Di-mensionen des Textverstehens nurschwer zu fördern ist. Lesetrainingzur Leistungsverbesserung im ko-gnitiven Bereich ist nötig und bringt,wenn es erfolgreich ist, Schülerinnenund Schülern natürlich auch emotio-nalen und sozialen Gewinn. Als inunserer Kultur eingebürgerte Formdes Weltverstehens und Symbolge-brauchs ist das Lesen jedoch mehrals ein Lernwerkzeug für externeZwecke und entsprechend ist die Le-sedidaktik auf die Berücksichtigungund Förderung von Teilkompeten-zen in allen genannten Bereichen angewiesen: im Bereich der Motiva-tionen, der Kognitionen, der Emo-tionen, der Reflexionen und der An-schlusskommunikationen. Für dieTeilnahme an der Lesekultur sindKompetenzen in allen diesen Berei-chen nötig. Erst in ihrer Gesamtheitgewährleisten sie das, was das Lesenauch im Medienzeitalter als zentraleBedingung für die Teilhabe an kultu-

Page 11: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

Grundkurs 1 + 2, Mittelkurs 1 + 2, Aufbaukurs 1 + 2Lesen ist der Anfang von allem. In jedem Heft im FormatA4 werden 8 exemplarische Lesestrategien geübt und mitden Lösungsseiten abgesichert. Der Schüler baut seinepersönliche Lesekompetenz selbstständig auf.64 Lernkärtchen stützen diesen Prozess und dasWiederholen mit der PISA-Lernbox sichert den Lernerfolgdauerhaft ab.

Deutsch Grundschule und SekundarstufeRechtschreibung, Grammatik und Lesefertigkeit werdenexemplarisch geübt. 8 lebensnahe Aufgaben zum gelten-den Lehrplan werden mit Hilfe der 8 Schritt-für-Schritt-Lösungsblätter vom Schüler selbstständig erarbeitet.Seine individuelle Lösungsstrategie sichert er mit Hilfeder 64 Lernkärtchen an ähnlichen Beispielen ab. DiePISA-Lernbox bringt das neue Wissen direkt insLangzeitgedächtnis.

Katharina FlickDeutsch Klasse 1In und ums Haus (Nr. M101 • 5,00 c)a Anlaut hörenb Laut in der Wortmitte hörenc Wie hört das Wort auf? Sprich deutlichd Selbstlaute in der Mittee Sprechrhythmus, Wörter findenf Wortbausteine, Signalgruppeng Mehrzahlformenh Verben: Reimwörter

Katharina FlickDeutsch Klasse 2Es tut sich was (Nr. M102 • 5,00 c)

Katharina FlickDeutsch Klasse 3In der Schule (Nr. M103 • 5,00 c)

Katharina FlickDeutsch Klasse 4In die Welt hinein (Nr. M104 • 5,00 c)

Marc BöhmannDeutsch Klasse 5Besondere Tiere (Nr. M105 • 5,00 c)

Marc BöhmannDeutsch Klasse 6Schule und Leben (Nr. M106 • 5,00 c)

Marc BöhmannDeutsch Klasse 7Freizeit und Familie (Nr. M107 • 5,00 c)

Name: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorname: . . . . . . . . . . . . . . . . .

Schule z. Hd. von: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Straße: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

PLZ: . . . . . . . . Ort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Fon: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fax: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E-Mail. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Geburtsdatum: __ __ / __ __ / __ __ __ __

Ich bin Lehrer/in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ich zahle nach Rechnungseingang binnen 14 Tagenper Lastschrifteinzug (jederzeit widerrufbar)

Konto-Nr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . BLZ:. . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kreditinstitut: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kontoinhaber: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bestellliste bitte kopieren und senden an:mehrzu-Versandbuchhandlung, Düserweg 1a, 26180 RastedeFon 01805-mehrzu = 01805-634798 (bundesweit zum Ortstarif 0,12 c/min)Fax 04402-926350; E-Mail: [email protected]

