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i I. Voraussetzungen und Grundfragen der Literaturwissenschaft i. Fiktionalität und Poetizität von LUTZ RÜHLING I . Einleitung 1.1 Vorläufige Begriffsbestimmung Was ist Literatur? Was unterscheidet einen literarischen Text von einem nicht-literarischen? Ist es wahr, daß die Dichter lügen, -wie ihnen Piaton einst vorwarf ? Fragen dieser Art sind es, auf -welche Theorien der Fiktionalität und der Poetizität eine Antwort zu geben versuchen; -wir befinden uns hier also im Bereich der literatur- wissenschaftlichen >Grundlagenforschung<. Fiktionale Texte bilden eine bestimmte Klasse von Texten, die, wie sich jedenfalls vorläufig sagen läßt, von erfundenen Figuren, Gegenständen, Ereignissen handeln; und Fiktionalität ist genau jenes Merkmal, das diese Klasse von Texten von solchen unterscheidet, in denen keine erfundenen Figuren, Gegenstände, Ereignisse vorkommen (vgl. -> GRUNDLA- GEN NARRATIVER TEXTE). Poetische oder literarische Texte hingegen (beide Begriffe seien im folgenden als gleich-wertig betrachtet) bil- den genau die Klasse von Texten, die zum Bereich der Sprachkunst, der Literatur, gehören; und Poetizität oder Literarizität ist dann genau jenes Merkmal, das, wie sich ebenfalls vorläufig sagen läßt, künstlerische Texte von nicht-künstlerischen unterscheidet. Häufig wird davon ausgegangen, daß die Begriffe >Fiktionahtät< und >Poetizität< ko-extensional seien, daß also alle fiktionalen Texte zugleich auch literarisch seien und umgekehrt: daß alle literarischen Texte zugleich auch fiktional seien (so etwa ISER 1991, S. 18). Eine solche Auffassung ist jedoch unplausibel. Es gibt vielmehr fiktio- nale Texte, die eindeutig nicht literarisch sind, wie etwa bestimm- te philosophische Lehrdialoge des 18. Jahrhunderts, die einzig und allein den Zweck besitzen, dem Leser den Zugang zu den darge- stellten Gedanken so weit als möglich zu erleichtern. Zum anderen aber gibt es auch literarische Texte, die eindeutig nicht fiktional sind, da sie keine erfundenen Figuren, Gegenstände, Ereignisse enthalten, wie etwa Tagebuchaufzeichnungen von Dichtern, Briefe, oder auch

I. Voraussetzungen und Grundfragen der Literaturwissenschaft

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iI. Voraussetzungen und Grundfragender Literaturwissenschaft

i. Fiktionalität und Poetizitätvon LUTZ RÜHLING

I . Einleitung

1.1 Vorläufige BegriffsbestimmungWas ist Literatur? Was unterscheidet einen literarischen Text voneinem nicht-literarischen? Ist es wahr, daß die Dichter lügen, -wieihnen Piaton einst vorwarf ? Fragen dieser Art sind es, auf -welcheTheorien der Fiktionalität und der Poetizität eine Antwort zu gebenversuchen; -wir befinden uns hier also im Bereich der literatur-wissenschaftlichen >Grundlagenforschung<. Fiktionale Texte bildeneine bestimmte Klasse von Texten, die, wie sich jedenfalls vorläufigsagen läßt, von erfundenen Figuren, Gegenständen, Ereignissenhandeln; und Fiktionalität ist genau jenes Merkmal, das diese Klassevon Texten von solchen unterscheidet, in denen keine erfundenenFiguren, Gegenstände, Ereignisse vorkommen (vgl. -> GRUNDLA-GEN NARRATIVER TEXTE). Poetische oder literarische Texte hingegen(beide Begriffe seien im folgenden als gleich-wertig betrachtet) bil-den genau die Klasse von Texten, die zum Bereich der Sprachkunst,der Literatur, gehören; und Poetizität oder Literarizität ist danngenau jenes Merkmal, das, wie sich ebenfalls vorläufig sagen läßt,künstlerische Texte von nicht-künstlerischen unterscheidet.

