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Hydrodynamik in der Astrophysik: Grundlagen, numerische Verfahren und Anwendungen Vorlesung an der TU M¨ unchen Wintersemester 2012/13 PD Dr. Ewald M¨ uller Max-Planck-Institut f¨ ur Astrophysik Karl-Schwarzschild-Straße 1 85748 Garching 13. Februar 2013

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Hydrodynamik in der Astrophysik:Grundlagen, numerische Verfahren und

Anwendungen

Vorlesung an der TU MunchenWintersemester 2012/13

PD Dr. Ewald MullerMax-Planck-Institut fur Astrophysik

Karl-Schwarzschild-Straße 185748 Garching

13. Februar 2013

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Inhaltsverzeichnis

1 Die hydrodynamischen Gleichungen 51.1 Die Boltzmann-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.2 Bedingungen fur eine hydrodynamische Beschreibung . . . . . . . . . . . . 121.3 Herleitung der hydrodynamischen Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 14

1.3.1 Maxwell–Boltzmann–Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.3.2 Hydrodynamische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1.4 Relativistische Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211.4.1 Speziell–relativistische Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.4.2 Allgemein–relativistische Hydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . 24

1.5 Magnetohydrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2 Eigenschaften und analytische Losungen 332.1 Systeme Quasilinearer Partieller Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . 332.2 Charakteristiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2.2.1 Die lineare Advektionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362.2.2 Lineare, homogene PDE 1. Ordnung in 1 Dimension . . . . . . . . . 372.2.3 Nicht–viskose Burger–Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.2.4 Homogenes hyperbolisches System quasilinearer PDE’s 1. Ordnung

in 1 Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402.3 Charakteristische Form der hydrodynamischen Gleichungen . . . . . . . . . 432.4 Einfache Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

2.4.1 Verdunnungs und Verdichtungswellen: . . . . . . . . . . . . . . . . 472.5 Schwache Losungen und Diskontinuitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2.5.1 Stoßwellen in einem idealen Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572.6 Das Riemann–Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

3 Diskretisierungsverfahren 633.1 Grundlegende Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633.2 Explizite und implizite Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663.3 Methode der Operatoren–Zerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673.4 Konservative Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.5 Stabilitat, Konsistenz und Diskretisierungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . 71

3.5.1 Diffusionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

1

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INHALTSVERZEICHNIS 2

3.5.2 Advektionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753.5.3 Allgemeine Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

3.6 Exakte Riemannloser: Verfahren von Godunov . . . . . . . . . . . . . . . . 783.7 Approximative Riemannloser: Verfahren von Roe . . . . . . . . . . . . . . 83

4 Anwendungen aus der Astrophysik 894.1 Stromungsinstabilitaten in Supernovahullen . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

4.1.1 Rayleigh–Taylor Instabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.1.2 Kelvin–Helmholtz Instabilitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924.1.3 Instabilitaten in Supernovahullen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

4.2 Turbulentes Brennen in thermonuklearen Supernovae . . . . . . . . . . . . 1064.3 Relativistische Jets und Gammablitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

4.3.1 Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1164.3.2 Simulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

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Literatur

• zu Kapitel 1:

– A.M. Anile, Relativistic Fluids and Magnetofluids, Cambridge University Press,1989

– A.R. Choudhuri, The Physics of Fluids and Plasmas, Cambridge UniversityPress, Cambridge, 1998

– G. Ecker, Theory of Fully Ionized Plasmas, Academic Press, New York, 1972

– L.D. Landau & E.M. Lifschitz, Band VI, Hydrodynamik, Kap. I–III, VIII-X, XVI-XV, Akademie-Verlag, Berlin, 1991

– L.D. Landau & E.M. Lifschitz, Band VIII, Elektrodynamik der Kontinua,Kap. VIII, Akademie-Verlag, Berlin, 1990

– S.N. Shore, An Introduction to Astrophysical Hydrodynamics, Academic Press,San Diego, 1992

– F.H. Shu, The Physics of Astrophysics Vol II: Gas Dynamics, University Science,Mill Valley, 1992

• zu Kapitel 2:

– A.J. Chorin & J.E. Marsden, A Mathematical Introduction to Fluid Mechanics,Springer, New York, 1979

– R. Courant & K.O. Friedrichs, Supersonic Flow and Shock Waves, Springer, Ber-lin, 1976

– H.. Goedbloed & S. Poedts, Principles of Magnetohydrodynamics CambridgeUniversity Press, Cambridge, 2004

– E.F. Toro, Riemann Solvers and Numerical Methods for Fluid Dynamics - APractical Introduction, Springer, Berlin, 1997

– R.J. LeVeque, Numerical Methods for Conservation Laws, Birkhauser, Basel,1992

– R.J. LeVeque, Nonlinear Conservation Laws and Finite Volume Methods, in“Computational methods for astrophysical fluid flow”, LeVeque, R.J., Mihalas,D., Dorfi, E.A. & Muelller, E., Springer, Berlin, 1998

3

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INHALTSVERZEICHNIS 4

• zu Kapitel 3:

– D.A. Anderson, J.C. Tannehill & R.H. Pletcher, Computational Fluid Mechanicsand Heat Transfer, McGraw-Hill, New York, 1984

– J.Antonio Font, Numerical Hydrodynamics in General Relativity, Living Re-views in Relativity, lrr-2008-7http://relativity.livingreviews.org/Articles/lrr-2008-7/

– C.B. Laney, Computational Gasdynamics, Cambridge University Press, Cam-bridge, 1998

– J.M. Martı and E. Muller, Numerical Hydrodynamics in Special Relativity, Li-ving Reviews in Relativity, lrr-2003-7http://relativity.livingreviews.org/Articles/lrr-2003-7/index.html

– E. Oran & J.P. Boris, Numerical Simulation of Reactive Flow, Elsevier, NewYork, 1987

– D. Potter, Computational Physics, Wiley, New York, 1977

• zu Kapitel 4:

– S. Chandrasekhar, Hydrodynamic and Hydromagnetic Stability, Dover, 1961

– W. Hillebrandt and J.C. Niemeyer Type IA Supernova Explosion Models, AnnualReview of Astronomy and Astrophysics, Vol. 38, p. 191-230 (2000)

– E. Muller, Simulation of Astrophysical Fluid Flow, in “Computational methodsfor astrophysical fluid flow”, LeVeque, R.J., Mihalas, D., Dorfi, E.A. & Mulller,E., Springer, Berlin, 1998

• Interessante und nutzliche WWW-Adressen:

– CFD Online: http://www.cfd-online.com

– Astro-Sim: http://www.astro-sim.org/content/view/15/29/

– CCSE: https://ccse.lbl.gov/index.html

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Kapitel 1

Die hydrodynamischen Gleichungen

1.1 Die Boltzmann-Gleichung

• Gegeben sei ein klassisch–mechanisches System von N Teilchen ohne innere Frei-heitsgrade (d.h. Teilchen ohne innere Struktur). Die Bewegung der Teilchen ist durchdie Hamiltonschen Gleichungen

∂~qi∂t

=∂H

∂~pi,

∂~pi∂t

= −∂H∂~qi

i = 1, . . . , N (1.1)

bei gegebenen Anfangsbedingungen festgelegt (kanonisches, auch Hamiltonsches oderkonservatives System). Hierbei sind:

~qi = (q1, q2, q3) die verallgemeinerten Koordinaten

und

~pi = (p1, p2, p3) die verallgemeinerten Impulse

der Teilchen undH = H(~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) die Hamilton–Funktion des Systems

• Fur große Teilchenzahlen N ist es nicht moglich, die Bewegungsgleichungen allerTeilchen zu losen (Rechenaufwand zu groß; Unkenntnis der genauen Anfangsbedin-gungen).

• statistische Beschreibung von Systemen mit großer Teilchenzahl erforderlich

• Gibbs–Gesamtheit oder Ensemble:

Vielzahl von gleichartigen physikalischen Systemen (gleiche Hamilton–Funktion H),die unter denselben makroskopischen (nicht in H enthalten ) Bedingungen alsnebeneinander etabliert gedacht werden konnen.

5

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 6

• Unter gewissen Umstanden (Energieerhaltung) kann man ein einzelnes physikalischesSystem im zeitlichen Hintereinander als aquivalentes Ensemble betrachten (Ergoden-hypothese)

• Beschreibungsgrundlage fur die statistische Beschreibung einer Gibbs–Gesamtheit istder Γ-Phasenraum.

• Dies ist ein 6N–dimensionaler Raum (allgemein ein 2fN–dimensionaler Raum, wobeif die Anzahl der Freiheitsgrade der Teilchen ist), der von den Vektoren ~q1, . . . , ~qNund ~p1, . . . , ~pN aufgespannt wird.

• Ein Punkt in diesem Phasenraum beschreibt den Zustand aller N Teilchen zu einemgegebenen Zeitpunkt. Die zeitliche Entwicklung des Systems ist durch eine (eindeu-tige) Phasenbahn (Trajektorie) im Γ–Raum gegeben.

• Die bisherigen Betrachtungen sind auf ein klassisch–mechanisches System aus sehrvielen (gleichartigen oder nicht gleichartigen) wechselwirkenden Teilchen zugeschnit-ten.

• Liegt zwischen den Teilchen keine Wechselwirkung vor, so reicht die Betrachtungdes einem Einzelteilchen zugeordneten 6 (allgemein 2f)–dimensionalen Phasenraumsaus, der von den Vektoren ~q und ~p aufgespannt wird. Dieser Phasenraum wird alsµ–Phasenraum bezeichnet.

• Wegen der Unabhangigkeit der Teilchen: bei N Teilchen, N Phasenraumpunkte indemselben µ–Raum (in der Quantenmechanik: Phasenraumpunkt → Phasenraum-zelle)

• Grundaufgabe der statistischen Beschreibung: Bestimmung der Verteilung der Pha-senraumpunkte, die den physikalischen Systemen der betrachteten Gibbs-Gesamtheitzugeordnet sind.

Definition: N-Teilchen oder Liouville-Verteilungsfunktion

F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t)

ist Wahrscheinlichkeitsdichte im Γ–Raum mit∫F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) dΩ = 1

wobei dΩ ≡ d~q1, . . . , d~qN , d~p1, . . . , d~pN das Volumenelement des Phasenraumes ist.Die Große FdΩ ist demnach die Wahrscheinlichkeit zur Zeit t das physikalischeSystem im Volumenelement dΩ anzutreffen, d.h. Teilchen (1) im Ortsintervall[~q1, ~q1 + d~q1] und im Impulsintervall [~p1, ~p1 + d~p1], Teilchen (2) im Ortsintervall[~q2, ~q2 + d~q2] und im Impulsintervall [~p2, ~p2 + d~p2], u.s.w.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 7

• fur wechselwirkungsfreie Teilchen (d.h. Eigenvolumen = 0) ist der Γ–Phasenraumgleich dem Produkt aus den unabhangigen µ–Phasenraumen. Ordnet man dem (i)-tenTeilchen die Verteilungsfunktion fi(~qi, ~pi, t) mit der Eins–Normierung∫

fi(~qi, ~pi, t)d~qid~pi = 1

zu, so gilt die Produktdarstellung der Gesamtverteilungsfunktion

F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) =N∏i=1

fi(~qi, ~pi, t) (1.2)

• Im Spezialfall gleichartiger, wechselwirkungsfreier Teilchen stimmen die Vertei-lungsfunktionen fi(~qi, ~pi, t) uberein

F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) =N∏i=1

fi(~qi, ~pi, t) = [f(~q, ~p, t)]N

• Zur Herleitung von Differentialgleichungen (d.h. Entwicklungsgleichungen) fur dieVerteilungsfunktionen verwendet man fur kanonische Systeme den Liouville’schenSatz

d

dt(dΩ) = 0 (1.3)

d.h. das Phasenraumvolumen dΩ eines kanonischen Systems bleibt bei der zeitlichenEntwicklung des Systems (= Bewegung im Phasenraum) erhalten. Es gilt

d

dt

∫FdΩ = 0 da

∫FdΩ = 1

Daraus folgt∫d

dt(FdΩ) = 0 d.h.

∫dΩ

dF

dt= 0

und damit die Liouville–Gleichung fur die Verteilungsfunktion einer GibbsschenGesamtheit im Γ–Phasenraum.

dF

dt≡ ∂F

∂t+

3N∑i=1

(∂F

∂qi

dqidt

+∂F

∂pi

dpidt

)= 0 (1.4)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 8

• Betrachtet man ein physikalisches System dieser Gesamtheit, das aus gleichartigenwechselwirkungsfreien Teilchen besteht, dann wird dieses System selbst zu einerstatistischen Gesamtheit im µ–Phasenraum

Fur die Einteilchen–Verteilungsfunktion gilt dann die Vlasov–Gleichung:

∂f

∂t+

3∑i=1

(∂f

∂qi

dqidt

+∂f

∂pi

dpidt

)= 0 (1.5)

• Wenn die Teilchendichte zunimmt werden Stoße zwischen den Teilchen wichtig, dasich das Eigenvolumen der Teilchen bemerkbar macht.

Liouville–Gleichung muss anstelle der Vlasov–Gleichung verwendet werden.

a) Falls Wechselwirkung kurzreichweitig und Dichte nicht “allzu hoch” (nur Zwei-erstoße + molekulare Unordnung, d.h. die durch einen Stoß erzeugte lokaleOrdnung wird vor nachstem Stoß wieder vollig verwischt). In diesem Fall istdas System als verdunntes, neutrales Gas beschreibbar und die Dynamik desSystems ist durch die Boltzmann–Gleichung gegeben.

b) Falls Wechselwirkung langreichweitig (Coulomb, Gravitation): Es finden vieleKleinwinkelstreuprozesse statt. Die Beschreibung des Systems ist durch dieFokker–Planck–Gleichung gegeben.

c) Falls Wechselwirkung langreichweitig und falls kollektive Abschirmprozessewirksam sind (wie in einem Plasma): Das System ist durch die Lenard–Balescu–Gleichung beschreibbar

Alle diese Stoßgleichungen (im µ–Phasenraum) lassen sich aus der Liouville–Gleichung z.B. unter Verwendung der BBGKY–Hierarchie (Born, Bogoljubov,Green, Kirkwood, Yvon) streng ableiten (siehe Abb. 1.1 und z.B. Ecker 1972).

• Die BBGKY–Hierarchie basiert auf der sukzessiven Integration der Liouville–Gleichung uber die Koordinaten der N–Teilchen-Verteilungsfunktionen. Daraus re-sultieren gekoppelte Integro–Differentialgleichungen mit einer zunehmenden Ordnungvon Teilchenkorrelationen.

• Integriert man die N -Teilchenfunktion uber die Orts- und Impulskoordinaten vonN − 1 Teilchen, so erhalt man die nur von den Koordinaten und Impulsen einesTeilchens abhangige Liouville’sche Einteilchen-Verteilungsfunktion

F(1)(~q1, ~p1, t) ≡∫F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) d~q2 . . . d~qN d~p2 . . . d~pN ,

die die Wahrscheinlichkeit angibt, an der Stelle (~q1, ~p1) ein Teilchen anzutreffen.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 9

Green − Funktions−

methode

Aufstiegsmethode

von DupreeVernachlassigung

von Sto ßen

Liouville − Gleichung

Lenard − Balescu −

Gleichung Fokker − Planck −

Gleichung Vlasov −

Gleichung

Vernachlassigung der Sto ße

( adaptiert aus F. Cap ) Momentenmethode

Hydrodynamik − Gleichungen

Boltzmann − Gleichung

BBGKY

Abstiegsmethode

BBGKY −

Gleichung

Abbildung 1.1: Ubersicht zur Herleitung der hydrodynamischen Gleichungen

• Wenn Teilchen i und j durch ein Wechselwirkungspotential Ψi,j(qi, qj) aufeinanderKrafte ausuben 1, dann ist in der Liouville–Gleichung (1.4) die auf das Teilchen iwirkende Beschleunigung

1

mi

d~pidt≡ d~ui

dt

durch

−∂Ψi

∂~qi≡ −

∑j 6=i

∂Ψi,j

∂~qi

zu ersetzen, wobei ~ui die Geschwindigkeit des Teilchens i ist. Damit lautet dieLiouville–Gleichung (1.4):

∂F

∂t+

N∑i=1

~ui∂F

∂~qi− ∂Ψi

∂~qi

∂F

∂~ui

= 0 . (1.6)

Setzt man ohne Beschrankung der Allgemeinheit i = 1 und integriert (1.6) uber dieverallgemeinerten Koordinaten und Impulse der anderen N − 1 Teilchen, so folgt

∂F(1)

∂t+ ~u1

∂F(1)

∂~q1

=

∫∂Ψ1

∂~q1

∂F

∂~u1

d~q2 . . . d~qN d~p2 . . . d~pN . (1.7)

1In diesem Fall sind die Krafte zwischen den Teilchen konservativ, d.h. die Beschleunigung, die auf einTeilchen wirkt, hangt nur von den Koordinaten, aber nicht von den Impulsen der Teilchen ab.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 10

Dabei wurde verwendet, dass die Integration der Terme mit ∂F/∂~qi fur i = 2, . . . , NNull ergibt, da

∫(∂F/∂~qi) d~qi = 0 falls die N-Teilchenfunktion F fur |~qi| → ∞ aus-

reichend schnell gegen Null strebt. Dies gilt analog auch fur die Terme mit ∂F/∂~ui.

Nimmt man nun noch zur Vereinfachung an, dass F eine symmetrische Funktion derunabhangigen Variablen d~q1 . . . d~qN d~p1 . . . d~pN ist (ohne diese Vereinfachung ist dieAbleitung langwieriger), dann lasst sich die rechte Seite von (1.7) unter Beachtungvon

Ψ1 =∑j 6=2

Ψ1,j

in der Form

(N − 1)

∫∂Ψ1,2

∂~q1

∂F

∂~u1

d~q2 . . . d~qN d~p2 . . . d~pN

schreiben.

Definiert man gemaß

F(2)(~q1, ~q2, ~p1, ~p2, t) ≡∫F (~q1, . . . , ~qN , ~p1, . . . , ~pN , t) d~q3 . . . d~qN d~p3 . . . d~pN

die Zweiteilchen-Verteilungsfunktion F(2), so folgt aus (1.7)

∂F(1)

∂t+ ~u1

∂F(1)

∂~q1

= (N − 1)

∫∂Ψ1,2

∂~q1

∂F(2)

∂~u1

d~q2 d~p2 . (1.8)

• Um die Zweiteilchen-Verteilungsfunktion F(2) zu berechnen, muss man die (N −2)-fach integrierte Liouville–Gleichung losen, wobei die unbekannte Dreiteilchen-Verteilungsfunktion F(3) auftritt, die aus der (N − 3)-fach integrierten Liouville–Gleichung folgt, die die Wechselwirkung zwischen drei Teilchen (Dreierstoße) bein-haltet.

• Das sich so ergebende hierarchische Gleichungssystem ist geschlossen nicht losbar undman muss mit Naherungsverfahren ein Abbrechen der BBGKY–Hierarchie erzwingen(z.B. Annahme uber F(3) als Funktion von F(2)).

• Beschrankt man sich bei geringer Dichte auf Zweierstoße, betrachtet nur geschwindig-keitsunabhangige Wechselwirkungkrafte kurzer Reichweite (die nur vom Abstand zwi-schen den Teilchen abhangen), nimmt weiterhin an, dass molekulares Chaos herrschtund dass die Wirkung von außeren Kraften wahrend des Stoßvorgangs vernachlassigt

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 11

werden kann, fordert schließlich noch, dass F(1) wahrend des Stoß konstant ist, soerhalt man die Boltzmanngleichung fur die Einteilchen-Verteilungsfunktion f

∂f

∂t+ ~u gradqf − gradqΦ graduf =

[∂f

∂t

]c

(1.9)

wobei

gradq ≡(∂

∂q1

,∂

∂q2

,∂

∂q3

), gradu ≡

(∂

∂u1

,∂

∂u2

,∂

∂u3

)und Φ ein außeres Potential ist, das eine glatte (d.h. auf makroskopischen Skalenvarierende) Beschleunigung d~u/dt bewirkt.

• Der irreversible Stoßterm [∂f/∂t]c beschreibt die zeitliche Anderung der Einteilchen-verteilungsfunktion aufgrund von Teilchenstoßen (d.h. die Teilchen-Wechselwirkung)auf statistische Weise. Er reprasentiert irreversible Prozesse (z.B. Viskositat, Diffusi-on).

• Es existieren zwei weitere Methoden zur Herleitung von Stoßgleichungen.

a) Die Methode von Klimontovitsch und Dupree geht von der Einteil-chenverteilungsfunktion und der Einteilchen–Bewegungsgleichung und fuhrt zurFokker–Planck–Gleichung (und auch zur Boltzmann–Gleichung).

b) Die Methode von Lenard und Balescu basiert auf Greens–Funktionen undkann zur Herleitung der Lenard–Balescu–Gleichung (und auch der Fokker–Planck–Gleichung) verwendet werden.

Bemerkung: Die Losungen der Lenard–Balescu–Gleichung streben der Gleich-gewichtsverteilung ∂F/∂t = 0 (Maxwell–Verteilung) zu, falls auch Φ = 0. Hier-bei ist zu beachten, dass im Gleichgewicht Stoße auftreten, aber das Stoßintegralverschwindet!

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 12

1.2 Bedingungen fur eine hydrodynamische Beschrei-

bung

Ein System von N freien Teilchen laßt sich als ein Kontinuum beschreiben, wenn

a) das mikroskopische Verhalten einzelner Teilchen vernachlassigbar ist

λ l (1.10)

Hier ist λ die mittlere freie Weglange der Teilchen und l die charakteristische makro-skopische lineare Dimension des Systems, oder die Skala, uber die die Verteilungs-funktion signifikant variiert.

Das Konzept des Flussigkeitselements ist sinnvoll, falls

λ lf l (1.11)

In diesem Fall ist die Anzahl der Teilchen im Flussigkeitelement groß, d.h. mittlereGroßen sind sinnvoll definierbar, z.B. die Dichte ρ und die Geschwindigkeit einesFlussigkeitselements ~v. Die Geschwindigkeit eines Teilchens

~u = ~v + ~w (1.12)

setzt sich aus einer statistischen Komponente ~w und der mittleren Geschwindigkeit~v zusammen.

Da λ l, besitzen die Teilchen eine kleine zufallige Geschwindigkeitskomponen-te (“random walk”) zusatzlich zur mittleren Stromungsgeschwindigkeit, d.h. dasFlussigkeitselement bleibt wahrend der Entwicklung “erhalten” (bis auf einen ge-ringen Teilchenaustausch an seinem Rand, der sich als Diffusionsprozeß beschreibenlaßt)

b) Die Wechselwirkung zwischen den Teilchen muss sattigen, d.h. die Wechselwirkungmuss kurzreichweitig sein, da sonst kollektive Effekte berucksichtigt werden mussen.

Formal heißt dies

limN→∞

(E

N

)= const (1.13)

wobei E/N die Energie pro Teilchen ist.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 13

• Energiedichte und Druck (auf die “Wande” des Flussigkeitselements) sind dannwie folgt definerbar:

e ≡ E

V= n

(E

N

)(1.14)

p ≡ n∂e

∂n− e (1.15)

wobei n ≡ N/V und V das Volumen des Flussigkeitelements ist.

• Beispiel fur nicht-sattigende Krafte:

Gravitation, Coulomb (∼ 1r)

E

N∼

N2 Bosonen

N4/3 Fermionen

Gravitation muss als außere makroskopische Kraft in Hydrodynamik beschriebenwerden.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 14

1.3 Herleitung der hydrodynamischen Gleichungen

• Hauptproblem bei der Herleitung makroskopischer Gleichungen ist der Stoßterm inden kinetischen Gleichungen

• Mehrere Verfahren existieren (z.B. Methode von Grad und von Chapman und Ens-kog), um makroskopische Transportgleichungen fur mittlere Großen aus der Boltz-manngleichung abzuleiten.

• Basis: Makroskopische Großen, die als Geschwindigkeits- bzw. Impulsmomente derVerteilungsfunktion definiert sind.

1.3.1 Maxwell–Boltzmann–Gleichung

• Verfahren: Multiplikation der Boltzmann–Gleichung mit Großen

Θ(τ) ≡ m~uτ τ = 0, 1, 2, . . . (1.16)

und Integration uber den Impuls- bzw. Geschwindigkeitsraum.

• Speziell von Interesse sind dabei die 3 niedrigsten Momente, die eine direkte physika-lische Bedeutung besitzen. Sie sind die Dichte, der Impuls und die kinetische Energieder statistischen Geschwindigkeitskomponente ~w = ~u−~v (innere Energie) des Gasesam Ort ~q zur Zeit t

ρ =

∫mf(~q, ~p, t)d~p (1.17)

ρv =

∫m~u f(~q, ~p, t)d~p (1.18)

ρε =

∫m

2|~w|2f(~q, ~p, t)d~p (1.19)

• Allgemein ist das r-te Moment definiert als

⟨Θ(r)

⟩≡ 1

n

∫Θ(r) fd~p , (1.20)

woraus sich gemaß (1.9) die r-te Momentengleichung ergibt

∫Θ(r)

[∂f

∂t+ ~ugradqf − gradqΦ graduf

]d~p =

∫ [∂f

∂t

]c

Θ(r)d~p (1.21)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 15

Die mittlere Teilchenanzahldichte n ist gemaß

n ≡∫fd~p (1.22)

definiert, wobei

〈nΘ〉 =

∫nΘfd~p

n=

∫Θfd~p = n 〈Θ〉 (1.23)

gilt.

• Da Θ(r) nicht explizit von ~q und t abhangt, folgt aus Gleichung (1.21)

∂t

∫Θ(r)fd~p+

∫~u gradq(Θ

(r)f) d~p−∫

Θ(r)gradq Φ graduf d~p

=

∫ [∂f

∂t

]c

Θ(r)d~p (1.24)

1. Term von (1.24):

∂t

∫Θ(r)fd~p =

∂t

(n⟨Θ(r)

⟩)=

∂t

⟨nΘ(r)

⟩2. Term von (1.24):

∫~ugradq(Θ

(r)f) d~p =

∫divq(Θ

(r)f~u) d~p−∫

Θ(r)f · divq~u d~p

= divq⟨nΘ(r)~u

⟩−⟨nΘ(r)divq~u

⟩wobei die Identitat

divΨ ~A = ~AgradΨ + Ψ div ~A (1.25)

verwendet wurde.

3. Term von (1.24):

−∫

Θ(r)gradqΦ graduf d~p =

∫Θ(r) ~u graduf d~p =

∫Θ(r) ~p gradpf d~p

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 16

wegen ~u = −gradqΦ. Mit Hilfe der Identitat (1.25) folgt dann

−∫

Θ(r)gradqΦ graduf d~p =

∫divp(Θ

(r)~pf) d~p︸ ︷︷ ︸≡0

−∫fdivp(Θ

(r)~p) d~p

Das erste Integral auf der rechten Seite ist identisch gleich Null. Dies kann man mitHilfe des Gauss’schen Satz zeigen unter der sinnvollen Annahme, dass f fur |~u| → ∞schneller gegen Null strebt als jede Potenz von |~u| (z.B. Boltzmannverteilung).

Nochmalige Anwendung der Identitat (1.25) liefert

−∫

Θ(r)gradqΦ graduf d~p = −∫fΘ(r)divp~p d~p−

∫f ~p gradpΘ

(r) d~p

Die Divergenz im Integranden des ersten Integrals auf der rechten Seite laßt sich mitHilfe der Hamiltonschen Gleichungen (1.1) umschreiben. Wegen p1 = −∂H/∂q1 undq1 = +∂H/∂p1 gilt

∂p1

∂p1

= − ∂2H

∂p1∂q1

= −∂q1

∂q1

und damit

∂p1

∂p1

+∂q1

∂q1

= 0

bzw.

divp ~p = −divq ~q (1.26)

Demnach laßt sich der 3-te Term von (1.24) unter Verwendung von ~q = ~u in der Form

−∫

Θ(r)gradqΦ graduf d~p =⟨nΘ(r)divq~u

⟩−∫f ~p gradpΘ

(r)d~p

bzw.

