11
Hansjorg Bay (Hrsg.) Hyperion- terra IncognIta Expeditionen in H olderlins Roman Westdeutscher Verlag

Hyperion- - Springer978-3-322-87304-0/1.pdf · Inhalt Vorwort Rainer NiJgele Andenken an >Hyperion< Alexander Honold Hyperions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen Hansj6rg

  • Upload
    vokien

  • View
    219

  • Download
    4

Embed Size (px)

Citation preview

Hansjorg Bay (Hrsg.)

Hyperion-• • terra IncognIta

Expeditionen in H olderlins Roman

Westdeutscher Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hyperion - terra incognita: Expeditionen in Holderlins Roman / Hansjorg Bay (Hrsg.). - Opladen ; Wiesbaden : Westdt. VerI., 1998

ISBN-13 :978-3-531-13075-0 DOl: 10.1007/978-3-322-87304-0

Aile Rechte vorbehalten

e-ISBN-13 :978-3-322-87304-0

© Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen/Wiesbaden, 1998

Dcr Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH.

Das Werk einschlieGlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auGerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbe­sondere fUr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

http://www.wcstdeutschervlg.de

Hochste inhaltliche und technische Qualitat unserer Produkte ist unser Ziel. Bei der Produk­tion und Verbreitung unserer Bucher wollen wir die Umwelt schonen: Dieses Buch ist auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die EinschweiGfolie besteht aus Polyathylen und dam it aus organischen Grundstoffen, die weder bei der Herstellung noch bei der Verbrennung Schadstoffe freisetzen.

U mschlaggestaltung: Christine Huth, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, ScheGlitz

Inhalt

Vorwort

Rainer NiJgele Andenken an >Hyperion<

Alexander Honold Hyperions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen

Hansj6rg Bay >Hyperion< ambivalent

JUrgenLink Spiralen der inventiven •• Riickkehr zur Natur«. Uber den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des >Hyperion<

Ute Guzzoni .. lch Hebe dill Griechenland iiberall. Es triigt die Farbe meines Herzenscc•

Einige Bemerkungen zu Himmel und Natur im >Hyperion<

Harald WeilnbOck .. wie an den FiiBen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert«. Die Ge-

9

17

39

66

94

116

waltthematik in Holderlins >Hyperion< in beziehungsanalytischer Perspektive 135

Claudia Albert Allharrnonie und Schweigen - musikalische Motive in HOlderlins >Hyperion< 161

WoljTamGroddeck .. Horst Du? horst Du? Diotima's Grab!« Zur Aporie der Schriftlichkeit in den >Hyperion<-Briefen 176

Theresia Birkenhauer Hyperion auf dem Atna - .. [ ... ] oder wie du es sonst noch heiBen magst«. Modalitiiten indirekten Sprechens 190

Wolf Kittler Odipus oder Ajax. Hyperions Weg von Korinth nach Salamis 210

Zu den AutorInnen 235

Siglenverzeichnis

StA

FIlA

KTA

MIlA

DKA

H6lderlin: Siimtliche Werke, 'Stuttgarter H6Iderlin-Ausgabe', hg. von Friedrich BeiBner und Adolf Beck, 8 Bde., Stuttgart 1943-85.

Friedrich H6lderlin: Siimtliche Werke, 'Frankfurter Ausgabe', hg. von Dietrich E. Sattler, Frankfurt/M. 1975ff.

Friedrich H6lderlin: Siimtliche Werke, Kritische Textausgabe (erstellt auf der Textbasis der FHA), hg. von Dietrich E. Sattier, Dann­stadt/Neuwied 1979ff.

Friedrich H6lderlin: Siimtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp, 3 Bde., Miinchen/Wien 1992/93.

Friedrich H61derlin: Siimtliche Werke und Briefe, hg. von Iochen Schmidt, 3 Bde., Frankfurt/M. 1992-1994.

