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Diedrich Diederichsen Sampling und Montage. Modelle anderer Autorschaften in der Kulturindustrie und ihre notwendige Nähe zum Diebstahl Sampling war in den Diskursen zur bildenden Kunst und vor allem zur Pop-Musik in den 90er Jahren ein reichlich diskutiertes und mit allerlei Investitionen verbundenes Schlüsselwort, l das u. a. die Frage des Plagiats, der Anmaßung von Autorschaft, des Zitats in seinen unterschiedlichen rhetorischen Rahmungen zusammenzufassen und auf die scheinbar solide Grundlage einer technischen oder tech- nologisch neuen Situation zu stellen schien: der Digitalisierung. Als Sampling wurden indes auch Probleme diskutiert, die es manifest oder latent schon lange vorher gegeben hatte, auch ohne Digitalität. Fragen, die mit der Benutzung schon fertigen Materials in den Kün- sten zusammenhängen und damit zurÜckgehen auf die erste Gene- ration technisch gestützter - nicht mehr von Handschrift und Handwerk herleitbarer - Künste an der letzten Jahrhundertv.'ende. So wie es für das digitale Zeitalter einen pessimistischen Gegenbe- griff gab, die Simulation, so hatte es auch für den techno-optimisti- schen Vorläufer des Sampling, die Montage, diverse überwiegend pessimistische Gegenvorstellungen gegeben, u. a. jene, daß die tech- nisch gestützten Künste in erster Linie Künste der Reproduktion seien - und damit immer auch Künste des Plagiats. Daß aber das Plagiat schon in einem ganz naheliegenden Sinne nicht nur als eine Strategie des bloßen Diebstahls, sondern wie jeder andere Diebstahl auch produktiv als ein Akt der Aneignung verstan- 1 SChOll allein der Autor dieses Aufsatzes hat zum Thema »$ampling« bei so verschie- denen Veranstaltungen wie einer größeren Konferenz (mit Publikation) der .Lehr- kanzel für Wissenstransfer. an der Hochschule für angewandte Kunst/\Xlien im Jahre 1994 gesprochen; bei einer Vortragsreihe der Berliner fl1r neue Musik (1996), einer Tagung der Darrnstädter Gesellschaft fl1r Musik und Musik- ' erziehung (1995); er hat eine Vortrags- und Ausstellungsreihe mit Roberto Ohr! u. a. in Düsseldorf, Frankfurt, Regensburg, Reykjavik, Berlin und Stuttgart zwi- schen 199' und 1994 durchgeführt und in diversen Readern und eigenen Publika- tionen über das Thema geschrieben. Das haben außerdem und teilweise auch weit extensiver im deutschsprachigen Raum Marrin Pesch, Sascha Kösch, Jochen Bom, Gabride Klein und viele andere getan. 39 0 I t ! J den werden kann, verbindet die techno-optimistischen Redewei- sen, die der Montage ebenso wie die des Sampling. Von diesen Hoffnungen und Investitionen in diese Kategorie soll hier zunächst die Rede sein: von der mit Montage klassisch und Sampling jüngst verbundenen Idee der Aneignung als Strategie unter ganz unter- schiedlichen Voraussetzungen: als Vergesellschaftung exklusiv bür- gerlichen Eigentums, als Strategie der Subversion und schließlich als paradoxe Strategie der Selbstverwirklichung. Die Montage war in verschiedenen Bedeutungen auch ein Zauber- wort des Modernismus. Es sollte einen Zusammenhang oder eine Versöhnung von künstlerischem, gesellschaftlichem und techni- schem Fortschritt herbeizaubern. Wenn die berühmten pejorativen und pessimistischen Kategorien »Kultmindustrie« und »Spektakel« für den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kunst und Massen- kultur einerseits, zwischen gesellschaftlichem und technischem Fortschritt andererseits standen, vvar die Montage, vor allem in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die Kategorie, die ein optimistisches Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen von Entwick1ung be- sümmen sollte. Es lohnt sich dabei, etwas genauer zu schauen, welche Aufgaben die Montage genau lösen sollte. Investitionen in den Begriff gab es nämlich an den verschiedensten Fronten: am prominentesten im Film, wobei man insbesondere den frühen sowjetischen damit in Verbindung bringt. Gerade im Umfeld des sowjetischen Kunstakti- vismus findet man den Begriff der Montage aber auch im Zusam- menhang mit anderen Künsten, vor allem dem Grafik-Design, etwa bei der Gestaltung von Plakaten und Zeitschriften. 2 Für Zeitschrif- ten- und Plakatgestalrung spielt der Begriff der Montage auch in an- deren einflußreichen modernistischen Bewegungen der 20er .jen- seits der sogenannten freien Kunst eine Schlüsselrolle: 3 etwa bei den deutschen Ringgestaltern oder bei denjenigen dokumentarisch ori- entierten amerikanischen Fotografen, die sich über die Präsentation ihrer Arbeit in Büchern, generell über das Verhältnis von Fotografie 2 Vgl. etwa Margarita Tilpitsyn: »Prom the Politics of Montage to the Montage of Politics - Soviet Pracrice 1919 thrOllgh 1937«, in: Maud Lavin/Matthew'I<:itdbaum tl. a. (Hg.); Montage and Modern Lift, Katalog zur Ausstellung in Boston, Vancou- ver, Brüssel 199211993, Boscon 1992, S. 82-127. Vgl. Addan Frmiger: Der fofemch und seine Zeichen, Wiesbaden 1998. 39 1

I Diedrich Diederichsen Sampling und Montage. … · Sampling war in den Diskursen zur bildenden Kunst und vor allem ... seien - und damit immer auch Künste des Plagiats. Daß aber

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Diedrich Diederichsen Sampling und Montage.

Modelle anderer Autorschaften in der Kulturindustrie und ihre notwendige Nähe zum Diebstahl

Sampling war in den Diskursen zur bildenden Kunst und vor allem zur Pop-Musik in den 90er Jahren ein reichlich diskutiertes und mit allerlei Investitionen verbundenes Schlüsselwort, l das u. a. die Frage des Plagiats, der Anmaßung von Autorschaft, des Zitats in seinen unterschiedlichen rhetorischen Rahmungen zusammenzufassen und auf die scheinbar solide Grundlage einer technischen oder tech­nologisch neuen Situation zu stellen schien: der Digitalisierung. Als Sampling wurden indes auch Probleme diskutiert, die es manifest oder latent schon lange vorher gegeben hatte, auch ohne Digitalität. Fragen, die mit der Benutzung schon fertigen Materials in den Kün­sten zusammenhängen und damit zurÜckgehen auf die erste Gene­ration technisch gestützter - nicht mehr von Handschrift und Handwerk herleitbarer - Künste an der letzten Jahrhundertv.'ende. So wie es für das digitale Zeitalter einen pessimistischen Gegenbe­griff gab, die Simulation, so hatte es auch für den techno-optimisti­schen Vorläufer des Sampling, die Montage, diverse überwiegend pessimistische Gegenvorstellungen gegeben, u. a. jene, daß die tech­nisch gestützten Künste in erster Linie Künste der Reproduktion seien - und damit immer auch Künste des Plagiats.