−∫

Θ(r)gradqΦ graduf d~p =⟨nΘ(r)divq~u

⟩+

∫fgradqΦ graduΘ

(r)d~p

schreiben. Zusammenfassung aller Terme ergibt die Maxwell–Boltzmann–Transportgleichung (MBT–Gleichung) fur das Moment Θ(r)

∂t

⟨nΘ(r)

⟩+ divq

⟨nΘ(r)~u

⟩+ gradqΦ

⟨ngraduΘ

(r)⟩

=

∫ [∂f

∂t

]c

Θ(r)d~p(1.27)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 17

• Die rechte Seite dieser Transportgleichung ist gleich null, falls Θ(r) (oder eine Line-arkombination von Θ(r)’s) eine Erhaltungsgroße bei Stoßen ist

• Fur elastische Kollisionen infolge kurzreichweitiger Krafte gibt es im nicht–relativistischen Grenzfall genau 5 unabhangige Erhaltungsgroßen:

– Masse: m

– Impuls: m~u

– kinetische Energie: 12m|~u|2

• Die Maxwell–Boltzmann–Transportgleichungen stellen ein hierarchisches System vonGleichungen dar, da das r-te Moment wegen des Terms divq

⟨nΘ(r)~u

⟩vom (r+1)–ten

Moment abhangt und weil der Stoßterm nicht auf eine Funktion des r-ten Momentsreduzierbar ist. Daher ist eine unabhangige Schließbedingung erforderlich.

1.3.2 Hydrodynamische Gleichungen

Zur Herleitung der hydrodynamischen Gleichungen verwendet man die MBT–Gleichungen fur die 3 niedrigsten Momente und eine Zustandsgleichung fur das 3-teMoment als Schließbedingung.

• Nulltes Moment r = 0:

Θ(0) = m (1.28)

∂t〈nm〉+ div 〈nm~u〉 = 0 , (1.29)

da die Masse der Teilchen wahrend der Teilchenkollision erhalten ist (nicht–relativistische Beschreibung und keine Reaktionen).

Mit nm = ρ =∫mfd~p ergibt sich dann die Kontinuitatsgleichung

∂ρ

∂t+ div (ρ~v) = 0 (1.30)

• Erstes Moment r = 1:

Θ(1) = m~u (1.31)

Aus der Maxwell–Boltzmann–Transportgleichung (1.27) folgt dann

∂t(ρ~v) + div [ρ 〈~u⊗ ~u〉] + ρgradΦ = 0 (1.32)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 18

Hierbei ist ~u⊗ ~u die symmetrische Dyade uiuk. Der Stoßterm (d.h. die rechte Seite)ist gleich null, da der Impuls in Teilchenkollisionen erhalten ist.

Fur die Dyade ~u⊗ ~u gilt

〈~u⊗ ~u〉 = 〈~v ⊗ ~v〉+ 〈~v ⊗ ~w〉+ 〈~w ⊗ ~v〉+ 〈~w ⊗ ~w〉

Da ~v eine gemittelte Große ist und da 〈~w〉 = 0 gilt, folgt

〈~u⊗ ~u〉 = 〈~v ⊗ ~v〉+ 〈~w ⊗ ~w〉 (1.33)

und damit die Navier–Stokes–Gleichung (Bewegungsgleichung der Hydrodyna-mik)

∂t(ρ~v) + div [ρ(~v ⊗ ~v)] + divΠ = −ρgradΦ (1.34)

Der Drucktensor Π ≡ ρ (~w ⊗ ~w) wird ublicherweise in der Form

Π = p I − π (1.35)

geschrieben, wobei I der Einheitstensor ist,

p ≡ 1

3ρ⟨|~w|2

⟩(1.36)

der isotrope Gasdruck (Spur der symmetrischen Dyade) und

π ≡ ρ

⟨1

3|~w|2I − ~w ⊗ ~w

⟩(1.37)

der Viskositatstensor.

Fur reibungsfreie Gase gilt die Euler–Gleichung:

∂t(ρ~v) + div [ρ(~v ⊗ ~v)] + gradp = −ρgradΦ (1.38)

oder auch

∂~v

∂t+ (~vgrad)~v +

1

ρgradp = −gradΦ (1.39)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 19

• Zweites Moment r = 2:

Mit

Θ(2) =1

2m|~u|2 (1.40)

folgt

∂t

⟨nΘ(2)

⟩=

∂t

[ρ2

⟨|~w + ~v|2

⟩]=

∂t

[ρ2|~v|2 +

ρ

2< |~w|2 >

](zeitliche Anderung der totalen, d.h. kinetischen plus thermischen Energiedichte) und

div⟨nΘ(2)~u

⟩=∑i

∂xi

2

∑j

⟨u2jui⟩]

Die Summe in der eckigen Klammer laßt sich umformen zu

∑j

⟨u2jui⟩

=∑j

⟨(w2

j + 2wjvj + v2j ) (wi + vi)

⟩=∑j

⟨w2jwi + 2wjwivj + v2

jwi︸︷︷︸=0

+w2jvi + 2wjvjvi︸ ︷︷ ︸

=0

+v2j vi

=⟨|~w|2wi

⟩+ 2

∑j

〈wiwj〉 vj +⟨|~w|2

⟩vi + ~v 2vi

und daraus folgt dann

div⟨nΘ(2)~u

⟩=∑i

∂xi

ρ

2

[|~v|2vi + vi

⟨|~w|2

⟩+ 2

∑j

vj 〈wiwj〉+⟨wi|~w|2

⟩]

Mit Hilfe der spezifischen inneren Energie [erg/g]

ε ≡ 1

2

⟨|~w|2

⟩(1.41)

und des Energieflußes durch Warmeleitung (Transport von Warme ρ2〈|~w|2〉

durch thermische Bewegung)

~h ≡ ρ

⟨~w

1

2|~w|2

⟩, (1.42)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 20

laßt sich die Energiegleichung in der Form

∂t(ρE) + div [(ρE + p)~v] + div~h− div(π~v) = −ρ~vgradΦ (1.43)

schreiben, wobei die spezifische Gesamtenergiedichte E [erg/g] durch

E ≡ 1

2|~v|2 + ε (1.44)

gegeben ist.

• Im Spezialfall einer adiabatische Stromung ohne Gravitation (d.h. Entropie ist kon-stant) gilt fur die spezifische Gesamtenergiedichte die Gleichung

∂t(ρE) + div [(ρE + p)~v] = 0 (1.45)

und fur die spezifische Entropie S (pro Masseneinheit) die Gleichung

∂ρS

∂t+ div(ρS~v) = 0 . (1.46)

• Einen phanomenologischer Ansatz fur die Warmeleitung erhalt man durch Taylor–Entwicklung bis zur 1. Ordnung in T

~h = −κ gradT , (1.47)

wobei κ der Warmeleitungskoeffizient [erg/K/sec/cm2] ist.

• Die allgemeinste Form des Viskositatstensors lautet (siehe z.B., Landau und Lifshitz):

πik = η

(∂vi∂xk

+∂vk∂xi− 2

3δik div~v

)− ζδikdiv~v , (1.48)

wobei η und ζ die Viskositatskoeffizienten sind. Man beachte, dass der erste Termspurfrei ist.

• Die Zustandsgleichung (Schließbedingung) verknupft den Druck p (3.Moment) mitder Dichte ρ und der spezifischen inneren Energie ε bzw. der Temperatur T derFlussigkeit oder des Gases. Im Falle eines idealen, einatomigen Boltzmanngases lautetdie Zustandsgleichung

p = nkBT = RρT (1.49)

wobei n die Teilchenanzahldichte [cm−3], kB = 1.38 10−16 [erg/K] die Boltzmannkon-stante und R = 8.31 107 [erg/K mol] die allgemeine Gaskonstante sind.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 21

1.4 Relativistische Hydrodynamik

• In der Newtonschen Theorie der Gravitation wird ein”absoluter“ euklidischer Raum

postuliert, in dem sich die Massen bewegen, die sich gegenseitig durch die von ihnenausgeubten Gravitationskrafte beeinflussen. In der Einsteinschen Allgemeinen Rela-tivitatstheorie bewirken die in einer Raumzeit vorhandenen Massen (Energien) eineKrummung der Raumzeit (d.h. eine Veranderung der Raumzeitgeometrie) und dieRaumzeitkrummung (Gravitation) bestimmt ihrerseits die Bewegung der Massen.

• Mathematisch lasst sich dieses physikalische Konzept im Rahmen einer Theorie einerPseudo–Riemannschen Geometrie einer kontinuierlichen vierdimensionalen Raumzeitformulieren. Die Raumzeit wird durch eine Mannigfaltigkeit M mit einer symmetri-schen Metrik gµν (Tensorfeld 2. Stufe mit µ, ν = 0, 1, 2, 3) beschrieben, die durchsechs unabhangige Metrikfunktionen definiert ist (4 Koordinaten–Freiheitsgrade).

• Die nicht–linearen (es gilt kein Superpositionsprinzip fur Gravitationsfelder) Einstein-schen Feldgleichungen verknupfen die Krummung der Raumzeit spezifiziert durch denEinstein–Tensor Gµν (quasilinearer Differentialoperator von 2. Ordnung in der Me-trik gµν , d.h. linear in den 2. Ableitungen) mit dem Energie–Impuls–Tensor T µν derMassenenergieverteilung der Raumzeit

Gµν =8πG

c2T µν , (1.50)

wobei G die Newtonsche Gravitationskonstante und c die Lichtgeschwindigkeit sind.

• Annahme: Ideale Flussigkeit charakterisiert durch 4–Geschwindigkeit (dimensions-los)

uµ =dxµ

c dτ, (1.51)

wobei dxµ und dτ das Koordinaten- bzw. das Eigenzeitintervall sind, sowie durch denEnergie–Impuls–Tensor

T µν = (e+ p)uµuν + pgµν . (1.52)

Hierbei ist e = ρc2 +ρε die Gesamtenergiedichte [erg/cm3], p der Druck und ρ dieEigenruhemassendichte bzw. die Baryonenanzahldichte (alle Großen gemessenim lokalen Bezugssystem der Flussigkeit)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 22

• Mit Hilfe der Relation

e+ p = ρ(c2 + ε) + p = ρh ,

wobei

h ≡ c2 + ε+ p/ρ

die spezifische Enthalpie [erg/g] ist, laßt sich der Energie–Impuls–Tensor auch inder Form

T µν = ρhuµuν + pgµν (1.53)

schreiben.

• Mit Hilfe der Bianchi–Identitat ∇νGµν = 0 folgen aus den Einsteinschen Feldglei-

chungen zwei Erhaltungssatze in kovarianter (koordinatenfreier) Form, die die Be-wegung der Flussigkeit mit dem Teilchenstrom Jµ ≡ ρuµ beschreiben:

– Teilchenzahlerhaltung

∇µJµ = 0 (1.54)

– Energie–Impuls–Erhaltung

∇µT µν = 0 (1.55)

• Die kovariante Ableitung ∇µ ist wie folgt definiert:

∇µAν ≡ Aν , µ+ ΓνσµA

σ

wobei

Aν , µ ≡ ∂µAν ≡ ∂Aν

∂xµ

die gewohnliche Ableitung bedeutet und

Γνσµ ≡1

2gνλ (∂σgλµ + ∂µgλσ − ∂λgσµ) (1.56)

der metrische Zusammenhang (kein Tensor, da er sich linear inhomogen trans-formiert), bzw. die Christoffelsymbole zweiter Art der Metrik der Raumzeit–Mannigfaltigkeit sind.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 23

• Wichtig: Um die kovarianten Gleichungen fur die Teilchenzahl-Erhaltung 1.54) unddie Erhaltung des Energie-Impulses (1.55) numerisch intergrieren zu konnen, mussman ein geeignetes Koordinatensystem wahlen. Da das Newtonsche Konzept einesabsoluten Raums und einer absoluten Zeit in der Allgemeinen Relativitatstheorienicht existiert, muss man bei der Interpretation der geometrischen Bedeutung derKoordinaten sehr vorsichtig sein.

1.4.1 Speziell–relativistische Hydrodynamik

• Die Raumzeit–Metrik der speziellen Relativitatstheorie ist die (“flache”)Minkowski–Metrik

gµν −→ ηµν ≡ diag(−1, 1, 1, 1) und Γνσµ = 0 .

In dieser Metrik geht die kovariante Ableitung ∇µ in die gewohnliche Ableitung ∂µuber. Die Gleichungen fur die Teilchenzahlerhaltung bzw. fur die Energie–Impuls–Erhaltung lauten dann

∂µ(ρuµ) = 0 ∧ ∂µTµν = 0 . (1.57)

• Mit Hilfe des Lorentzfaktors

W ≡ [1− ~v2/c2]−1/2 , (1.58)

wobei ~v ≡ d~x/dt die 3–Geschwindigkeit ist, laßt sich die 4–Geschwindigkeit in derForm

uµ = W (1, ~v/c)

schreiben.

• Definition relativistischer Erhaltungsgroßen im Laborsystem:

– Ruhemassendichte [g/cm3]

D ≡ ρu0 = ρW (1.59)

– Impulsdichte

Si ≡ T 0i/c =h

c2W 2ρvi , i = 1, 2, 3 (1.60)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 24

– und Energiedichte [erg/cm3]

τ ≡ T 00 − ρu0c2 = ρhW 2 − p− ρWc2 (1.61)

• Damit lauten die relativistischen hydrodynamischen Gleichungen in Erhaltungsformwie folgt:

∂D

∂t+ div(D~v) = 0

∂Si

∂t+ div(Si~v) + (∇p)i = 0

∂τ

∂t+ c2div(~S −D~v) = 0

(1.62)

• Im Newtonschen Grenzfall ~v → 0 und h→ 1 gilt:

D → ρ∂ρ∂t

+ div(ρ~v) = 0

~S → ρ~v∂(ρ~v)∂t

+ div(ρ~v ~v) + gradp = 0

τ → 12ρ~v2 + ρε = ρE

∂(ρE)∂t

+ div [(ρE + p)~v] = 0

(1.63)

1.4.2 Allgemein–relativistische Hydrodynamik

• In der numerischen Relativitatstheorie wird zur Losung der Einsteinschen Feldglei-chungen ublicherweise ein 1962 von Arnowitt, Deser & Misner 2 vorgeschlagener For-malismus verwendet. Es basiert auf der sogenannten 3 + 1 Foliation der Raumzeitdurch Lichnerovicz 3 und ist allgemein als der ADM 3+1 Formalismus bekannt.

Der ADM 3 + 1 Formalismus basiert auf einer Foliation der vierdimensionalenRaumzeit–Mannigfaltigkeit M in eine Abfolge dreidimensionaler, sich nicht schnei-dender raumartiger Hyperflachen Σt, wobei t ein skalarer Zeitparameter ist. DieseFoliation der Raumzeit hat eine anschauliche geometrische Interpretation (Abb. 1.2):

2Arnowitt, R., Deser, S. & Misner, C.W., “The dynamics of general relativity”, in Witten, L., ed.,Gravitation: An introduction to current research, 227–265, (Wiley, New York, U.S.A., 1962).

3Lichnerovicz, A., “L’integration des equations de la gravitation relativiste et le probleme des n corps”,J. Math. Pures Appl., 23, 37–63, (1944).

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 25

^

boundaries

hypersurfaces2

1

0

1

2

initial data

numerical grid t

t

t

x

x

t^

^

^

Abbildung 1.2: Foliation der Raumzeit–Mannigfaltigkeit M in Hyperflachen Σt im ADM3 + 1 Formalismus.

Jeder zeitlicher Schnitt Σt ist eine raumartige Hyperflache, die den gesamten drei-dimensionalen Raum umfasst. Damit ist ein Cauchy–Problem definierbar, d.h. fallsAnfangsdaten auf einer Hyperflache Σt0

und Randbedingungen fur alle anderen Hy-perflachen Σt>t0

spezifiziert sind, ist die zeitliche Entwicklung der Anfangsdaten voll-kommen bestimmt.

• Die allgemeinste Metrik, die eine entsprechend foliierte Raumzeit beschreibt, kannman auf folgende Weise herleiten: Zuerst fuhrt man Koordinaten (xµ) = (t, xi) ein, diedie gesamte Raumzeit–Mannigfaltigkeit M uberdecken. Das Linienelement ds2, d.h.das Intervall zwischen zwei Ereignissen xµ und xµ, die auf den zeitlich infinitesimalvoneinander entfernten Schnitten Σt und Σt+dt der Raumzeit stattfinden, ist durchden auf die Riemannsche Geometrie verallgemeinerten Satz des Pythagoras gegeben(Achtung: In den folgenden Gleichungen werden geometrische Einheiten mitc = G = 1 verwendet):

ds2 = −(

Eigenzeitabstandder Hyperflachen

)2

+

(Eigenabstand innerhalb

der Hyperflache

)2

, (1.64)

d.h.

ds2 = −(dt )2 +∑i

(dxi)2. (1.65)

• Im ADM 3 + 1 Formalismus ist der Abstand zweier zeitlich infinitesimal benach-barter Schnitte im allgemeinen eine Funktion der Position xi auf Σt. Damit folgt

dt = αdt , (1.66)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 26

wobei α die sogenannte Zeitablauffunktion oder”

lapse function“ ist.

Projeziert man die Position des Punktes xi auf die Hyperflache Σt+dt unter Verwen-dung des Normalenvektors der Hyperflache Σt, so wird sich diese im allgemeineninfinitesimal um einen Betrag βidt verschieben, d.h.

dxi = dxi + βidt , (1.67)

wobei βi der sogenannte Verschiebungsvektor oder”

shift vector“ ist. Daher ist dieWeltlinie eines Beobachters mit festen Raumkoordinaten im allgemeinen nicht or-thogonal zu den raumlichen Hyperflachen. Die vier Koordinatenfunktionen α und βi

bestimmen demnach die Beziehung zwischen den Koordinaten zweier infinitesimalbenachbarter Zeitschnitte.

• Fur das ADM–Linienelement ergibt sich daraus die Form

ds2 = gµνdxµdxν = −α2dt2 + γij(dx

i + βidt)(dxj + βjdt) , (1.68)

wobei γij der intrinsische dreidimensionale Krummungstensor der Hyperflache Σt ist.Fur die vierdimensionale Raumzeit–Metrik gµν gilt:

gµν =

−α2 + βiβ

i β1 β2 β3

β1

β2 γijβ3

. (1.69)

• Ist uµ die 4–Geschwindigkeit der Flussigkeit bzw. des Gases, dann ist die entsprechen-de 3–Geschwindigkeit fur einen ruhenden Eulerschen (d.h. raumfesten) Beobachterin der raumartigen Hyperflache Σt der ADM–Foliation durch

vi =ui

αu0+βi

α(1.70)

gegeben. Der Lorentzfaktor ist gemaß W ≡ αu0 = (1 − v2)−1/2 mit v2 = γijvivj

definiert.

• Fuhrt man, wie 1997 von Banyuls 4 et al. vorgeschlagen, die folgenden hydrodynami-schen Erhaltungsgroßen (siehe Gl. 1.59–1.61)

D = ρW, Ruhemassendichte, (1.71)

Si = ρhW 2vi, Impulsdichte, (1.72)

τ = ρhW 2 − p− ρW, Gesamtenergiedichte (1.73)

4Banyuls, F., Font, J.A., Ibanez, J.Ma, Martı, J.Ma & Miralles, J.A., “Numerical 3 + 1 generalrelativistic hydrodynamics: A local characteristic approach”, Astrophys. J., 476, 221–231, (1997).

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 27

ein, so lauten die zugehorigen hydrodynamischen Erhaltungsgleichungen

1√−g

[∂√γF 0

∂x0+∂√−gF i

∂xi

]= Q , (1.74)

wobei der Zustandsvektor (Vektor der Erhaltungsgroßen), der Flussvektor und derQuellenvektor durch

F 0 = (D,Sj, τ)T (1.75)

F i =

(D

(vi − βi

α

), Sj

(vi − βi

α

)+ δijp, τ

(vi − βi

α

)+ pvi

)T, (1.76)

Q =

(0, T µν

(∂gνj∂xµ

− Γ λµνgλj

), α

(T µ0∂ lnα

∂xµ− T µνΓ 0

µν

))T(1.77)

gegeben sind. Hierbei gilt√−g = α

√γ mit den Determinanten der 4–Metrik g =

det(gµν) und der 3–Metrik γ = det(γij). Weiterhin sind Γ λµν die vierdimensionalen

Christoffelsymbole (Gl. 1.56) und δij das Kroneckersymbol.

• In expliziter Form und mit vi = vi − βi/α lauten die allgemein–relativistischen hy-drodynamischen Gleichungen:

1√−g

(∂√γρW

∂t+∂√−gρWvi

∂xi

)= 0,

1√−g

(∂√γρhW 2vj

∂t+∂√−g(ρhW 2vj v

i+pδij)

∂xi

)= T µν

(∂gνj∂xµ−Γ λ

µνgλj

),

1√−g

(∂√γ(ρhW 2−p−ρW )

∂t+∂√−g((ρhW 2−p−ρW )vi+pvi)

∂xi

)= α

(T µ0∂ lnα

∂xµ−T µνΓ 0

µν

).

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 28

1.5 Magnetohydrodynamik

Befindet sich ein leitendes flussiges (oder gasformiges) Medium in einem Magnetfeld, sowerden in ihm bei seinen hydrodynamischen Bewegungen in ihm elektrische Felder indu-ziert, und es entstehen elektrische Strome. Im Magnetfeld wirken auf Strome aber Krafte.Gleichzeitig verandern diese Strome das Magnetfeld. Es bestehen also komplizierte Wech-selwirkungen zwischen den magnetischen und den hydrodynamischen Erscheinungen, dieauf der Grundlage des kombinierten Systems der Feldgleichungen und der Bewegungsglei-chungen der Flussigkeit untersucht werden mussen.

• Das Verhalten elektromagnetischer Felder wird durch vier gekoppelte partielle Diffe-rentialgleichungen 1. Ordnung beschrieben. Diese beruhmten Maxwellschen Glei-chungen lauten fur ein einkomponentiges, elektrisch neutrales Medium (ρQ = 0 mitε0 = 1, µ0 = 1):

div ~E = 0 rot ~E + 1c∂ ~B∂t

= 0

div ~B = 0 rot ~B = 4πc~J + 1

c∂ ~E∂t

(1.78)

Wegen ihrer Lorentz-Invarianz gelten die Maxwellschen Gleichungen in dieser Formauch in einem Koordinatensystem, das sich mit der Geschwindigkeit ~v bewegt. Be-zeichnet man etwa mit ~E ′ das elektrische Feld im Ruhsystem des Mediums und mit~E das elektrische Feld in einem System relativ zu dem sich das Medium mit derGeschwindigkeit ~v bewegt, so hat (1.78) in beiden Systemen die gleiche Form.

Die in der Induktionsgleichung auftretende elektrische Stromdichte ~J folgt ausdem Ohmschen Gesetz gemaß

~J = σ

(~E +

~v

c× ~B

), (1.79)

wobei σ die (isotrope) elektrische Leitfahigkeit des Mediums ist, denn im Ruhsy-

stem des Mediums gilt nach Ohm ~J ′ = σ ~E ′, und fur nicht-relativistische Geschwin-digkeiten (|~v| c) die Transformationsbeziehungen ~E ′ = ~E + ~v/c× ~B sowie ~J ′ = ~J ,falls ρQ = 0.

Ist σ sehr groß (d.h. effektiv unendlich) stromt die Flussigkeit bzw. das Gas unterdem Einfluss der elektromagnetischen Felder gemaß der Bedingung (ideale Magneto-hydrodynamik)

~E +1

c~v × ~B = 0 . (1.80)

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 29

• Die beiden grundlegenden Naherungen der nicht–relativistischen Magnetohydro-dynamik (MHD) sind:

– (i) Alle Geschwindigkeiten sind klein im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit|~v| c (quasistationare Naherung)

– (ii) die Ladungsdichte und das elektrische Feld im Ruhesystem der Flussigkeitsind Null (Einflussigkeitsmodell). Das Medium ist daher elektrisch neutral.

Mit diesen Annahmen kann man zeigen, dass das elektrische Feld im Laborsystemverglichen mit dem magnetischen Feld klein von erster Ordnung in v/c ist

| ~E| = O(vc| ~B|),

und dass der Verschiebungsstrom verglichen mit dem Ladungsstrom klein von zweiterOrdnung ist

1

c

∣∣∣∣∣∂ ~E∂t∣∣∣∣∣ = O

(v2

c2| ~J |).

Das bedeutet insgesamt: Die Gleichungen der Magnetohydrodynamik folgen aus denMaxwellschen Gleichungen (Gl. 1.78), wenn alle Großen vernachlassigt werden, dieklein von zweiter Ordnung in v/c sind [Landau & Lifschitz, 1985].

• Mit den obigen Annahmen ergibt sich mit Gl. (1.79) und der Vektoridentitat

rot(rot ~B) = grad(div ~B)−∇2 ~B die folgende Naherung fur die Induktionsgleichung

∂ ~B∂t

= rot(~v × ~B) + νm∇2 ~B . (1.81)

Der zweite Term auf der rechten Seite beschreibt die resistive Felddiffusion mit demDiffusionskoeffizienten

νm =c2

4πσ. (1.82)

Fur eine ruhende Flussigkeit verschwindet in Gleichung (1.81) der erste Termauf der rechten Seite und die Induktionsgleichung geht in eine Diffusionsgleichunguber, die besagt, dass ein vorhandenes Anfangsmagnetfeld innerhalb einer Zeitska-la τ ≡ 4πσL/c2 zerfallt, wobei L eine charakteristische Langenskala ist. Fur dengeschmolzenen Kern der Erde ist τ ∼ 104 Jahre und fur das typischen Sonnenma-gnetfeld gilt τ ∼ 1010 Jahre.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 30

Fur Zeiten klein im Vergleich zur Diffusionszeit τ oder, in anderen Worten, wenndie elektrische Leitfahigkeit σ so groß ist, dass man den 2. Term in der Induktions-gleichung vernachlassigen kann, besagt Gl. (1.81), dass das Magnetfeld

”eingefroren“

ist, d.h. die Kraftlinien werden mit der Flussigkeit advektiert (siehe z.B. Landau &Lifschitz, Bd.8). Außerdem gilt dann Gl. 1.80.

Falls die Stromung von Wirbeln durchsetzt bzw. turbulent ist, werden die Feldli-nien schnell aufgewickelt und Gebiete mit hoher magnetischer Energiedichte ent-stehen. In diesen Gebieten wechselt das Feld innerhalb sehr kleiner Volumina dieRichtung. Physikalisch fuhrt dies zum Kurzschluss (

”reconnection“) der Feldlinien

und zur Ausloschung des Feldes, wobei Magnetfeldenergie in thermische Energie um-gesetzt wird. Diese turbulente Felddiffusion bewirkt, dass Wirbelzentren sehr schnellfeldfrei und je nach Feldstarke mehr oder weniger stark aufgeheizt werden.

• Gleichung (1.81) kann in die Form einer Kontinuitatsgleichung fur die Flussdichte ~Bumgeschrieben werden (von Bedeutung fur numerische Simulationen)

∂Bi

∂t= −∇k[F

ik −Gik], (1.83)

mit den anti–symmetrischen 5 Transport- und Diffusionsflusstensoren

F ik = Bivk −Bkvi, (1.84)

Gik = νm (∇kBi −∇iBk). (1.85)

• Die Quellfreiheit des magnetischen Feldes div ~B = 0 wird durch die Gleichungen(1.81) bzw. (1.83) zu einer reinen Anfangsbedingung reduziert, da fur einen belie-

biges Vektorfeld div(rot ~A) = 0 bzw. fur einen beliebigen antisymmetrischen Tensor∇i∇kA

ik = 0 gilt, und somit ein ursprunglich quellfreies Feld diese Eigenschaft bei-behalt.