Hyperion oder der Eremit in Griechenland wird durchgehend mit der in StA, FHA, KTA und MHA gleichennaBen verzeichneten Seitenziihlung der Erstausgabe zitiert; r6mische Band- und arabische Seitenzahl werden dabei ohne FuBnote in Klammern angegeben. Nachweise aller anderen H61derlin-Texte mit obigen Siglen, Band- und Seitenzahl (gegebenenfalls auch Vers- bzw. Zeilenzahl).

Vorwort

Uber seehs Jahre lang, von den ersten Entwiirfen im Friihjahr 1792 bis zur Absendung der Druckvorlagen fUr den zweiten Band im Spatsommer oder Herbst 1798, arbeitete Holderlin an seinem VorstoB in die »terra incognita im Reiche der Poesie .. 1: an seinem einzigen Roman. Insgesamt sieben fragmentarische Vorstufen2 entstanden, bis 1797 und 1799 in zwei schmalen Bandchen und einer Auflage von 360 Exemplaren Hype­rion oder der Eremit in Griechenland erschien. Defizit

Wenn der Titel des vorliegenden Sammelbandes Holderlins Formulierung von der •• terra incognitacc aufgreift und seinen Roman zweihundert Jahre nach dessen Er­scheinen als >unbekanntes Land< bezeichnet, so nicht einfach nur, weil Hyperion fraglos zu denjenigen Texten gehOrt, die sich jedem abschlieBenden Bekanntwerden zu entziehen vermogen. Der Titel entspricht vielmehr der dem Band zugrunde liegenden Intention, mit Entschiedenheit in eine Forschungslage zu intervenieren, in der HOlder­lins Roman nur zu bekannt erscheint, weil er seit nunmehr iiber drei Jahrzehnten auf den immer gleiehen Wegen einer gelingenden Entwicklung des HeIden erkundet wird. Es sind dies keine Wege, die in H6lderlins Roman gar nieht angelegt waren; aber die Forschung hat sie zwischenzeitlich derart breit ausgebaut und befestigt, daB heute fast wie von selbst darauf zu geraten scheint, wer sich in Kenntnis der Forschung an die Lektiire des Hyperion macht. Diese Situation gilt es aufzubrechen; denn wer auf diesen Wegen bleibt, der geht an Vielem vorbei - ganz besonders an den Verwer­fungen und Abgriinden des Romans.

Wahrend zu den spateren Texten H6lderlins, insbesondere zu seiner Lyrik, in neuerer Zeit eine ganze Reihe fruehtbarer und aueh methodiseh innovativer Arbeiten erschienen sind, blieb der Hyperion weitgehend im Griff jener geistesgeschichtlichen, an klassischen Normen orientierten Interpretationsrichtung, fUr weiche die Studie Lawrence Ryans von 1965 paradigmatisch ist.3 Diese iiberaus wirkungsmachtige Arbeit gilt zu Recht als Beginn der neueren Forschung zum Hyperion. Ryan brachte

1 Das beleannte Zitat findet sich in Holderlins Brief an Neuffer vom 21./23. Juli 1793: .. Was Du so schon von der te"a incognita im Reiche der Poesie sagst, trift ganz genau besonders bei einem Romane zu. Vorglinger genug, wenige, die auf neues, schones und geriethen, u. noch eine Un­ermessenheit zu'r Entdekung und Bearbeitung! Das versprech' ich Dir heilig, wenn das Ganze meines Hyperions nicht dreimal besser wird, als dieses Fragment, so muB er one Gnade in's Feuer. Uberhaupt, wenn nicht die Nachwelt meine Richterin wird, wenn ich das mir nicht bald mit propheti­scher Gewisheit sagen lean, so reiB' ich, wie Du, jede Saite von meiner Leier, und begrabe sie in den Schutt der Zeit.- (MHA II, 5(0)

2 So zumindest die Zlihlung der FHA; zu Fragen der Datierung und Einordnung vgl. die Kommentare der Herausgeber in StA, FHA, MHA und DKA.