Menge Bestell-Nr. PreisLesetraining Grundkurs 1 M131 5,00 cLesetraining Grundkurs 2 M132 5,00 cLesetraining Mittelkurs 1 M134 5,00 cLesetraining Mittelkurs 2 M135 5,00 cLesetraining Aufbaukurs 1 M137 5,00 cLesetraining Aufbaukurs 2 M138 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 1 M101 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 2 M102 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 3 M103 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 4 M104 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 5 M105 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 6 M106 5,00 cLerntraining Deutsch Klasse 7 M107 5,00 cLernsystem 3-Fächer-PISA-Lernbox M150 2,00 cLernsystem 3-Fächer-PISA-Lernbox 10er-Pack M151 17,50 c

Hiermit bestelle ich die links mit einer Mengenangabe versehenen Materialien (zzgl. 3,50 c Versandkostenpauschale).

Das PISA-Lernsystem: Jedes Heft hat

+ 8 typische Beispielaufgaben

+ 8 Schritt-für-Schritt-Lösungshilfen

+64 Lernkärtchen

+ 1 PISA-Lernbox und kostet nur 5,00 f!

Martina Oberhauser/Jörg KnoblochGrundkurs 1Rund ums Wasser (Nr. M131 • 5,00 c)a Wörter erkennenb Wörter aufbauen/Blickspanne erweiternc Blickspanne erweitern d Wortbedeutungen erfassene Informationen ermitteln (1)f Informationen ermitteln (2)g Textbezogenes Interpretieren h Differenzierte Auseinandersetzung mit einem Text

Martina Oberhauser/Jörg KnoblochGrundkurs 2Aus der Welt der Tiere (Nr. M132 • 5,00 c)

Petra Schmidmeier/Jörg KnoblochMittelkurs 1Rund um den Sport (Nr. M134 • 5,00 c)

Petra Schmidmeier/Jörg KnoblochMittelkurs 2Dinosaurier (Nr. M135 • 5,00 c)

Jörg KnoblochAufbaukurs 1Aus der Steinzeit (Nr. M137 • 5,00 c)

Jörg KnoblochAufbaukurs 2Origami und Technik (Nr. M138 • 5,00 c)

Page 12: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 17616

kultur der Gegenwart mit beden-ken. Lesekompetenz in einem um-fassenden kulturellen Zusam-menhang: Voraussetzungen,Wirkungen und die normativeLeitidee des gesellschaftlichhandlungsfähigen Subjekts

Für die Orientierung pädagogischerProzesse ist ein Konzept von Lese-kompetenz unerlässlich, das außerder beschriebenen Erweiterung derkognitiven Lese-Leistungsperspek-tive um motivationale, emotionaleund interaktive Teildimensionender Textrezeption die dem Lesepro-zess logisch vorauslaufenden Bedin-gungen und nachfolgend erwartetenWirkungen in die Modellstruktureinbezieht. Zusätzlich muss dasKonzept die normative Leitidee ex-plizit machen, an der pädagogischenProzesse der Bildung schriftsprach-

licher Kommunikationsfähigkeitletztlich orientiert sind.Anhand eines solchen umfassendenModells der Lesesozialisation kannman sowohl die Probleme verorten,die den Kompetenzerwerb behin-dern, als auch die Dimensionen be-stimmen, in denen Wirkungen er-wartet werden. Schließlich tritt einenormative Annahme ins Blickfeld,die in allen Definitionen von Lese-kompetenz mehr oder weniger un-ausgesprochen enthalten ist. Es han-delt sich um die Idee eines wie auchimmer „gebildeten“ Subjekts als ei-nes Menschen, für dessen Umgangmit der Welt die aktive Teilnahmean schriftsprachlicher Kommunika-tion kategoriale Bedeutung hat.Diese Subjektidee ist, wie uns Medi-en- und Subjektivitätstheorien leh-ren, in ihrem Gehalt nicht unabhän-gig vom Wandel der symbolischenUmwelten. Und so kann man auch