• Die restlichen elektromagnetischen Großen sind in der MHD keine unabhangigenVariablen, sondern Funktionen des Magnetfeldes:

~J =c

4πrot ~B (1.86)

~E =1

c

(~B × ~v + νm rot ~B

). (1.87)

5Fur anti–symmetrische Tensoren gilt: T ik = −T ki und T ii = 0.

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 31

• Durch das Auftreten elektromagnetischer Großen mussen sowohl die Energie- (1.43)als auch die Impuls–Gleichungen (1.34) abgeandert werden. Zu Energie- und Impuls-dichte sind die jeweiligen Feldanteile zu addieren. Die zugehorigen Flusse mussen umden Poyntingfluss bzw. den Maxwellschen Spannungstensor erweitert werden.

Die Energiedichte des Feldes [erg/cm3], die zu (1.44) hinzu addiert werden muss,ergibt sich wegen O(E2) = O(v2/c2B2) ≈ 0 zu

ρEmag =B2

8π(1.88)

und der magnetische Energiefluss zu

~qmag =1

4π~B ×

(~v × ~B

)− νm

4π~B × rot ~B , (1.89)

bzw. zu

qkmag = − 1

(BiviB

k − B2

2vk)

+νm

(Bi∇iB

k −∇kB2

2

). (1.90)

Weiterhin laßt sich zeigen, dass der Feldimpuls klein von zweiter Ordnung im Ver-gleich zum mechanischen Impuls ist und daher vernachlassigt werden darf. Im Max-wellschen Spannungstensor T ik werden die elektrischen Terme vernachlassigt:

−T ik ≈ Πikmag = − 1

(BiBk − B2

2δik). (1.91)

Dieser magnetische Drucktensor muss zum Drucktensor Πik (1.35) in der Navier–Stokes–Gleichung (1.34) hinzu addiert werden. Den isotropen Anteil des magneti-schen Drucktensors (2. Term in 1.91) kann man auch mit dem isotropen Gasdruck(1.36) zu einem isotropen Gesamtdruck ptot ≡ p + pmag mit pmag ≡ B2/8π zusam-menfassen.

• In der gewohnlichen Hydrodynamik wird die Reynolds–Zahl verwendet, um dierelative Starke der Viskositats- und Tragheitsterme in den Bewegungsgleichungen zucharakterisieren

Re ≡ ul

ν, (1.92)

wobei l und u = l/τ fur die gegebene Bewegung charakteristische Langen- und Ge-schwindigkeitsskalen sind und ν ≡ η/ρ die kinematische Zahigkeit der Flussigkeitbzw. des Gases ist (η ist die entsprechende dynamische Zahigkeit; siehe Gl. 1.48).

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KAPITEL 1. DIE HYDRODYNAMISCHEN GLEICHUNGEN 32

Neben dieser Zahl kann man in der MHD eine magnetische Reynolds–Zahl

Rem ≡ul

νm

(1.93)

einfuhren (mit νm aus Gl. 1.82), die die relative Starke des Leitfahigkeitsterms cha-rakterisiert. Dessen Vernachlassigung ist im allgemeinen fur Rem 1 gerechtfertigt.

• Durch Entwicklung der Eulerschen Gleichungen nach kleinen Storungen und nachanschließender Linearisierung erhalt man Wellengleichungen fur die Dichte ρ, denDruck p und das Geschwindigkeitspotential Ψ, fur das gilt ~v = gradΨ. Die Phasen-geschwindigkeit der so definierten Schallwellen ist

c0 =

√(∂p

∂ρ

)S

, (1.94)

wobei die Ableitung bei konstanter Entropie zu bilden ist. Wie auf Grund der ver-schwindenden Scherkrafte fur ideale Flussigkeiten zu erwarten ist, sind Schallwellenlongitudinale Wellen, d.h. der Wellenvektor ist parallel zur Geschwindigkeit ~k ‖~v.

Auf analoge Weise ist es moglich, die MHD–Gleichungen zu linearisieren. Die Pro-jektion der (vektoriellen) Dispersionsrelation senkrecht zur Ebene, die durch den

Wellenvektor ~k und das ungestorte Feld ~B aufgespannt ist, liefert die sogenanntenAlfven–Wellen. Deren Phasengeschwindigkeit ist

cA =B‖√4πρ

, (1.95)

wobei B‖ die Projektion von ~B auf ~k bezeichnet ~B‖ = (~k ~B)~k / |~k|2. Die Projektion

der Dispersionsrelation in die ~k ~B-Ebene und ihre weitere Zerlegung parallel undsenkrecht zu ~k liefert die schnellen und langsamen sonischen Wellen. DerenPhasengeschwindigkeiten sind

c2S,L =

1

2

B2

4πρ+ c2

0 ±

[(B2

4πρ+ c2

0

)2

−B2‖c

20

πρ

]1/2 . (1.96)

Alfven-Wellen sind grundsatzlich transversale Wellen, wahrend die sonischen Wellenim allgemeinen Fall – beliebiger Winkel zwischen ~k und ~B – sowohl transversaleals auch longitudinale Anteile besitzen. Fur die Phasengeschwindigkeiten lassen sichjedoch einige Beziehungen ableiten, die allgemein gelten

cL < cA < cS und cL < cO < cS . (1.97)

Im Grenzfall kleiner Felder verschwinden cL und cA, und cS geht in die gewohnlicheSchallgeschwindigkeit c0 uber.

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Kapitel 2

Eigenschaften und analytischeLosungen

2.1 Systeme Quasilinearer Partieller Differentialglei-

chungen

Die hydrodynamischen Gleichungen stellen ein System quasilinearer partieller Differential-gleichungen (kurz PDE) erster Ordnung dar. Die wichtigsten mathematischen Begriffe fursolche Systeme sind im folgenden kurz zusammengefasst.

Man betrachte ein System partieller Differentialgleichungen 1. Ordnung in einer Dimen-sion der Form

∂ui∂t

+m∑j=1

aij(x, t, u1, . . . , um)∂uj∂x

+ bi(x, t, u1, . . . , um) = 0 (2.1)

mit i = 1, . . . ,m. Dies ist ein System von m Gleichungen mit m Unbekannten ui, die vonder Ortskoordinate x und einer zeitartigen Variable t abhangen. Hierbei sind die ui dieabhangigen Variablen und x, t die unabhangigen Variablen; dies wird durch die Bezeich-nungsweise ui = ui(x, t) ausgedruckt.

Das System (2.1) laßt sich in Matrixform wie folgt schreiben

Ut + AUx + B = 0 (2.2)

mit

U =

u1

u2...um

, B =

b1

b2...bm

, A =

a11 · · · a1m

a21 · · · a2m...

......

am1 · · · amm

, (2.3)

wobei Ut und Ux die partiellen Ableitungen von U(x, t) nach t bzw. x bezeichnen.

33

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 34

Sind die Matrixelemente aij der Matrix A und die Komponenten bj des Vektors B kon-stant, dann ist (2.2) ein lineares System mit konstanten Koeffizienten. Falls aij = aij(x, t)und bj = bj(x, t) liegt ein lineares System mit variablen Koeffizienten vor. Das System istauch dann noch linear, wenn B linear von U abhangt. Es heißt quasi-linear, falls dieKoeffizientenmatrix A eine Funktion des Vectors U ist, d.h. wenn A=A(U) gilt. Manbeachte, dass quasilineare Systeme im allgemeinen Systeme von nichtlinearen Gleichungensind. Das System (2.2) heißt homogen, falls B=0 ist.

Fur ein System von PDEs der Form (2.2) muss man Wertebereiche fur die unabhangigenVariablen x und t vorgeben. Gewohnlich wahlt man fur x ein Teilintervall der reellenZahlenachse, d.h. xl < x < xr; dieses Teilintervall nennt man die raumliche Domaneder PDEs, oder einfach die Domane. An den Intervallgrenzen xl, xr muss man zusatzlichRandbedingungen vorgeben. Dies ist nicht notig, wenn die Domane die gesamte reelle Achse(−∞ < x < ∞) umfasst. Als Wertebereich fur die unabhangige Variable t nimmt manim allgemeinen t0 < t < ∞ an, wobei man noch Anfangsbedingungen zum Zeitpunkt t0spezifizieren muss. Oft wird t0 = 0 gewahlt.

• Definition 1:

Erhaltungsatze sind Systeme von quasilinearen PDEs 1. Ordnung, die man in derForm

Ut + F(U)x = 0, (2.4)

schreiben kann, wobei

U =

u1

u2...um

, F(U) =

f1

f2...fm

. (2.5)

U ist ein Vektor von Erhaltungsgroßen und F(U) heißt Flussvektor. Jede seinerKomponenten fi ist eine Funktion der Komponenten ui von U.

• Definition 2:

Die Jacobi–Matrix des Flussvektors F(U) ist die Matrix

∂F

∂U=

∂f1/∂u1 · · · ∂f1/∂um∂f2/∂u1 · · · ∂f2/∂um

......

...∂fm/∂u1 · · · ∂fm/∂um

, (2.6)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 35

d.h. die Elemente der Matrix ∂F/∂U sind die partiellen Ableitungen der Komponen-ten fi des Vektors F bezuglich der Komponenten uj des Vektors der ErhaltungsgroßenU.

Die Erhaltungssatze (2.4)–(2.5) lassen sich auch in quasilinearer Form (2.2) schreiben.Mit B ≡ 0 und mit Hilfe der Kettenregel folgt fur den zweiten Term in (2.4)

∂F(U)

∂x=∂F

∂U

∂U

∂x(2.7)

und damit fur (2.4)

Ut +∂F(U)

∂UUx = 0 , (2.8)

was ein Spezialfall von (2.2) ist.

• Definition 3:

Eigenwerte λi der Matrix A sind Losungen des charakteristischen Polynoms

|A− λI| = det(A− λI) = 0, (2.9)

wo I die Einheitsmatrix ist. Die Eigenwerte der Koeffizientenmatrix A eines Systemsder Form (2.2) nennt man auch die Eigenwerte des Systems.

Physikalisch reprasentieren die Eigenwerte Geschwindigkeiten der Informationsaus-breitung (positiv gemessen in positive x–Richtung).

• Definition 4:

Ein rechter Eigenvektor einer Matrix A bezuglich eines Eigenwerts λi von A ist einVektor r(i) = (r

(i)1 , r

(i)2 , . . . , r

(i)m )T , der der Beziehung A r(i) = λi r(i) genugt. Analog

ist ein linker Eigenvektor der Matrix A bezuglich eines Eigenwerts λi von A einVektor l(i) = (l

(i)1 , l

(i)2 , . . . , l

(i)m ), fur den l(i)A = λil

(i) gilt.

• Definition 5:

Ein System (2.2) heißt hyperbolisch im Punkt (x,t), falls die Matrix A m reelleEigenwerte λ1, . . . , λm und einen dazu gehorigen Satz von m linear unabhangigenrechten Eigenvektoren r(1), . . . , r(m) besitzt. Das System ist strikt hyperbolisch, fallsalle Eigenwerte λi verschieden sind.

System (2.2) heißt elliptisch in einem Punkt (x, t), falls keiner der Eigenwerte λivon A reell ist.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 36

x0 x

t

f(x)

t = 0

t > 0

x − at

= x 0

Abbildung 2.1:

2.2 Charakteristiken

Zur Erlauterung des Begriffs der Charakteristik untersuchen wir verschiedene einfache Bei-spiele von linearen, nicht–linearen und quasilinearen PDEs 1. Ordnung in 1 Raumdimensi-on.

2.2.1 Die lineare Advektionsgleichung

ut + aux = 0 , u(x, 0) = f(x) , a = const. (2.10)

• Die Losung der linearen Advektionsgleichung lautet u(x, t) = f(x− at). Dies ist eineWelle der Form f , die sich mit konstanter Geschwindigkeit a nach rechts (a > 0)bzw. nach links (a < 0) ausbreitet (siehe Abb. 2.1).

• Die Losung u(x, t) ist konstant langs der Geraden x − at = constant. Diese Ge-raden heißen Wellenfronten oder Charakteristiken. u(x, t) ist das Signal oder dieWelleninformation und a ist die Signalgeschwindigkeit.

• Information propagiert entlang den Charakteristiken, d.h. entlang Kurven in der x-t–Ebene, die der gewohnlichen Differentialgleichung x(t) = a mit x(0) = x0 genugen(siehe Abb. 2.2).

• Falls Anfangsdaten auf einer Kurve C gegeben sind, die transversal zu allen Charak-teristiken ist (d.h. nirgends tangential), so ist die Losung u(x0, t0) im Punkte (x0, t0)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 37

x

t x − at = const.

C (x0, t0)

P

Abbildung 2.2:

gegeben durch den Anfangswert auf C wo die Charakteristik durch (x0, t0) die KurveC schneidet.

• Wichtig: Falls C nicht uberall transversal zu den Charakteristiken ist, hat die Dif-ferentialgleichung im allgemeinen keine Losung.

2.2.2 Lineare, homogene PDE 1. Ordnung in 1 Dimension

ut + a(x, t)ux = 0, (2.11)

• Charakteristiken sind jetzt Kurven (siehe Abb. 2.3) und sind in Parameterdarstellungt = t(q), x = x(q) gegeben durch

dt

dq= 1,

dx

dq= a(x, t) , (2.12)

da dann

d

dqu(x(q), t(q)) = ux

dx

dq+ ut

dt

dq= 0

gilt.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 38

x

tCharakteristiken

C

(x0, t0)

P

Abbildung 2.3:

• Falls a(x, t) stetig ist, existieren Charakteristiken (zumindest lokal), die sich nichtschneiden (folgt aus Eindeutigkeit- und Existenzsatz gewohnlicher Differentialglei-chungen).

2.2.3 Nicht–viskose Burger–Gleichung

ut + uux = 0 (2.13)

bzw.

ut +1

2(u2)x = 0 (2.14)

• Die Charakteristiken dieser quasilinearen PDE sind durch

dt

dq= 1,

dx

dq= u,

du

dq= 0

gegeben und hangen von der Losung U ab.

• u ist konstant auf Charakteristiken, d.h. es gilt dtdq

= 1 und dxdq

= const. Die Charak-teristiken sind also Geraden, die von verschiedenen Punkten ausgehen. Anders als imlinearen Fall konnen sich die Charakteristiken daher im nicht–linearen Fall schneiden(siehe Abb. (2.4).

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 39

x

t

(x0, t0)

(x1, 0) (x2, 0)

Charakteristiken

Abbildung 2.4:

• Im linearen Fall hat man 2 gewohnliche Differentialgleichungen

dt

dq= 1 ,

dx

dq= a(x, t) ,

d.h. falls a stetig ist, ist die Losung durch (x0, t0) eindeutig.

• Im nicht–linearen Fall hat man dagegen 3 gewohnliche Differentialgleichungen

dt

dq= 1 ,

dx

dq= u ,

du

dq= 0

Die Losung durch (x0, t0, u0) ist eindeutig bestimmt, aber Charakteristiken sind Kur-ven in der (x, t)–Ebene, die man durch Projektion der eindeutigen dreidimensionalenLosung in die Ebene erhalt. Daher sind Schnittpunkte moglich.

Falls Schnittpunkte auftreten versagt die Losungsmethode, da die Signale auf sichschneidenden Charakteristiken im allgemeinen verschieden sind. Dieser Konflikt laßtsich nur durch eine Unstetigkeit (einen Sprung) in der Losung beheben, die manStoßwelle oder kurz Stoß nennt (siehe weiter unten).

Wichtig: Stoßwellen konnen immer auftreten, wenn Charakteristiken konvergieren,selbst wenn die Anfangsdaten und die Randbedingungen vollstandig glatt und stetigsind.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 40

2.2.4 Homogenes hyperbolisches System quasilinearer PDE’s1. Ordnung in 1 Dimension

Ut + A(x, t,U)Ux = 0 (2.15)

• Fur die Anderung von U langs der Kurve (x(q), t(q)) gilt

dU

dq= Ut

dt

dq+ Ux

dx

dq=

[−A(x, t,U)

dt

dq+dx

dq

]Ux (2.16)

• Definition: 1 Charakteristik ist eine Kurve mit folgender Eigenschaft: Falls Anfangs-daten auf der Kurve gegeben sind, ermoglicht es die Differentialgleichung nicht, dieLosung an irgendeinem Punkt zu bestimmen, der nicht auf der Kurve liegt.

• Falls die Charakteristik nicht parallel zu x-Achse ist, kann man bei Kenntnis von U,die Ableitung Ux nicht bestimmen. Dies ist der Fall, wenn die Matrix

−A(x, t,U)dt

dq+dx

dqI (2.17)

(I ist die Einheitsmatrix) singular ist, d.h. wenn die Bedingungen

dx

dq= λi(x, t,U) und

dt

dq= 1 (2.18)

erfullt sind. Die Großen λi , i = 1 . . . n sind die Eigenwerte der Matrix A.

• Fur ein System von n Gleichungen gibt es n verschiedene Wellenfamilien, d.h. durchjeden Punkt (x, t) der x− t–Ebene gehen n Charakteristiken. Dies ist in Abb. 2.5 furn = 3 illustriert.

• Ein beliebiger Punkt (x0, t0) in der x− t–Ebene wird offensichtlich nur von Punktenzu fruheren Zeiten (t < t0) beeinflusst und kann selbst nur Punkte zu spateren Zeiten(t > t0) beeinflussen. Da sich aber der Einfluss nur mit endlicher Geschwindigkeitausbreitet, wird der Punkt (x0, t0) nicht von allen fruheren Punkten beeinflusst undkann auch nicht alle spateren Punkte beeinflussen. Stattdessen wird der Punkt (x0, t0)nur von Punkten in seinem Abhangigkeitsgebiet beeinflusst und wirkt seinerseitsnur auf Punkte in seinem Einflussgebiet. Diese Gebiete sind durch die, durch denPunkt gehenden, Charakteristiken mit der großten und kleinsten Geschwindigkeitbegrenzt (Abb. 2.5).

1Allgemeine Definition einer Charakteristik, falls U 6= konst. auf Charakteristik.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 41

x

t

Abhangigkeitsgebiet

Einflu ßgebietC1

C2

C3

Abbildung 2.5:

• Wie man an der Abb. 2.5 sieht, sind Schnittpunkte von Charakteristiken verschiede-ner Wellenfamilien unproblematisch. Nur wenn sich Charakteristiken einer Wellenfa-milie schneiden, treten Stoßwellen auf.

• Falls C eine Kurve ist, die transversal zu allen Charakteristiken ist, dann ist dieMatrix (2.17) invertierbar und es gilt (q parametrisiert Kurve C)

Ux =

[−A(x, t,U)

dt

dq+dx

dq

]−1dU

dq(2.19)

Ut = −AUx (2.20)

d.h. die Losung ist in einer gewissen Umgebung von C (wegen moglicher Schnitt-punkte der Charakteristiken) eindeutig bestimmt.

Losung ist in durch Charakteristiken getrennten Gebieten entkoppelt (Kausalitat).

• Falls Losung eindeutig sein soll, sind Unstetigkeiten in U nur auf Charakteristikenmoglich.

• U ist im allgemeinen nicht konstant auf Charakteristiken. Es ist aber moglich,Funktionen fi mit i = 1 . . . n zu finden, die konstant auf der zu λi gehorenden Cha-

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 42

rakteristik sind:

dfidq

=∂fi∂U

dU

dq≡

n∑j=1

∂fi∂uj

∂ujdq

.

Mit (2.16) folgt daraus

dfidq

=∂fi∂U

(−A + λ)Ux ,

d.h. fi ist konstant entlang der Charakteristik Cλi , falls ∂fi/∂U Eigenvektor von AT

ist. Solche Großen heißen Riemannsche Invarianten.

• Falls man n Invarianten gefunden hat, kann man diese invertieren und U als Funktionder fi ausdrucken. Damit besteht die Moglichkeit, die Charakteristik Cλi als expliziteFunktion der Anfangsdaten anzugeben und die Losung zu erhalten.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 43

2.3 Charakteristische Form der hydrodynamischen

Gleichungen

Die idealen, eindimensionalen hydrodynamischen Gleichungen ohne außere Krafte lautenin Erhaltungsform

ρt + (ρu)x = 0(ρu)t + (ρu2 + p)x = 0(ρE)t + [(ρE + p)u]x = 0

(2.21)

oder in vektorieller Notation

Ut + F(U)x = 0 , (2.22)

wobei

U =

ρρuρE

(2.23)

der Vektor der Erhaltungsgroßen und

F(U) =

ρuρu2 + p

(ρE + p)u

. (2.24)

der Flussvektor ist (siehe Definition 2.5). Fur Stromungen ohne Diskontinuitaten gilt

Ut +∂F

∂UUx = Ut + AUx = 0 . (2.25)

Hierbei ist A = ∂F/∂U die Jacobi–Matrix des Flussvektors (siehe Definition 2.6). DasSystem (2.21) ist ein Spezialfall eines strikt hyperbolischen Systems quasilinearer PDEs 1.Ordnung in 1 Dimension (siehe Gleichung 2.1).

• Im Falle einer idealen Gaszustandsgleichung

p = (γ − 1)ρε , (2.26)

wo γ ≡ cp/cV das Verhaltnis der spezifischen Warmen bei konstantem Druck bzw.Volumen ist, gilt

A =∂F

∂U=

0 1 0γ−3

2u2 (3− γ)u γ − 1

−γuE + (γ − 1)u3 γE − 32(γ − 1)u2 γu

(2.27)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 44

• Die Eigenwerte und die Charakteristiken der hydrodynamischen Gleichungen lauten:

λ+ = u+ cλ0 = uλ− = u− c

(2.28)

bzw.

C+ : dxdt

= u+ cC0 : dx

dt= u

C− : dxdt

= u− c(2.29)

wobei c die Schallgeschwindigkeit

c2 ≡ ∂p

∂ρ

∣∣∣∣s

ist.

• Fur eine isentrope Stromung, d.h. fur eine Stromung mit s = const. lauten dieRiemannschen Invarianten (ρ∗ ist eine beliebige Konstante)

Γ± = u±∫ ρ

ρ∗

dρ′c(ρ′)

ρ′. (2.30)

• Fur nicht isentrope Stromungen gilt

ds

dq= st

dt

dq+ sx

dx

dq= st + usx = 0 ,

d.h. die Entropie ist konstant auf C0 und damit eine Riemannsche Invariante.

Da c(ρ)ρdρ jetzt kein totales Differential mehr ist, kann diese Große nicht unabhangig

von s integriert werden. Daher gibt es im allgemeinen Fall keine 3 RiemannschenInvarianten.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 45

• Es ist manchmal vorteilhaft, die hydrodynamischen Gleichungen (2.25) mit Hilfe dersogenannten primitiven Variablen auszudrucken, die sich direkt messen lassen.

Definiert man den Vektor der primitiven Variablen gemaß

W =

ρup

(2.31)

so lauten die hydrodynamischen Gleichungen in primitiver Form

Wt + CWx = 0 , (2.32)

wobei

C =

u ρ 00 u 1

ρ

0 ρc2 u

. (2.33)

Man beachte, dass man (2.32) nicht in der Form ∂W/∂t+∂f(W)/∂x = 0 schreibenkann und dass die Matrix C keine Jacobi–Matrix irgendeiner Flussfunktion f(W) ist.

• Gemaß Kapitel (2.1) lassen sich die hydrodynamischen Gleichungen in quasilinearerFormulierung (2.25) auch in der charakteristischen Form

Q−1Ut + Q−1AUx = 0 . (2.34)

schreiben, wobei

Q−1AQ = Λ

gilt. 2 Λ ist eine Diagonalmatrix, deren Elemente die Eigenwerte von A sind

Λ =

u 0 00 u+ c 00 0 u− c

. (2.35)

2Die Matrizen A und Λ sind demnach ahnliche Matrizen, d.h. sie besitzen die gleichen Eigenwerte abernicht notwendingerweise die gleichen Eigenvektoren, und es gilt Q−1A = ΛQ−1, bzw. AQ = QΛ.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 46

Q ist eine Matrix, deren Spalten r(i) die rechten Eigenvektoren von A sind

Q =

1 ρ2c

− ρ2c

u ρ2c

(u+ c) − ρ2c

(u− c)u ρ

2c

(u2

2+ c2

γ−1+ cu

)− ρ

2c

(u2

2+ c2

γ−1− cu

) (2.36)

und Q−1 ist eine Matrix, deren Zeilen l(i) die linken Eigenvektoren von A sind

Q−1 =γ − 1

ρc

ρc

(−u2

2+ c2

γ−1

)ρcu −ρ

c

u2

2− cu

γ−1−u+ c

γ−11

−u2

2− cu

γ−1u+ c

γ−1−1

. (2.37)

Definiert man charakteristische Variablen gemaß

dV ≡ Q−1dU , (2.38)

dann folgt aus (2.34) eine weitere charakteristische Form der hydrodynamischen Glei-chungen

Vt + Q−1AQ Vx = 0 , (2.39)

oder

Vt + ΛVx = 0 (2.40)

Mit V = (v0, v+, v−) gilt dann

∂v0

∂t+ u

∂v0

∂x= 0 (2.41)

∂v+

∂t+ (u+ c)

∂v+

∂x= 0 (2.42)

∂v−∂t

+ (u− c)∂v−∂x

= 0 . (2.43)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 47

2.4 Einfache Wellen

Wir definieren zunachst einige Begriffe, die wir fur die folgenden Uberlegungen benotigen.

• Ein hydrodynamischer Zustand eines Gases ist das Tripel (ρ, u, s).

• Ein konstanter Zustand ist Bereich in x− t–Ebene, wo ρ, u und s konstant sind.

• Ein isentroper Bereich, in dem die Riemann Invariante Γ+ bzw. Γ− konstant ist, heißtΓ+–einfache Welle bzw. Γ−–einfache Welle.

• Fur einen konstanten Zustand gilt:

(i) c = const. und Γ± existieren

(ii) Charakteristiken sind Geraden, da u = const. und c = const.

(iii) Charakteristiken einer Sorte sind parallel zueinander

• Fur eine Γ+–einfache Welle (und analog fur eine Γ−–einfache Welle) gilt:

(i) Γ+ = const.

(ii) Γ− = const. auf C− (da Riemann Invariante)

(iii) u = const. und c = const. auf C−, d.h. die C−–Charakteristiken sind Geraden(Umkehrschluss gilt auch)

Es gilt folgender Satz:An einen konstanten Zustand grenzt entweder eine Unstetigkeit oder eine einfache Welle

an. Die Grenzen sind Geraden. Sie sind entweder C+, C0 oder C−–Charakteristiken. Istdie Stromung glatt, so grenzt an einen konstanten Zustand eine einfache Welle an und dieGrenze ist eine C±–CharakteristikFolgerung: Glatte Stromungen bestehen nur aus konstanten Zustanden und einfachenWellen.

2.4.1 Verdunnungs und Verdichtungswellen:

Wir betrachten ein (ausreichend langes) Rohr, in dem sich zum Zeitpunkt t = 0 ein Gasim konstanten Zustand u = 0 und ρ = ρ0 befindet. Das Rohr ist nach links hin mit einenStempel abgeschlossen, der sich fur t > 0 mit konstanter Geschwindigkeit vs > 0 (und|u| < c) nach links (x(t > 0) < 0) bewegt (siehe Abb. 2.6). Infolge der Stempelbewegung,beginnt auch das Gas sich zu bewegen. Das zugehorige Raumzeitdiagramm ist in Abb. 2.7dargestellt.