3 Ryan, uwrence: H6iderlins ,Hyperion<. Exzentrische Bahn und Dichterberuf, Stuttgart 1965.

10 HansjIJrg Bay

die Auseinandersetzung mit HOlderlins Roman wesentlich voran, indem er dessen komplexer Erziihlstruktur Rechnung trug und die Entwickiung des erziihlenden Hyperion in den Mittelpunkt des Interesses riickte. Indem er jedoch die differenzierend betrachteten Verliiufe von Hyperions Leben und Hyperions Schreiben sogleich wieder in die Figur einer einzigen, durch alles Auf und Ab hindurch kontinuierlichen und notwendigen Entwickiung zusammenzog, etablierte er jenes teleologische Interpre­tationsparadigma, das die Forschung itOOler noch bestimmt. Demnach ist es ein ein­ziger ubergreifender und im Grunde von vornherein zielgerichteter ProzeS, der Hype­rion von Tina nach Salamis fiihrt, ein ProzeS der Reifung, an dessen Ende Hyperion die >notwendig< erlebten Extreme und Widerspriiche seines Lebens im erinnemden Ruckblick versohnend zu integrieren vermag und zu innerem Ausgleich und innerer Rube findet.4 Fur Ryan bildet dieses rornanimmanente Telos der in der Eremitage auf Salamis erreichten Ruhe freilich erst den Vorhof zum eigentlichen Ziel, zu Hyperions kiinftigem Dichtertum, das er im .. Nachstens mehr« des Romanendes angekiindigt und in Holderlins spaterem Werk realisiert sieht. Andere Interpreten akzentuierten seither deutlich anders, blieben dem Paradigma ungebrochen gelingender Entwickiung aber treu; zu nennen waren insbesondere die einfluBreichen Arbeiten Ulrich Gaierss, der Hyperion zum Volkserzieher bestinlmt sieht. Ob aber zum Dichter, Volkserzieher oder einfuch zur .. hochsten Bildung des BewuBtseins«6: Hyperion reift, integriert erinnernd die widerstreitenden Lebenstendenzen und erkennt, mit seiner leidvollen Geschichte versohnt, am Ende seine wahre Bestirnmung. Diese von Ryan initiierte und in den 70er-Jahren ausgebaute Lesart von H6lderlins Roman dominiert die Forschung bis heute.7

4 Nicht unausweichlich, aber typischerweise gehOrt zu dieser Interpretationslinie die auch von Ryan praktizierte Inanspruchnahme des aus den Vorstufen in die Endfassung importierten und jenseits seiner priizisen astronomischen Bedeutung oft recht beliebig ausgelegten Bildes der exzentrischen Balm, das dann mit der in der Vorrede zur Endfassung angekiindigten -AufiOsung der Dissonanze!l4C (1,3) zusammengelesen wird, um die dem Roman unterlegte Teleologie autoritativ abzusichem.

5 Gaier, Ulrich: Holderlins >Hyperion<: Compendium, Ronum, Rede, in: HIb 21 (1978/79), S. 88-143; ders.: Holderlin. Eine Einfiihrung, TiibingenlBasel 1993, S. 57-220. Die vor aUem auf der Einbeziehung der von Ryan weitgehend ausgeblendeten >Deutschenschelte< in Hyperions Entwick­lungsprozeB beruhende Bestimmung zurn Volkserzieher widerspricht der von Ryan konstatierten politischen Entsagung Hyperions; Gaier folgt hier Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhillmis von Poesie, Reflexion und Revolution bei HIJlderlin, Stuttgart 1975, S. 156-163; vgI. ders.: Friedrich Holderlins Roman >Hyperion< oder >Der Eremit in Griechenland<, in: Bad Homburger Holderlin-Vortrage 1986/87, S. 26-35. Die Abweichung zwischen den Lesarten Ryans und Gaiers ist zugIeich die wohl gewichigste Differenz, die in vielfachen Abschattierungen das Spektrum der am teleologischen Paradigma orientierten Arbeiten durchzieht.