Daß aber das Plagiat schon in einem ganz naheliegenden Sinne nicht nur als eine Strategie des bloßen Diebstahls, sondern wie jeder andere Diebstahl auch produktiv als ein Akt der Aneignung verstan-

1 SChOll allein der Autor dieses Aufsatzes hat zum Thema »$ampling« bei so verschie-denen Veranstaltungen wie einer größeren Konferenz (mit Publikation) der .Lehr­kanzel für Wissenstransfer. an der Hochschule für angewandte Kunst/\Xlien im Jahre 1994 gesprochen; bei einer Vortragsreihe der Berliner G~el1schaft fl1r neue Musik (1996), einer Tagung der Darrnstädter Gesellschaft fl1r Musik und Musik- ' erziehung (1995); er hat eine Vortrags- und Ausstellungsreihe mit Roberto Ohr! u. a. in Düsseldorf, Frankfurt, Regensburg, Reykjavik, Berlin und Stuttgart zwi­

schen 199' und 1994 durchgeführt und in diversen Readern und eigenen Publika­tionen über das Thema geschrieben. Das haben außerdem und teilweise auch weit extensiver im deutschsprachigen Raum Marrin Pesch, Sascha Kösch, Jochen Bom, Gabride Klein und viele andere getan.

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den werden kann, verbindet die techno-optimistischen Redewei­sen, die der Montage ebenso wie die des Sampling. Von diesen Hoffnungen und Investitionen in diese Kategorie soll hier zunächst die Rede sein: von der mit Montage klassisch und Sampling jüngst verbundenen Idee der Aneignung als Strategie unter ganz unter­schiedlichen Voraussetzungen: als Vergesellschaftung exklusiv bür­gerlichen Eigentums, als Strategie der Subversion und schließlich als paradoxe Strategie der Selbstverwirklichung.

Die Montage war in verschiedenen Bedeutungen auch ein Zauber­wort des Modernismus. Es sollte einen Zusammenhang oder eine Versöhnung von künstlerischem, gesellschaftlichem und techni­schem Fortschritt herbeizaubern. Wenn die berühmten pejorativen und pessimistischen Kategorien »Kultmindustrie« und »Spektakel« für den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Kunst und Massen­kultur einerseits, zwischen gesellschaftlichem und technischem Fortschritt andererseits standen, vvar die Montage, vor allem in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die Kategorie, die ein optimistisches Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen von Entwick1ung be­sümmen sollte.

Es lohnt sich dabei, etwas genauer zu schauen, welche Aufgaben die Montage genau lösen sollte. Investitionen in den Begriff gab es nämlich an den verschiedensten Fronten: am prominentesten im Film, wobei man insbesondere den frühen sowjetischen damit in Verbindung bringt. Gerade im Umfeld des sowjetischen Kunstakti­vismus findet man den Begriff der Montage aber auch im Zusam­menhang mit anderen Künsten, vor allem dem Grafik-Design, etwa bei der Gestaltung von Plakaten und Zeitschriften.2 Für Zeitschrif­ten- und Plakatgestalrung spielt der Begriff der Montage auch in an­deren einflußreichen modernistischen Bewegungen der 20er .jen­seits der sogenannten freien Kunst eine Schlüsselrolle:3 etwa bei den deutschen Ringgestaltern oder bei denjenigen dokumentarisch ori­entierten amerikanischen Fotografen, die sich über die Präsentation ihrer Arbeit in Büchern, generell über das Verhältnis von Fotografie

2 Vgl. etwa Margarita Tilpitsyn: »Prom the Politics of Montage to the Montage of Politics - Soviet Pracrice 1919 thrOllgh 1937«, in: Maud Lavin/Matthew'I<:itdbaum tl. a. (Hg.); Montage and Modern Lift, Katalog zur Ausstellung in Boston, Vancou­ver, Brüssel 199211993, Boscon 1992, S. 82-127. V gl. Addan Frmiger: Der fofemch und seine Zeichen, Wiesbaden 1998.

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schmidt
Schreibmaschinentext
in: Anne-Kathrin Reuleke: Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künste, Frankfurt/M. 2006

und Kontext Gedanken machten.4 Die Fotomontage erscheint etwa bei Moholy-Nagy als Verfahren konstruktivistischer Gestaltung in den verschiedensten Kontexten (des Bauhauses wie seiner eigenen Arbeit, im Film wie in dem von ihm erfundenen Genre »Typofoto«) und Ausbaustufen.5 Schließlich ist die Montage ein Verfahren, das einen zentralen Platz in Walter Benjamins diversen Überlegungen zn neuen hssungen künsrlerischer Produktivität einnimmt - sei es produktionsästhetisch gedacht als kinematographisches Verfahren oder eines bei der Herstellung von Tafelbildern, sei es rezeptionsäs­thetisch in der Theorie des Chocs oder allgemeiner in der Theorie des dialektischen Bildes und allgemein als das moderne künstleri­sche Verfahren schlechthin.6 Bei Peter Bürger steht sie für die Werk­konstitution in der Avantgarde, aber in ganz unterschiedlichem Sinne als rein technisches Verfahren oder als Integration »schein­loser Trümmer der Empirie« (Adorno) in der bildkünstlerischen Collage.? Aber auch bei Adorno kommt die Montage nicht nur in diesem einen Sinne vor, sondern auch sehr pessimistisch als ein typi­sches Kennzeichen der Kulturindustrie.8

Bei vielen Verwendungen des Begriffs gehen deskriptiver und normativer Gebrauch durcheinander, ebenso wie seine emphatische Aufladung mit seiner nüchternen Rückführung auf die Notwendig­keiten neuer künsrlerischerTechniken. Interessant ist oft die unfrei­willige Verschmelzung aus dieser Notwendigkeit der - mit dem Film und anderen montierten Kunstwerken auftauchenden- Tech­nik und einer normativ-ästhetischen Forderung an alle Künste.

4 Hierz,u und 'LU anderen Effekten des Montage-Gedankens auf die <llllerikanische Fotografie und Foto-Publizistik vgL Sally Stein: .,Good renees lllake good neighbors,. American ResiwUlce to Photolllontage Between·Wars«, in: Lavin/Tei­

reibaulll: Montage (Anm. 2), S, 129-189. VgL Liszio Moholy-Nagy: Von Material zu Archiuktur, Faksimilenachdruck der Ausgabe von 1929, Berlin 2001, besonders S. J5. 119 EE, sowie ders,: Milkrei, f"oto­

grafo, Film, Faksimilenachdruck der Ausgabe von 1927, Rerlin 1986, besonders

S. 36 II., S. 120-137. 6 Vor aUern in dieser letzten, hier besonders interessierenden Verwendung vgi. Wal­

ter Benjamin: .Der Autor als Produzenr«, in: ders.: Gesammelte Schriftm, Bd.Il.2, hg. y. Rolf 1iedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974 ff., S. 697 ff., und natürlich an vielen Stdlen im .Passagen-\Verk«.