die Frage auf die Zukunft öffnen –ob es im Leben der Heranwachsen-den, mit denen wir es heute und inden nächsten Jahrzehnten zu tun ha-ben, tatsächlich (noch) so ist, dassdie Lesekompetenz einen unver-zichtbaren Beitrag zu ihrer Subjekt-bildung – respektive sozialen undkulturellen Handlungsfähigkeit –leistet. Ein Modell der Lesesozia-lisation, das diese Bezüge ausweist,ist im Kontext des DFG-Schwer-punktprogramms „Lesesozialisa-tion in der Mediengesellschaft“ dis-kutiert worden11). Es könnte wie imKasten unten dargestellt aussehen.Die Bedingungsseite des Modellszeigt noch einmal, dass gerade dieSchülerinnen und Schüler, in derensozialem Umfeld das Lesen eine ge-ringe Rolle spielt, eine konzentrier-te Unterstützung durch leseförder-liche Bedingungen in der Schul- undUnterrichtskultur brauchen.

Gerade dieSchülerinnenund Schüler,

in deren sozia-lem Umfeld das

Lesen eine ge-ringe Rolle

spielt, brauchenUnterstützung

durch lese-förderliche

Bedingungen in Schule und

Unterricht.

Foto

: dpa

Lesekompetenz im Sozialisationskontext

Bedingungen

soziale und schulischepersonalemediale

Motivationen Kognitionen Emotionen Reflexionen Anschluss- kommuni-kationen

normative Aspekte

Dimensionen der Lesekompetenz

deskriptive Aspekte

normative

Rückkopplung

normative

Rechtfertigung

gesellschaftlichhandlungsfähiges

Subjekt

Wirkungen

sozialepersonale

Page 13: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

Hier insbesondere müssen nebenden kognitiven die motivationalen,emotionalen und interaktiven Di-mensionen der Lesekompetenzgroße Beachtung finden. Dabei sindaußer den gedruckten Texten undden Büchern auch die modernenMedien einzubeziehen, die für He-ranwachsende heute oft den Kontextdes Lesens bilden. Es geht bei derLeseförderung nicht zuletzt um dieAnbahnung positiver Leseerfahrun-gen, die Vermittlung von Lesefreu-de und Vertrautheit mit schrift-sprachlichen Texten sowie um dieStabilisierung von Lesegewohnhei-ten. Kompetente Leser haben imAllgemeinen schon in der familialenSozialisation die Erfahrung ge-macht, dass das Lesen im sozialenZusammenhang Sinn macht, indemes Anknüpfungspunkte bietet fürAnschlusskommunikationen, dasheißt für den produktiven Aus-tausch über Gelesenes mit ande-ren.12) Dabei haben sie gelernt, dassdas Lesen ihnen hilft, eigene Ent-wicklungsprobleme und Lebensthe-men zu bearbeiten, über die Weltnachzudenken, sich eigener Wün-sche und Einstellungen zu vergewis-

sern.13) Sie haben gemerkt, dass Le-sen ästhetische Erfahrung vermit-teln und auch nur einfach Freudemachen kann. Diese Erfahrungenmuss der Deutschunterricht heutekompensatorisch oft erst ermögli-chen. Dass 42 % der von PISA be-fragten deutschen Jugendlichen vonsich selbst sagen, sie würden über-haupt nicht zum Vergnügen lesen(S. 113 ff.), zeigt das Problem in al-ler Schärfe. Der Deutschunterrichtkann ihm nur mit einer breiten Pa-lette von Vermittlungsmethoden so-wie einem Angebot unterschiedli-cher Textsorten und Medien begeg-nen. Zu berücksichtigen sind auf je-den Fall motivierende, unterhaltsa-me und gut geschriebene Texte derKinder- und Jugendliteratur, in die-sem Feld außerdem nicht nur fiktio-nale, sondern auch Sachtexte. DieVerbindung zur außerschulischenLektüre ist herzustellen, bei jünge-ren Kindern ist Elternberatung hilf-reich. Unerlässlich ist auch die Zu-sammenarbeit mit den anderenFächern in einem insgesamt ver-netzten, systemischen Konzept derLeseförderung.14)