6 So Jochen Schmidt 1994 in seinem Kommentar zurn Hyperion. (DKA II, 959)

7 Es ware sinnlos, hier iiber die genannten, besonders einfluBreichen DarsteUungen hinaus eine groBere AnzahI von Arbeiten aufzulisten, zumal die einzelnen Annahmen des skizzierten Paradigmas oft nur mehr als nicht weiter reflektierte Voraussetzungen eingehen. Hingewiesen sei auf die differen­zierte, Gaiers Lesart nahestehende Untersuchung von Mark William Roche: Dynamic Stillness. Philosophical Conceptions of >RUM< in Schiller, Holderlin, Buchner, and Heine, Tiibingen 1987, S. 63-119, und, um wenigstens eine neu erschienene Studie zu nennen, auf die Ausarbeitung bei Helmut Hiihn: Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Holderlins Denken, Stuttgart/Weimar 1997.

Vorwort 11

Um kein MiBveIStandnis aufkommen zu lassen: Gerade die genannten Arbeiten von Ryan und Gaier haben zweifellos Entscheidendes zur Erforschung von Holderlins Roman beigetragen, und die skizzierte Interpretationslinie war keineswegs unproduk­tiv. Nur baben die Fiille von Detailbeobachtungen und das aufgetiirmte geistesge­schichtliche Wissen nichts an der Gesamtlesart des Hyperion geandert, und obgleich verein7.eh auch immer wieder abweichende DaIStellungen vorgelegt wurden8, scheinen die mit dem Paradigma gelingender Entwickiung verbundenen Annahmen inzwischen derart in den Roman eingeschrieben zu sein, daB sie nicht nur im mainstream der Diskussion bisweilen fast den Charakter selbstveIStiindlicher Voraussetzungen an­genommen haben.9

Es schien daher an der Zeit, den Hyperion aus dem interpretatorischen Domros­chenschlaf zu wecken, in dem ibn die Literaturwissenschaft seit den 70er-Jahren hat schlummem lassen. Der vorliegende Sammelband rUckt eine breite Palette von Aspek­ten ins Licht, die von dem alten geistesgeschichtlichen Interpretationsparadigma ausgeblendet wurden. Obwohl dabei erwiinschtermaBen unteISchiedliche methodisch­theoretische Positionen vertreten sind, zielt seine Konzeption nicht primar darauf ab, aktuelle methodische Ansiitze an Holderlins Roman heranzutragen, sondem ihn durch Lektiiren neu zu eISchlieBen, die yom ProblembewuBtsein her auf der Hohe der Zeit sind.10 Dabei kann es nicht darum gehen, gemeinsam eine bestimmte Lesart zu postu­lieren, wohl aber darum, die FOISchungslage zu offnen und wieder eine fruchtbare

8 Auch dies besonders in den 70er-Iahren. Die hOchst unterschiedlichen Arbeiten, in denen eine explizite Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsparadigma leider fast immer (ehlt, kOnnen bier nicht im einzelnen diskutiert werden; einige der wichtigeren seien wenigstens benannt: Lepper, Gisbert: ZeiJJcritilc in Holderlins >Hyperion<, in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe fUr Heinz OUo Burger, hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann, Berlin 1968, S. 188-207; Unk, JUrgen: >Hyperion< als Nationalepos in Prosa, in: HIb 1969nO, S. 158-194; Schuffels, Klaus: Schiksaal und Revolution. Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: LpH 2, 1977, S. 35-53; HOrisch, Iochen: Die IIfJOf!tische Logikft des >Hyperion<. Versuch iJber Holderlins Versuch einer Subversion der Regeln des Diskurses, in: Urszenen. Literaturwissenschaft als Dislcursanalyse und Dislcurskritik, hg. van Friedrich A. Kittler und Horst Turk, Frankfurt/M. 1977, S. 167-193; Klein­schmidt, Erich: Die weibliche Maske der Poesie: zur Geschlechterimmanenz von Autorschaft um 1800 in der Poetilc Friedrich HOlderlins, in: DVjS 67, R 4, 1993, S. 625·647; Unk, Iiirgen: Holderlin-Rousseau, retour inventif, Paris 1995 (deutsche Ausgabe: Westdeutscher Verlag, Opladen 1998).