Es gilt nun die Behauptung, dass die Dichte am Stempel konstant ist. Um dies zu be-weisen, benutzt man die Charakteristiken und die oben definierten Eigenschaften einfacherWellen.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 48

Stempel

−vs < 0

x = 0

Rohr

t = 0: Gas mit u = 0 , ρ = ρ0

x

Abbildung 2.6:

x

t

C+

konstanter

Zustand: (I)

u = 0 , ρ = ρ0

konstanter

Zustand: (III)

Stempeltrajektorie: x = −vs t

Γ−− einfache Welle

(II)

C−B

Abbildung 2.7:

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 49

• C−–Charakteristiken sind Geraden im Gebiet (I), da es ein konstanter Zustand ist,und sie

”verlassen“ das Gebiet (I), da u = 0 und ihr Anstieg 1/(−c) betragt.

• Das Gebiet zwischen Stempel und (I) ist eine Γ−–einfache Welle (teilweise auch einkonstanter Zustand).

• Fur einen beliebigen Punkt B auf der Stempeltrajektorie gilt

Γ−B = Γ−0

und daher

−vs −∫ ρ(B)

ρ∗

c(ρ′)

ρ′dρ′ = Γ−0 (2.44)

bzw.∫ ρ(B)

ρ∗

c(ρ′)

ρ′dρ′ = −vs − Γ−0 = const

d.h. ρ(B) ist konstant entlang der Stempeltrajektorie, da c und ρ beide großer Nullsind.

• Fur alle Punkte B gilt

Γ+B = −vs + (−vs − Γ−0 ) = const. ,

d.h. unabhangig von der gewahlten C+–Charakteristik. Daher muss ein konstanterZustand (III) an den Stempel angrenzen und seine andere Grenze muss eine geradeC+–Charakteristik sein, die vom Ursprung ausgeht.

• Damit muss das Gebiet zwischen (I) und (III) eine Γ−–einfache Welle sein, da dieC−–Charakteristiken aus dem konstanten Zustand (I) kommen. Weiterhin folgt, dassalle C+–Charakteristiken im Gebiet (II) Geraden durch den Ursprung sind. Diesnennt man eine zentrierte Verdunnungswelle.

• Allgemein gilt: Eine einfache Welle, deren gerade Charakteristiken sich in einemPunkt schneiden heißt zentrierte Verdunnungswelle.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 50

• Mit

∫ ρ(B)

ρ0

c(ρ′)

ρ′dρ′ =

∫ ρ(B)

ρ∗

c(ρ′)

ρ′dρ′ −

∫ ρ0

ρ∗

c(ρ′)

ρ′dρ′ (2.45)

=

∫ ρ(B)

ρ∗

c(ρ′)

ρ′dρ′ + Γ−0 (2.46)

(2.47)

und (2.44) folgt

∫ ρ(B)

ρ0

c(ρ′)

ρ′dρ′ = −vs < 0 (2.48)

Da c > 0 und ρ > 0, folgt ρB < ρ0, d.h. es handelt sich um eine Verdunnungswelle.

• Achtung: Falls ∂c/∂ρ < 0 gilt (d.h. falls ∂2p/∂ρ2 < 0, wie z.B. fur Kernmaterie oderWasser) sind auch Verdichtungswellen moglich.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 51

2.5 Schwache Losungen und Diskontinuitaten

Fur die bisherigen Uberlegungen in diesem Kapitel wurden immer stetig differenzierbareLosungen, d.h. sogenannte starke Losungen vorausgesetzt. Schreibt man die hydrody-namischen Gleichungen in integraler Form, so sind auch Losungen moglich, die auf einerMenge vom Maße Null unstetig sind. Diese Losungen nennt man schwache Losungen.Die eindimensionalen hydrodynamischen Gleichungen in vektorieller Schreibweise (2.22)

Ut + F(U)x = 0 (2.49)

lassen sich mit Hilfe der Definitionen

G ≡ (F(U),U)

und

Div(F1,F2) ≡ (F1)x + (F2)t

in der kompakten Form

DivG = 0 (2.50)

schreiben. Falls Φ eine beliebige glatte Funktion ist, gilt∫Φ DivG dxdt = 0 .

Partielle Integration ergibt unter der Annahme, dass G im Unendlichen hinreichend schnellgegen Null geht (kompakte Funktion!)

∫gradΦ ·G dxdt = 0 . (2.51)

Fur glatte Losungen U ist (2.50) aquivalent zu (2.51). Die letztere Form laßt aber auchunstetige Losungen zu. Eine solche Losung U, die fur eine beliebige glatte Funktion Φ,die Gleichung (2.51) erfullt, heißt schwache Losung der Gleichung (2.51).

Wir betrachten ein Gebiet Ω, das durch eine Unstetigkeitsflache Σ in zwei TeilgebieteΩ1 und Ω2 unterteilt sei (Abb. 2.8). Weiterhin sei Φ eine glatte Funktion, die außerhalbvon Ω identisch Null ist. Dann folgt∫

Ω

gradΦ ·G dxdt = 0

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 52

t

x

Ω2

Ω1

x = x(t)

n

1

D

D

1

Σ

Abbildung 2.8:

und damit∫Ω1

gradΦ ·G dxdt+

∫Ω2

gradΦ ·G dxdt = 0 .

Mit Hilfe der Vektoridentitat (1.25) gilt dann∫Ω1

Div(ΦG) dxdt−∫

Ω1

Φ DivG dxdt+

∫Ω2

Div(ΦG) dxdt−∫

Ω2

Φ DivG dxdt = 0 .

Da DivG = 0 gilt (falls U stetig ist!) folgt unter Verwendung des Gauss’schen Satzes∫Σ

Φ G1 · n dσ −∫

Σ

Φ G2 · n dσ = 0

und damit∫Σ

Φ (G1 −G2) · n dσ = 0 ,

wobei n der Normaleneinheitsvektor der Unstetigkeitsflache Σ ist, der von Ω1 nach Ω2

weist (Abb. 2.8). Die Große dσ ist ein differentielles Flachenelement von Σ und Gi ist derGrenzwert von G, wenn man sich Σ vom Gebiet Ωi aus nahert.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 53

Da Φ ein beliebige glatte Funktion ist, gilt auf der Unstetigkeitsflache Σ

[G · n] ≡ G1 · n−G2 · n = 0 (2.52)

Parametrisiert man die Unstetigkeitsflache Σ durch x = x(t) (Abb. 2.8), dann ist dieGeschwindigkeit von Σ gegeben durch

D =dx

dt

und der Normalen–Einheitsvektor durch

n =1√

D2 + 1ex −

D√D2 + 1

et ,

wobei ex und et die Einheitsvektoren in x- und t–Richtung sind. Da G = (F,U), folgt aus(2.52)

−D[U] + [F(U)] = 0

oder komponentenweise

D[ρ] = [ρu]

D[ρu] = [ρu2 + p]

D[ρE] = [(ρE + p)u]

. (2.53)

Dies sind die Rankine–Hugoniot Bedingungen.

• In einem Koordinatensystem, das sich mit der Unstetigkeitsflache mitbewegt, d.h. indem D = 0 gilt, lauten die Rankine–Hugoniot Bedingungen

ρ1u1 = ρ2u2

ρ1u21 + p1 = ρ2u

22 + p2

u1(ρ1E1 + p1) = u2(ρ2E2 + p2)

(2.54)

Die dritte Rankine–Hugoniot Bedingung laßt sich unter Verwendung der Definitionder spezifischen Gesamtenergiedichte E = u2/2 + ε (siehe Gl. (1.44)) und der erstenRankine–Hugoniot Bedingung auch in der Form

u21

2+ ε1 +

p1

ρ1

=u2

2

2+ ε2 +

p2

ρ2

(2.55)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 54

bzw.

1

2(u1 − u2)(u1 + u2) + ε1 − ε2 +

p1

ρ1

− p2

ρ2

= 0 (2.56)

schreiben.

• Der Massenfluss durch die Unstetigkeitsflache oder Diskontinuitat ist durch M =ρ1u1 = ρ2u2 gegeben. Da ρ > 0, ist im Ruhesystem von Σ ein verschwindenderMassenfluss M = 0 gleichbedeutend mit u1 = u2 = 0. Unstetigkeiten mit dieserEigenschaft heißen Kontaktunstetigkeiten.

Eine Kontaktunstetigkeit ist ein Spezialfall einer tangentialen Unstetigkeit, an der imFalle einer mehrdimensionalen Stromung die beiden tangentialen Geschwindigkeits-komponenten und alle thermodynamischen Großen außer dem Druck p unstetig seinkonnen.

• Falls M 6= 0 gilt, heißen die Losungen Stoß oder Stoßwellen. Fur diese Losungenfolgt aus der zweiten Rankine–Hugoniot Bedingung fur den Massenfluss

M = − p1 − p2

u1 − u2

(2.57)

oder mit dem spezifischen Volumen τ ≡ 1/ρ und

ui = Mτi , i = 1, 2 (2.58)

die Beziehung

M2 = −p1 − p2

τ1 − τ2(2.59)

Man beachte, dass

– (2.57) und (2.59) rein mechanische Beziehungen sind, die unabhangig von derZustandsgleichung gelten,

– die Gleichung (2.59) zwei Losungstypen besitzt, namlich einmal Losungen mitp2 > p1 und τ1 > τ2 (Stoß), sowie Losungen mit p2 < p1 und τ1 < τ2.

– die Gerade p− p1 = −M2(τ − τ1) alle Moglichkeiten reprasentiert, den Zustand(p1, τ1) mit einem Stoß zu verbinden (Abb. 2.9).

Diese Gerade mit dem Anstieg −M2 heißt Rayleigh–Linie und wird ublicher-weise mit R(p, τ) bezeichnet.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 55

τ=1/ρ

p

τ1τ2

p2

p1

Hugoniot−Funktion H1(p,τ)

(p1 , τ1)

(p2 , τ2)Rayleigh−Linie R1(p,τ)

( Anstieg: − M2 )

Abbildung 2.9:

• Mit Hilfe von (2.57) und (2.58) folgt aus der dritten Rankine-Hugoniot Bedingung(2.56) die Beziehung

−p1 − p2

2M(Mτ1 +Mτ2) + ε1 − ε2 + p1τ1 − p2τ2 = 0 (2.60)

und daraus die Hugoniot–Gleichung oder Stoßadiabate

p1 + p2

2(τ1 − τ2) + ε1 − ε2 = 0 , (2.61)

die eine rein thermodynamische Beziehung darstellt.

• Da ε = ε(p, τ) fuhrt man die Hugoniot–Funktion zum Zentrum (p1, τ1) ein

H1(p, τ) ≡ ε(p, τ)− ε(p1, τ1) +p+ p1

2(τ − τ1)

und kann damit die Hugoniot–Gleichung(2.61) in der Form

H1(p2, τ2) = 0 (2.62)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 56

schreiben. Die Kurve H1(p, τ) reprasentiert alle Moglichkeiten, den Zustand (p1, τ1)mit einem Stoß zu verbinden. Im Falle einer idealen Gaszustandsgleichung (2.26) istH1(p, τ) eine Hyperbel (Abb. 2.9).

• Fur einen schwachen Stoß gilt (siehe Landau & Lifschitz, Bd. 6)

s2 − s1 =1

12T1

(∂2τ

∂p21

)s

(p2 − p1)3 (2.63)

d.h. die Entropieanderung in einer Stoßwelle geringer Intensitat ist von dritter Ord-nung klein im Vergleich zur Druckanderung.

• Fur fast alle bekannten Zustandsgleichungen (Ausnahme: Phasenubergange) nimmtdie adiabatische Kompressibilitat (∂τ/∂p)s mit zunehmendem Druck ab, d.h.(

∂2τ

∂p2

)s

> 0 .

und daher folgt mit p2 > p1 aus (2.63) s2 > s1, d.h. die Entropie wachst in Stoßenan. Ursache hierfur ist die Dissipation von kinetischer Energie in Warme (selbst ineiner idealen Flussigkeit!).

• Schwache Stoße, d.h. Stoße fur die ∆p/p 1 und ∆ρ/ρ 1, breiten sich miteiner Geschwindigkeit D & c1 aus (siehe z.B. Landau & Lifschitz, Bd. 6).

• Eine notwendige Bedingung fur das Auftreten von Stoßwellen ist u1 > c1 (d.h. Uber-schallstromung vor dem Stoß) und u2 < c2 (d.h. Unterschallstromung hinter demStoß), wobei die Geschwindigkeiten im Bezugssystem des Stoßes gemessen sind.

• Es gilt folgendes allgemeines Theorem (siehe z.B. Courant & Friedrichs):

Seien (p1, τ1, s1) und (p2, τ2, s2) zwei Zustande und die Zustandsgleichung erfulle dieBedingungen

∂p

∂τ< 0 ,

∂2p

∂τ 2< 0 ,

∂p

∂s> 0 ,

dann und nur dann ist die Entropiebedingung ds/dt ≥ 0 erfullt, wenn der Stoßkompressiv ist, d.h. wenn ρ2 > ρ1 und p2 > p1 gilt. Die Geschwindigkeiten an beidenSeiten des Stoßes mussen dann die Bedingungen u2

1 > c21 und u2

2 < c22 erfullen.

Nachdem wir nun Kontaktunstetigkeiten, Stoßwellen und ihre Eigenschaften kennengelernthaben, konnen wir eine Erweiterung des Satzes uber konstante Zustande aus dem vorigenUnterkapitel formulieren.

• Satz: An einen konstanten Zustand grenzt entweder eine Stoßwelle, eine Kon-taktunstetigkeit oder eine einfache Welle an. Der Ubergang zu einfachen Wellenfindet an C±–Charakteristiken, der zu einer Kontaktunstetigkeit dagegen an C0–Charakteristiken statt.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 57

2.5.1 Stoßwellen in einem idealen Gas

Im Falle einer idealen Gaszustandsgleichung (2.26) lauten die Rankine–Hugoniot Bedin-gungen unter Verwendung der Machzahl Ma ≡ u/c im Bezugsystem des Stoßes

ρ2

ρ1

=(γ + 1)M2

a1

(γ − 1)M2a1

+ 2(2.64)

p2

p1

=2γM2

a1

γ + 1− γ − 1

γ + 1(2.65)

T2

T1

=[2γM2

a1− (γ − 1)][(γ − 1)M2

a1+ 2]

(γ + 1)2M2a1

(2.66)

Im Grenzfall eines sehr starken Stoßes, d.h. im Grenzfall Ma1 →∞ gilt

ρ2

ρ1

=γ + 1

γ − 1=

∞ fur γ = 17 fur γ = 4/34 fur γ = 5/3

, (2.67)

sowie

p2

p1

→∞ (∼M2a1

) undT2

T1

→∞ (∼M2a1

)

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 58

2.6 Das Riemann–Problem

Ein Riemann–Problem ist ein Cauchy–Anfangswertproblem mit stuckweise konstanten An-fangsbedingungen

Ut + F(U)x = 0 mit U(x, 0) = wl , x < 0 und U(x, 0) = wr , x > 0 . (2.68)

• Physikalische Motivation: Gas gefullter Behalter sei durch Membran in zwei Bereichegetrennt, die den Druck pl und die Dichte ρl, bzw. pr und ρr besitzen. Das Gas istin beiden Bereichen zunachst in Ruhe. Zur Zeit t = t0 reißt die Membran.

• Wichtig: Anfangsunstetigkeiten in ρ, u und p sind beliebig wahlbar, d.h. es mussenkeinerlei Beziehungen zwischen ihnen erfullt sein.

• Ohne Beschrankung der Allgemeinheit kann man daher ur = 0 und pr < pl annehmen.

Der Zerfall der Anfangsunstetigkeit A kann in drei verschiedene Kombinationen vonUnstetigkeiten (Stoß S und tangentiale Unstetigkeit T ) erfolgen, die sich voneinander ent-fernen:

a) A→ S←TS→ (2.69)

d.h. zwei Stoßwellen, die sich in entgegengesetzter Richtung ausbreiten und die durcheine tangentiale Unstetigkeit getrennt sind. Eine solche Situation entsteht beim Zu-sammenstoß zweier Gasmassen mit großer Geschwindigkeit.

b) A→ V←TS→ (2.70)

d.h. eine Stoßwelle und eine Verdunnungswelle, die sich in entgegengesetzter Rich-tung ausbreiten und die durch eine tangentiale Unstetigkeit gretrennt sind. Einesolche Situation entsteht, wenn zwei gegeneinander unbewegte Gasmassen (ul = ur),die unterschiedliche Drucke besitzten, sich anfanglich beruhren (Stoßrohr).

c) A→ V←TV→ (2.71)

d.h. zwei Verdunnungswellen, die sich in entgegengesetzter Richtung ausbreiten unddie durch eine tangentiale Unstetigkeit getrennt sind. Der Druck im Gebiet zwischenden beiden Verdunnungswellen kann auf Null abfallen, d.h. eine Vakuumzone kannentstehen.

Die Losung des Riemann–Problems hangt nur von den Anfangszustanden wl und wr

sowie von dem Verhaltnis ζ = x/t ab, d.h. es gilt U = U(xt; wl,wr). Letzteres gilt, da die

hydrodynamischen Gleichungen forminvariant unter der Transformation

x→ x′ = Lx

t→ t′ = Lt; L > 0

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 59

sind. Die Losung besteht aus konstanten Zustanden, die durch zentrierte Wellen (d.h.durch zentrierte Verdunnungswellen oder Stoße) und/oder tangentiale Unstetigkeiten ge-trennt sind.

Als Beispiel betrachten wir nun im Detail ein Stoßrohr (siehe Abb. (2.10)) bzw. denFall (2.70), und leiten die Losung des entsprechenden Riemannproblems her.

• Zur Losung des Anfangswertproblems muss man 8 unbekannte Großen in denGebieten (3) und (4) bestimmen (siehe Abb. 2.10): ρ3, p3, u3, ε3 und ρ4, p4, u4, ε4.

Die konstanten Zustande links (1) und rechts(5) von der Diskontinuitat sind durchdie Anfangsbedingungen gegeben. Gebiet (2) ist eine Verdunnungswelle, die durchdie Zustande (1) und (3) eindeutig bestimmt ist.

• Die Unbekannten ε3 und ε4 sind mit Hilfe der Zustandsgleichung eliminierbar.

• Da der Massenfluss durch die Kontaktunstetigkeit gleich null ist und da der Druckan der Kontaktunstetigkeit stetig ist, folgt

u3 = u4 ≡ uc und p3 = p4 ≡ pc .

• Damit verbleiben noch 4 Unbekannte: ρ3, ρ4, uc und pc, d.h. zur Losung des Riemann-problems sind noch 4 weitere Bedingungen erforderlich.

• Zwei der gesuchten vier Bedingungen ergeben sich aus den (allgemeinen) Rankine–Hugoniot Bedingungen (2.53) am Stoß, der sich mit der GeschwindigkeitD ausbreitet.

m ≡ ρ5(D − u5) = ρ4(D − uc)m(uc − u5) = pc − p5

m(Ec − E5) = pcuc − p5u5

(2.72)

Da das Gas vor dem Stoß in Ruhe ist, d.h. da u5 = 0 gilt, folgt fur die erste Rankine–Hugoniot Bedingung

m = ρ5D = ρ4(D − uc)

und damit fur die zweite Rankine–Hugoniot Bedingung

muc = ρ4(D − uc)uc = pc − p5 .

Die letzte Gleichung laßt sich durch Elimination von D aus der ersten Rankine–Hugoniot Bedingung

D =ρ4ucρ4 − ρ5

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 60

Riemann Problem:

P1

ρ1

P5

ρ5

u5=0 u1=0

xD x

x shock contact discontinuity

tail head of rarefaction

1 2 3 4 5

x

t

1

3 4

5 2

Abbildung 2.10:

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 61

in der Form

ρ4

(ρ4ucρ4 − ρ5

− uc)uc = pc − p5

schreiben. Ein kleine Umformung ergibt schließlich die gesuchte erste Bedingung

(p5 − pc)(

1

ρ5

− 1

ρ4

)= −u2

c (2.73)

• Die dritte Rankine–Hugoniot Bedingung (2.72) kann wegen E = u2/2+ε in der Form

m(ε4 +u2c

2− ε5) = pcuc ,

bzw. nach Elimination von m und einfacher Umformung in der Form

ε4 − ε5 =pc + p5

pc − p5

u2c

2

geschrieben werden. Mit Hilfe von (2.73) und unter der Annahme einer idealen Gas-zustandsgleichung (2.26) eliminiert man jetzt uc bzw. εi und erhalt

1

γ − 1

(pcρ4

− p5

ρ5

)=pc + p5

2ρ4ρ5

(ρ4 − ρ5) .

Weitere einfache Umformungen fuhren schließlich zu der gesuchten zweiten Bedin-gung

pc − p5

pc + p5

= γρ4 − ρ5

ρ4 + ρ5

(2.74)

• Die dritte Bedingung folgt aus der Tatsache, dass die Entropie in der Verdunnungs-welle, die eine Γ+–einfache Welle ist, konstant ist. Da fur die Entropie eines idealenGases s ∼ ln(p/ργ) gilt, kann die dritte Bedingung in der Form

p1

pc=

(ρ1

ρ3

)γ(2.75)

geschrieben werden.

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KAPITEL 2. EIGENSCHAFTEN UND ANALYTISCHE LOSUNGEN 62

• Die vierte Bedingung ergibt sich aus der Tatsache, dass in einer Γ+–einfachenWelle die Riemann’sche Invariante

Γ+ = u+

∫cdρ

ρ

konstant ist. Daraus folgt

uc +

∫c3

ρ3

dρ = u1 +

∫c1

ρ1

dρ .

Mit der Schallgeschwindigkeit c =√γp/ρ gilt∫

c

ρdρ =

2

γ − 1

√γp

ρ

und damit lautet die vierte Bedingung

uc +2

γ − 1

√γpcρ3

=2

γ − 1

√γp1

ρ1

(2.76)

• Kombiniert man die vier Bedingungen (2.73), (2.74), (2.75) und (2.76)), so lasst sicheine nicht–lineare, algebraische Gleichung fur das Druckverhaltnis P ≡ pc/p5

(bzw. fur den Druck pc, da p5 durch die Anfangsbedingungen vorgegeben ist) ableiten.

ρ1

ρ5

1

λ

(1− P )2

γ(1 + P )− 1 + P=

(γ − 1)2

[1−

(P

λ

) γ−12γ

]2

(2.77)

wobei λ ≡ (p1/p5) das Druckverhaltnis zwischen den beiden konstanten Anfangs-zustanden ist. Die restlichen unbekannten Großen ergeben sich aus der Losung pcdurch Einsetzen: ρ4 aus (2.74), uc nach Berechnung von ρ4 aus (2.73) und ρ3 aus(2.75).

In der folgenden Tabelle ist die Losung von (2.77) fur einige Falle angegeben.

λ γ = 4/3 γ = 5/32 1.403 1.4005 2.139 2.114

10 2.876 2.81220 3.786 3.653

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Kapitel 3

Diskretisierungsverfahren

3.1 Grundlegende Begriffe und Definitionen

• Die partiellen Differentialgleichungen der Hydrodynamik bzw. der Magnetohydrody-namik beschreiben Stromungen in einem Raum–Zeit–Kontinuum.

Die numerische Integration der Gleichungen erfordert eine Diskretisierung desRaum–Zeit–Kontinuums und eine entsprechende Diskretisierung der Gleichun-gen. Bei Gitterverfahren (andere Diskretisierungsverfahren werden hier nicht be-trachtet) wird das zu simulierende Raumgebiet mit einem Rechengitter bestehendaus einer endlichen Anzahl von Zellen uberdeckt (siehe Abb. (3.1).

=⇒ Satz von algebraischen Gleichungen fur diskrete hydrodynamische Variable

=⇒ unvermeidbare Diskretisierungsfehler

• Finite Differenzenverfahren: Gitterpunkten (Zellenmitten, Zellenecken, Zel-lenrandern) werden diskrete Variablenwerte 1 zugeordnet, z.B. (siehe Abb. (3.1):

gn+1k ≡ g(xk, t

n+1) .

Man diskretisiert die hydrodynamischen Gleichungen in differentieller Form, wobeiAbleitungen durch Differenzenbildung zwischen den diskreten Variablenwerten be-nachbarter Zonen approximiert werden.

• Finite Volumenverfahren: Zellvolumina werden zellgemittelte Variablen zugeord-net:

gni,j ≡ g(xi, yj, tn) ≡ 1

∆xi∆yj

∫ yj+1/2

yj−1/2

∫ xi+1/2

xi−1/2

g(x, y, tn)dxdy

Man diskretisiert die hydrodynamischen Gleichungen in integraler Erhaltungsform.

1Nomenklatur: Unterer bzw. oberer Index bezeichnet diskrete Raumkoordinate bzw. Zeitkoordinate.

63

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 64

xk−1 xk xk+1

tn+1

tn

tn−1

gnk

g n+1/2

k+1/2

g n+1

k+1/2

∆x k+1/2

∆t n+1/2

Abbildung 3.1:

• Ableitungen: Die Taylor–Entwicklung einer Funktion f um einen Punkt x0 lautetbis zur zweiten Ordnung:

f(x0 + ∆x) = f(x0) +

(∂f

∂x

)x0

∆x+1

2

(∂2f

∂x2

)x0

(∆x)2 +O[(∆x)3

].

Daraus folgt

fnk+1 = fnk +

(∂f

∂x

)xk

∆xk+1/2 +1

2

(∂2f

∂x2

)xk

(∆xk+1/2)2 +O[(∆x)3

].

Auflosen dieser Gleichung nach (∂f/∂x)k ergibt:(∂f

∂x

)k

=fnk+1 − fnk∆xk+1/2

− 1

2

(∂2f

∂x2

)k

∆xk+1/2 +O[(∆x)2

](3.1)

• Vorwarts- bzw. Ruckwartsdifferenzenapproximation der 1. Ortsableitung; Dis-kretierungsfehler O [∆x], d.h. von 1. Ordnung.

(∂f

∂x

)nk

≈fnk+1 − fnk∆xk+1/2

(3.2)

(∂f

∂x

)nk

≈fnk − fnk−1

∆xk−1/2

(3.3)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 65

xk−1 xk xk+1

tn+1

tn

tn−1

AbleitungenFunktionswerte

Abbildung 3.2:

• Zentrierte Differenzenapproximation der 1. Ortsableitung; DiskretierungsfehlerO [(∆x)2], d.h. von 2. Ordnung fur aquidistante Gitter.

(∂f

∂x

)nk

≈fnk+1 − fnk−1

2∆xkmit ∆xk ≡

∆xk+1/2 + ∆xk−1/2

2(3.4)

• 2. Ortsableitung: Taylor–Entwicklung von fnk+1 und fnk−1 um den Punkt xk bis zur4. Ordnung. Auflosen nach ∂2f/∂x2 ergibt eine Approximation O [(∆x)2]:

(∂2f

∂x2

)nk

≈fnk+1 + fnk−1 − 2fnk

(∆xk)2(3.5)

• Versetzte (staggered) Gitter: Funktionswerte und Ableitungen werden versetztzueinander auf dem Rechengitter definiert (siehe Abb. (3.2)); z.B.

(∂f

∂x

)nk+1/2

≈fnk+1 − fnk∆xk+1/2

(3.6)

Vorteil: Approximation ist auch fur nicht–aquidistante Gitter von O [(∆x)2].