Alle diese Anstrengungen gelten derSicherung soziokommunikativerund personaler Qualifikationen, diewir uns als Wirkungen denken, diemit Lesekompetenz verbundensind. Explizieren wir die Wirkungs-seite des Modells, so sind in sozialerHinsicht etwa Informiertheit, Fä-higkeit zur Weiterbildung, politi-sches Interesse, Kritikfähigkeit, kul-turelles Gedächtnis zu nennen, aufder personalen Ebene etwa dieFähigkeit zur Selbstreflexion, Arti-kulations- und Ausdrucksfähigkeit,Vorstellungsfähigkeit, ästhetischeGenussfähigkeit. Grundsätzlich istes das Gesamt der Wirkungen, diewir didaktisch mit dem Begriffsprachlich-literarischer Bildung ver-knüpfen. Das Modell macht im Hin-blick auf die Wirkungsseite nun aberzweierlei deutlich: Zum einen zeigtes, dass wir es größtenteils mit empi-risch durchaus überprüfbaren Wir-kungen der Lesekompetenz zu tunhaben. Für die Deutschdidaktik istes nicht nur legitim, sondern auchnötig, ihre Kernannahmen explizitzu machen und – soweit möglich –einer empirischen Überprüfung aus-zusetzen. Das würde in einer sich

mentor Übungsbücher – das praktische Fitness-training vor der Klassenarbeit!● Gezieltes Üben eines Themenbereichs pro Band

● Übersichtliche Lernportionen, heraustrennbarerLösungsteil u.v.m.

mentor Lektüre Durchblicke – Hintergrund-informationen auf einen Blick!● Überzeugende Interpretationen● Schaubilder zu Personen und Aufbau

Peilung?Deutsch

Jetzt aber mentor!

Null

mentor ÜbungsbuchAufsatz: Sachtexte underzählende Prosa interpretieren9./10. Klasse3-580-63819-X, R 7,95 [D]

mentor Lektüre DurchblickAlfred Andersch:Sansibar oder der letzte Grund3-580-63330-9, R 4,95 [D]

Außerdem gibt’s für Deutsch:

Lernhilfen, Abiturhilfen und Software!

Gesamtverzeichnis und Lehrerprüf-exemplare (20 % Ermäßigung) bei:

mentor VerlagPostfach 401120 · 80711 MünchenTel. 0 89/360 96-333 · Fax 0 89/360 96-258

www.mentor.de

mentor Übungsbuch

9./10. KlasseDeutsch

Aufsatz:

Sachtexte und erzählende Prosa

interpretieren

mentor Lektüre Durchblick

Alfred Andersch

Inhalt · Hintergrund · Interpretation

Sansibar oder der letzte Grund

Page 14: Hurrelmann Leseleistung Lesekomptenz - IDSL IIidsl2.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/IDSLII/Kagelmann/Hurrelmann_Leseleistung... · tisch breiteren Konzept von Lesen als kulturel-ler

PRAXIS DEUTSCH Heft 17618

wandelnden Medienwelt ihre An-nahmen und Intentionen vor Ideolo-gieverdacht schützen und ihnen zu-sätzliche Überzeugungskraft geben.Zum Zweiten macht das Modell dienormativen Implikationen der heut-zutage modisch gewordenen Redevon den Kompetenzen erkennbar.Die erwünschten Wirkungen einererwünschten Kompetenz wie derLesekompetenz rechtfertigen sichletztlich aus einer normativen Leit-vorstellung heraus, die hier – imAnschluss an die Sozialisationstheo-rie – als „gesellschaftlich handlungs-fähiges Subjekt“ bezeichnet ist. Alsoberste Leitidee bedarf sie zwarselbst keiner normativen Begrün-dung. Sie unterliegt aber in ihren in-haltlichen Bestimmungen histori-schem und kulturellem Wandel.15)