7 Peter Bürger: Theorie der Alltmtgarde, Frankfurt/M. 1974, S. 98-u6. 8 Max HorkheimerfThcodof W. Adorno; Dialektik der Aufkliirttng. Philosophische

Fragmente, Frankfurt/M. 1969, S. 147·

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Bürger bemerkt zu Recht, daß die Montage natürlich gerade beim Film (und überall dort, wo sie zur für die Gattung konstitutiven Praxis gehört) der Illusion zuarbeiten kann. Darüber hinans fallen andere Inkonsistenzen gleich auf: Montage taucht einerseits als Mo­ment des Unversöhnten in der (kritischen) Bearbeitung des Gegen­stands auf, als Moment des Unüberbrückbaren, andererseits gerade als die Vermittlung von Gegensätzen mit dem Ziel einer dialektisch­synthetischen Schließung durch die Bearbeitung.

Zieht man aus diesen unterschiedlichen Verwendungen des Be­griffs der Monta~e dennoch ein Subsrrat, so bleiben bestimmte Ideen mit hoher Uberlebensfähigkeit übrig. Zum einen gibt es die Überlegung, daß die Montage ein Verfahren sei, das die neuen Technologien und mit ihnen verbundenen Verfall ren für einen auf­klärerischen und aufgeklärten Umgang mit Gestaltullgsmitteln IlUtzt. In der Montage sind die Nähte genau wie die Herkunftskon­texte der montierten Bestandteile erkennbar und damit auch die ge­stalterische oder künstlerische Praxis selbst. Alle Ursprünge und Quellen sind freigelegt und können keine höhere Originalität mehr beanspruchen: Egal ob man einer so verstandenen Montage das Argument zuschreibt, nicht der Ursprung zähle .. sondern die Kom­bination - und die Montage sei der wahre Ursprung; oder ob man argumentiert, es gäbe keine unterschiedlichen Grade der Produk­tion, beide Argunlentat10nen lassen Kategorien des Primären in der Kunst kollabieren.

Das erkennbar Gemachte der Kunst ist nun nicht nur Ergebnis einer nenen Verwendung neuer Mittel, es ist auch eine Verwen­dung, die nicht mehr kaschiert - als meisterlich, als natürlich, als bloße Reflexion von Wirklichkeit. Nein, Position und Mittel der Produzenten sind markiert und ausgestellt und stehen so ihrerseits zur Diskussion. Montage heigt also Nutzen der neuen 'Iechnologie für etwas aus gesellschafts-ethischen Gründen (Aufklärung, Demo­kratisierung) und aus ästhetisch-ethischen Gründen (Desillusionie­rung) Wünschenswertes, also etwas, das auch ohne die Technologie schon als Ziel formulierbar gewesen wäre, das aber erst durch die Be­nutzung neuer Technologie möglich oder zumindest stark erleichtert zu werden scheint. Dabei spielen gerade das dialektische verhältnis des durch Film lind Foto gesteigerten Illusionismus-Koeffizienten und die gleichzeitige desillusionierende Ausstellung und so Aneig­nung der für die fllusionen notwendigen Mittel eine große Rolle.

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Zum anderen steHt man fest. daß durch die Benutzung der neUen Technologie - Foto und Film - die Kunst die auf individuelle Fähig­keiten zugeschnittenen Legitimationsdiskurse des 19. Jahrhunderts verläßt: die Diskurse der Sensibilität, der Seltenheit, des Dekaden­ten und Emptlndsamen. des Könners und des Meisters und so die größte narzißtische Kränkung für das bürgerliche Individuum und anderer bekannter Humanismen akzeptiert. ja feiert: die Unterwer­fung unter ein Objektives. Hier ist dieses Objektive aber seltener die Politik, die Politisierung oder der Fonschritt. sondern die Technik selbst. Denn da man über das Objektivum schlechthin - die Gesell­schaft - dennoch subjektiv streiten kann. wählt man einen anderen Begriff des Objektiven, um sich. vielleicht, von hinten auch an das gesellschaftlich Objektive anschleichen zu können: den technischen oder naturwissenschaftlichen FortSchritt - übrigens eine Strategie" die auch heute noch weit verbreitet ist. Der klassische Fall für die in Wahrheit absolute Unklarheit und Interpretationsbedürftigkeit solcher Unterwerfung unter oder Legitimation durch solche neuen 'lechnologien ist der Futurismus; erkennbar damno daß sowohl rechtsradikale wie linksradikale Versionen möglich waren. Entschei­dend aber an dieser zweiten Version ist, dafS man nicht nur - mit Hilfe der Technologie und durch sie legitimiert - das tut, was man sowieso forderte, je nachdem ästhetisch oder politisch begründet, sondern nun die Praxis der Montage aus der Gestalt der 1echno­logie abgeleitet wurde. Fortschritt wurde nun nicht mehr an den schon bekannten Kriterien ausgerichtet, sondern umgekehrt diese schon bekannten, ästhetischen und politischen Legitimationsdis.. kurse mitsamt ihrem Humanismus in einer Geste des (technischen) Fortschritts verworfen. Die Iechnologie war objektiv angekom­men. Dabei ist der Illusionismus nun gerade kein Problem, sondern> Ziel auch der Montage, soll es, etwa in den Entwürfen von Moholy~ Nagy, sein, die Illusion zu perfektionieren - natürlich nicht im Sinne. eines absichtlichen Betruges, sondern als Erweiterung des Reich­tums künstlerischer Darstellungsformen, die aber mit der Illusion: nicht vorhaben zu brechen.

In diesen beiden Fassungen der Montage gibt es jedoch immer noch ein ganz entsdleidendes traditionelles und so gesehen falsifizierbares Moment: das des Bauens. Montage baut zwar neuem oder aus vorgefundenem Material, baut mit neuen Werk gen und mit anderen und genaueren. illusionistischeren oder anti~ .

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illusionistischen Welt- und Selbstbezügen, aber sie baut, sie kon­struiert. Der Künstler spricht womöglich schon nicht mehr von sich selbst als Künstler, er ist ein Ingenieur, Polier oder Architekt gewor­den, die Baustelle funktioniert arbeitsteilig. Aber ihre Ziele: eine technisch neuartige hochproduktive Welt oder der Kommunismus sind Ziele der Konstruktion. Wo also Montage strategisch ist, ein Ziel hat, fällt sie natürlich doch wieder einer Logik von Original und Fälschung, erster Quelle und Dieb etc. anheim, auch wenn diese sich nicht unbedingt auf eine Logik von Autorschaft beziehen muß, sondern - modernisiert - auch arbeitsteilige Produktions­form in Film und Archirektm meinen kann.