Häufig wird davon ausgegangen, daß die Begriffe >Fiktionahtät<und >Poetizität< ko-extensional seien, daß also alle fiktionalen Textezugleich auch literarisch seien und umgekehrt: daß alle literarischenTexte zugleich auch fiktional seien (so etwa ISER 1991, S. 18). Einesolche Auffassung ist jedoch unplausibel. Es gibt vielmehr fiktio-nale Texte, die eindeutig nicht literarisch sind, wie etwa bestimm-te philosophische Lehrdialoge des 18. Jahrhunderts, die einzig undallein den Zweck besitzen, dem Leser den Zugang zu den darge-stellten Gedanken so weit als möglich zu erleichtern. Zum anderenaber gibt es auch literarische Texte, die eindeutig nicht fiktional sind,da sie keine erfundenen Figuren, Gegenstände, Ereignisse enthalten,wie etwa Tagebuchaufzeichnungen von Dichtern, Briefe, oder auch

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manche autobiographischen Werke. Daher gilt: Es gibt mcht-fiktio-nale Literatur, ebenso wie es auch nicht-literarische Fiktionen gibt.

1.2 Methodische VorklärungenFiktionalität und Poetizität verweisen jeweils auf Phänomene, diekeineswegs ausschließlich auf die Literatur beschränkt sind. Dar-stellungen von erfundenen Figuren, Gegenständen, Ereignissenkommen auch in anderen Kunstgattungen vor, etwa im Film, auf derBühne oder in der bildenden Kunst. Und Poetizität auf der anderenSeite ist nur die auf Texte bezogene Variante einer Eigenschaft, dieman als >Ästhetizität< bezeichnen könnte, ein Merkmal, das Objekteder Kunst ganz allgemein von nicht zur Kunst gehörigen Gegen-ständen unterscheidet. Theorien der sprachlichen Fiktionalität undder Poetizität sind daher eigentlich nur Teilgebiet einer allgemeinenFiktionalitätstheorie und einer allgemeinen Ästhetik. Daraus ergibtsich die Forderung, daß ihre Ergebnisse mit denen entsprechenderÜberlegungen zu den außerhteranschen Kunstgattungen jedenfallsnicht unverträglich sein sollten. Allerdings muß man einräumen,daß eine solche Forderung auf dem Gebiet der Fiktionalitätstheo-rien zur Zeit nur schwer zu erfüllen ist, da diese sich in der Vergan-genheit nahezu ausschließlich sprachlichen Fiktionen gewidmethaben und es folglich vergleichbar elabonerte Theorien zu nicht-sprachlichen Fiktionen bisher nicht gibt.

Wie dies im Bereich der Grundlagenforschung nicht selten derFall ist, besteht auf dem Gebiet der Fiktionalitäts- und Poetizitäts-theorie ein Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen: von Lite-raturtheorie, Philosophie, Sprachwissenschaft und Semiotik, wobeidie linguistische und semiotische Beschäftigung mit Fiktionalitätund Poetizität zum ganz überwiegenden Teil allerdings innerhalbder Literaturtheorie stattfindet. Hingegen kommt es zwischen Lite-raturtheorie und Philosophie zu gewissen Kompetenzstreitigkeiten,genauer gesagt zwischen Literaturtheorie einerseits sowie philoso-phischer Ästhetik und analytischer Sprachphilosophie andererseits.Diese haben ihren Grund darin, daß die philosophische Ästhetikbereits seit etwa zweihundert Jahren eine eigenständige Disziplinbildet, während die philosophische Beschäftigung mit ästhetischenFragen im allgemeinen gar auf eine über zweitausend] ähnge Tradi-tion zurückblicken kann, und daß die analytische Sprachphiloso-phie sich bereits in ihren Anfängen vor etwa hundert Jahren undseitdem kontinuierlich immer wieder mit dem Problem der Fiktio-nalität auseinandergesetzt hat.

Fiktionalität und Poetizität zj

Will man diese Konkurrenz zwischen Literaturtheorie undPhilosophie bewerten, so läßt sich vielleicht feststellen, daß diephilosophischen Theorien zur Fiktionalität und Poetizität denliteraturwissenschaftlichen häufig hinsichtlich ihres Reflexions-und Argumentationsniveaus sowie der gedanklichen Klarheit undSchärfe überlegen sind, andererseits aber die philosophischen Theo-rien gerade der Fiktionalität an einer Beschränkung auf lediglicheinen einzigen Typus fiktionaler Texte kranken, nämlich auf rea-listische Erzähltexte vornehmlich des 19. Jahrhunderts. Für eineangemessene Theorie der Fiktionalität wäre daher eine Verbindungder Stärken beider Disziplinen wünschenswert, so daß die spezi-fisch philosophischen Kompetenzen durch spezifisch literaturwis-senschaftliche ergänzt werden.