Ihr Zusammenhang mit den tatsäch-lichen Wirkungen der didaktischangestrebten Lesekompetenz ist da-her normenkritisch zu überprüfen.Die PISA-Autoren beispielsweiseführen ganz in diesem Sinne einigeempirische Evidenzen dafür an, dasses zwischen dem Niveau der von ih-nen fokussierten Basiskompetenzenauf der einen Seite und einer in be-ruflicher, wirtschaftlicher und per-sönlicher Hinsicht „befriedigende[n]Lebensführung“ sowie „aktive[n]Teilnahme am gesellschaftlichen Le-ben“ systematische Zusammenhängegebe (S. 29 ff.). Das ist überzeugend,löst aber speziell für das Lesen nichtdas Problem der primär instrumen-tellen Betrachtungsperspektive vonPISA. Was könnte darüber hinausdie „gesellschaftliche Handlungs-fähigkeit“ des lesekompetenten Sub-jekts ausmachen?Der Begriff des Handelns umfasstnach Habermas neben dem Konzeptdes gegenstandsorientiert-instru-mentellen Handelns das des norm-orientiert-sozialen Handelns, dessubjekt-orientierten Ausdruckshan-delns und des Normen problema-tisierenden kommunikativen Ver-ständigungshandelns (Habermas,1981). Für alle diese Domänen derHandlungsfähigkeit des Subjektsließe sich meines Erachtens in derGegenwart die Bedeutsamkeit derLesekompetenz plausibel machen.Das heißt nicht, dass im Medienzeit-alter nicht auch andere Rezeptions-fähigkeiten – etwa das Sehen, dasHören und das multimediale Wahr-nehmen und Verstehen – wichtigsind und didaktische Förderungverdienen. Es heißt aber, dass um-fassendere Konzepte von Medien-

kompetenz letztlich immer gesell-schafts- und subjekttheoretisch zuentfalten und zu begründen sind.16)

Das obige Modell zeigt drittens,dass von der normativen Leitideegesellschaftlicher Handlungsfähig-keit aus Voraussetzungen auf derBedingungsseite kritisiert werdenkönnen und müssen, die Heran-wachsende daran hindern, Lese-kompetenz zu erwerben. Die PISA-Ergebnisse legen nahe, dies nichtnur im Hinblick auf kulturelleDisparitäten und soziale Chancen-ungleichheit in unserer Gesellschaftzu tun, sondern auch im Hinblickauf schulisch-unterrichtliche Bedin-gungen. Selbstkorrektur ist ange-sichts der PISA-Resultate in der Tatauf allen Ebenen und in allen Sek-toren des Bildungssystems nötig. Soauch im Deutschunterricht. Nurvergesse man bei den didaktischenFolgerungen nicht, dass es nicht nurum Leistungsverbesserungen aufSchülerseite geht, sondern dass dasLesen über instrumentelles Handelnhinaus noch in andere Domänen derHandlungsfähigkeit hineinführt, diewie das normorientierte, das subjekt-orientierte und das verständigungs-orientierte Handeln in engstem Zu-sammenhang stehen zu personalerBildung. Da wir in den nächsten Jahren mitder Leistungsmessung in Bezug aufdas Lesen weiterhin zu tun habenwerden, sollte in diesem Beitrag aufdie Partialität des PISA-Modellsvon Lesekompetenz hingewiesenwerden. Was wir brauchen, ist eineLeseförderung, die sich an einemtheoretisch und didaktisch breiterenKonzept von Lesen als kulturellerPraxis orientiert.

Anmerkungen* Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf:Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA2000. Basiskompetenzen von Schülerinnenund Schülern im internationalen Vergleich.Opladen: Leske + Budrich 2001. Seitenanga-ben gelten dieser Publikation.1) Vgl. Groeben/Hurrelmann 2002a; Groe-ben/Hurrelmann 2002b.2) Vgl. van Dijk & Kintsch 1983; Kintsch 1994;1998.3) Vgl. Kirsch 1995; Kirsch, Jungeblut & Mo-senthal 1998.4) Vgl. z. B. Christmann & Groeben 1999;Christmann & Groeben 2002.5) S. 70 ff.; Hurrelmann 2002a, S. 286.6) Vgl. Hurrelmann 1994; vgl. auch Hurrel-mann & Elias 1998.7) Vgl. Groeben & Hurrelmann 2002a; zusam-menfassend Hurrelmann 2002a.8) Vgl. Spinner 2002; s. a. Köppert & Spinner1998.9) Vgl. Rupp 2002.10) Vgl. Hurrelmann 1994.11) Vgl. dazu die Synopse von Hurrelmann