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 66

3.2 Explizite und implizite Verfahren

U(r, t) sei der Zustandsvektor eines (dynamischen) Systems im Raumgebiet R = R(r)mit U = U0 zur Zeit t = 0. Ferner sei U fur alle Zeiten t > 0 auf der Oberflache Sdes Raumgebiets R gegeben. Dann ist die zeitliche Entwicklung des Zustandsvektor U desSystems in R fur alle Zeiten t > 0 bestimmt durch

∂U

∂t= LU (3.7)

Dies ist ein Anfangswertproblem mit Randbedingungen. L ist ein nichtlinearer Operator.Falls die Entwicklung des System durch gewohnliche Differentialgleichungen beschriebenwird, ist L algebraischer Natur. Falls dagegen die Entwicklung des System durch partielleDifferentialgleichungen bestimmt wird, ist L ein raumlicher Differentialoperator.

Vernachlassigt man Terme zweiter Ordnung und hoherer, ergibt sich die folgende all-gemeine (fur zwei Zeitniveaus!) diskretisierte Gleichung:

Un+1 = Un + LUn(1− ε)∆t+ LUn+1ε∆t (3.8)

wobei ∆t ≡ tn+1 − tn und ε ein Interpolationsparamter mit 0 ≤ ε ≤ 1 ist.

• Falls ε = 1/2, ist die zeitliche Integration O [(∆t)2] genau.

• Falls ε 6= 1/2, ist die zeitliche Integration O [∆t] genau.

• Falls ε = 0, ist Un+1 explizit durch Un gegeben, d.h. man erhalt eine expliziteZeitdiskretisierung.

• Falls ε 6= 0, liegt eine implizite Zeitdiskretisierung vor.

Werden die hydrodynamischen Gleichungen zeitlich explizit diskretisiert, so mussaus Stabilitatsgrunden die Zeitschrittgroße der Courant–Friedrichs–Lewy oder CFL–Bedingung genugen. Im Falle einer eindimensionalen Stromung (mit der Geschwindigkeitu und der Schallgeschwindigkeit c) lautet diese

∆t ≤ ∆tCFL ≡ Mini

∆xi|ui|+ ci

(3.9)

wobei das Minimum uber alle Stutzstellen i zu bilden ist. Fur eine dreidimensionaleStromung mit den Geschwindigkeitskomponenten (u, v, w) lautet die CFL–Bedingung (inkartesischen Koordinaten (x, y, z)):

∆t ≤ ∆tCFL ≡ Minijk

|ui|∆xi+|vj|∆yj

+|wk|∆zk

+ cijk

√(1

∆xi

)2

+

(1

∆yj

)2

+

(1

∆zk

)2

−1

wobei das Minimum uber alle Stutzstellen i, j, k zu bilden ist.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 67

• Implizite Verfahren erlauben im allgemeinen die Verwendung von großeren Zeitschrit-ten. Allerdings ist in diesem Fall jedoch die Losung eines nichtlinearen, algebraischenGleichungssystems in jedem Zeitschritt notwendig, um den Zustandsvektor fur dennachsten Zeitschritt zu berechnen.

Dies geschieht ublicherweise mit Hilfe einer (im mehrdimensionalen) Newton–Iteration, wobei in jeder Iteration ein lineares Gleichungssystem zu losen ist. Ty-pischerweise sind 3 bis 5 Iterationen pro Zeitschritt notwendig.

Die Anzahl der notwendigen Rechenoperationen skaliert gemaß (NV ·NX ·NY ·NZ)3,wobei NV die Anzahl der unabhangigen Variablen bzw. Gleichungen des zu losendennichtlinearen, algebraischen Gleichungssystems ist.NX,NY undNZ sind die Anzahlder Stutzstellen in x-, y- und z–Richtung.

Eine signifikante Reduktion der Anzahl der Operationen laßt sich durch Ausnutzungder Matrixblockstruktur des Gleichungssytems erreichen.

• Weitere Probleme die bei impliziten Verfahren auftreten:

- Tabellen und numerische Ableitungen konnen die Konvergenz der Iteration ver-schlechtern, oder gar verhindern.

- Die Suche nach Programmfehlern ist erheblich erschwert.

- Unter Umstanden sind adaptive Rechengitter erforderlich, da sonst ein zu kleinerZeitschritt fur die Konvergenz erforderlich ist.

3.3 Methode der Operatoren–Zerlegung

• Man betrachte ein nicht–lineares System von partiellen Differentialgleichungen fureinen Zustandsvektor ~U

∂t~U(~r, t) = ~G(~U,~r, t) , (3.10)

wobei ~G ein Vektor–Operator sei, der keine Zeitableitungen von ~U enthalt.

• Man zerlegt nun den Operator ~G in N Teiloperatoren ~Gi, so dass

∂t~U(~r, t) = ~G1 + ~G2 + ~G3 . . .+ ~GN (3.11)

gilt. Die zeitliche Integration der Differentialgleichung (3.10) wird nun in mehreren

Teilschritten durchgefuhrt, wobei in jedem Schritt nur einer der Operatoren ~Gi denZustandsvektor ~U modifiziert. Eine Zerlegung konnte z.B. so aussehen, dass G1 dieAdvektion, G2 die Druck- und Gravitationskrafte, G3 die Warmeleitung und G4 dasKernbrennen beschreiben.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 68

• Vorteil 1: Teilschritte konnen unabhangig voneinander bearbeitet werden und ver-schiedene Losungsmethoden konnen fur die einzelnen Teilschritte verwendet werden.

• Vorteil 2: Ein modularer Programmaufbau ist moglich.

• Qualitatives Kriterium fur die Operatoren-Zerlegung: Der Zustandsvektor solltesich wahrend eines Teil–Zeitschritts nicht allzu sehr andern.

• Warnung: Operatoren–Zerlegung ist oft weder streng mathematisch begrundbar,noch gibt es eine Garantie dafur, dass die so erhaltene Zerlegung zur richtigen Losungfuhrt. Zerlegung wird oft nur aufgrund von Empirie, Erfahrung und physikalischerIntuition vorgenommen.

• Daumenregel: Keine sich gegenseitig”kompensierende“ Terme trennen, wie z.B.

Druck- und Potential-Gradienten oder Emissions- und Absorptions-Prozesse.

• Eine der wichtigsten Anwendungen der Methode der Operatoren–Zerlegung ist dieBehandlung mehrdimensionaler Probleme.

– dimension–splitting (Godunov 1959)

– directional–splitting (G. Strang, 1968 SIAM J Num Anal 5, 506)

d.h. Losung von 2D und 3D Stromungsproblemen durch mehrere sogenannteDurchlaufe (sweeps), z.B. im 2D–Fall (x,y)

– 1. Durchlauf nur Ableitungen nach x berucksichtigen

– 2. Durchlauf nur Ableitungen nach y berucksichtigen

Falls einzelne Durchlaufe von der Ordnung O [(∆t)2] genau sind, dann ist der Ge-samtalgorithmus ebenfalls von der Ordnung O [(∆t)2] genau, falls auf ein (x, y)- ein(y, x)-Zeitschritt folgt, d.h. falls die Durchlaufrichtungen von Zeitschritt zu Zeitschrittalternieren.

•”directional–splitting“ ermoglicht den Aufbau mehrdimensionaler Hydrodynamikpro-

gramme, die im Kern eine 1D Programmstruktur besitzen, und fuhrt zu einer erhebli-chen Effizienzsteigerung bei impliziten Algorithmen; z.B. 2D–Problem mit NX×NYStutzstellen

– voll implizit: (NX ×NY )3–Operationen

– gesplittet: NX × NY 3 + NX3 × NY –Operationen (u.U. aber mehrere Itera-tionen notwendig)

Falls NX = NY = 100 mussen nur 2 · 108 anstatt 1012 Operationen ausgefuhrtwerden (Rechenzeit um einen Faktor 5000 geringer).

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 69

3.4 Konservative Verfahren

• Hydrodynamische Gleichungen drucken die Erhaltung von Masse, Impuls und Energieaus.

• Die entsprechenden Differentialgleichungen konnen in verschiedenen analytischaquivalenten Formen geschrieben werden, die aber numerisch betrachtet nichtaquivalent sind.

• Die Kontinuitatsgleichung laßt sich in der Form

∂ρ

∂t+ div(ρ~v) = 0 (3.12)

oder in der Form

∂ρ

∂t+ ~vgradρ+ ρdiv~v = 0 (3.13)

schreiben. Gleichung (3.12) ist besser fur die Diskretisierung geeignet, da sie dieMassenerhaltung direkt ausdruckt.

• Allgemein gilt: Die diskretisierten Gleichungen erhalten nicht notwendigerweiseMasse, Impuls und Energie! (Beachte: Eine Impulskomponente ist physikalisch nurdann erhalten, wenn die entsprechende Ortskoordinate geradlinig ist.)

• Notwendigkeit fur konservative Differenzenverfahren

• Zur Konstruktion solcher Verfahren integriert man die hydrodynamischen Gleichun-gen uber eine endliches (raumfestes) Volumen ∆V mit der Oberflache ∂V .

Aus der Kontinuitatsgleichung folgt dann

∂t

∫∆V

ρdV +

∫∆V

divρ~v dV = 0 ,

und weiter mit dem Gauss’schen Satz

∂t

∫∆V

ρdV +

∫∂V

ρ~v · d~f = 0 , (3.14)

wobei d~f der Einheitsnormalenvektor (nach außen zeigend!) der Oberflache ∂V ist.

Analoge Ausdrucke erhalt man aus der Impuls- und Energiegleichung:

∂t

∫∆V

ρ~vdV +

∫∂V

ρ~v(~v · d~f) =

∫V

(−ρgradΦ− gradp) dV (3.15)

∂t

∫∆V

ρEdV +

∫∂V

(ρE + p)~v · d~f =

∫V

−ρ~v gradΦ dV (3.16)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 70

• Die integrale Form hat den zusatzlichen Vorteil, dass damit auch Diskontinuitaten(z.B. Stoßwellen) in der Stromung behandelbar sind.

• Ein Differenzenverfahren ist konservativ, falls fur die Dichte ξ einer Erhaltungsgroße(z.B. Masse) die Relation

N∑i=1

[∫Vc(i)

ξdV

]n+1

=N∑i=1

[∫Vc(i)

ξdV

]n+ ∆t

[∫∂Vt

~jξd~f

]n(3.17)

gilt, wobei Vt das Volumen des Rechengebiets ist, das in N Zellen mit VoluminaVc(i) (d.h. Vt =

∑Ni Vc(i)) unterteilt ist, und das eine Oberflache ∂Vt besitzt. Die

Stromdichte ~jξ ist gemaß ~jξ = ξ · ~v definiert.

Anders ausgedruckt: Die Summe der Volumenintegrale darf sich nichtandern, falls kein Fluss uber den Rand des Rechengebiets hinaus undhinein vorhanden ist.

Diese Bedingung erscheint trivial, aber sie ist nicht immer erfullt.

• Betrachten wir dazu (in kartesischen Koordinaten) die eindimensionale Kontinuitats-gleichung in nicht–konservativer Form (Gl. 3.13) fur ein inkompressibles Gas (div~v =0) und approximieren wir den Gradientenoperator durch eine zentrierte Differenz.Mit δ ≡ 0.5∆t/∆x folgt dann fur die Zonen i− 2 bis i+ 2

ρn+1i−2 − ρni−2 = −δ ( uni−2 ρni−1 − uni−2 ρni−3 )

ρn+1i−1 − ρni−1 = −δ ( uni−1 ρni − uni−1 ρni−2 )

ρn+1i − ρni = −δ ( uni ρni+1 − uni ρni−1 )

ρn+1i+1 − ρni+1 = −δ ( uni+1 ρni+2 − uni+1 ρni )

ρn+1i+2 − ρni+2 = −δ ( uni+2 ρni+3 − uni+2 ρni+1 )

Summiert man diese Differenzengleichungen uber alle Stutzstellen i = 1, . . . , N , soheben sich offensichtlich keine Terme auf der rechten Seite weg, d.h. das Verfahrenist nicht konservativ.

Geht man dagegen von der Kontinuitatsgleichung in Erhaltungsform (Gl. 3.12) ausund approximiert den Divergenzoperator durch eine zentrierte Differenz, so folgt

ρn+1i−2 − ρni−2 = −δ ( uni−1 ρni−1 − uni−3 ρni−3 )

ρn+1i−1 − ρni−1 = −δ ( uni ρni − uni−2 ρni−2 )

ρn+1i − ρni = −δ ( uni+1 ρni+1 − uni−1 ρni−1 )

ρn+1i+1 − ρni+1 = −δ ( uni+2 ρni+2 − uni ρni )

ρn+1i+2 − ρni+2 = −δ ( uni+3 ρni+3 − uni+1 ρni+1 )

Jetzt fallen bei der Aufsummation alle Terme auf der rechten Seite (bis auf jeweilszwei Terme am Rand des Rechengebiets) weg, d.h. das Verfahren ist konservativ.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 71

3.5 Stabilitat, Konsistenz und Diskretisierungsfehler

Die Stabilitat eines numerischen Verfahrens ist durch sein Fehlerfortpflanzungsver-halten bestimmt. Bei der Untersuchung der zeitlichen Entwicklung einer kleinen Storungsind folgende Falle moglich:

unbeschranktes Anwachsen → Verfahren instabilder Storung

Storung nimmt ab, falls Zeitschritt → Verfahren beschrankt stabilgewissen Bedingungen genugt

Storung nimmt ab fur → Verfahren unbeschrankt stabilbeliebige Zeitschritte

Es existieren verschiedene Verfahren zur Untersuchung der Stabilitat eines Differenzen-schemas, z.B. die von Neumann’sche Stabilitatsanalyse (Modenanalyse fur lineareAnfangsprobleme). Fur nicht–lineare Probleme laßt sich nur die Stabilitat der linearisier-ten Gleichungen bestimmen, d.h. man kann nur notwendige Stabilitatskriterien fur nicht–lineare Probleme ableiten.

Ein Differenzenverfahren muss nicht nur genau sein, sondern es muss auch konsistentzur Differentialgleichung sein, d.h. es muss

lim∆x,∆t→0

Differentialgleichung −Differenzengleichung = 0 (3.18)

gelten.

3.5.1 Diffusionsgleichung

Als Beispiel zur Veranschaulichung der Konzepte Stabilitat, Konsistenz und Diskretisie-rungsfehler betrachten wir im folgenden die eindimensionale Diffusionsgleichung

∂f

∂t= α

∂2f

∂x2(3.19)

mit dem konstanten Diffusionskoeffizienten α. Wir nehmen o.B.d.A. weiterhin an, dass ∆tund ∆x konstant sind.

• Diskretisierung nach Richardson: O[(∆t)2, (∆x)2]

fn+1k − fn−1

k

2∆t= α

fnk+1 + fnk−1 − 2fnk(∆x)2

(3.20)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 72

Daraus folgt:

fn+1k = fn−1

k + d(fnk+1 + fnk−1 − 2fnk ) mit d ≡ 2α∆t

(∆x)2> 0 . (3.21)

- ε sei Fehler der numerischen Losung, d.h.

fnum = f + ε ,

wobei f die exakte Losung sei. Da sowohl f als auch fnum der Differenzenglei-chung genugen mussen, folgt

εn+1k = εn−1

k + d (εnk+1 + εnk−1 − 2εnk) . (3.22)

d.h. exakte Losung (3.21) und Fehler ε (3.22) haben dasselbe Zeitverhalten!

- Als Ansatz fur die Fehlerverteilung auf dem Rechengitter wahlen wir eine Fou-rierreihe, deren Fundamentalmode (m = 1) eine Wellenlange λ = 2π/k gleichder zweifachen Gitterlange L hat, d.h. es gilt

ε(x, t) =M∑m=0

bm(t) eikm·x (3.23)

mit den Wellenzahlen

km =mπ

L, m = 0, 1, . . . ,M und M∆x = L .

- Da die Differenzengleichung (3.20) linear ist, gilt das Superpositionsprinzip furFehler, d.h. fur die Stabilitatsanalyse genugt die Betrachtung eines Terms derFourierreihe

εm(x, t) = bm(t) eikm·x .

Einsetzen in die Differenzengleichung (3.22) liefert

bn+1m = bn−1

m + bnm 2d (cosφm − 1)

mit dem Phasenwinkel φm ≡ km∆x.

- Die weitere Diskussion gestaltet sich leichter, wenn man eine aquivalente Ma-trixformulierung verwendet:(

bn+1m

bnm

)=

(2d(cosφm − 1) 1

1 0

)(bnmbn−1m

)(3.24)

wobei die Matrix auf der rechten Seite Fehlerfortpflanzungsmatrix heißtund ublicherweise mit Gm bezeichnet wird. Nach der Diagonalisierung dieserGleichung erhalt man:

bn+1m = λl b

nm oder bn

m = λl bn−1m , (3.25)

wobei λl die Eigenwerte der Fehlerfortpflanzungsmatrix Gm sind.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 73

- Das Differenzschema ist stabil, falls

∀ l : |λl| ≤ 1 (3.26)

gilt. Die Eigenwerte fur die Richardson–Diskretisierung ergeben sich aus demcharakteristischen Polynom

λ2 − 2d(cosφm − 1)λ− 1 = 0

zu

λ± = d(cosφm − 1)±√d2(cosφm − 1)2 + 1 , (3.27)

d.h. das Richardson–Schema ist instabil (da fur cosφm 6= 1 der Betrag desEigenwerts λ− = −|D| −

√D2 + 1 mit D ≡ d(cosφm − 1) < 0 großer 1 ist).

• Diskretisierung nach DuFort–Frankel: (3 Zeitniveaus)

fn+1k − fn−1

k

2∆t= α

fnk+1 + fnk−1 − (fn+1k + fn−1

k )

(∆x)2, (3.28)

d.h. fnk in (3.20) wurde durch den zentrierten Zeitmittelwert (fn+1k +fn−1

k )/2 ersetzt.Fur die Fehlerfortpflanzungsmatrix findet man

Gm =

(2d cosφm

1+d1−d1+d

1 0

).

Damit ergeben sich die folgenden Eigenwerte

λ± =d cosφm

1 + d±

√(d cosφm

1 + d

)2

+1− d1 + d

.

Mit Hilfe der Dreiecks–Abschatzung |a± b| ≤ |a|+ |b| folgt

|λ±| ≤∣∣∣∣d cosφm

1 + d

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣√d2 cos2 φm(1 + d)2

+1− d1 + d

∣∣∣∣∣ ,|λ±| ≤

∣∣∣∣ d

1 + d

∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣√

d2

(1 + d)2+

1− d1 + d

∣∣∣∣∣ ,|λ±| ≤

d

1 + d+

∣∣∣∣∣√d2 + 1− d2

(1 + d)2

∣∣∣∣∣

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 74

|λ±| ≤d

1 + d+

1

1 + d= 1 ,

d.h. beide Eigenwerte sind betragsmaßig kleiner gleich Eins fur alle positiven d undfur beliebige Phasenwinkel φm. Daher ist das DuFort–Frankel Differenzenschemaunbeschrankt stabil.

- Der Diskretisierungsfehler des DuFort–Frankel Schemas ist von der Ord-nung O[(∆t)2, (∆x)2, (∆t/∆x)2], d.h. damit das Schema konsistent ist, muss(∆t/∆x)2 gegen Null gehen, wenn (∆t)2 und (∆x)2 gegen Null streben.

Ist dies nicht der Fall und strebt (∆t/∆x)2 stattdessen gegen einen konstantenWert γ, ist das DuFort–Frankel Schema konsistent mit der hyperbolischenDifferentialgleichung

∂f

∂t= α

∂2f

∂x2− αγ∂

2f

∂t2+O[∆3] .

Um dies zu sehen, entwickelt man die DuFort–Frankel Differenzengleichung(3.28) in eine Taylorreihe um n und k.

- Der Gewinn an Stabilitat wurde daher auf Kosten der Konsistenz erzielt!Man muss daher aus Genauigkeitsgrunden den Zeitschritt ∆t so wahlen, dassαγ = α(∆t/∆x)2 ausreichend klein ist, d.h. trotz unbeschrankter Stabilitat desVerfahrens ist eine Zeitschrittbeschrankung erforderlich.

• Diskretisierung nach Crank–Nicholson:

- Basiert auf zeitgemittelter Ableitung anstelle zeitgemittelter Funktion

fn+1k − fnk

∆t= α

δ2xf

n+1k + δ2

xfnk

2(∆x)2(3.29)

wobei δ2xf

nk ≡ fnk−1− 2fnk + fnk+1 der zentrale Differenzenoperator (siehe 3.5) ist.

- Differenzenverfahren ist unbeschrankt stabil und konsistent und vonO[(∆t)2, (∆x)2]

- Die Differenzengleichung lautet mit β ≡ α∆t/(∆x)2:

−1

2βfn+1

k−1 + (1 + β)fn+1k − 1

2βfn+1

k+1 =1

2βfnk−1 + (1− β)fnk +

1

2βfnk+1 (3.30)

- Implizites Verfahren, da Werte zur Zeit tn+1 gekoppelt sind

→ tridiagonales Gleichungssystem fur fn+1k (k = 1, . . . , N)

→ durch zweifache Rekursion effizient losbar; erfordert nur 5N−4 Operationen,d.h. der Rechaufwand wachst linear mit der Anzahl der Stutzstellen (siehe, z.B.Potter 1973)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 75

• 4. Moglichkeit die Diffusionsgleichung zu diskretisieren

Man druckt die Zeitableitung mit Hilfe der Vorwartsdifferenzenapproximation (3.2)aus

fn+1k − fnk

∆t= α

fnk+1 − 2fnk + fnk−1

(∆x)2(3.31)

Damit folgt:

fn+1k = βfnk−1 + (1− 2β)fnk + βfnk+1 .

- Aus der von Neumann’sche Stabilitatsanalyse ergibt sich

G = 1− 2β(1− cosφ) ,

und damit als Bedingung fur die Stabilitat des Schemas: β ≤ 0.5 bzw.

∆t ≤ 1

2

(∆x)2

α.

Das Schema ist also bedingt stabil mit ∆t ≤ τdiff (∆x)/2, d.h. der Zeitschrittmuss kleiner sein als die Halfte der Diffusionszeit durch eine Gitterzone

- Sehr restriktive Bedingung an den Zeitschritt

∆x→ ∆x/2 =⇒ ∆t→ ∆t/4 =⇒ CPU→ 8 · CPU

• =⇒ In fast allen Anwendungen wird das Crank–Nicholsen Schema verwendet, umDiffusionsprobleme numerisch zu losen.

3.5.2 Advektionsgleichung

Die Advektionsgleichung ist die Kontinuitatsgleichung (2.21) fur eine vorgegebene konstan-te Geschwindigkeit v0 (o.B.d.A.: v0 > 0):

∂ρ

∂t+ v0

∂ρ

∂x= 0 (3.32)

Ersetzt man die raumliche Ableitung durch die Ruckwartsapproximation (3.3), erhalt mandie Differenzengleichung

ρn+1k+1/2 = ρnk+1/2 − β(ρnk+1/2 − ρnk−1/2) , (3.33)

wobei β ≡ v0∆t/∆x die Anzahl der Zonen ist, die die Flussigkeit pro Zeitschritt durch-stromt.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 76

• Die Stabilitatsanalyse ergibt:

G = (1− β) + β cosφ− iβ sinφ ,

d.h. das explizite Schema ist bedingt stabil, falls die CFL–Bedingung

β ≤ 1 oder ∆t ≤ ∆x

v0

(3.34)

erfullt ist, oder anders ausgedruckt, keine Information darf sich schneller als eineGitterzone pro Zeitschritt ausbreiten!.

Diese Bedingung folgt auch direkt aus den Charakteristikengleichungen (2.29), dadiese fur die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Information dx/dt ≤ |v0|+ c fordern,und damit ∆t ≤ ∆x/(|v0|+c) implizieren, was im Falle von c = 0 (keine Schallwellen)identisch mit der Bedingung (3.34) ist.

• Schreibt man (3.33) in der alternativen Form

ρn+1k+1/2 = (1− β)ρnk+1/2 + βρnk−1/2 , (3.35)

so sieht man, dass sich fur β = 1 die exakte Losung ρn+1k+1/2 = ρnk−1/2 ergibt.

Allerdings ist die obige Differenzengleichung fur β 6= 1 sehr diffusiv. Dies zeigt sich,wenn man die Differenzengleichung um (k+1/2) und n in eine Tayloreihe entwickelt.Daraus folgt

∂ρ

∂t+ v0

∂ρ

∂x=v0∆x

2

∂2ρ

∂x2− ∆t

2

∂2ρ

∂t2+O

[(∆x)2

],

d.h. die Differenzengleichung ist konsistent mit der ursprunglichen Differentialglei-chung, aber stark (∝ ∆x) diffusiv.

3.5.3 Allgemeine Tatsachen

• Differenzengleichungen enthalten Terme, die nicht in der Differentialgleichung ent-halten sind. Die Konsequenzen, die daraus resultieren, lassen sich durch Taylorent-wicklungen und Stabilitatsanalyse untersuchen.

→ falls der fuhrende Fehlerterm vom Typ ∂2/∂x2 ist, spricht man von numerischerDiffusion (siehe Abb. 3.3).

→ falls der fuhrende Fehlerterm vom Typ ∂3/∂x3 ist, spricht man von numerischerDispersion (siehe Abb. 3.4).

ACHTUNG: Im Allgemeinen sind beide Fehler am Werk!

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 77

numerische Losung

analytische Losung

Abbildung 3.3:

numerische Losung

analytische Losung

Abbildung 3.4:

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 78

3.6 Exakte Riemannloser: Verfahren von Godunov

In diesem Kapitel werden Differenzenverfahren zur Integration der hydrodynamischen Glei-chungen erlautert, bei denen zur Berechnung der Flusse (durch die Zellrander) an jedemZonenrand ein lokales Riemannproblem exakt gelost werden muss.

Diese Vorgehensweise wurde von Godunov (1959) vorgeschlagen. Sein inzwischen alsGodunov–Verfahren bezeichnetes Differenzenverfahren, ist aber raumlich nur von ersterOrdnung genau. Riemannloser–Verfahren hoherer Ordnung wurden spater von van Leer(1979), Collela & Woodward (1985) und Marquina (1994) entwickelt. Bevor wir das Verfah-ren von Godunov genauer diskutieren, sollen einige seiner Eigenschaften genannt werden.

• Es ist ein”upwind“ bzw.

”upstream“ Verfahren. Solche Verfahren verwenden

einseitige Differenzenapproximationen, wobei die Richtung nicht global festgelegt ist,sondern von der lokalen Stromung abhangt.

Fur ein inkompressibles Gas lautet die einfachste”upwind“–Diskretisierung der 1D

Kontinuitatsgleichung in nicht-konservativer Form (Gl. 3.13):

ρn+1i − ρni = −∆t

∆xuni

ρi − ρi−1; ui > 0ρi+1 − ρi; ui < 0

. (3.36)

Diese Form der Diskretisierung, die man als”Donor Cell“ Diskretisierung bezeich-

net, garantiert, dass das Abhangigkeitsgebiet der hyperbolischen Kontinuitatsglei-chung korrekt berucksichtigt wird und insbesondere keine Storung in eine Uberschall-stromung hineinpropagieren kann (was unphysikalisch ware).

• Das Verfahren ist konservativ und monoton. Letzteres bedeutet, dass eine An-fangsverteilung so advektiert wird, dass keine neuen, numerisch bedingten Extremaauftreten.

• Das Verfahren ist stark diffusiv. Dieser Nachteil ist bei modernen Godunov-Verfahren hoherer Ordnung behoben.

• Es handelt sich um ein”shock-capturing“ Verfahren, d.h. Diskontinuitaten in der

Stromung mussen nicht mit speziellen Techniken behandelt werden, sondern werdendurch das Differenzenverfahren automatisch und ohne gitterabhangige Parameter(wie z.B. bei Verfahren die eine kunstliche Viskositat verwenden) korrekt beschrieben.