Bedauerlicherweise gibt es trotz der langen Tradition bis auf denheutigen Tag weder eine allgemein anerkannte Theorie der Fik-tionalität noch eine der Poetizität, so daß über beide Begriffe auchheute nicht anders zu schreiben möglich ist als wie »über ein nochungelöstes Problem«, wie es Henning Boethius bereits in der erstenAusgabe dieses Bandes mit Bezug auf die Ästhetik ausgedrückt hat.Dies bedeutet indes nicht, daß es gar keinen Fortschritt gäbe; durchdie Diskussion sind vielmehr insbesondere die argumentatorischenSchwächen der unterschiedlichen Ansätze deutlich zutage getreten.Man kann daher sagen: Wir wissen vielleicht noch nicht genau, wieeine befriedigende Theorie der Fiktionalität und der Poetizität aus-zusehen hätte, aber wir wissen recht genau, welcher Art von Proble-men sie zu begegnen und welche Schwierigkeiten sie zu vermeidenhat.

Aus diesem Grund sollen im folgenden, beginnend mit Theoriender Fiktionalität, einige der wichtigsten philosophischen und litera-turwissenschaftlichen Positionen zum Problem der Fiktionalitätund Poetizität knapp skizziert und in aller Kürze kritisch kommen-tiert werden. Im Anschluß an die Diskussion soll dann jeweils aufProbleme und Fragen aufmerksam gemacht werden, die für dieZukunft noch zur Lösung anstehen.

2. Fiktionalität

2.1 Merkmale der Fiktionalität fKäte Hamburger hat in ihrem Werk »Die Logik der Dichtung«, dasin Deutschland den Anfang der genuin literaturwissenschaftlichen

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Beschäftigung mit dem Problem der Fiktionalität markiert, die The-se vertreten, fiktionale Texte seien an einer Reihe von »echten ob-jektiven Symptomen« zu erkennen, deren wichtigstes das soge-nannte »epische Präteritum« sei, durch welches »das Präteritumseine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen«,verliere (HAMBURGER ^977, S. 61; -> GRUNDLAGEN NARRATIVERTEXTE). Als Beispiel dafür dient ihr ein Satz wie »Morgen war Weih-nachten«, in dem das präteritale »war« in Widerspruch zur futuri-schen Zeitangabe (»morgen«) stehe. Sie erklärt dieses Phänomendamit, daß sich das Erzählte auf einen fiktiven Erzähler beziehe undnicht auf den realen Autor (ebd., S. 66). Doch diese Erklärung istoffensichtlich wenig einleuchtend, denn auch ein realer Ich-Erzäh-ler könnte den Satz »Morgen war Weihnachten« verwenden, wenner etwa in erlebter Rede die Gedanken wiedergibt, die ihm an einem23.12. durch den Kopf gegangen sind. Überhaupt läßt sich dieserEinwand gegen nahezu alle Beispiele vorbringen, die Hamburger indiesem Zusammenhang anführt, da es sich stets um Fälle von erleb-ter Rede handelt.

Einer anderen Theorie zufolge gibt ein fiktionaler Text seineFiktionalität dadurch zu erkennen, daß er dem Leser vor Augenführt, »daß der Text auf einer abstrakten Schicht der Sachlage beruhtoder daß nur wenige oder keine Teile der Sachlage des Textes wirk-lichen Erscheinungen der Lebenswelt entsprechen« (GUMBRECHT1975, S. 41). Doch dies ist ebenfalls nicht notwendig, wie etwa dasBeispiel Karl Mays zeigt, dessen Texte, obwohl fiktional, von vielenLesern für wahr gehalten wurden, weil sie aufgrund der in einerexotischen Ferne angesiedelten Ereignisse der Romane gar keineMöglichkeit besaßen, festzustellen, »daß nur wenige oder keine Tei-le der Sachlage des Textes wirklichen Erscheinungen der Lebens-welt« entsprachen. Dieses Beispiel macht deutlich, daß es keine»echten objektiven Symptome« für Fiktionalität gibt: FiktionalenTexten sieht man ihre Fiktionalität nicht notwendigerweise an,sondern sie können durchaus ununterscheidbar von Sachtextensein. Gerade aus diesem Grund freilich sind sie häufig vom Autordurch Gattungsbezeichnungen auf dem Titelblatt, interne Inko-härenz und andere Signale bewußt als fiktional gekennzeichnet(WEINRICH 1975), um eine angemessene Rezeptionsweise sicher-zustellen (-> PARATEXTE).