In einer dritten Fassung des Montage-Optimismus, die man aus Walter Benjamins verschiedenen und mehr oder weniger verstreu­ten Bemerkungen zur Montage zusammenstellen kann, wird aber noch ein weiterer Aspekt der Montage benannt, der landläufig viel­leicht eher mit der kunstinternen Gattungsbezeichnung ,Collage, verbunden ist: der Dialektik von Konstruktion und Destruktion. In Erweiterung des nur antiillusionistisch oder illusionsverstärkend gedachten Charakters der Montage in den anderen Entwürfen ist für Benjamin darüber hinaus wichtig, daß mit jedem montierenden Akt auch eine demomierende Tat begangen worden ist, daß immer dort, wo per Schnitt ein Kontinuum unterbrochen nnd mit einem anderen zusammengefügt wird. immer auch ein Zusammenhang, ein Bild untergeht - und zwar zu Recht untergeht: als falsche Idylle, falsche Ganzheitlichkeit. Montage würde demzufolge nicht nur zwei Hälften auf sichtbare - und daher antiiIlusionistische - Weise aneinanderfügen, sondern gleichzeitig zeigen, daß für den neuen Zusammenhang ein anderer, alter untergehen muß.?

Wir haben also drei Grundpositionen: (I) Markierung des Sdmittes im Sinne antiillusiot1istischer Ästhetik, (2) antihumani­stischer Futurismus im Dienste einer wie auch immer gedachten Verbesserung der Künste oder ihrer Ablösung, durchaus auch im Sinne einer Verbesserung der Illusion und schließlich (3) markieren­der Antiillusionismus plus Ablösung und Destruktion der alten Idylle, also eigentlich die Addition des sowjetisch-linken und des fUturistisch-apolitischen Montage-Gedankens bei Benjanün.

9 VgL etwa den Begrjffder Unterbrechung in: \X7alter Benjamin: »Der Autor als Pro­duzent« (Anm. 6), S. 683-701, insbesondere S. 697 f.

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Uns sind diese Haltungen auch heute noch vertraut, wo die Grundmethode jeder Montage längst den Namen einer populären Funktion eines jeden Textverarbeirungsprogramms bekommen hat: Copy & Paste. Die Grundfragen ästhetischer Praxis, die ich eben anhand des Montage-Problems skizziert habe, sind dem 20. Jahr­hundert treu geblieben. Nur daß die Position eins, das kritisch auf.­klärerische Markieren der eigenen Verfahren, zum Standard bürger­licher Kulmr geworden ist, spätestens seit Brecht seinen Weg auch in die Kulinarik gefunden hat. Die antihumanistische Verbesserung der Künste, also die zweite Position, taucht nicht mehr manifestar­tig als Bestandteil der Avantgarden auf, sondern als das übliche überwältigungsästhetische Prinzip der Kulturindustrie. Daß es eine solche geben würde, war ja zu Zeiten des aufkommenden Montage­Diskurses so nicht absehbar. Aber auch in der bürgerlichen Hoch­kultur gibt es rimell diese Lust an der narzißtischen Kränkung des Künstlersubjekts, wenn etwa En7-cnsberger in den 50ern davon spricht, daß der Dichter ein Ingenieur werden muß oder die konser­vativen Avantgardisten Benn und Jünger der Nachkriegskultur die - aus der konservativen Ethik der 30er kommende - Idee der Kälte des Künstlers gegenüber seinem Material als »fortschrittlich« schmackhaft machen wollen.

Auch die dritte, die der Einfachheit halber Benjaminsehe ge­nannte Position erweist sich als einigermaßen konstant und taucht immer wieder auf, insbesondere bei der Wiederbelebung der Avant­garden nach dem Zweiten Weltkrieg, etw'a im Situationismus, bei der Künstlergruppe Cobra, bei Rauschenberg, ja in der geradezu unfreiwillig komischen wörtlichen Interpretation Benjamins durch die sogenannte De-Collage und verschwindet allenfalls in der Pop. Art. Oder wird dabei von einer anderen Strategie aufgehoben. Wenn man will, kann man in den 60er Jahren das Ende der Mon­tage darin fassen, daß die wesentlichen Elemente der dritten, der Benjaminschen Idee der Montage in zwei Teile fallen: Zum einen stehen die Pop-Art und deren spätere Entw'icklungen wie Fotorea-· lismus für das Präsentieren von technologisch verstärkt realisti-· sehern oder indexikalistischem Material aus der Wirklichkeit im Kunstkontext (ohne Illusionsabsicht) - ohne allerdings mit etw'as anderem zu montieren als mit dem neuen Kontext. Zum anderen· kann man die Strategien der Konzept-Art als sozusagen den reinen Schnitt, die reine Ausstellung der Tools, reine Markierung beschrei-

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ben - ohne daß noch etwas Konkretes geschnitten worden wäre oder ohne daß es erheblich gewesen wäre, daß und was geschnitten und montiert worden wäre. Die Methode der Montage als ein hoff­nungsvolles Unterfangen, in welchem Sinne auch immer die von der Kulturindustrie beanspruchten und teilweise auch entwickelten Methoden zu erobern, war also gewissermaßen bei einer Hyperkri­tik oder einem Maximum der Markierung und Sclbstaufklärung angekommen, wo künstlerische Kritik und Aufklärung im Ange­sicht ihrer realen Machtlosigkeit bei der Sclbstfetischisierung an­gekommen ist - überspitzt gesagt.

In einem ganz anderen Sinne hat die Pop-Musik die Montage und die in sie gesetzten Hoffnungen beerbt. War es rur die klassische Montage zentral, in der künstlerischen Arbeit einen Zusammen­hang durch den methodischen Schnitt und das montierende Einru­gen oder Kleben herzustellen, daher auch die techno-euphorische Medieninteressiertheit und -fixiertheit der klassischen Moderne, 50

ging es rur die Strategien der Pop-Musik von Anfang an darum, sich in die Welt hineinzumontieren. Kennzeichnend für Pop-Musik war von Anfang an - und darin stellt sie eine Radikalisierung von Avant­garde-Ideen interessamerweise ebenso wie von Strategien der Kul­turindustrie dar -, daß das Kunstwerk, die Performance, der Song, das Votivbild des Stars mit in die Welt genommen werden und den Bezirk des geschützten Raums der Kunst verlassen. Diese vielleicht in Ansätzen immer schon vorhandene Strategie populärer Künste wurde in der Nachkriegszeit industrialisiert und professionalisiert, so daß sie zugleich den Siegeszug einer zweiten Kulturindustrie nach der Filmindustrie ermöglichte, aber gleichzeitig auch die Vor­aussetzung dafür schuf: daß sich an die Pop-Musik Hoffnungen von Gegenkulturen hefteten.

Dabei war die Rolle der Produzenten und Autoren von Pop­Musik nur partiell wichtig. Ihre Verantwortung ging selten sehr weit, und der Erfolg des Modells der popmllsikalischen Montage von artifiziellem und welthaltigem Material hing eng mit der Unbe­wußtheit, ja Passivität und dem Laisser-faire der Beteiligten zusam­men. Zusammenhallgsbildung in der Pop-Musik hatte so etwas von der post- oder antihumanistischen Konzeption futuristischer Mo­delle - nur ohne die Technologiebegeisterung bzw. ohne die Tech­nologiebegeisterung an einer systematisch so entscheidenden Stelle.