2002b.12) Vgl. Hurrelmann, Hammer & Nieß 1995.13) Vgl. z. B. Graf & Schön 2001; zusammen-fassend Eggert & Garbe 1995.14) Vgl. Hurrelmann 1994; Hurrelmann &Elias 1998; so auch PISA, S. 133 f.15) Vgl. dazu im Einzelnen Hurrelmann 2002b.16) Vgl. mein Versuch zur Medienkompetenzin Hurrelmann 2002b.LiteraturChristmann, Ursula/Groeben, Norbert: Psy-chologie des Lesens. In: Bodo Franzmann u. a.(Hg.): Handbuch Lesen. München: Saur 1999,S. 145–223.Christmann, Ursula/Groeben, Norbert: An-forderungen und Einflussfaktoren bei Sach-und Informationstexten. In: Norbert Groe-ben/Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesekompe-tenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktio-nen. Weinheim/München: Juventa 2002,S. 150–173.Eggert, Hartmut/Garbe, Christine: Literari-sche Sozialisation. Stuttgart: Metzler 1995.Graf, Werner/Schön, Erich: Das Kinderbuchals biographischer Begleiter. In: Imbke Behn-ken/Jürgen Zinnecker (Hg.): Handbuch derKindheitsforschung. Velber: Friedrich 2001,S. 620–635.Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina(Hg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimen-sionen, Funktionen. Weinheim/München: Ju-venta 2002a.Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina(Hg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen,Dimensionen, Funktionen. Weinheim/Mün-chen: Juventa 2002b.Habermas, Jürgen: Theorie kommunikativenHandelns. 2 Bände. Frankfurt: Suhrkamp1981.Hurrelmann, Bettina (Hg.): Leseförderung.PRAXIS DEUTSCH 127 (1994) (Themen-heft).Hurrelmann, Bettina: Prototypische Merkma-le der Lesekompetenz. In: Norbert Groe-ben/Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesekompe-tenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktio-nen. Weinheim, München: Juventa 2002a,S. 275–286.Hurrelmann, Bettina: Zur historischen undkulturellen Relativität des „gesellschaftlichhandlungsfähigen Subjekts“ als normativerRahmenidee für Medienkompetenz. In: Nor-bert Groeben/Bettina Hurrelmann (Hg.):Medienkompetenz. Voraussetzungen, Di-mensionen, Funktionen. Weinheim/München2002b, S. 111–126.Hurrelmann, Bettina/Elias, Sabine (Hg.): Le-seförderung in einer Medienkultur. PRAXISDEUTSCH Sonderheft 1998.Hurrelmann, Bettina/Hammer, Michael/Nieß, Ferdinand: Leseklima in der Familie.Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1995.Kintsch, Walter: Discourse processing. In:G. d’Ydevalle/P. Eelen/P. Bertelson (Eds.):International perspective on psychologicalscience. Vo. 2. Hillsdale, N. J.: Erlbaum,pp. 135–155.Kintsch, Walter: Comprehension. A paradigmfor cognition. Cambridge, U. K.: UniversityPress 1998.Kirsch, I. S./Jungeblut, A./Mosenthal, P. B.:The measurement of adult literacy. In: T. S.Murray/I. S. Kirsch/L. Jenkins (Eds.): Adultliteracy in OECD countries: Technical reporton the first international adult literacy survey.Washington DC: US Department of Educa-tion, National Center of Education Statistics1998.Köppert, Christine/Spinner, Kaspar H.: Ima-gination im Literaturunterricht. In: NeueSammlung 38 (1998), S. 155–170.Spinner, Kaspar H.: Kreativer Deutschunter-richt. Identität. Imagination. Kognition. Seel-ze (Velber): Kallmeyer 2002.van Dijk, Teun A./Kintsch, Walter: Strategies