Wir betrachten ein allgemeines Anfangswertproblem fur ein nicht-lineares System hy-perbolischer partieller Differentialgleichungen (PDE) in einer Raumdimension:

PDEs: Ut + F(U)x = 0

Anfangswerte U(x, 0) = U0(x)

Randwerte: U(0, t) = Ul(t) , U(L, t) = Ur(t)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 79

Hierbei sind U(x, t) ein Vektor von Erhaltungsgroßen, F(U) der Flussvektor, U(0)(x)die Anfangsdaten zur Zeit t = 0 und [0, L] das Raumgebiet. Ul(t) und Ur(t) sind diezeitabhangigen linken und rechten Randbedingungen.

Da auch nicht–stetige Losungen auftreten konnen, muss man die integrale Form derErhaltungsgleichungen∫ x2

x1

U(x, t2)dx =

∫ x2

x1

U(x, t1)dx+

∫ t2

t1

F [U(x1, t)] dt−∫ t2

t1

F [U(x2, t)] dt (3.37)

verwenden. Hierbei ist [x1, x2] × [t1, t2] ein beliebiges Kontrollvolumen im betrachtetenRaumzeitgebiet.

Man diskretisiert das Raumgebiet [0, L] in M Zellen Ii = [xi−1/2, xi+1/2], die von aqui-distanter Große ∆x = xi+1/2 − xi−1/2 = L/M , i = 1, . . . ,M sein sollen. Fur eine gegebeneZelle Ii sind die Koordinaten des Zellzentrums xi und der beiden Zellrander xi−1/2, xi+1/2

durch

xi−1/2 = (i− 1)∆x , xi = (i− 1

2)∆x , xi+1/2 = i∆x (3.38)

gegeben. Die Diskretisierung des Zeitintervalls [0, T ] erfolgt durch variable Zeitschritte ∆t,deren Große sich aus der CFL-Bedingung oder aus der gewunschten Genauigkeit bestimmt.

Das Verfahren von Godunov besteht aus vier Teilschritten:

(1) Zu einem Zeitpunkt t = tn seien die Anfangsdaten U(x, tn) gegeben. Um derenEntwicklung bis zu dem Zeitpunkt tn+1 = tn + ∆t zu bestimmen, werden zunachstZonenmittelwerte

Uni ≡

1

∆x

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn)dx (3.39)

berechnet. Mit Hilfe der Zonenmittelwerte definiert man eine stuckweise konstanteVerteilung U(x, tn) gemaß

U(x, tn) = Uni x ∈ Ii = [xi−1/2, xi+1/2] , i = 1, . . . ,M ,

die die Anfangsdaten U(x, tn) bis auf erste Ordnung genau approximiert.

Die zu integrierenden Daten setzen sich nun aus einer Menge Uni konstanter

Zustande zusammen, die in Form von Erhaltungsgroßen gegeben sind. Fur die Losungdes Riemannproblms ist es aber i.A. notwendig, die Erhaltungsgroßen durch die pri-mitiven Variablen ρ, u und p auszudrucken (siehe 2.31).

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 80

xi−1 xi−1_ 2

xi xi+1_ 2

xi+3_ 2

xi+2

tn

tn+1

Vni−1 Vn

i+2

rarefaction shock contact discontinuity

x

xi+1

Vni+1 Vn

i

Vn

xi−1 xi xi+2 xi+1

Abbildung 3.5: Illustration des Godunov–Verfahren

(2) Man sucht nun als nachstes die Losung des ursprunglichen Anfangs-Randwertproblems fur die modifizierten Anfangsdaten Un

i . Dazu muss an jedemZonenrand xi+1/2 die Losung eines lokalen Riemannproblems RP (Un

i ,Uni+1) berech-

net werden (siehe Abb. 3.5), die nur von den Zonenmittelwerten Uni (links) und

Uni+1 (rechts) abhangt. Außerdem ist die Losung selbstahnlich und hangt von der

Koordinatenkombination (x/t) ab.

Wir werden die Losung im folgenden mit Ui+1/2(x/t) bezeichnen, wobei (x, t) lokaleKoordinaten sind, die gemaß

x = x− xi+1/2 , t = t− tn

x ∈ [xi, xi+1] , t ∈ [tn, tn+1]

x ∈ [−∆x2, ∆x

2] , t ∈ [0,∆t]

(3.40)

durch die globalen Koordinaten (x, t) gegeben sind. Offensichtlich gilt x = 0 fallsx = xi+1/2 und t = 0 falls t = tn.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 81

(3) Falls ∆t hinreichend klein ist, d.h. falls keine Wechselwirkung zwischen benachbarten

Riemannproblemen stattfindet, ist die globale Losung U(x, t) im Gebiet x ∈ [0, L] ∧t ∈ [tn, tn+1] durch

U(x, t) = Ui+1/2(x/t) , x ∈ [xi, xi+1] (3.41)

gegeben.

(4) Die Losung zur Zeit tn+1 = tn + ∆t erhalt man, in dem man einen neuen Satz vonZellmittelwerten Un+1

i definiert. Dazu gibt es zwei Moglichkeiten.

In der ersten Varianten des Godunov–Verfahrens definiert man die neuen Zellmit-telwerte mit Hilfe der Integrale

Un+1i =

1

∆x

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn+1)dx (3.42)

fur jede Zone Ii. Diese Mittelung ist allerdings nur sinvoll durchfuhrbar, wenn inner-halb der Zone Ii keine Wellen im Zeitraum ∆t miteinander wechselwirken. Darausergibt sich die folgende (CFL) Bedingung an die Große des Zeitschritts:

∆t ≤ 1

2

∆x

Snmax

, (3.43)

wobei Snmax die maximale Wellengeschwindigkeit im Rechengebiet zur Zeit tn ist.

Infolge der Zeitschrittbedingung (3.43) beeinflussen nur zwei Riemannlosungen dieZone Ii, namlich die nach rechts popagierenden Wellen von Ui−1/2(x/t) und die nachlinks propagierenden Wellen von Ui+1/2(x/t). Daher folgt aus (3.42) unter Verwen-dung von (3.41)

Un+1i =

1

∆x

∫ 12

∆x

0

Ui−1/2

( x

∆t

)dx+

1

∆x

∫ 0

− 12

∆x

Ui+1/2

( x

∆t

)dx . (3.44)

Diese erste Variante des Godunov–Verfahrens hat zwei Nachteile: (i) eine etwas re-striktivere CFL–Bedingung und (ii) die Berechnung der Integrale in (3.44) ist unterUmstanden aufwandig

Die zweite Variante des Godunov–Verfahrens ist numerisch attraktiver und kannin der konservativen Formulierung

Un+1i = Un

i +∆t

∆x

(Fxi−1/2

− Fi+1/2

)(3.45)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 82

geschrieben werden, wobei der numerische Fluss am Zellenrand durch

Fi+1/2 = F[Ui+1/2(0)

](3.46)

gegeben ist, falls der Zeitschritt die Bedingung

∆t ≤ ∆x

Snmax

(3.47)

erfullt.

Beweis:

Der Integrand U(x, tn+1) in (3.42) ist eine exakte Losung der Erhaltungsgleichungen(siehe 3.41). Daher kann man die integrale Form der Erhaltungsgleichung (3.37) mitdem Kontrollvolumen [xi−1/2, xi+1/2]× [tn, tn+1] anwenden. Es folgt

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn+1)dx =

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn)dx

+

∫ ∆t

0

F[U(xi−1/2, t)

]dt−

∫ ∆t

0

F[U(xi+1/2, t)

]dt (3.48)

mit

U(xi−1/2, t) =Ui−1/2(0) = const (3.49)

U(xi+1/2, t) =Ui+1/2(0) = const (3.50)

fur ∆t ≤ ∆x/Snmax, wobei Ui−1/2(0) die Losung von RP (Uni−1,U

ni ) und Ui+1/2(0) die

Losung von RP (Uni ,U

ni+1) entlang x/t = 0 ist. Division durch ∆x ergibt

1

∆x

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn+1)dx =1

∆x

∫ xi+1/2

xi−1/2

U(x, tn)dx

+∆t

∆x

[F(Ui−1/2(0))− F(Ui+1/2(0))

](3.51)

und mit (3.42) folgt daraus die Behauptung (3.45).

Diese zweite Variante des Godunov–Verfahrens bedingt eine weniger restriktive CFL–Bedingung, die auch gilt, wenn Wellen innerhalb von ∆t in der Zelle Ii miteinanderwechselwirken, vorausgesetzt dass daraus keine Wellenbeschleunigung resultiert (Li-nearitatsannahme).

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 83

Bei der Berechnung des Zeitschritts gemaß der notwendigen Bedingung (3.47) geht manwie folgt vor:

• ublich: Snmax = Maxi |uni |+ an

i , wobei uni die Stromungsgeschwindigkeit und anidie Schallgeschwindigkeit sind.

Diese Form kann zur Unterschatzung von Snmax fuhren, z.B. bei einem stationarenAnfangszustand (uni = 0), da dann nur ani in Snmax eingeht und daher u.U. ein zugroßer Anfangszeitschritt gewahlt wird.

• verlasslich: Snmax = Maxi

|SL

i+1/2|, |SRi+1/2|

, wobei |SLi+1/2| und |SRi+1/2| die be-

kannten Wellengeschwindigkeiten der nichtlinearen Wellen (Stoße, Verdunnungwel-len) des Riemannproblems sind.

• Ublicherweise verwendet man einen zusatzlichen Sicherheitsfaktor gemaß

∆t = CCFL∆x

Snmax

(3.52)

mit 0 < CCFL ≤ 1, wobei in der Praxis Werte von CCFL = 0.2 . . . 0.8 ublich sind.

3.7 Approximative Riemannloser: Verfahren von Roe

Exakte Riemannloser erfordern die Kenntnis der vollen spektralen Dekomposition (Ei-genwerte, recht und linke Eigenvektoren) des zu losenden hyperbolischen Differentialglei-chungssystems. Ist diese analytische Information nicht vorhanden oder ist die Losung desexakten Riemann–Problems zu aufwandig (z.B. im Falle von relativistischen Stromungen,wo anstelle einer algebraischen Gleichung eine gewohnliche Differentialgleichung zu losenist), kann man approximative Riemannloser verwenden. Der von P. Roe vorgeschlageneLosungsweg basiert auf der lokalen Linearisierung des Problems.

Dazu betrachten wir nochmals das Anfangswertproblem (3.6) fur den ZustandsvektorU. Mit Hilfe der Jacobi-Matrix A ≡ ∂F/∂U des Flussvektors F(U) schreiben wir dieDifferentialgleichung in quasilinearer Form (siehe Kap. 2.1 und 2.3)

Ut + A(U)Ux = 0 . (3.53)

Ersetzt man die Jacobi-Matrix A(U) durch die konstante Jacobi-Matrix A(UL,UR),so erhalt man ein lineares System mit konstanten Koeffizienten:

Ut + AUx = 0 , (3.54)

d.h. man hat das ursprungliche Riemann-Problem (3.53) durch ein lineares Problem (3.54)ersetzt, das dann exakt gelost wird.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 84

Die Matrix A muss folgende Eigenschaften besitzen:

(a) A hat reelle Eigenwerte und einen kompletten Satz von linear unabhangigen rechtenEigenvektoren (Hyperbolizitat)

(b) A ist konsistent zur ursprunglichen Jacobi–Matrix, d.h. A(U,U) = A(U)

(c) Es gelten die Erhaltungsatze F(UR)− F(UL) = A(UR −UL)

Die Wellenstarken αi = αi(UL,UR) ergeben sich aus der Projektion der Zustandsdifferenz∆U = UR −UL auf die rechten Eigenvektoren

∆U =m∑i=1

αiR(i) (3.55)

und die numerischen Flusse gemaß

F1+1/2(Roe) =1

2(FL + FR)− 1

2

m∑i=1

αi|λi|R(i) . (3.56)

Demnach benotigt man fur den approximativen Roe–Loser:

• Eine Matrix A mit den Eigenschaften (a) - (c),

• Wellenstarken αi,

• die Eigenwerte λi der Matrix A,

• die rechten Eigenvektoren R(i) der Matrix A,

aber nicht explizit die Jacobi–Matrix A(UL,UR).Um einen Eindruck von der Qualitat exakter und approximativer Riemannloser zu

bekommen, betrachten wir vier Stoßrohr-Probleme (siehe Tabelle 3.1 und Abbildungen 3.6bis 3.9, sowie die MPEG–Filme auf der Web–Seite), die bis auf Problem 4 dem Buch vonToro (Kap. 6.4) entnommen sind.

Tabelle 3.1: Anfangsdaten fur Stoßrohr-Testprobleme

Test ρL uL pL ρR uR pR

1 1.0 0.75 1.0 0.125 0.0 0.12 1.0 -2.0 0.4 1.0 2.0 0.43 1.0 0.0 1000.0 1.0 0.0 0.014 5.99924 19.5975 460.894 5.99242 -6.19633 46.0950

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 85

Abbildung 3.6: Die Losung des Testproblems 1 besteht aus einer nach rechts propagierendenStoßwelle gefolgt von einer ebenfalls nach rechts propagierenden Kontaktunstetigkeit, sowieeiner nach links laufenden sonischen Verdunnungswelle. (V← T→ S→)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 86

Abbildung 3.7: Die Losung des Testproblems 2 besteht aus zwei symmetrischenVerdunnungswellen, die in entgegengesetzte Richtung propagieren und annahernd ein Va-kuumgebiet erzeugen, sowie aus einer stationaren Kontaktunstetigkeit (V← T V→)

.

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 87

Abbildung 3.8: Die Losung des Testproblems 3 besteht aus einem nach rechts propagie-renden starken Stoß und einer in dieselbe Richtung propagierenden Kontaktunstetigkeit,sowie aus einer nach links laufenden Verdunnungswelle (V← T→ S→)

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KAPITEL 3. DISKRETISIERUNGSVERFAHREN 88

Abbildung 3.9: Die Losung des Testproblems 4 besteht drei starken Diskontinuitaten (Stoß,Kontaktunstetigkeit, Stoß), die alle nach rechts propagieren (S→ T→ S→)

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Kapitel 4

Anwendungen aus der Astrophysik

4.1 Stromungsinstabilitaten in Supernovahullen

4.1.1 Rayleigh–Taylor Instabilitat

Eine Rayleigh–Taylor Instabilitat tritt dann auf, wenn auf zwei aneinander grenzende,unterschiedlich dichte Flussigkeiten (oder auch auf eine Flussigkeit mit Dichtegradient) eineKraft wirkt (z.B. Schwerkraft oder eine Beschleunigung), die von der dichteren Flussigkeitin Richtung auf die spezifisch leichtere Flussigkeit weist (siehe Chandrasekhar (1961), Seite428ff). In der Astrophysik findet man Rayleigh–Taylor Instabilitaten in einer Vielzahl vonSituationen, unter anderem in Supernovaexplosionen infolge der Propagation der Stoßwelledurch die Sternhulle.

Abbildung 4.1:

Als einfachsten Fall betrachten wir zwei ruhende, homogene, inkompressible Flussigkei-ten der Dichten ρ1 und ρ2, die durch eine ebene Grenzflache (z = 0) voneinander getrenntsind, und die eine Beschleunigung g erfahren, die in negative z–Richtung weist (Abb. 4.1

89

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 90

Abbildung 4.2: Computersimulation einer Rayleigh–Taylor Instabilitat. Zwei homogeneFlussigkeiten konstanter Dichte ρ1 (hellbraun) und ρ2 = 2ρ1 (dunkelbraun) sind anfang-lich durch eine horizontale Grenzflache (weisse Linie) voneinander getrennt und erfahrenbeide eine konstante Beschleunigung g, die senkrecht nach unten gerichtet ist. Diese An-ordnung der Flussigkeiten ist Rayleigh-Taylor instabil. Stort man die Anordnung durch einvertikal konstantes und horizontal sinusformiges Geschwindigkeitsfeld von kleiner Ampli-tude, dann ergibt eine hydrodynamische Simulation die gezeigte Entwicklung. Die dichteFlussigkeit (dunkelbraun) dringt in das Gebiet der weniger dichten Flussigkeit (hellbraun)ein und umgekehrt. Die pilzformigen Kopfe an den Enden der eindringenden “Finger

”,

sowie die wirbelformigen Strukturen an ihren Randern werden durch Kelvin–HelmholtzInstabilitaten verursacht. Diese treten immer auf, wenn eine Scherstromung vorliegt, undbewirken ein

”Aufrollen“ der Scherschicht.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 91

Abbildung 4.3:

und 4.2). Wir nehmen nun an, dass die Grenzflache leicht gestort wird und betrachten diezeitliche Entwicklung der Storung mit Hilfe einer linearen Stabilitatsanalyse nach Fourier-moden. Dazu suchen wir Losungen der Form

ξ ∝ exp(ikxx+ ikyy + nt) , (4.1)

wobei kx, ky und n Konstanten sind. Setzt man diesen Storungsansatz in die hydrodynami-schen Gleichungen ein und vernachlassigt alle Terme, die nichtlinear in der Storung sind,erhalt man die folgende Dispersionsrelation:

τ−2RT = n2 = gk

ρ2 − ρ1

ρ2 + ρ1

. (4.2)

Hierbei ist τRT ≡ n−1 die Anwachszeitskala und k = (k2x + k2

y)1/2 der Absolutwert des Wel-

lenvektors der Storung. Demnach ist die Anordnung der Flussigkeiten stabil, fallsρ2 < ρ1, d.h. wenn sich die leichtere Flussigkeit oberhalb der schwereren Flussigkeit be-findet, da dann n2 < 0 ist. Im Falle ρ2 > ρ1 ist die Anordnung der Flussigkeiten instabil.Gemaß der Dispersionsrelation wachsen kurzwellige Storungen am schnellsten (exponenti-ell) an.

Die Rayleigh–Taylor Instabilitat kann man in Fallturmexperimenten untersuchen(Abb.4.3). Man verwendet dazu einen Behalter mit zwei ubereinander geschichtetenFlussigkeiten unterschiedlicher Dichte in einem Schwerefeld. Die leichtere Flussigkeit ρ2

befindet sich dabei oberhalb der schwereren Flussigkeit ρ1 > ρ2, d.h. die Anordnung istRayleigh–Taylor stabil. Nun beschleunigt man den Behalter nach unten, und zwar miteiner Kraft Fb, die großer als die Schwerkraft Fg ist. Die Flussigkeiten spuren infolge derBeschleunigung eine nach oben gerichtete Tragheitskraft −Fb. Die Nettokraft auf die An-ordnung ist −Fb + Fg0. Sie ist wegen |Fb| > |Fg| nach oben gerichtet und macht dieSchichtung instabil.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 92

Abbildung 4.4:

4.1.2 Kelvin–Helmholtz Instabilitat

Eine Kelvin–Helmholtz Instabilitat tritt dann auf, wenn zwischen zwei aneinandergrenzenden Flussigkeiten (oder auch innerhalb einer Flussigkeit) ein Scherstromung (d.h.ein Geschwindigkeitsgradient senkrecht zur Richtung der Stromung) vorhanden ist (sie-he Chandrasekhar (1961), Seite 481ff). In der Astrophysik findet man Kelvin–HelmholtzInstabilitaten in einer Vielzahl von Situationen, unter anderem in Jets. Sie treten auch im-mer als Folge von Rayleigh–Taylor Instabilitaten auf, wenn sich die auf- und absteigendenBlasen oder Finger relativ zur Umgebung bewegen (Abb. 4.2).

Als einfachsten Fall betrachten wir zwei homogene, inkompressible Flussigkeiten derDichten ρ1 und ρ2 < ρ1, die durch eine ebene Grenzflache (z = 0) voneinander getrenntsind, und die sich parallel zu der Grenzflache in x–Richtung mit konstanten Geschwin-digkeiten u1 und u2 bewegen (~v = u~ex. Die beiden Flussigkeiten erfahren außerdem eineBeschleunigung g, die in negative z–Richtung weist (siehe Chandrasekhar, 1961, Seite 481ff;Abb. 4.4). Wir nehmen nun an, dass die Grenzflache leicht gestort wird und betrachten diezeitliche Entwicklung der Storung mit Hilfe einer linearen Stabilitatsanalyse nach Fourier-moden ganz analog wie im Fall der Rayleigh–Taylor Instabilitat. Setzt man den Storungs-ansatz (4.1) in die hydrodynamischen Gleichungen ein und vernachlassigt alle Terme, dienichtlinear in der Storung sind, erhalt man die folgende Dispersionsrelation:

τ−1KH = n = −ikx(α1u1 + α2u2)±

[gk(α2 − α1) + k2

xα1α2(u1 − u2)2]1/2

, (4.3)

wobei

α1 =ρ1

ρ1 + ρ2

, α2 =ρ2

ρ1 + ρ2

(α2 < α1)

und τ die Anwachszeitskala und k = (k2x + k2

y)1/2 der Absolutwert des Wellenvektors der

Storung.

• Im Falle kx = 0 gilt:

n = ±√gk(α2 − α1)

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 93

oder

n2 = gkρ2 − ρ1

ρ1 + ρ2

d.h. das Auftreten von Instabilitaten (RT) transversal zur Stromungsrichtung bleibtunbeeinflusst von der Scherstromung.

• Im Falle kx 6= 0 ist die Stromung instabil, falls

gk(α2 − α1) + k2xα1α2(u1 − u2)2 > 0 ,

bzw. falls

k > − g(α2 − α1)

α1α2(u1 − u2)2cos2θ

wobei θ der Winkel zwischen dem Wellenvektor der Storung ~k und der x–Richtung(d.h. der Stromungsrichtung) ist. Falls weiterhin ky = 0 (oder allgemein, falls ~k||~v)und damit θ = 0, folgt

k > kmin ≡g(α1 − α2)

α1α2(u1 − u2)2.

4.1.3 Instabilitaten in Supernovahullen

Einige Fakten zu Supernovae allgemein:

• Supernovae (= Sternexplosionen) gehoren zu den energiereichsten Phanomenen imUniversum. Sie entfesseln so viel Energie, wie die Sonne in zehn Milliarden Jahrenerzeugt. Dabei erreichen sie fur mehrere Wochen die Helligkeit einer ganzen Gala-xie (Lmax ≈ 1043 erg/s). Der weitaus großere Teil der Energie, rund 1051 erg, wirdaber nicht als elektromagnetische Strahlung abgegeben, sondern steckt in der kine-tischen Energie des stellaren Gases, das mit bis zu 0.1 c in den interstellaren Raumgeschleudert wird. Radioaktive Elemente, die bei der Explosion entstehen, heizendurch ihren Zerfall die expandierende Gaswolke und lassen ihre Helligkeit uber vieleJahre exponentiell abklingen.

Wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert, sind selbst diese Energie-mengen winzig im Vergleich zu der Energie, die in Form von Neutrinos abgestrahltwird: Einige 1053 erg oder das Aquivalent von ∼ 0.1M werden freigesetzt, wenn derstellare Kern zu einem Neutronenstern oder Schwarzen Loch kollabiert.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 94

• Die Suche nach Supernovae wird heute systematisch durch automatische Tele-skope betrieben. Jedes Jahr gelingt es so, weit uber 100 Ereignisse in fernen Galaxi-en aufzuspuren. In unserer Milchstraße ereignen sich Supernovae recht selten, nachSchatzungen nur wenige pro Jahrhundert. Rund 200 diffuse oder spharische Gasne-bel zeugen jedoch von vergangener Aktivitat. Der wahrscheinlich bekannteste ist derKrebsnebel, der Uberrest einer Supernova, die im Jahr 1054 als

”Gaststern“ von chi-

nesischen, japanischen, koreanischen und arabischen Astronomen beobachtet wurde.Die letzte mit freiem Auge sichtbare Supernova in unserer Galaxie war die Keplerscheim Jahr 1604. Ein noch jungerer Supernovauberrest ist Cassiopeia A (Abb.4.5), dermit einer Sternexplosion um das Jahr 1680 in Verbindung gebracht wird.

Seit ihrer Entstehung vor etwa 12 Milliarden Jahren haben viele 100 Millionen Super-novae das Gas der Milchstraße unter anderem mit Fe, Si, O, C und Ca angereichertund damit die Entstehung von Planeten und des Lebens auf der Erde erst ermoglicht.Die durch den interstellaren Raum pflugenden Explosionswellen haben das Gas ver-dichtet und die Geburt neuer Sterne eingeleitet. Supernovae spielen deshalb einezentrale Rolle im kosmischen Kreislauf der Materie und beim Werden undVergehen von Sternen.

Supernovae sind auch die wichtigste Quelle der hochenergetischen kosmischenStrahlung, von der die Erde getroffen wird, und beeinflussen mit ihrer riesigen Ener-giefreisetzung die Entwicklung der Galaxien. Durch ihre enorme Helligkeit konnen sieselbst am Rand des sichtbaren Universums beobachtet werden.

• Jungste Beobachtungen belegen einen Zusammenhang zwischen den kosmischenGammablitzen und gewissen Supernovaexplosionen (Typ Ic). Astrophysiker habendaher ein starkes Interesse zu klaren, welche Sterne als Supernovae explodieren, wel-che Vorgange zur Explosion fuhren und welche Prozesse die beobachtbaren Eigen-schaften der Explosion bestimmen.

• Empirisch unterscheidet man traditionell Supernovae vom Typ I und II. Bei ersterenfehlen Balmerlinien des Wasserstoffs im Spektrum, wahrend bei letzteren stark dopp-lerverbreiterte Emissions- und Absorptionslinien von Wasserstoff gemessen werden,die auf hohe Expansionsgeschwindigkeiten der Sternmaterie hindeuten. Desweiterenunterteilt man Supernovae vom Typ I in die Untertypen Ia, Ib und Ic abhangig vomAuftreten oder Fehlen von Spektrallinien von Silizium bzw. von Helium wahrend desHelligkeitsmaximums (Abb. 4.6).

• Theoretisch sind nur zwei mogliche Energiequellen fur eine Supernovaexplosion be-kannt: Thermonukleare Energie und Gravitationsbindungsenergie (Abb. 4.6).

– Supernovae vom Typ Ia zeigen im Spektrum Si-Linien, aber keine H-Linien,und die Form ihrer Lichtkurve und ihre maximale Helligkeit ist erstaunlich ahn-lich. Sie eignen sich daher als extrem helle

”Standardkerzen“ zur Vermessung

von kosmischen Entfernungen. Man erklart sie als thermonukleare Explosionen

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 95

Abbildung 4.5:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 96

thermonukleare Explosion

Gravitations−kollaps

keine H−Balmerlinien H−Balmerlinien

SN I a − / −

He kein He

SN I b SN Ic SN II

Siliziumlinien

keine Siliziumlinien

Abbildung 4.6: Klassifikationsschema von Supernovae mit empirischer und theoretischerUnterteilung.

Abbildung 4.7:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 97

von Weißen Zwergen, die aus Helium oder Kohlenstoff und Sauerstoff bestehen.Der Weiße Zwerg wird bei der Explosion vollstandig zerstort und es bleibt nurein diffuser Gasnebel als Uberrest (siehe auch Kpa. 4.2).

– Typ II, Typ Ib und Typ Ic Supernovae sind das Endprodukt massereicherSterne (M ∼> 10M) und beziehen ihre Explosionsenergie aus der gravitativenBindungsenergie des kollabierenden stellaren Eisenkerns. Solche Sterne durch-laufen die komplette Abfolge moglicher nuklearer Brennphasen, in deren Verlaufim Zentrum immer schwerere chemische Elemente bis hin zu Eisen aufgebautwerden. Am Ende ihrer Entwicklung besitzen diese Sterne eine

”Zwiebelscha-

lenstruktur“, bei der ein stellarer Eisenkern von Schichten umgeben ist, dievorwiegend aus Silizium, Sauerstoff, Kohlenstoff, Helium und Wasserstoff beste-hen (Abb.4.7). Wenn die Masse des stellaren Eisenkerns schießlich zu groß wird,kommt es zum Gravitationskollaps, wodurch die Explosion des Sterns ausgelostwird.