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In ihren internen Selbstbildern und Selbstversrändigungen ope­rierte die Pop-Musik zunächst noch mit klassischen Vorstellungen von Genie. Ausdruck und Künstlertum, von selbstidentischen und selbstverantwortlichen großen Einzelnen, die aus sich schöpften -es war kein Problem oder allenfalls ein rituell in Form von Aus­schlüssen und Opferungen prozessiertes Problem, daß dieses Selbst­verständnis ganz wesentlich ein Selbstmißverständnis war. Erst als sich in den 70ern und 80ern ein konzeptkünstlerisches und sekun­daristisches Arbeiten auch innerhalb der Selbstverständigungsdis­kurse der Pop_Musik abzeichnete, wich man von diesem Modell ab. Man sprach nun orfen von der Zitiertheit und Prä-Fabriziertheit der pop-musikalischen Elemente - ohne genau zu wissen, wie man da­

mit stilistisch umgehen sollte. Eine klare Dichoromie stellte sich aber schon während der 70cr

heraus: ein futuristisch-posthuman agierender Elektronik-Diskurs versus ein eher »v'iiltend« zitierendes und montierendes Prä- bis Post_Punk_Kontinuum. Der elektronische Futurismus stand zu­nächst zwischen einer Bewunderung der Maschine als Zugang zu höheren, gern auch spirituell höheren Sphären in Hippie- und Drogen-Tradition auf der einen Seite (vgi. Kosmische Kuriere) und der Affirmation der elektronischen Maschinen als Zeichen eines zivilisatorischen Fortschritts, von Modernität und technisch ge­lösten ehemals gesellschaftlichen KonHikten auf der anderen Seite (vgl. Kraftwerk). Beide waren aber ganz klar ganzheitlich und nicht montagehaft. 1111 Gegenteil: Es schien gerade ein Zeichen der neuen elektronischen Kultur in den 70ern und auch noch beim Synthi-Pop der frühen 80er zu sein, daß sie das häßlich Gebastelte und Ama­teurhafte, das Pop-Musik so lange bestimmt hat, zugunsten eines .. ganzheitlichen und atmosphärisch geschlossenen Sounds hinter sich lassen würde. Gerade deswegen stand auch Synthesizer-Benutzung in der Pop-Musik sehr lange in dem Ruf nicht nur einer nicht ge­rade politisch progressiven Seite der Pop-Musik, sondern auch als sozusagen der Null-Punkt der Montage und damit als Umschlag ur­sprünglich ambivalenter futuristischer Konstellationen ins rein Re-

aktionäre. Doch auch die elektronische Disposition wurde ein Bestandteil

der ersten in weiterem Sinne selbstreflexiven Pop-Musik im Zuge. von Punk und New Wave. In dieser Zeit 7-cichnete sich gleichzeitig: jener fundamentale Bruch des Verhältnisses von Material und Me-

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thode, Objekt und Verarbeitung ab, den man als digitale Revo­lution bezeichnet hat. Dies war der Moment, wo die elektronische Klangerzeugung plötzlich einem anderen Paradigma unterlag. Nicht mehr wie in der klassischen Rede von unendlicher Vielfalt des Klang­reichtums, die ursprünglich den Legitimationsdiskurs des größten Teils elektronischer Musik und insbesondere elektronischer Pop­Musik bestimmte, ging es um neue und erweiterte Töne, sondern das Versprechen der digitalen elektronischen Klangerzeugung war das des perfekten Imitats anderer nichtelektronischer Instrumente.

Damit war die vorher sdlOn beschriebene Entwicklung der elek­tronischen Pop-Musik hin zum ästhetisch Reaktionären nun auch noch durch einen in einem doppelten Sinne illusionistischen Aspekt weiter verschärft worden. War die Synthesizer-orientierte Pop-Musik der 70er schon illusionistisch, indem sie Kontinua produzierte, Schnitte unsichtbar machte, aber doch immer in einem erkennbar elektronisch artifiziellen posrinstrumentalen Sinne, so wollte man nun auch noch die Illusion perfektionieren, man höre historisch· frühere, nicht elektronische KlangerzeugungsmitteL Die ersten Interfaces, die also das digitale Produktionsdispositiv Sampling ver­fügbar machen sollten, warben damit, natürliche Instrumental­klänge täuschend echt reproduzieren zu können. Das lag daran, daß das, was man als Sampling bezeichnete, nichts anderes war als das digitale Verfahren der Musikaufnahme, und vom Begriffher Samp­ling im physikalischen Sinne sogar noch viel allgemeiner benutzt wurde - nämlich generell als ein Verfahren, so viele Daten eines Kontinuums zu sammeln, die so wenig Speicherplatz wie möglich benötigten und doch das Kontinuum flir menschliche Sinne oder andere Rezeptoren so täuschend naturgetreu wie möglich erschei­nen zu lassen. Dafür bestimmte man eine Sampling-Rate, die die Anzahl der nötigen Zugriffe pro Zeiteinheit fesrlegte, die für einen bestimmten Industriestandard Gültigkeit haben sollten.

Wir wären also mit jenem Musiker, der einzelne Saxophon-Töne sampelt und dann per Emulation daraus an einem Keyboard-Inter­face ein Saxophon-Solo macht, sozusagen am Nadir der Montage angekommen: bei einem die Trägheit der Sinne nutzenden Illusio­nismus, der nun aber nicht nur seine Schnitte versteckt, sondern auch noch versucht, ein historisch früheres Stadium der Produktion und der Technologie zu simulieren. Doch die Gegenpositiol1 in der Pop-Musik, der Glaube an das sozusagen genuin konstruktive Tool,

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die elektrische Gitarre und die dazugehörige Ideologie vom unmit­telbaren Ausdruck, war von Anfang an weder in der Lage, den genuin intermedialen Charakter von Pop-Musik zu verstehen, noch war ihr - nun in der Tat die Produktionsdimension mitausstellellder . und zur Aneignung einladender - Gebrauch in der Punk-Kultur in der Lage, anders als symbolisch und kurzfristig tatsächlich Produk­tionsmittelund Verfahren wiederanzueignen. Einigermaßen erfolg­reich war das interessanterweise allenfalls auf der ökonomischen Ebene, durch die Entstehung sogenannter Independent Label. Aber die im marxistischen Paradigma ganz auf die ökonomischen Produk­tionsmittel kOI11-entrierte kritische Pop-Musik übersah zunächst; daß medial und technologisch der so immerhin eingeschränkt ange­eignete Bereich nicht mehr wirklich im Zentrum der pop-musika­lischen Enrwicklung stand. Vor allem aber war das Problem der Gitarre, der man Phallokt'atie, Authentizismus und alle möglichen anderen Ideologien nicht zu Unrecht schon angehängt hat, dag sie ein nur fetischistischer, zu einem einzelnen Tool verdichteter Ersatz für das war, was eigentlich im Zentrum jeder Pop-Musik steht: das Inszenieren einer mediatisierten Wirklichkeit innerhalb der Wirk­lichkeit, eine kontinuierliche Montage von Rolle und Person, Refe­rent und Zeichen - nicht die Montage zweier Zeichen, wie wir sie im Kino haben.