9 Das zeigen oft >K1einigkeiten( wie die, daB Michael Knaupp 1993 in der von ihm herausgegebenen Studienausgabe den Beginn von Hyperions Schreiben auf das Iahr 1771 datieren zu kOnnen meint (MBA m, 319) - cine Annahme, die allein in der Voraussetzung begriindet sein kann, daB Hyperions Erziihlen bruchlos aus seinem Leben hervorgehe. VgI. auch Knaupps schematische Darstellung der Rananstruktur, die die angenommene Kontinuitiit zwischen erlebendem und erziihlendem Hyperion in einer bruchlos verlaufenden schneckenf6nnigen Spirale visualisiert; in: Die raum-zeitliche Strulaur des >Hyperion<, in: LpH 8, 1988, S. 15.

10 Besonders schmerzlich ist dabei angesichts der Forschungssituation, daB aufgrund einer kurzfristigen Absage auch in diesem Band eine entschieden feministisch orientierte Lektiire fehlt; insbesondere die Beitriige von Wolfram Groddeck und Claudia Albert geben dafiir aber wertvolle Hinweise. Noch immer hat bier lediglich der Aufsatz von Marlies Ianz Eingang in die Diskussion gefunden (Hillder­lins Flamme - Zur Bildwerdung der Frau im >Hyperion<, in: HIb 22 [1980/81], S. 122-142). Ergiinzeod vgl. auBerdem: Rosolowski, Tacey A: Specular Reciprocity and the Construction o/the Feminine in Friedrich Holderlin's >Hyperion<, in: Modern Language Studies 25, R 3, Summer 1995, S. 43-75. Beide Arbeiten bleiben allerdings dem Entwicklungsparadigma verpflichtet.

12 HansjiJrg Bay

w~IlSChaftliche Di<>kussion in Gang zu bringen, .. verborgene Wegecc zu erkunden und .. auf unversuchten Bahnen« in .. unentdekte Gegenden .. l1 der terra incognita von HOlderlins Roman vorzudringen.

Die Beitriige dieses Bandes zeiehnen nieht das gewohnte ruhige und einigermaBen biedere Bild des Hyperion; er erscheint hier sehr viel problematischer, widerspriichli­cher, briichiger, sehr viel modemer. Zweifel an einer biindig gelingenden .. Auflosung der Dissonanzen .. bewegen die meisten Aufsiitze, und das Interesse gilt iiberwiegend dem, was Dieht glatt >aufgeht< in HOlderlins Roman: Quer durch die jeweils behandel­ten Themen werden die Spaltungen und Ambivalenzen, die Umkehrungen, Verschriin­kungen und Inversionen, die Paradoxe und Aporien des Hyperion ins Auge gefaBt. Antikes Griechenland und deutsche Gegenwart, Exil und Eremitage, Utopie und Quietismus, Liebe und Gewalt, die Sehnsucht nach dem Vater und die nach der Mutter, Gelebtes und Geschriebenes, Reden und Schreiben, ja selbst noch Hyperion und die spiiteren Texte H6lderlins erscheinen nieht als klar voneinander geschieden und aufeinander bezogen, sondem als eigentiimlich in sich gespalten und ineinander verschriinkt. In diesen Verwerfungen tun sich die Abgriinde des Textes auf: Die Verschmelzungswiinsche, die in Mordlust urnzuschlagen drohen, die gefahrliche Instabilitiit der Verschrankungen des Vaterlichen und Miitterlichen, die Aggression und Gewaltbereitschaft im allgemeinen und die eliminatorische Seite der revolutionii­ren Energien im besonderen, die Begriindung der Autorschaft im Tod der geliebten Frau und die aporetische Bemiihung, schreibend das Abwesende ins Leben zu rufen. Hyperion ist hier nicht mehr der ruhige, >traditionelle< Roman, der H6lderlins aufre­gend wilder und modemer Lyrik der spiiteren Zeit vorausliegt, sondem eher der Ort, an dem sich sein Autor durchschreibt zur spateren >Modemitiit< oder an dem diese in sein Schreiben hereinbricht.