Besitzt der Stern zum Zeitpunkt der Explosion noch seine Wasserstoffhulle, er-scheinen in den Supernovaspektren Balmerlinien (Typ II). Hat er dagegen seineHulle in vorangegangenen Entwicklungsphasen durch Sternwind abgeblasen, feh-len diese Linien (Typ Ib). Wurde uber Sternwinde oder durch Gasaustausch miteinem Begleitstern auch die Heliumschale abgestreift, sind Heliumlinien in denSpektren ebenfalls nicht vorhanden (Typ Ic). Im Zentrum des expandierendenExplosionsnebels bleibt – im Gegensatz zu Typ Ia Supernovae – eine kompakterUberrest zuruck, in der Regel ein Neutronenstern. Wenn jedoch der explodieren-de Stern eine anfangliche Masse von mehr als dem 25-fachen der Sonnenmassehatte, entsteht wahrscheinlich ein Schwarzes Loch.

Rayleigh–Taylor–Instabilitaten in Gravitationskollapssupernovae:

• Supernova 1987A: Es war ein historischer Glucksfall fur die Astronomen, als am23. Februar 1987 eine Supernova in der Großen Magellanschen Wolke, einer Satelli-tengalaxie der Milchstraße, in nur 170.000 Lichtjahren Entfernung explodierte. Mitden Methoden der modernen astronomischen Beobachtung war es moglich, eine bei-spiellose Fulle von Daten in allen Wellenlangenbereichen des elektromagnetischenSpektrums uber die gesamte Entwicklung der Explosion bis heute zu sammeln.

• Hinweise auf Mischvorgange in der Supernova 1987A: Rontgen- und Gamma-strahlung aus radioaktiven Zerfallen wurde schon nach drei Monaten und nicht wievorher vermutet erst nach Jahren beobachtet (Abb.4.8). Dies lasst sich nur verstehen,wenn die Zwiebelschalenstruktur des Vorlaufersterns durch nichtradiale Instabilitatenzerstort wird und großskalige Mischprozesse radioaktive Nuklide aus Regionen nahedem Neutronenstern, wo sie synthetisert werden, bis in die Wasserstoffhulle transpor-tieren, wo die beim radioaktiven Zerfall entstehende Rontgen- und Gammastrahlungaus dem Stern entweichen kann (Abb.4.9). Waren namlich die radioaktive Nuklidenicht nach außen gemischt worden, so hatte die Rontgen- und Gammastrahlung erst

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 98

0 100 200 300 400 500Tage seit der Explosion

Log

Leu

chtk

raft

[erg

/s]

42

41

40

39

38

GRAD

SMM

LM

CIT

Ging

a: k

ein

Sign

al

Ging

a: E

ntde

ckun

g

37

Supernova 1987A

bolometrische Lichtkurve

40%20%

10%

Mischgebiet

des

Stern−

radius]

Abbildung 4.8:

nach Jahren entweichen konnen, wenn die Sternhulle infolge der durch die Explosionbewirkten Expansion genugend verdunnt worden ware. Andere Beobachtungsergeb-nisse lassen sich nur verstehen, wenn umgekehrt Helium und Wasserstoff tief insInnere des explodierenden Sterns verfrachtet werden. Die hydrodynamischen Insta-bilitaten, die das Mischen bewirken, fuhren auch zu starken Inhomogenitaten in derExplosionswolke. Dopplereffekte in den Spektren zeigen, daß Nickelklumpen mit biszu mehreren tausend Kilometern pro Sekunde expandieren. Diese Geschwindigkeitensind typisch fur die Wasserstoffhulle des Sterns und damit viel hoher als in spharischsymmetrischen Modellen fur Nickel vorhergesagt.

• Hinweise auf Mischvorgange in anderen Supernovae: Die anisotrope und ge-klumpte Verteilung der chemischen Elemente in der Explosionswolke scheint ein ge-nerisches Phanomen, fur das es mittlerweile Evidenzen aus Lichtkurven und Spek-tren einer ganzen Reihe von Supernovae gibt. Auch Rontgenaufnahmen der diffusen,gasformigen Uberreste von Supernovae zeigen derartige Inhomogenitaten. Besonders

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 99

Abbildung 4.9:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 100

Abbildung 4.10:

eindrucksvoll sind die schnell fliegenden, dichten Fragmente auf Aufnahmen des Ve-la Uberrests durch den Rontgensatelliten ROSAT, die den durch das zirkumstellareMedium jagenden Supernovastoß bereits uberholt haben und durch ihre uberschall-schnelle Bewegung Machkegel ausformen (Abb.4.10). Die Rekonstruktion ihrer Be-wegungsrichtungen deutet auf einen gemeinsamen Ursprungsort nahe dem Zentrumdes Supernovauberrests, so daß ihre Entstehung bereits zu Beginn der Sternexplosionvermutet wird. Aufnahmen des Cassiopeia A Uberrests durch das CHANDRA Ront-genobservatorium der NASA offenbaren raumlich getrennte Filamente, die dominanteAnteile von Eisen, Kalzium, Silizium oder Schwefel enthalten (Abb.4.5). Die eisen-reichen Strukturen scheinen am außeren Rand des Uberrests zu liegen, was bedeutenkonnte, daß das Material, das in der Explosion am weitesten innen entstand, spatermit den hochsten Geschwindigkeiten expandierte. Ein solches Ergebnis steht im Wi-derspruch zu spharisch symmetrischen Modellen, die das genaue Gegenteil erwartenlassen.

• Stoßpropagation: Wenn der Supernovastoß durch den Stern nach außen rast, be-schleunigt er in Schichten mit einem Dichtegradienten steiler als r−3 und wird abge-bremst, wenn er Zonen mit flacherer Dichteschichtung durchlauft. Dadurch kommtes nach dem Stoßdurchgang zum Aufbau von lokalen Dichtemaxima in der Nahe derGrenzen zwischen Sternschichten unterschiedlicher chemischer Komposition, wo der

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 101

Abbildung 4.11:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 102

Dichtegradient flacher ist (Abb.4.11). Stabilitatsanalysen zeigen (siehe weiter unten),dass dort hohe Anwachsraten fur Rayleigh–Taylor Instabilitaten zu erwarten sind.

Da die Energie der Stoßwelle in einer Gravitationskollapssupernova (Typ II, Ib, Ic)viel großer ist als die gravitative Bindungsenergie der ausgeschleuderten Hullenma-terie, ist die Gravitation fur die Ausbreitung der Stoßwelle dynamisch irrelevant.Ausserdem bestehen die Sternhullen aus kompressiblem Gas, d.h. es sind Dichte-und Druckgradienten vorhanden.

• Die obigen Uberlegungen zur Rayleigh–Taylor Instabilitat (Kap. 4.1.1) sind dahernicht direkt auf Supernovae anwendbar. Trotzdem konnen auch in SupernovahullenRayleigh–Taylor Instabilitaten auftreten. In diesem Fall wird die Rolle der Schwere-beschleunigung g vom negativen Druckgradienten ubernommen

g =⇒ −1

ρ

∂p

∂r,

und das (lokale) Instabilitatskriterium lautet: Supernovahullen (i.A. kompressi-ble Gase) sind Rayleigh–Taylor instabil, wenn die (lokale) Druckskalenhohe P ≡∂ ln p/∂r und die (lokale) Dichteskalenhohe R ≡ ∂ ln ρ/∂r die Bedingung

RP<

1

γ(4.4)

erfullen, wobei γ der (lokale) Adiabatenindex des Gases ist. Diese Bedingung istimmer erfullt, wenn Druck- und Dichtegradient ein unterschiedliches Vorzeichen be-sitzen. Fur die Anwachsrate der Instabilitat gilt

σRT =csγ

√P2 − γPR ,

wobei cs die (lokale) Schallgeschwindigkeit ist.

• Damit Rayleigh–Taylor Instabilitaten auch Konsequenzen fur eine Supernovaexplo-sion haben, muss ihre Anwachszeitskala τRT ≡ σ−1

RT offensichtlich kurzer als die hy-drodynamische Zeitskala τhyd ≡ rsh/vsh sein. Hierbei sind rsh und vsh der Radius unddie Ausbreitungsgeschwindigkeit der Stoßwelle.

• Simulationen: Mehrdimensionale hydrodynamische Simulationen bestatigen, daßsich am Si/O-, (C+O)/He- und He/H-Ubergang innerhalb weniger Minuten diecharakteristischen Rayleigh–Taylor Pilzstrukturen entwickeln und in die aneinan-der grenzenden Schichten einzudringen beginnen (Abb.4.12). Nachdem die Stoßfrontdurch die Sternschichten mit vorwiegend Sauerstoff, Kohlenstoff und Helium nachaußen gerast ist, beginnen Rayleigh–Taylor Instabilitaten die Kompositionsgrenzenzu zerfransen. Die radioaktiven Produkte der explosiven Nukleosynthese, ebenso wie

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 103

Abbildung 4.12:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 104

Silizium und Sauerstoff des Vorlaufersterns, werden uber eine weiten Bereich von Ra-dien und Geschwindigkeiten verteilt. Helium und Wasserstoff werden tief ins Inneredes explodierenden Sterns gemischt. Nickel findet sich schließlich hoch konzentriert inschnell fliegenden Klumpen und Knoten entlang ausgedehnter Filamente aus verdich-tetem Gas, die auch mit Sauerstoff, Kohlenstoff und Silizium angereichert sind. Dieschnellsten dieser Nickelklumpen bewegen sich mit Geschwindigkeiten von mehrerentausend Kilometern pro Sekunde schneller als das umgebende Helium. Allerdingsgelang es mit diesen Simulationen nicht, das beobachtete Ausmaß des radialen Mi-schens und die gemessenen hohen Nickelgeschwindigkeiten zu reproduzieren. Um dieBeobachtungsdaten zu erklaren, ist sehr wahrscheinlich bereits ein nicht–radialer Ex-plosionsbeginn erforderlich, d.h. bereits bei der Entstehung der Stoßwelle mussenmerkliche Abweichungen von der Radialsymmetrie auftreten.

• Laser-Experimente: Seit wenigen Jahren ist es auch moglich, die Rayleigh–TaylorInstabilitaten in Supernovahullen im Labor durch den Einsatz extrem leistungsstarkerLaser zu untersuchen (Abb.4.13).

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 105

Abbildung 4.13:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 106

4.2 Turbulentes Brennen in thermonuklearen Super-

novae

Thermonukleare Supernovae: Nach der heute allgemein akzeptierten Vorstellung isteine Supernova vom Typ Ia die thermonukleare Explosion eines vorwiegend aus Kohlenstoffund Sauerstoff bestehenden Weißen Zwerges, der sich in einem engen Doppelsternsystembefindet und eine Masse nahe an der Chandrasekharmasse besitzt (d.h. deutlich oberhalbder typischen Weißen Zwergmasse von 0.6M). Der Weiße Zwerg akkretiert Masse von demBegleitstern und heizt sich dabei langsam auf. Schließlich kommt es im Zentrum des WeißenZwergs zur Zundung des thermonuklearen Brennstoffs durch die Schwerionenreaktionen12C + 12C (siehe z.B. Hillebrandt & Niemeyer, Ann. Rev. Astron. Astrophys. 38 (2000),191).

• Die Ausbreitung des Brennens kann prinzipiell durch zwei verschiedene Typenvon Brennfronten erfolgen, die beide sowohl im Labor (als chemische Brennfornten)als auch in der Astrophysik (als thermonukleare Brennfronten) auftreten konnen:

– Detonation: Der Brennstoff wird durch starke Kompression zur Zundung ge-bracht. Dies geschieht z.B. durch eine Stoßwelle, wobei die freigesetzte Energiedie Stoßwelle wiederum antreibt.

– Deflagration: Der Brennstoff zundet infolge von Warmeleitung oder Warme-diffusion, wobei der Warmestrom von der heißen Brennstoffasche herruhrt.

• Fur das Verstandnis der Ausbreitung von Brennfronten spielen mehrere Zeitskaleneine wichtige Rolle:

– Die Zundzeitskala gibt an in welcher Zeit sich die Temperatur des Brennstoffsum einen Faktor e erhoht (e-folding time):

τT =T

dT/dt≈ CV T

dεnuc/dt. (4.5)

Hierbei ist dεnuc/dt die Energiefreisetzungsrate durch (Kern-) Reaktionen. Dathermonukleare Reaktionen zwischen geladenen Teilchen sehr empfindlich vonder Hohe der zu durchtunnelnden Coulomb-Barriere abhangen, nimmt die Zund-zeitskala sehr stark mit zunehmender Temperatur ab.

– Die Brennzeitskala gibt an in welcher Zeit sich die Menge des Brennstoffs umeinen Faktor e reduziert:

τi =Xi

dXi/dt=

YidYi/dt

. (4.6)

Hierbei sind Xi und Yi = Xi/Ai der Massenanteil bzw. der Molanteil der Atom-sorte i mit dem Atomgewicht Ai.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 107

– Die Schalllaufzeit gibt an in welcher Zeit in einem Gebiet der Große δr einDruckausgleich stattfindet:

τhyd =δr

cs. (4.7)

• Thermonukleare Detonationen findet man in der Astrophysik nur in entarteter Mate-rie. In diesem Fall bewirkt die Temperaturerhohung (infolge der Kernreaktionen) kei-ne merkliche Druckerhohung und damit keine Ausdehnung und Kuhlung der Brenn-region. Stattdessen steigt die Temperatur solange an, bis die Entartung aufgehobenwird. Dann aber ist die Energieerzeugung bereits so hoch, dass hydrodynamischeBewegungen zu langsam sind (τT < τhyd), um eine Explosion zu verhindern.

Ist die resultierende Stoßwelle stark genug, um weiteren Brennstoff durch Stoßkom-pression uber seine Zundtemperatur hinaus zu erhitzen, entsteht eine Detonations-welle, die aus einem Stoß und aus einer sich unmittelbar daran anschließenden Re-aktionszone besteht, wo der Brennstoff

”verbrennt“ (τi > τT ).

• Betrachtet man (in nullter Naherung) thermonukleare Brennfronten als Dis-kontinuitaten in einer Stromung, so lassen sich ganz analog zum rein hydrodyna-mischen Fall (siehe Kap. 2.5) Sprungbedingungen aus den Erhaltungssatzen fur Mas-se, Impuls und Energie ableiten, die die hydrodynamischen Großen erfullen mussen(siehe z.B. Courant & Friedrichs, 1948).

– Wahrend die Sprungbedingungen (2.53), die aus der Massen- und Impulserhal-tung folgen, unverandert auch fur Brennfronten gelten, lautet die Bedingung furdie Energieerhaltung

1

2(u1 − vD)2 + E1 + p1τ1 =

1

2(u2 − vD)2 + E2 + p2τ2 , (4.8)

wobei vD die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Brennfront ist. E ≡ ε + B istdie Summe aus innerer Energie (pro Masse) und der durch die thermonuklearen(oder chemischen) Reaktionen freigesetzten Bindungsenergie (B < 0) pro Masse.

– Analog zu Stoßwellen (siehe 2.5) definiert man eine Hugoniot–Funktion furdas verbrannte Material

H2(τ, p) ≡ E2(τ, p)− E2(τ1, p1) + (τ − τ1)p+ p1

2. (4.9)

Damit laßt sich die verallgemeinerte Hugoniot–Gleichung (4.8 nach Elimina-tion der Geschwindigkeiten; siehe 2.61 bzw. 2.62 fur die entsprechenden hydro-dynamischen Beziehungen) in der Form

H2(τ, p) = E1(τ1, p1) − E2(τ1, p1) (4.10)

schreiben (siehe z.B. Courant & Friedrichs 1948). Man beachte, dass fur exo-therme Reaktionen H2 > 0 gilt und dass E1 und E2 unterschiedliche Funk-tionen sind.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 108

Abbildung 4.14: Hugoniot-Kurve fur Detonationen und Deflagrationen (Beachte: V ≡ τ ≡1/ρ)

– Nehmen wir an, das spezifische Volumen τ1 und der Druck p1 des unverbranntenGases seien gegeben, aber nicht die Geschwindigkeit vD der Brennfront. Dannsind Druck und spezifisches Volumen des verbrannten Gases durch die Hugoniot–Gleichung (4.10) fur alle Reaktionen, die den drei Erhaltungssatzen genugen,verknupft. Allerdings gibt es wegen

p2 − p1

τ2 − τ1

< 0 , (4.11)

was aus (2.59) folgt, nicht fur alle Werte von p und V , die (4.10) erfullen,auch einen entsprechenden Reaktionsprozess, der mit den drei Erhaltungssatzenkompatibel ist.

Die Hugoniot–Kurve, d.h. der Graph aller Punkte in der (p, τ)–Ebene, die(4.10) und (4.11) erfullen, ist in Abb. 4.14 dargestellt. Sie besitzt zwei getrenn-te Zweige, die Detonations- (p2 > p1 und V2 < V1) und Deflagrations–Zweig(p2 < p1 und V2 > V1) heißen. Die Existenz der beiden Zweige zeigt, dass dieErhaltungssatze mit zwei verschiedenen Arten von Prozessen vertraglich sind.

– Analog zum rein hydrodynamischen Fall bestimmt der Schnittpunkt vonRayleigh–Gerade (2.59) und Hugoniot-Kurve (4.10) den Zustand direkt hinterder Detonation (Deflagration). Allerdings muss man dazu erst eine Detonations-bzw. Deflagrations–Geschwindigkeit vorgeben, denn anders als bei Stoßen, istdie Geschwindigkeit der Diskontinuitat nicht durch die Sprungbedingungen

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 109

festgelegt. Abhangig von der Detonations- bzw. Deflagrations–Geschwindigkeitschneidet die Rayleigh–Gerade die Hugoniot–Kurve in 0, 1 oder 2 Punkten(Abb. 4.14).

Existiert kein Schnittpunkt, gibt es keine Detonation (Deflagration) fur dievorgebene Detonations- bzw. Deflagrations–Geschwindigkeit. Im Falle von zweiSchnittpunkten existieren zwei Losungen, die starken und schwachen Deto-nationen (Deflagrationen).

– Starke Detonationen (schwache Deflagrationen) propagieren mit einerGeschwindigkeit (relativ zur Stromungsgeschwindigkeit direkt hinter der Front),die kleiner ist als die Schallgeschwindigkeit direkt hinter der Detonation (Defla-gration). Daher konnen Storungen, die in der Stromung hinter der Front entste-hen, die subsonisch propagierende Front erreichen. Die Losung ist daher instabil.

– Schwache Detonationen (starke Deflagrationen) propagieren superso-nisch relativ zur Stromung unmittelbar hinter der Front. Starke Deflagrationentreten in der Natur nicht auf und schwache Detonationen werden allgemein alsunphysikalisch angesehen außer unter ganz bestimmten Bedingungen (siehe z.B.Courant & Friedrichs 1948).

– Detonationen, die in der Natur auftreten, entsprechen fast immer dem Fall,wo Rayleigh–Gerade und Hugoniot–Kurve genau einen Schnittpunkt besitzen.Fur diese Chapman–Jouguet–Detonation bzw. Deflagration ist die Aus-breitungsgeschwindigkeit gleich der Summe aus Stromungsgeschwindigkeit undSchallgeschwindgkeit (direkt hinter der Front).

• Die bisherigen einfachen Uberlegungen zur Detonationsphysik basieren auf der impli-ziten Annahme, dass die Reaktionsraten unendlich schnell sind, d.h. dass die Frontkeine Dicke besitzt (Diskontinuitat). Eine etwas genauere Beschreibung von Detona-tionsfronten gibt das Zeldovich-von Neumann-Doering (ZND) Modell, in demman annimmt, dass eine Detonation aus einem unendlich dunnen Stoß besteht, anden sich eine Reaktionszone endlicher Dicke anschließt.

• Wir betrachten nun zwei Raumpunkte in einem Weißen Zwerg mit einem endlichenTemperaturgradienten. Da die Brennzeitskala am Raumpunkt mit der hoheren Tem-peratur kurzer ist, wird der Brennstoff an diesem Punkt zuerst verbrennen, d.h. dasBrennen beginnt nicht uberall simultan. Die unterschiedlichen Brennzeitskalen bewir-ken, dass sich die Grenze zwischen verbranntem und unverbranntem Material bewegt.Ist die entsprechende Geschwindigkeit großer als die lokale Schallgeschwindigkeit,verlauft das Brennen an verschiedenen Raumpunkten voneinander unbeeinflusst. DiePhasengeschwindigkeit dieses sogenannten Spontanbrennens ist durch

Dsp =

(dτidr

)−1

(4.12)

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 110

gegeben. In C-O Weißen Zwergen hangt die Phasengeschwindigkeit extrem emp-findlich von der Zundtemperatur ab (Dsp ∝ Tα(dT/dr)−1 mit α ≈ 21 fur die12C + 12C Rate und 0.6 ∼< T/109 K ∼< 1.2). Im Falle einer isothermen Temperatur-verteilung wird sie unendlich groß.

Ist der anfangliche Temperaturgradient in einem Gebiet des Weißen Zwergs kleingenug, wird die Phasengeschwindigkeit supersonisch, d.h. das entsprechende Gebietverbrennt komplett innerhalb einer Schalllaufzeit. Eine supersonische Expansion desverbrannten Gebiets ist die Folge. Dies kann dann moglicherweise zur Detonationeines großen Teils des Weißen Zwergs fuhren.

• Deflagrationen propagieren ublicherweise mit stark subsonischen Geschwindigkeiten.Obwohl fur

”dunne“ Deflagration dieselben Sprungbedingungen wie fur Detonationen

gelten, hangt die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Deflagrationen endlicher Dickevon der Effizienz des Warmetransports ab. Ein weiterer wichtiger Unterschied zuDetonationen ist, dass in einer Deflagration sowohl der Druck als auch die Dichtedirekt hinter der Front geringer sind als vor der Front und dass (relativ zur Front)die Stromungsgeschwindigkeit zunimmt.

• Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Deflagrationen kann nur grob geschatztwerden (siehe z.B. Landau & Lifschitz, Bd. VI). Im einfachsten Fall einer laminarenFront, die sich durch Strahlungsdiffusion oder Warmeleitung ausbreitet, laßt sich dieDicke der Deflagration abschatzen, in dem man die Diffusionszeitskala τdiff gleich derBrennzeitskala τi setzt. Damit folgt fur die Dicke der Front, d.h. die Diffusionslange

δ ∼√λ c τi , (4.13)

wobei λ die mittlere freie Weglange der Photonen oder Elektronen ist. Fur die Ge-schwindigkeit der Deflagration gilt dann naherungsweise

vD ∼δ

τi∼√λ c/τi . (4.14)

Fur die 12C + 12C Reaktion findet man vD ≈ 30 km/s fur ρ = 2×109 g cm−3. Die Aus-breitungsgeschwindigkeit laßt sich auch numerisch bestimmen: Fur ρ = 2×109 g cm−3

erhalt man vD ≈ 50 km/s und fur ρ = 5 × 108 g cm−3 ergibt sich vD ≈ 16 km/s. DieDicke der Brennfront betragt in beiden Fallen ≈ 10−3 cm.

• Turbulentes thermonukleares Brennen: (siehe z.B. Hillebrandt & Niemeyer,Ann. Rev. Astron. Astrophys. 38 (2000), 191).

In einer thermonuklearen Supernovaexplosion ist das Brennen wegen der starkenTemperaturabhangigkeit der 12C + 12C Rate auf eine mikroskopisch dunne Schichtbeschrankt, die sich entweder in Form einer konduktiven, subsonischen Deflagration(Flamme) oder einer stoßgetriebenen, supersonischen Detonation ausbreitet (sieheoben).

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 111

Beide Moden sind, wie eine lineare Stabilitatsanalyse zeigt, hydrodynamisch instabil.Im nichtlinearen Bereich werden die Flammen entweder durch Ausbildung zellularerStrukturen stabilisiert, oder sie werden turbulent. In beiden Fallen erhoht sich dieBrennrate (d.h. der Verbrauch an Brennstoff) infolge einer Vergroßerung der Flacheder Brennfront.

In Simulationen thermonuklearer Supernovaexplosionen lassen sich weder Flammenoch Detonation auflosen, da sich die kleinste (Frontdicke) und die großte (Radiusdes Weißen Zwergs) relevante Langenskala um etwa einen Faktor 1010 unterscheiden.Daher sind Modelle zur ihrer Beschreibung erforderlich.

– Mikroskopisch gesehen breitet sich das Brennen (im Falle einer Deflagration)in Form einer Flamme aus, die verbogen und gestreckt durch die Turbulenz mitder laminaren Diffusionsgeschwindigkeit (4.14) in Richtung der lokalen Flam-mennormalen propagiert.

– Die makroskopische Stromung, die wegen ihrer extrem geringen Viskositat(Re 1) stark turbulent ist, wechselwirkt mit der Flamme auf allen Skalen bishinunter zur Kolmogorov–Skala, 1 wo Reibungseffekte wichtig werden.

– Die turbulente Energiekaskade wird durch Rayleigh–Taylor Instabilitaten(infolge des Auftriebs heißer

”Asche“) und durch Kelvin–Helmholtz Instabi-

litaten (infolge von Scherstromungen) gespeist.

– Das Brennen ist daher uber das ganze turbulente Gebiet verteilt (”flame brush“).

Die relevante minimale Langenskala lgibs heißt Gibson–Skala. Sie ist durch denvon der Turbulenz bedingten kleinsten Krummungsradius der Flamme gegeben.

–”flamelet“–Regime: Gilt δ lgibs sind kleine Segmente der Flamme von der

großskaligen Turbulenz unbeeinflußt und verhalten sich wie ungestorte laminareFlammen (Abb. 4.15).

–”distributed“–Regime: Gilt δ lgibs wird die Ausbreitung der Front durch

die Geschwindigkeit der turbulente Elemete bestimmt, d.h. die effektive Aus-breitungsgeschwindigkeit des Brennes ist unabhangig von der laminaren Brenn-geschwindigkeit (Abb. 4.16).

• In den zentralen Bereichen eines explodierenden Weißen Zwergs (d.h. bei hohen Dich-ten) findet das thermonukleare Brennen im

”flamelet“–Regime statt (Abb. 4.17 und

4.18).

Mit zunehmendem Radius, d.h. mit abnehmender Dichte wird die durch den WeißenZwerg propagierende Flamme dicker und langsamer, sodass die Turbulenz die Flam-

1Das beruhmteste Skalierungsgesetz der Turbulenztheorie ist das Kolmogorov’sche Gesetz uber dieGeschwindigkeitsfluktuationen einer turbulenten Kaskade. Demnach skaliert im Falle von isotroper, stati-onarer Turbulenz die mittlere Geschwindigkeit v eines Turbulenzelements der linearen Dimension l gemaßv ∝ l1/3 (A.N. Kolmogorov, 1941 Dokl. Akad. Nauk. SSSR, 30, 299).

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 112

Abbildung 4.15: Thermonukleare Verbrennung im”flamelet“–Regime. Die dunne gelbe

Linie markiert die verwinkelte und unzusammenhangende laminare Flamme, die Brennstoff(rot) und Asche (blau) trennt. Die kleinsten Turbulenzelemente sind großer als die Dickeder Flamme, sodass die Verbrennung in einem ausgedehnten Bereich hinter der Flammestattfindet.

Abbildung 4.16: Thermonukleare Verbrennung im”distributed“–Regime. Die kleinsten

Turbulenzelemente sind kleiner als die Dicke der Flamme, sodass die Turbulenzelemen-te in die Flamme (gelb, grun und hellblau) eindringen, die nicht mehr wohl definiert ist.Die Verbrennung findet innerhalb der Turbulenzelemente statt und turbulenter Energie-transport ist effektiver als der durch Warmeleitung oder Strahlungsdiffusion.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 113

menstruktur zu beeinflussen beginnt und das thermonukleare Brennen schließlich im

”distributed“–Regime stattfindet.