Ausgerechnet am Nullpunkt, am Nadir der Montage bei dem trüben Simulationstool Sampling, wurde man schließlich fündig. Man konnte nämlich den Sampier nicht nur zum Simulieren be­nutzen, besonders ideal war er für das Zitieren, das Einschneiden und Einmonderen fremden und eigenen Materials, das man ohne Qualitätsvedust - illusionistisch eben - von einem anderen Ort ent­nehmen konnte. Diese Verbindung - Verbesserung der illusionisti­schen Dimension einerseits, Verbesserung der Schneide- und Kle­bemöglichkeiten andererseits - war fast wie eine Wiederbelebung der techno-politisch-ästhetischen Konstellation der ersten Mon­tage-Euphorie. Und auch hier waren wieder die Entmachtung eines lange dominierenden Künstler-Typus und die Ermächtigung 2lI

einem neuen Zugriff, zu einer sehr konkreten Eingriffsmöglichkeit ' auf einer niedrigschwelligen Stufe miteinander verbunden. Beim Sampling wie bei der Montage gibt es immer die zweiteilige Situa- . don, daß ein neues kulturindustrieUes Tool, eine neue Technologie; eine alte Künsdergeneration obsolet werden läßt, gleichzeitig abe{

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das Versprechen entsteht, eine neue Generation von Künstlern habe im Gegensatz zur alten nun nicht nur den historisch adäquaten Zu­gang, sondern auch den direkten Zugang zur Kunst - unter Umge­hUllg der und gegen die Kulturindustrie.

Diese doppelte Konstruktion liegt auch in der sowjetischen Tech­nologie- und Montage-Euphorie der 20er vor: Wir haben den Appa­rat und sind dadurch einerseits neu und andererseits unabhängig von den Produktionsmittelbesitzern. Hier wäre also wieder die Tri­nität des ästhetischen, technologischen und politischen Fortschritts.

Hinzu kam bei der historischen 5ampling-Euphorie, die man von den mittleren 80ern bis zu den frühen 90ern findet, auch eine Idee der Adäquatheit zwischen kultureller Epoche und technologischem Tool: Der Sampier, der bald als Zitiermaschine begriffen und ver­wendet wurde, galt als die typische Technologie der Postmoderne, als ideales Werkzeug zur Verwaltung von Uneigendichkeiten. Dabei kann man eine Parallele zur futuristischen wie sowjetischen Mon­tagebegeisterung erkennen. Denn dort gab es ein Gefühl für eine enge und genuine Beziehung zwischen dem historischen Projekt des Kommunismus (bzw. des Faschismus, bzw. des Ersten Weltkriegs und seines mechanisierten Militarismus) mit den neuen künstle­rischen Technologien. Dieses Gefühl beruhte natürlich wie bis zu einem gewissen Grad auch beim Sampling auf der suggestiven Kraft des Faktischen technologischer Interfaces und ihrer vermeintlichen Objektivität, die dann stets etwas Kulturelles als historisch wahr, zwangsläufig oder im Recht bestätigt.

Wenn man näher hinsieht, waren das aber bei der Montage nicht nur zutiefSt unterschiedliche historische Prozesse, die höchstens sehr entfernt mit dem spezifischem Technologie-Einsatz der Mon­tage-Kunst zu tun hatten, auch beim Sampling gab es einen Einsatz der Zitiermaschine in ganz verschiedene Richtungen. So gab es bei sich subversiv verstehenden Akteuren, etwa Negativland oder KLF (Kopyright Liberation Front) und später im Zuge der sogenannten Plunderphonics, eine Praxis, mit Sampies als vollen, erkennbaren Zitaten zu arbeiten, die sich durch den erkennbaren und mitau..,ge­stellten Schnitt in neue Kontexte gebracht sehen - meistens um zum einen das kontextversetzte Klangobjekt kritisch zu exponieren und um zum anderen durch den ausgestellten Schnier die illusioni­stischen Ströme der Kontinuität der Musik anzugreifen. Zwei klas-

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sische Ziele der Montage also, deren ästhetische und kommunika. tive Mechanik sich durch die Digitalisierung nicht einen Deut ge­ändert hat. Allenfalls kann man sagen, daß sie digital leichter und handlicher zu bewerkstelligen sind.

Im HipHop übernahm das Sampling die auffälligste methodi. sche Neuerung der Popmusik der 90er, die Cut & Mix Techniken der HipHop-DJs. Diese wurden nun ohne besondere handwerk­liche Geschicklichkeit verfügbar, dazu war es möglich, wenn man wollte, die Ausstellung der Schnitte und des Gemachten zu modifi­zieren. Interessanterweise war die Verwendungsweise des Zitats und des montierenden Schnittes in seinem Einsatz und seinen Absich­ten im HipHop genau denen der linken Montage - sei es benjami­nistisch, sei es sowjetisch - entgegengesetzt, ohne statt dessen mit einem der anderen Ziele der historischen Montage der Avantgarden ähnlich zu sein. Denn beim HipHop ging es zumindest in den er­sten Jahren nicht um den Angriff auf das falsche Kontinuierliche und um die Dekontextualisierung hegemonialer Klangobjekte, son· dern um Rekonstruktion unterbrochener Kontinuitäten afroame­rikanischer Geschichte als Musikgeschichte und um die Rekon­textualisierung der musikalischen Spuren dieser Geschichte in der Ileuesten afroamerikanischen Musik. Dieses Ziel ist vor allem zwi­schen 1987 und etwa 1995 in einer Fülle von ästhetischen Vorge­hensweisen evident gewesen und zuweilen auch formuliert worden. Insbesondere galt das natürlich für die häufige Verwendung von Reggae-, historischen Funk- und Jazz-Samples. Heute ist diese Praxis eher eine minoritäre, die es aber gerade im Underground-HipHop noch gibt. Wir brauchen jetzt nicht über die Sonderfälle Drum &: Bass oder neue digitale, elektronische Musik zu reden. In allen spielt Sampling zwar technisch eine große Rolle, zuweilen wird das bei Künstlern, die eine selbstreflexive oder medienreflexive Praxis ver­treten, auch im musikalischen Objekt thematisiert. Aber sie sind nur noch auf einer sehr allgemeinen Ebene mit der historischen Euphorie verbunden, die in den späten 80ern um den Begriff Samp­ling sich rankte und - eben ähnlich wie in den IOern und 20ern mit Montage - eine künstlerische Strategie als historisch, weil technolo­gisch im Recht wähnte.

Nun muß für diese Dreigliedrigkeit »ästhetisch-technologisch­historisch« auch jedes Element tatsächlich vorhanden sein. Daß wir es mit einer neuen Technologie zu tun haben, wenigstens einem

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'J neuen Interface sei unbestritten, ebensowenig ist zu leugnen, daß es eine neue Kunst jeweils gab, neue Akteure, neue Praktiken - was man dagegen im Falle Sampling diskutieren kann. Was aber war die hisrorische Entwicklun.g, auf die sich Sampling so bezog, wie sich die Montage auf den Kommunismus - oder im selteneren Fall auf Faschismus und Militarismus? Weiter oben wurde gesagt, die POSt­moderne oder der Postmodernismus konnte sich aufs schönste technologisch objektiviert fühlen, aber der war ja nicht unbedingt eine historische Entwicklung wie Kommunismus und Faschismus, eher eine kulturelle, die eine externe Legitimation noch brauchte.