Die Anordnung der Beitrage ist unvermeidlich kontingent, aber durchaus mit Bedacht gewahlt. AnfilDg und Ende vollziehen, H6lderlin angemessen, eine Inversion in dessen Werk: Der Band beginnt mit dem Beitrag von Rainer Nagele, der von den spateren Texten H6lderlins herkommend den Hyperion befragt; am Ende steht der thematisch in manchem korrespondierende AulSatz von Wolf Kittler, der sich intensiv mit HOlder­lins Weg durch die Vorstufen auseinandersetzt. Auf Niigeles Essay folgen die drei Beitriige von Alexander Honold, Jiirgen Link und mir, die den Roman jeweils in einer relativ umfassenden Weise behandeIn, wahrend sich die Arbeiten von Ute Guzzoni und Harald Weilnb6ck dann auf eine einzige zentrale Thematik konzentrieren. Mit den Aufsatzen von Claudia Albert, Wolfram Groddeck, Theresia Birkenhauer und auch Wolf Kittler stehen danach vier Beitrage hintereinander, die in je unterschiedlicher Weise den Komplex von Sprechen und Schreiben, Rede und Schrift problematisieren.

Von der langjahrigen Beschiiftigung mit H6Iderlins spiiteren Texten herkommend gehtRainer Nagele (Andenken an >Hyperion<) dem Zusammenhang von Erkenntnis,

11 Brief NeuffelS an Hiilderlin yom 20. Juli 1793, MHAII, 497.

Vorwort 13

Sprache und Erinnerung nach und untersucht, wie sich der Autor im Hyperion zu seiner dichterischen Sprache durcharbeite, erst eigentlich zu >Holderlin< werde. Dabei folgt Nagele immer wieder den Echos der im Hyperion versammelten Motive in HolderliJl'l spaterer Lyrik, dem Hall des Wortes >Vater< besonders und dem Motiv der verborgenen Mutter. Das Gleiten yom Viiterlichen ins Miitterliche befragt er kritisch auf seine inharenten Gewaltpotentiale und politischen Implikationen. Wiihrend die Figur Hyperion einer ausgrenzenden Logik der Reinheit verhaftet bleibe, bewege sich die poetische Arbeit des Romans davon weg ins Umeine als Bedingung der Poesie.

Alexander Honold (Hyperions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen) analysiert mit Blick auf die topographischen Konstellationen des Romans den in sich gespaltenen Raum und Zeit-Raum Hyperions, die Inversionen von Deutschland und Griechenland, Vergangenheit und Gegenwart und den Versuch eines Uber-Setzens nach Deutschland. Ausgehend von der in der Forschung sonst unbeachteten Erziihlung von Alabandas Jugend, die er als Modell des Gesamtromans begreift, untersucht er die Verschriinkung von biniirer Polaritiit und Zyklizitiit im Hyperion und begreift die exzentrische Bahn als letztlich aporetisches Konfliktmodell, .. in dem unauibebbare Zweiheit und der Versuch, diese zyklisch >einzuholen<, widerstreitencc.

Von einer Problematisierung des ungewohnlichen Romanendes ausgehend unter­sucht mein eigener Beitrag (>Hyperion< ambivalent) die massiven Ambivalenzen, in denen die »dissonante Dialektib des Textes endet. Eine abschlieBende IIAuibebung der Dissonanzencc kann demnach nieht gelingen, weil die utopisch-revolutionare Dynamik der Lebensgeschichte Hyperions und sein politisches Scheitem in der erinnemden Retlexion unbewiiltigt bleiben. Eine die kompositorische Funktion des Schicksalsliedes akzentuierende Untersuchung metaphorischer Korrespondenzen verfolgt die quer zu den linearen Verliiufen sich abspielende Kommunikation unterschiedlicher Positionen des Textes, die viel eher utopische Qualitiiten aufweist als die auf der Ausschaltung echter Differenz beruhenden Harmonievorstellungen des Romans.