• Die Modellierung dieses Brennregimes einer thermonuklearen Supernova ist bishernoch nicht gelungen, da in diesem Fall weder das Kernbrennen noch das turbulenteMischen durch einfache Rezepte beschreibbar ist.

Man verwendet stattdessen phanomenologische Modelle, die beim Erreichendes

”distributed“–Regimes aufgrund von Laborexperimenten und von theoretischen

Uberlegungen einen Ubergang von einer Deflagration zu einer Detonation postulie-ren. Diese sogenannten

”delayed detonation“–Modelle ermoglichen die Nukleosyn-

these mittelschwerer Elemente (Si, S, Ca) in den außeren Schichten (ρ ∼< 107 g/cm3)des explodierenden Weißen Zwergs, da sich der Weiße Zwerg wegen der subsonischpropagierenden Deflagration bereits ausdehnen konnte, bevor seine Außenschichtendetonieren (eine thermonukleare Detonation bei hoheren Dichten produziert nur Ele-mente der Eisengruppe, d.h. Fe, Co und Ni). Die resultierenden Expansionsgeschwin-digkeiten der mittelschweren Elemente stimmen gut mit Beobachtungsdaten uberein.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 114

Model c3_2d_256, t=0.00s, ρ

c = 2.90e+09g/cm3

05.0•10 6

1.0•10 71.5•10 7

2.0•10 7

r [cm]

0

5.0•10 6

1.0•10 7

1.5•10 7

2.0•10 7

z [cm]

2.29e+08cm/s

Model c3_2d_256, t=0.30s, ρ

c = 1.75e+09g/cm3

01.0•10 7

2.0•10 73.0•10 7

4.0•10 7

r [cm]

0

1.0•10 7

2.0•10 7

3.0•10 7

4.0•10 7

z [cm]

4.96e+08cm/s

Model c3_2d_256, t=0.70s, ρ

c = 3.34e+08g/cm3

02.0•10 7

4.0•10 76.0•10 7

8.0•10 71.0•10 8

1.2•10 81.4•10 8

r [cm]

0

2.0•10 7

4.0•10 7

6.0•10 7

8.0•10 7

1.0•10 8

1.2•10 8

1.4•10 8

z [cm]

6.42e+08cm/s

Model c3_2d_256, t=1.00s, ρ

c = 6.77e+07g/cm3

05.0•10 7

1.0•10 81.5•10 8

2.0•10 82.5•10 8

3.0•10 8

r [cm]

0

5.0•10 7

1.0•10 8

1.5•10 8

2.0•10 8

2.5•10 8

3.0•10 8

z [cm]

Abbildung 4.17: 2D Simulation der zeitlichen Entwicklung der Geometrie einer thermonu-klearen Brennfront in einem Weißen Zwerg (Reinecke etal. 2002, Astron. Astrophys. 386,936).

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 115

t=0.0s t=0.15s

t=0.3s

t=0.79st=0.6s

t=0.45s

Abbildung 4.18: 3D Simulation der zeitlichen Entwicklung der Geometrie einer thermonu-klearen Brennfront in einem Weißen Zwerg (Reinecke etal. 2002, Astron. Astrophys. 386,936).

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 116

4.3 Relativistische Jets und Gammablitze

4.3.1 Beobachtungen

Im Jahre 1918 photographierte H.D. Curtis die elliptische Riesengalaxie M87. Dabei fielihm ein

”merkwurdiger gerader Strahl“ auf, der “scheinbar mit dem Zentralgebiet der

Galaxie durch eine schmale Materiebrucke verbunden war“. Dies war die Entdeckung dersogenannten extragalaktischen Jets.

Heutzutage kennt man mehrere hundert solcher extragalaktischen Jets. Die meisten die-ser Jets sind durch Radiobeobachtungen entdeckt worden, da sie anscheinend gigantischeEnergiemengen aus den Zentren von Radiogalaxien und Quasaren bis zu 106 Lichtjahreweit in den intergalaktischen Raum transportieren und dort sehr ausgedehnte Raumge-biete, die sogenannten

”radio lobes“, mit Energie versorgen, die als nicht-thermische

Radiostrahlung (Synchrotronstrahlung) zu uns auf die Erde gelangt (Abb. 4.19).Die pro Sekunde im Radiobereich abgestrahlte Energie, die von den Jets zu den

”radio

lobes“ transportiert werden muss, ist enorm (Leuchtkraft der Sonne: 4 1033 erg/s):

Lradio = 1044erg/s . . . 1047erg/s

Die”Maschine“, die diese gigantischen Energiemengen erzeugt, ist ein Schwarzes Loch

im Zentrum der Galaxie (Masse der Sonne: 2 1033 g):

Mbh = 106M . . . 109M

Dieses Schwarze Loch verschlingt wie ein riesiger Staubsauger interstellares Gas und Sterne,die durch Gezeitenkrafte zerrissen werden, wenn sie in den Bann seiner Gravitationskraftgeraten. Da die in das Schwarze Loch sturzende Materie im allgemeinen einen Drehimpulsbesitzt, kann sie nicht radial ins Schwarze Loch fallen, sondern sammelt sich zunachst ineiner das Schwarz Loch umkreisenden Akkretionsscheibe an. Durch Reibung verliert diein der Scheibe vorhandene Materie langsam ihren Drehimpuls und kann dadurch weiternach innen

”rutschen“. In der Scheibe findet also ein standiger Materiestrom Richtung

Schwarzes Loch statt, wobei im Falle eines stationaren Gleichgewichts die am innerenRand der Scheibe im Schwarzen Loch verschwindende Materie am außeren Rand durchneu akkretiertes Gas ersetzt wird. Die Scheibe hat eine Ausdehnung vergleichbar mit derunseres Sonnensystems.

Die bei der Akkretion freiwerdende Energie wird in einem bisher noch nicht im einzelnenverstandenen Prozess, der sehr wahrscheinlich Magnetfelder involviert, dazu verwendet,einen sehr kleinen Teil der akkretierten Materie in Form zweier kollimierter Materiestrahlensenkrecht zur Akkretionscheibenebene, d.h. in Richtung der Rotationsachse des SchwarzenLochs auszuschleudern. Dieses Doppelauspuff–Modell wurde 1974 von Blandford & Reesvorgeschlagen (Mon. Not. Roy. Astron. Soc., 169, 395-415). Zur Deckung des beobachtetenEnergiebedarfs der Radioquellen muss das Schwarze Loch bis zu einige SonnenmassenMaterie pro Jahr akkretieren:(

dM

dt

)acc

≈ 0.01M/Jahr . . . 10M/Jahr .

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 117

Abbildung 4.19: Die Radioemission (farbcodiert) in der Umgebung der Radiogalaxie 3C219zeigt zwei ausgedehnte Emissionsgebiete, die sich fast 106 Lichtjahre weit in den interga-laktischen Raum erstrecken. Man vermutet, dass die abgestrahlte Energie in der zentralenGalaxie (blauer Punkt in der Ausschnittsvergroßerung) produziert wird und von dort durchdie beiden Jets (schmale orangefarbene Strukturen) zu den Emissionsgebieten transportiertwird. (Very Large Array, VLA, des National Radio Astronomy Observatory, NRAO, in So-corro, New Mexico (http://www.cv.nrao.edu/~abridle/images.html).

Beobachtet man extragalaktische Jets mit Hilfe interferometrischer Methoden, die einesehr genaue Winkelauflosung der Radioquellen ermoglichen, so zeigt es sich, dass die Jetsbis zu einem Abstand von wenigen Lichtjahren an das Zentrum der Radiogalaxien her-anreichen, was sich zwanglos mit dem obigen Modell der Jeterzeugung vereinbaren laßt.Die Beobachtungen zeigen weiterhin, dass extragalaktische Jets sehr gut kollimiert sind.Die Offnungswinkel betragen nur wenige Grad, d.h. die Jets verbreitern sich kaum, ob-wohl sie sich vom Zentrum einer Galaxie uber mehrere hunderttausend Lichtjahre in denintergalaktischen Raum hinaus erstrecken konnen (Abb. 4.19).

Bis zu Abstanden von einigen 102 Lichtjahren vom Zentrum hat man eine Materiebe-wegung in extragalaktischen Jets direkt nachweisen konnen. Außer der anfangs erwahntenRadiogalaxie M87 gibt es jedoch keine andere Radioquelle, wo man einen direkten Beweisfur eine Stromung bei Abstanden großer als einige tausend Lichtjahre gefunden hat. Den-noch geht man allgemein davon aus, dass die beobachtete Kontinuitat der extragalaktischenJets von kleinen (wenige Lichtjahre) zu großen Skalen (hunderttausende von Lichtjahren),einen kollimierten, kontinuierlichen Strom von Materie erfordert.

Jets hat man auch in der Umgebung junger Sterne (proto–stellare Jets) und in ga-laktischen Rontgen–Doppelsternsystemen beobachtet, in denen einer der beiden Sterne einNeutronenstern oder ein stellares Schwarzes Loch ist (stellare Jets). Das bekannteste ga-laktische Binarsystem mit Jets tragt den Namen SS433 (Abb. 4.20). Es wurde gegen Ende

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 118

Abbildung 4.20: Rontgen–Doppelsternsystem SS433

der siebziger Jahre entdeckt und besitzt zwei stellare Jets, die sich in entgegengesetzterRichtung mit 0.26c ausbreiten. Noch wesentlich relativistischere Ausbreitungsgeschwin-digkeiten hat man in zwei vor wenigen Jahren entdeckten galaktischen Rontgenquellengefunden, die sehr wahrscheinlich Doppelsternsysteme sind, die ein Schwarzes Loch ent-halten. In beiden Quellen ist die gemessene scheinbare Ausbreitungsgeschwindigkeit derJets großer als die Lichtgeschwindigkeit! Dieses Phanomen, das man allgemein als super-luminale Ausbreitung bezeichnet, wird auch in vielen extragalaktischen Jets in nicht allzugroßen Abstanden (d < 103 Lj) von der zentralen Quelle beobachtet und steht keineswegsim Widerspruch zur Einsteinschen Relativitatstheorie, die die Ausbreitungsgeschwindigkeitvon Licht im Vakuum als die maximale Geschwindigkeit postuliert.

Superluminale Bewegung laßt sich namlich ohne”exotische Physik“ erklaren. Betrach-

ten wir dazu eine Strahlungsquelle, die sich mit fast Lichtgeschwindigkeit nahezu entlangder Sichtlinie Beobachter-Quelle auf den Beobachter zu bewegt. Der zeitliche Abstand vonEreignissen in der Quelle (z.B. die in extragalaktischen Quellen beobachtete Emission von

”radio blobs“) erscheint einem entfernten Beobachter verkurzt, falls die Bewegung fast ge-

nau in seine Richtung erfolgt, da die Quelle hinter ihrer eigenen Strahlung”herjagt“. Ein

verkurztes Zeitintervall entspricht aber einer scheinbar großeren Geschwindigkeit. Daher

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 119

Observer

v = β.c

Source

vT

Θ

Abbildung 4.21:

kann die auf die Himmelskugel projizierte Geschwindigkeitskomponente (nur diese konnenwir als Ausbreitung beobachten) die Lichtgeschwindigkeit scheinbar ubersteigen. Fur dieerwahnten

”radio blobs“ hat man scheinbare Geschwindigkeiten bis zu 10c gemessen.

• Fur eine Quelle, die sich mit der Geschwindigkeit v = βc unter einem Winkel Θ (re-lativ zur Sichtlinie) auf einen Beobachter zubewegt (Abb. 4.21), misst der Beobachtereine transversale Geschwindigkeit

βobs ≡vobs

c=

β sin Θ

1− β cos Θ. (4.15)

Dies folgt aus der Lorentztransformation der Geschwindigkeit. Die beobachtete trans-versale Geschwindigkeit ist maximal, wenn cos Θ = β und betragt βobs,max = Wβ,

wobei W = 1/√

1− β2 der Lorentzfaktor ist. Aus (4.15) folgt:

βobs,max > 1 falls β >1√2

Neueste Messungen zeigen weiterhin, dass in einigen Quellen die Ausbreitungsgeschwin-digkeit extragalaktischer relativistischer Jets mit der Entfernung vom Zentrum signifikantabnimmt. Diese Abbremsung anfanglich stark relativistischer Jets laßt eine zunehmendeAnzahl von Astrophysikern vermuten, dass alle extragalaktischen Jets, zumindest in derNahe der Quelle, relativistische Ausbreitungsgeschwindigkeiten besitzen.

4.3.2 Simulationen

Zum Verstandnis der Morphologie von Jets betrachten wir zunachst ein eindimen-sionales Jet–Analogon, genauer gesagt ein Stoßrohr mit folgenden Anfangsbedingungen(Abb. 4.22):

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 120

t = 0

t > 0

v

ρp

x

x

p

shock (bow shock)

unperturbed ambient medium

(at rest)

contact discontinuity

reflected shock

decelerated, compressed beam

material

shocked ambient medium

beam gas

ρ

v

Abbildung 4.22:

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 121

Turbulenz

Stoßgeheiztes Gas

Rückfluß Kontakt- unstetigkeit

Ungestörtes äußeres Medium

Heißer Fleck

Mach-Scheibe

Bugstoßwelle

Innere Stöße

Wirbel

Trennfläche Jet/Umgebungsmaterie

Strahl

Abbildung 4.23: Morphologie eines Uberschalljets

pL = 1.0 pR = 1.0ρL = 0.1 ρR = 1.0uL = 40.8 uR = 0

Das weniger dichte Gas im linken Zustand bewegt sich mit Uberschallgeschwindigkeitnach rechts, wahrend das dichtere Gas im rechten Zustand ruht. Dies entspricht genauder Situation auf der Symmetrieachse eines leichten druck–angepassten Jets, der in einruhendes dichteres Umgebungsmedium hineinpropagiert.

Der Anfangszustand zerfallt in 3 Wellen (Abb. 4.22): Einen Stoß und eine Kontak-tunstetigkeit, die sich beide nach rechts bewegen, sowie in einen reflektierten Stoß, derrelativ zur Kontaktunstetigkeit nach links (aber insgesamt nach rechts) propagiert. DasUmgebungsgas wird beim Durchgang durch den vorderen Stoß komprimiert, geheizt undauf eine endliche Geschwindigkeit beschleunigt. Das Gas des linken Anfangszustands wirdbeim Durchgang durch den reflektierten Stoß auf die Geschwindigkeit des stoßgeheiztenUmgebungsgases abgebremst und so komprimiert, dass sein Druck den des stoßgeheiztenUmgebungsgases erreicht. Die Kontaktunstetigkeit trennt das sehr dichte stoßkomprimierteUmgebungsgas von dem abgebremsten, weniger dichten Gas des linken Anfangszustands.

Die eben beschriebenen Stromungsmerkmale des eindimensionalen Jet–Analogons fin-det man in mehrdimensionalen, axialsymmetrischen Jets in der Nahe der Jetachse wie-der. Hydrodynamische Simulationen zeigen, dass solche mehrdimensionalen (axialsymme-trische) supersonische Jets folgende morphologischen Merkmale aufweisen (Abb. 4.23 und4.24).

• Sie besitzen einen supersonischen Strahl mit nahezu konstantem Durchmesser, der

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 122

Abbildung 4.24: Hauptmerkmale eines simulierten uberschalljets

sich periodisch geringfugig ausdehnt und zusammenzieht. Diese Oszillationen verur-sachen eine Reihe von schragen Stoßwellen innerhalb des Strahls, die die Stromungkollimieren (Abb. 4.25).

Die Uberschallstromung im Strahl endet am Kopf des Jets in einer Stoßkonfiguration,die man Machscheibe nennt. Sie verursacht eine abrupte und starke Abbremsungdes Gases im Strahl auf Unterschallgeschwindigkeit. Die Bewegungsenergie des Gaseswird dabei in Warme umgewandelt, was einen

”heißen Fleck“ am Kopf des Jets

verursacht. Außerdem bewirkt die Dissipation der Bewegungsenergie eine Erhohungdes Drucks im abgebremsten Gas des Strahls.

• Das erhitzte Gas dehnt sich senkrecht zur Ausbreitungsrichtung des Jets aus undstromt anschließend am Rande des Strahls zuruck. Dieser Gasruckfluß erzeugt einenturbulenten Kokon, der den Strahl umschließt.

• Wie ein mit Uberschallgeschwindigkeit fliegendes Flugzeug, verursacht auch der uber-schallschnelle Strahl einen Uberschallknall, die sogenannte Bugstoßwelle, in der dasUmgebungsmedium komprimiert und erhitzt wird. Zwischen der Bugstoßwelle unddem Kokon gibt es schließlich noch eine Grenzflache, die hydrodynamisch instabil istund die das stoßgeheizte Umgebungsgas vom dem Gas des Jets trennt.

Die dynamischen Eigenschaften, sowie einige morphologische Eigenschaften, insbe-sondere die Dicke des Kokons, Newtonscher, druck-angepasster Jets (Druck im Jet gleichdem Druck des Umgebungsgases) hangen von nur zwei Parametern ab,

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 123

reflecting boundary

stream line

reflected shockincident shock

vni

vnf vi

vt

vf

reflecting boundary

centered rarefactionincident

shock

plane rarefactionstream line

reflected shock

Abbildung 4.25:

• der Machzahl des Jets (Verhaltnis von Strahlgeschwindigkeit zur Schallgeschwindig-keit im Jet) und

• dem Verhaltnis der Gasdichte im Strahl zu der Dichte in der Umgebung, in die derJet hineinpropagiert.

Zur vollstandigen Charakterisierung relativistischer Jets ist daruberhinaus noch ein wei-terer Parameter erforderlich.

• Im Falle eines homogenen Umgebungsmediums und bei gegebener Zustandsgleichungist das eindimensionale Jet–Anfangswertproblem, und damit die Stromung, durch 6Großen (ρb, vb, pb; ρm, vm, pm), sowie durch die Wahl einer Langen- oder Zeit–Skala,bzw. durch die Wahl des Bezugssystems definiert.

In der Astrophysik ist es ublich die hydrodynamischen Gleichungen

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 124

Newtonsch relativistisch

∂ρ∂t

+ ∂ρv∂x

= 0 ∂D∂t

+ ∂Dv∂x

= 0 D ≡ ρW

∂ρv∂t

+ ∂ρvv∂x

+ ∂p∂x

= 0 ∂S∂t

+ ∂Sv∂x

+ ∂p∂x

= 0 S ≡ ρh/c2W 2v

∂E∂t

+ ∂[(E+p)v]∂x

= 0 ∂T∂t

+ ∂(S−Dv)∂x

= 0 T ≡ ρhW 2 − p−Dc2

in dimensionsloser Form zu losen, d.h. die 3 Erhaltungsgleichungen fur Masse, Im-puls und Energie werden so skaliert, dass sie nur dimensionslose Großen enthalten(Norman et al. Astron. & Astrophys., 1982, 113, 285) .

Als Einheiten fur Lange, Geschwindigkeit und Dichte wahlt man im Newtonschenden Jet(strahl)radius Rb, die Schallgeschwindigkeit cm und die Dichte ρm des Umge-bungsmediumes. Damit ist die Einheit fur die Zeit durch Rb/cm und fur den Druckbzw. fur die Energiedichte durch ρmc

2m gegeben.

Newtonsch relativistischLange x = ξRb x = ξRb

Geschwindigkeit v = ucm v = uc (!)Dichte ρ = σρm ρ = σρm

Zeit t = τRb/cm t = τRb/cDruck p = πρmc

2m p = πρmc

2

Energie E = ερmc2m E = ερmc

2

Nach Festlegung des Bezugsystems, in dem man z.B. das Umgebungsmedium alsruhend annimmt (vm = 0), ist die Stromung durch 3 dimensionslose Parametervollstandig bestimmt, namlich durch das

– Dichteverhaltnis

η ≡ ρbρm

, (4.16)

– das Druckverhaltnis

K ≡ pbpm

, (4.17)

– und durch die Strahlgeschwindigkeit vb bzw. die Machzahl des Jets

Mab ≡vbcb

=

√η

K

vbcm

, (4.18)

wobei cb die Schallgeschwindigkeit des Strahlgases ist. Man beachte, dass die Mach-zahl als dritter Parameter verwendet wird, da vm = 0 gewahlt wurde.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 125

• Parameteranzahl fur relativistische Jets:

Im relativistischen Fall existiert eine maximale Geschwindigkeit, namlich die Vaku-umlichtgeschwindigkeit c. Daher lassen sich relativistische Stromungen nicht mehrseparat im Raum und in der Zeit skalieren, denn beide Skalen sind durch die end-liche Lichtgeschwindigkeit miteinander verknupft. Daher ist neben η,K und Mb einweiterer Parameter erforderlich, um eine relativistische Stromung vollstandig zu cha-rakterisieren.

Dies kommt daher, dass Jets in zweifacher Hinsicht relativistisch sein konnen, namlichdadurch, dass ihre gerichtete Bewegungsenergie (kinetische Energie; W 1) oderihre ungeordnete Bewegungsenergie (Warmenergie; h 1) groß ist im Vergleichzur Ruhe–Energie des Gases im Jet. Ist das letztere der Fall, so bezeichnet mansie als

”heiße“ relativistische Jets, und sonst als

”kalte“ oder stark supersonische

relativistische Jets.

Im allgemeinen verwendet man die Strahlgeschwindigkeit vb als zusatzlichen viertenJetparameter.

Mittels einer einfachen analytischen Abschatzung kann man eine obere Grenze fur dieAusbreitungsgeschwindigkeit Newtonscher Jets erhalten. Dazu nimmt man an, dasssich der Jet ballistisch ausbreitet, d.h. seine Geschwindigkeit durch die Impulserhaltungzwischen Jetmaterie und aufgesammelter Umgebungsmaterie bestimmt ist. In dieser bal-listischen Naherung hangt die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Jets nur vom Dichte-verhaltnis ab:

•”Leichte“ Jets, bei denen die Dichte des Gases im Strahl viel geringer als die des

Umgebungsmediums ist, propagieren sehr ineffizient, d.h. ihre Ausbreitungsgeschwin-digkeit betragt nur einen Bruchteil der Gasgeschwindigkeit im Strahl.

•”Schwere“ Jets, die wesentlich dichter sind als das Umgebungsmaterial, propagieren

dagegen in der ballistischen Naherung mit einer Geschwindigkeit vergleichbar derGasgeschwindigkeit im Strahl.

Hydrodynamische Simulationen bestatigen, dass dichte Newtonsche Jets am effiziente-sten propagieren, wobei allerdings die Effizienz maximal 80% des ballistisch abgeschatzenWertes betragt.

”Leichte“ Jets mit kleiner Machzahl sind wesentlich ineffizienter und er-

reichen in den Simulationen nur etwa 40% des ballistischen Schatzwertes.

Fur relativistische Jets kann man ebenfalls einen ballistischen Schatzwert analytischableiten. Dabei muss man berucksichtigen, dass die Wucht mit der sich der Jet in dasUmgebungsmaterial hineinbohrt, nicht nur durch die relativistische Gasgeschwindigkeit imStrahl, sondern auch durch seine eventuell vorhandene relativistische thermische Energie(Warme) bestimmt wird. Beide Effekte erhohen die Tragheit und damit die Wucht des Jets.Folglich liegt der relativistische Schatzwert immer uber dem entsprechenden NewtonschenWert. Wahrend nur

”schwere“ Newtonsche Jets sich nahezu ballistisch ausbreiten, findet

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 126

man im relativistischen Fall hohe Ausbreitungseffizienzen sowohl fur Jets mit ultrarelati-vistischen Gasgeschwindigkeiten im Strahl als auch fur extrem

”heiße“ Jets.

Zur Ableitung des ballistischen Schatzwerts wahlt man ein Bezugssystem (’), in demdie Arbeitsflache des Jets (die Machscheibe) ruht. Dann folgt aus der Impulserhaltung

ρbv‘2b = ρmv

′2m

Wechselt man nun in das Bezugssystem des ruhenden außeren Mediums (vm = 0), relativzu dem sich die Arbeitsflache des Jets mit der Geschwindigkeit Vj bewegt, so gilt

v′b = vb − Vj

und

v′m = vm − Vj .

Daraus folgt dann

ρb(vb − Vj)2 = ρmV2j

und damit der gesuchte Schatzwert

Vj =

√η

1 +√ηVb . (4.19)

Der ballistische Schatzwert fur die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines relativistischen Jets

Vj =

√η∗

1 +√η∗Vb (4.20)

hat die gleiche Form wie fur Newtonsche Jets, wenn man den Dichteparameter η durch denentsprechenden relativistischen Parameter

η∗ = ηhbhm

W 2b (4.21)

ersetzt, der aus η durch Multiplikation mit zwei relativistischen Faktoren, einem thermo-dynamischen und einem kinematischen Faktor, hervorgeht. Diese Faktoren machen relati-vistische Jets “schwerer” als ihr Newtonsche Gegenstucke.

Wie im Newtonschen Fall hangt die Dicke des Kokons relativistischer Jets von derMachzahl des Strahls ab.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 127

Abbildung 4.26: Morphologie eines”heißen“ relativistischen Jets, der einen strukturlosen,

nahezu”nackten“ Strahl besitzt. Das obere Bild zeigt die Ruhemassendichte und das untere

Bild den Druck (beide in logarithmischer Skala). Die Maximalwerte sind weiß codiert undzunehmend kleinere Werte sind in grun, hellblau, dunkelblau, rot und schwarz gehalten.

Abbildung 4.27: Wie Abb. 4.26, jedoch fur einen stark supersonischen relativistischen Jets,der einen ausgepragten, turbulenten Kokon besitzt.

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KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 128

• Relativistische Jets, in denen die Machzahl im Strahl klein ist (d.h.”heiße“ Jets, da

die Machzahl mit zunehmender Schallgeschwindigkeit, bzw. Druck, bzw. Warmeener-gie abnimmt), sind durch einen nahezu strukturlosen Strahl gekennzeichnet, der voneinem dunnen Kokon umgeben ist. Sie weisen auch nur einen sehr geringen oder auchgar keinen Ruckfluss auf. Die Strukturlosigkeit des Strahls erklart sich aus der Tatsa-che, dass der Strahl

”heißer“ Jets im Druckgleichgewicht mit seinem Kokon ist. Ein

typischer”heißer“ Jet ist in Abb. 4.26 dargestellt. Der gezeigte Jet hat eine (Strahl-)

Machzahl von 1.72 und eine Strahlgeschwindigekit von 99% der Lichtgeschwindigkeit.Die Dichte des Gases im Jet betragt 1% der Dichte des Umgebungsmediums. Die Si-mulation ergibt eine Ausbreitungsgeschwindigkeit von 86% der Lichtgeschwindigkeit.

• Relativistische Jets mit einer großen (Strahl-) Machzahl, also stark supersonischeJets, besitzen einen starkeren Ruckfluss und einen ausgepragteren, turbulenten Ko-kon. Ihr Strahl ist durch eine komplexe Struktur aus Stoßwellen gekennzeichnet, dievon dem großen Druckunterschied zwischen Strahl und Kokon, sowie von Storungendes Strahls durch Wirbel im Kokon verursacht wird. Ein typischer supersonischer re-lativistischer Jet ist in Abb. 4.27 gezeigt. Strahlgeschwindigkeit und Dichteverhaltnisdes Jets sind identisch mit denen des vorher diskutierten

”heißen“ Jets, aber seine

(Strahl-) Machzahl ist 6 und die Ausbreitungsgeschwindigkeit betragt nur 37% derLichtgeschwindigkeit.