Mein Vorschlag wäre daher auch ein anderer. Wir haben gesagt, daß eine zentrale Idee der Montage-Euphorie eben präzise die war, daß man die Welt im Kleinen und Kulturellen baut, wie im Großen die Sowjetunion gebaut oder das tmditionelle Europa auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs vernichtet wurde. Montage dachte sich durch die Benutzung eines technischen neuen Tools, das ja weniger ein neues Tool als ein grundsätzlich anderes Verhältnis zum Material darstellte, in einer neuartigen Distanz, ja in einem prinzipiell konstruktiven und vielversprechenden Verhältnis zur ganzen Welt. Dies war auch ein Verhältnis, bei dem diejenigen, die vorher nicht zur Gesraltung der Welt zugelassen waren, es nunmehr sein sollten: nicht nur, weil die (künstlerischen) Gegenstände, die man montierte, sozusagen kollektiviert und benutzbar gemacht wurden, sondern auch weil das durch einen neuen technischen Zu­gang geschehen sollte, der eben auch der der vorher kulturell ausge­schlossenen jungen und proletarischen Massen war. Das, was früher das Gegenteil von legitimer Welthabe gewesen wäre - Aneignung, Diebstahl, Arbeit anderer -, war nun durch - je und je - Sampling und Montage von der Technologie ins Recht gesetzt. Die Technolo­gie aber, so der Techno-Optimist, baut die Welt. Die Welt als Gan­zes schien im Bau. Durch den Gebrauch der Montage konnten wir mitbauen, statt einfach nur gebaut oder umbaut zu werden.

Beim Sampling war eine solche Illusion hingegen begrenzter, be­grenzt auf gramscianische Kämpfe um kulturelle Hegemonie. Kei­ner der kulturellen Akteure wähnte sich ernsthaft in einem politi­schen Machtbezug zur Welt, nicht einmal symbolisch. Statt dessen war das damals gültige Paradigma noch das der Gegenkulturen, Sub­kulturen oder Gegenöffendichkeiten - und das wäre auch tatsächlich das Gemeinsame der zwei, wie wir gesehen haben, total emgegenge-

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setzten Konzeptualisierungen von Sampling: Sie agierten aus einer subkulturellen und subkulturalistischen Position. Ihnen ging es we­niger oder nicht nur um ein Verhältnis der Akteure zur Welt, son­dern dies immer nur um den Preis oder in dem Grad. indem sie ein Verhältnis zu ihrer Peer Group, Szene, Minorität mitherstellten.

Dieses Vorgehen steht aber einer bestimmten Variante des von Levi-Strauss mit Bricollage bC1.eichneten ziellosen Bastelns näher als der »souveränen« Distanz der Montage. Es geht nicht um ein für einen bestimmten Zweck geplantes Gebäude, sondern um eine fort­gesetzte Aktivität, die jederzeit unterbrochen und wieder neu aufge­nommen werden kann und darin dem Verhältnis von andauern­dem, dramaturgisch unfestgelegtem 'tanzabend zu einem Konzert oder einfach dem Verhältnis von Track zu Song entspricht. Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren entscheidenden Unterschied: Man ist per definitionem mit dem Material näher verbunden, es hat eine totemhafte Bedeutung für die imaginäre oder reale Gemein­schaft, für die man spricht. Es sind keine Belege äußerer Referenten, sondern interne Dokumente. In dieser Hinsicht ist Sampling -wenn man jetzt nicht nur die Praxis, sondern auch den Nimbus des Begriffs betrachtet - in mancher Hinsicht auch rezeptiven Prak­tiken immer noch sehr nahe, was bei seinem Ursprung im Platten­auflegen auch gar nicht so verwundert. Die Grenze zwischen produ­zierendem Samplen und Montieren und dem Zappen oder anderen sogenannten interpassiven Praktiken daheim vor dem Fernseher ist oft nicht so groß. Sozial steht Sampling oft, aber nicht immer, für das zwar erweiterte, aber nicht wirklich öffentlich gewordene mediale Lagerfeuer, das Marshali McLuhan im Fernsehgerät gefunden hat.

Zum Schluß möchte ich einen dritten Begriff kurz erwähnen, der mir für heute genau dieses Verhältnis aus real veränderter kultureller Produktion, dazu eingesetzter neuer Technologie und einer dazuge­hörigen Ideenwelt, Euphorie und Ideologie bezeichnet, das wäre der Begriff des Morphing. Morphing ist ein das technisch avancierte Kino, den Musikclip und den Werbespot in gleicher Weise prägendes Konglomerat aus neuer Technologie und neuer Ästhetik mit einem unterschiedlich interpretierbaren ideologischen Gehalt. Wie die Montage ist Morphing eher universal und hegemonial und damit an einem anderen Machtpol angesiedelt als das subkulturelle Sampling.

Auf der anderen Seite scheint Morphing viel stärker an ganz be-

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stimmte Inhalte gebunden, als es Montage und Sampling, zumin­dest auf den ersten Blick, erscheinen. Von Michael Jacksons Ethno­Morphing über den Dalmatiner in der Werbung, der sich für ein Duplo in eine nominell tolle Frau verwandelt, bis zu den Morphing­Monstern aus den Terminator-Filmen dieser Welt: Es geht dabei stets um Effekte, die eine Redewendung, eine ideologische Figur, ein Vorurteil, eine populäre Pointe immer schon wußten. Der Cha­rakter gemorphter Sequenzen ähnelt mehr einem Effekt als einer Konstruktion, d. h. es geht um das überraschend herbeigeführte immer schon Gewugte. Nicht um das nachvollziehbar hergeleitete ganz Neue.

Diese immer schon gewußten Bilder gibt es aber auch in der Frühzeit der Montage, zumindest der Fotomontage. Parallel zu dem Versuch, durch konstruktive Kombination etwas Neues oder be­kannt Unbekanntes der Verhältnisse in der Montage dialektisch hervorzubringen, den die sowjetischen Montage-Künstler für sich beanspruchten, gab es die US-amerikanischen Werber, die mit ganz flachen Witzchen arbeiteten, indem sie erwa ein Brett vor einen Kopf montierten und sich so der schon fertigen Redensart bedien­ten und sie zum Wiedererkennen anboten. Oder es gab die Lilipu­taner, die in der Rasierapparatwerbung das Kinn eines Mannes bevölkern und nach Wunden oder übersehenen Haaren absuchten. Morphing befindet sich genau auf dieser Ebene.