Gegen banalisierende Fehllektiiren begreift Jurgen Link (Spiralen der inventiven »Ruckkehr zur Natur«. Uber den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des >Hype­rion<) Rousseaus Geschichtsdenken als nieht-lineare Historisierung der taxonomischen >Evolutions<-Theorie Buffons und damit die >Riickkehr zur Natur< als partielles Zuriickgehen mit dem Ziel emeuten, der >Natur<-Basis gemiiBeren Voranschreitens. Formuliert im hier neu erorterten astronomischen Modell der exzentrischen Bahn bestimme diese Figur des >retour inventif( den Hyperion im Ganzen ebenso wie die einzelnen Handlungssequenzen. An der Behandlung des Athers zeigt Link dabei exemplarisch, wie fUr HOlderlin der Bezug auf Rousseau mit dem auf modernstes >naturgeschichtliches< Wissen der Autlcliirung einhergehe.

In philosophischer Perspektive untersucht Ute Guzzoni (»lch Liebe diP Griechen­land uberall. Es tragt die Farbe meines Herzens.« Einige Bemerkungen zu Himmel und Natur im >Hyperion<) den >Naturraum< von Holderlins Roman. Am Bereich des Hirnmels fragt sie exemplarisch nach Hyperions komplexem Verhiiltnis zu der Riium­lichkeit und Zeitlichkeit der ihn umgebenden Natur, das sie ankniipfend an Heidegger als .. Sicheinlassen auf den Zeit-Spiel-Raum der Weltcc dem homogenen und isotropen

14 Hansj6rg Bay

Raumversmndnis der Neuzeit entgegensetzt. Der Himmel erscheine nieht einfaeh als etwas Gegebenes, sondem als ein Hyperion betreffendes und im Zusammenspiel zwischen Mensch und Welt sich ergebendes Gesehehen, dessen offenen und einheitlieh sinnlieh-geistigen Charakter Guzzoni betont.

Der von der Forschung oft ausgesparten Gewaltproblematik im >Hyperion< wendet sieh Harald WeilnbOck zu (AlWie an den FufJen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschieuderttt, Die Gewaltthematik in H6lderlins >Hyperion< in beziehungsanalyti­scher Perspektive). Methodisch ausgehend von naehfreudianisehen Konzepten der Interaktion beliiBt er es nieht bei einer Bestandsaufnahme der Gewaltphiinomene, sondem fragt in beziehungsdynamiseh orientierter Perspektive nach dem Zusammen­hang von Gewalt und deren vermeintliehem Gegenteil, der Liebe. Nicht nur fiir die Figur Hyperion wird dabei eine Spaltungsdynamik zwischen Aggression und Idealisie­rung konstatiert; aueh in der impliziten Rezeptionssteuerung des Textes sieht Weiln­bOck eine Aufrechterhaltung von Dynamiken der Idealisierung, Ausgrenzung, Abwehr und Spaltung.

Um das BewuBtsein fiir jene Briiehe zu sehiirfen, die rein diskursiv nieht themati­sierbar sind, untersueht Claudia Albert (Allharmonie und Schweigen - musikalische Motive in H6lderlins >Hyperion<) die musikalisehe Metaphorik des Romans. Diese erseheine gerade an den ).Verlegenheitsstellen« des Textes, an denen Einheit und Harmonie zwar den Fluehtpunkt bildeten, aber nieht erreicht wiirden; letztlich ver­sehiirfe sie aber nur die Defizienz der Spraehe gegeniiber der Welteinheit, da die musikalisch postulierten Vermittlungsleistungen spraehlieh nieht erfiillbar seien. In diesem Zusammenhang von Musik, Spraehe und Verstummen begreift Albert aueh den Stellenwert von Weibliehkeit und die Bedeutung von Diotimas Tod fiir die Autor­sehaft Hyperions.