Zum anderen ist aber Morphing auch genau so ein billiger Show­effekt, wie man ihn aus prä-kinematographischen Zeiten kennt und wie er, gerade in der Lesart Sergej Eisensteins, als wichtiger Bestand­teil der großen diskontinuierlichen Ästhetik von Montage-Künsten eine Rolle spielen muß. Eisenstein hat als Assistent von Meyerhold ja bekanntlich seine Begeisterung für Rummelplatz- und Zirkus­Effekte im Theater entwickelt und anhand dieser gezielten Unter­brechungen und Ebenenwechsel seine modernistische Montage­Theorie entwickelt. Morphing gehört nun genau auf einen solchen digitalen Rummelplatz, dessen Wachgeküßt-Werden für ein künst­lerisches, selbstreflexives Durcheinander noch aussteht. Es bleibt allerdings fraglich, ob das Eintreffen einer solchen zweiten Phase des Morphing nur noch abhängt vom richtigen Künstler, der sich des Themas annimmt. Oder ob es nicht eher darauf ankäme, daß irgendwo wieder irgend jemand eine Sowjerunion aufbauen will. Was ja zur Zeit nicht wirklich ansteht.

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Fälschungen haben Konjunktur. Beinahe täglich berichten die Medien von Funden fulsdlcr Pässe, von gefaJsdw:n Gemälden oder (>seudo-authenti­sehen Lebenszeugnissen, von gestohlenen Forschungsprojekren oder mani­pulierten Daten in Versuchslabors. Autoren aus unterschiedlichen Diszi­plinen präsentieren in diesem Band konkrete FälschungsfaJle, um daran die geschichtlichen und theoretischen Dimensionen der Fälschung für ihre Disziplin und ihre Wissenskultur auszuloten. Dabei geht es nicht darum, Fälscher zu entlarven oder medienwirksamen Skandalen nachzuspüren, son­dern um das häufig noch ungenut'lte Erkenntnispotential der FälsdlUng. Denn Fälschungen spielen mit Erwartungshaltungen und Ritualen; sie verweisen auf Paradigmen, Konsense und Verabredungen, auf geschriebene und ungeschriebene Gesetze von Diskursen, und zeigen somit c-x negativo, welche Begriftevon Originalität, Echtheit, Beweis oder Autorschaft rur wis­senschaftliche Disziplinen und künstlerische Traditionen konstitutiv sind.

Anne-Kathrin Reulecke ist Dozentin am Institut ruf Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Technischen Uni­versität Berlin.

Fälschungen Zu Autorschaft und Beweis

in Wissenschaften und Künsten

Herausgegeben von Anne-Kathrin Reulecke

Suhrkamp

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1781 Erste Auflage 2006

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Prinred in Germany Umschlag nach Entwürfen von

Willy Fleckhaus wld RolfStaudt ISBN 3-518'29381-8

I 2 3 4 5 6 - 1I IO 09 08 07 06

Inhalt

Anne-Kathrin Reulecke Fälschungen - Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Fälschung und Wissen

Alexandre Metraux Zeit für Fälschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Bernhard J Dotzler .,eurrem Topics on Astronoetics«. Zum Verhältnis von Fälschung und Information ......... 68 Christoph Schneider Bandenkriminalität? Rohdaten im Zeitalter ihrer technischen Manipulierbarkeit ,................. 8l

Vorgeschichten der Fälschung

earlo Ginzburg Das Nachäffen der Natur. Reflexionen über eine mittelalterliche Metapher ......... 95 Reinhardt Butz Die »Wiederherstellung« und die .. Schaffung« der Wahrheit in mittelalterlichen Urkunden ............ 123

Martin Tremi Text, Objekt, Ereignis. Fälschung in den Religionen ...... 144

Fälschung der Beweise - Beweise der Fälschung

Ltaudine Cohen Vom »Kiefer von Moulin-Quignon« zum "Piltdown-Menschen«. Betrug und Beweis in der Paläanthropologie .. _ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Milofvec Defraudistisches Fieber. Identität und Abbild der Person in der Kriminalistik 180

OhadParnes Paul Kammerer und die moderne Genetik. Erwerbung und Vererbung verHUschter Eigenschaften 216 Federico Di Trocchio Ist die wissenschaftliche Abhandlung ein Betrug? . . . . . . . .. 244

GefaIschte Autorschaften

Anne-Kathrin Reulecke Ohne Anführungszeichen. Literatur und Plagiat ......... 265 Martha Woodmamee Das Urheberrecht als Anreiz/Hemmnis für die schöpferische Produktion ..................... 291

}ustus Fetscher Fälschung und Philologie. Überlegungen im Anschluß an Anthony Grafton. ........ 307 Daniel Weidner Verfälschte Schrift. Zur Bibelkritik von Spinoza bis D. F. Strauß ............ 326

Medien und Materialien der Fälschung

Stefon Römer Zwischen Kunstwissenschaft und Populismus: Die Rede vom Original und seiner Fälschung ........... 347 Ursula Frohne Double Fearure: Filmadaptionen in der zeitgenössischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 364 Diedrich Diederichsen Sampling und Montage. Modelle anderer Autorschaften in der Kulturindustrie und ihre notwendige Nähe zum Diebstahl . . . . . . . . . . . . .. 390 Norbert Bolz Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung .... 406

Abbildungsnachweise ............................. 418 Zu den Autoren ................................. , 422

Anne-IVtthrin Reulecke Fälschungen - Zu Autorschaft

und Beweis in Wissenschaften und Kiinsten. Eine Einleitung

1. Faszination und Skandal der Fälschung

.Fälschungen, wohin man sieht [ ... J.«I

Die europäische Geschichte der Fälschungen ist lang und betrifft die Bereiche der Kunst, Literatur und Wissenschaft in gleichem Maße. Sie reicht von den >Ergänzungen< ägyptischer Statuen durch Bildhauer der römischen Kaiserzeit bis zur mittelalterlichen »Kon­stantinischen Schenkung« - jener von Papst Stephan H. verfaßten und Kaiser Konstantin zugeschriebenen Urkunde, mit der die ka­tholische Kirche bis zum heutigen Tag territoriale und institutio­nelle Privilegien begründet. Seit dem 18. Jahrhundert gehört die Fälschung untrennbar zur Literaturgeschichte, wie die >original­gälischen< Gesänge Ossians oder auch die von Stein mann ,entdeck­ten< späten Gedichte Heinrich Heines zeigen. Mit dem Konzept des Autors als Originalschöpfer und seiner Einsetzung als Rechtssubjekt kann sich neben der literarischen Fälschung der Begriff des Plagiats, des Diebstahls geistigen Eigentums, etablieren. Im 20. Jahrhundert stehen vor allem KunstÜilschungen - wie die >echten< Verrneer­Kopien des Malers Han van Meegeren oder die >originalgetreue, Re­staurierung der Lübecker Marienkirche durch Lothar Malskat - im Zentrum des Interesses. Mit der Ausdifferenzierung der Naturwis­senschaften, deren unmittelbare gesellschaftliche und ökonomische Relevanz zunimmt, häufen sich Fälschungen im Wissenschaftsbe­trieb. Ernst Haeckel etwa präpariert Abbildungen von Embryonen> um seiner These von der direkten Abstammung des Menschen vom Affen Überzeugungskraft zu verleihen. Der sowjetische Agronom Lyssenko hingegen will als politischer Gegner der Vererbungslehre mit manipulierten Forschungsberichten die >Erziehbarkeit des Ge­treides< beweisen.

I William Gaddis: Du Fälschung der welt (I95S), Frankfurt/M. 1998, S. 329.

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