Ausgehend von der Frage, was es bedeutet, daB eine Grabschrift das Motto des ersten Bandes bildet, geht Wolfram Groddeck (»ll6rst Du? Mrst Du? Diotima's Grab!« Zur Aporie der Schriftlichkeit in den >Hyperion<-Briefen) der Aporie der Sehrift nach, die auf Priisenz und Leben ziele und doch auf Abwesenheit und Tod beruhe. H61derlin habe diese Aporie im Rahmen des Hyperion wohl erkannt, aber nicht zu lOsen vermoeht; ein Ausweg aus diesem Dilemma deute sieh lediglieh in dem paradoxen Versueh einer Beschworung des lebendigen Wortes aus der Sehrift an, einem Versueh, den Groddeek in einer iiberrasehenden Deutung von Diotimas Bestat­tungsweise aufzeigt. Am Ende des Romans weise diese ebenso wie der Bezug auf Empedokles als den Erfinder der Rhetorik voraus auf H61derlins neue Diehtungs­konzeption.

Die sonst lediglieh als Beleg fiir H61derlins Besehiiftigung mit seinem Drama gewertete Empedokles-Passage des Romans untersueht aueh Theresia Birkenhauer (Hyperion auf dem Atna - »[ ... ) oder wie du es sonst noch heifJen magst ... Modalitii­ten indirekten Sprechens). In Hyperions Auseinandersetzung mit dem Tad des Empe­dokles auf dem Atna sieht sie einen entseheidenden Wendepunkt seiner Entwicklung, da ein neues Verstiindnis dieses Todes ibm aueh ermogliche, die eigenen Todeswiin­sehe zu bewiiltigen. Die Versehriinkung und Vielfalt der Stimmen, die in der Passage

Vorwort 15

aufeinandertreffen, weise in ihrer diskontinuierlichen Struktur voraus auf HOlderlins Konzeption des Dramatischen. In diesem Sinne begreift Birkenhauer auch den Roman selbst als dramatisch, die »AuflOsung der Dissonanzenj( als ihre Entfaltung und Dar­stellung.

Wolf Kittler (Odipus oder Ajax. Hyperions Weg von Korinth nach Salamis) schlieSlich untersucht die »allmiihliche Verfertigung der Verwandtschaften von einer Fassung des Romans zur anderenM, urn zu zeigen, wie sich deren Verschiebung einem Tabu verdanke, das nur lesbar werde, wenn man die genealogischen Verhiiltnisse aller Fassungen zusammennehme. Das Begehren richte sich auf die Verschmelzung mit der Mutter; wei! diese aber zugleich das Allerbedrohlichste sei, gelte es auch dem Namen des Vaters als dem Garanten der Trennungen. In diesen Konstellationen und der Unmoglichkeit des Geschlechterverhaltnisses sieht Kittler den Abgrund, aus dem in vater-Iandischer Umkehr, die aus dem HeIden einen dem wahnsinnigen Ajax naheste­henden Dichter mache, Hyperions halt- und grund-loses, modernes Schreiben her­vorgehe.

In der Hoffnung, daB die hier versammelten Beitrage auch iiber diesen Band hinaus Bewegung in die Diskussion urn HOlderlins Roman bringen werden, gilt mein Dank allen, die durch Hinweise, Diskussionen und Unterstiitzung bei der Erstellung des Manuskripts zum Zustandekommen dieses Bandes beigetragen und seine Entstehung geduldig begleitet haben: Neriman Bayram, Wolfram Groddeck, Christof Hamann, Hans Peter Herrmann, Alexander Honold, Jiirgen Link, Rainer Nagele und Daniel Traber.

Freiburg, im Februar 1998 Hansjorg Bay