Aus diesem Fehlen »echter objektiver Symptome« für Fiktiona-lität darf man freilich nicht den Schluß ziehen, eine Explikation vonFiktionalität sei prinzipiell unmöglich, wie dies etwa Harald Wein-

Fiktionahtät und Poetizität 2 9

rieh getan hat (ebd., S. 525). Als zusätzlicher Beleg für diese Be-hauptung wird häufig der Umstand angeführt, daß es Texte gibt, diewir heute als fiktional betrachten, die früher jedoch als Sachtexte an-gesehen wurden, wie dies etwa bei der Wiedergabe von Mythen derFall sein kann. Doch ein solcher Schluß ist voreilig: Daraus, daß sichdie Kriterien dafür, ob ein Text fiktional ist oder nicht, im Laufeder Zeit ändern können, folgt noch nicht, es sei prinzipiell un-möglich, zu explizieren, was ein fiktionaler Text ist.

2.2 Fiktionalität und FiktivitätZu Beginn einer Skizze von Fiktionalitätstheorien empfiehlt sichzunächst eine Differenzierung zwischen den umgangssprachlich oftsynonym verwendeten Ausdrücken >Fiktionalität< als Substantiv zu>fiktional< und >Fiktivität< als Substantiv zu >fiktiv<. Das Prädikat>fiktional< bezeichnet im folgenden ausschließlich eine bestimmteDarstellungsweise, derart daß das Dargestellte nicht existiert. DasPrädikat >fiktiv< hingegen bezeichnet im folgenden ausschließlicheine, wie sich vorläufig sagen läßt, bestimmte Existenzweise vonGegenständen (im formalen Sinne), derart daß diese Gegenständenicht existieren. Fiktive Gegenstände sind beispielsweise alle jeneuns vertrauten Gestalten aus fiktionalen Texten wie etwa Don Qui-jote, Sherlock Holmes, Josef K., aber auch Gegenstände wie jenesBartbecken, das Don Quijote fälschlicherweise für MambrinosHelm hält.

Fiktive Gegenstände werden nicht allein in fiktionalen Texten er-wähnt: Der Weihnachtsmann, der »Wolpertinger« oder eine Person,die sich ein Kind im Rollenspiel ausdenkt, sind fiktive Gestalten, zudenen nie ein fiktionaler Text existiert hat, und in der Literaturwis-senschaft ist es sogar der Normalfall, daß (etwa in der Sekundär-literatur) fiktive Gegenstände erwähnt werden, ohne daß dieseTexte deshalb fiktional wären. Aus diesem Umstand ergibt sich dieFolgerung, daß die Erwähnung fiktiver Gegenstände in einem Textnoch kein hinreichendes Merkmal für dessen Fiktionalität darstellt.

Hingegen ist häufig behauptet worden, die Erwähnung fiktiverGegenstände sei notwendiges Merkmal für die Fiktionalität einesTextes. Doch dies ist zunächst einmal offensichtlich falsch, da esfiktionale Texte gibt, in denen keinerlei fiktive Gegenstände vor-kommen, wie etwa Bertolt Brechts Erzählung »Der verwundete So-krates«, die eine Episode aus Piatons »Symposion« nacherzählt. DieAnhänger einer solchen These nehmen daher häufig an, alle singu-lären Termini, die anscheinend historische Objekte bezeichnen (wie

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etwa der Eigenname »Napoleon« in Tolstois »Krieg und Frieden«),bezögen sich in Wahrheit auf fiktive Objekte, die den historischenlediglich sehr ähnlich, aber nicht mit ihnen identisch seien (DOLEZEL1989, S. 230); mit anderen Worten: in fiktionalen Texten könntengar keine historischen Objekte vorkommen (HAMBURGER '1977,S. 93-95, STERN 1965/1966, S. io6f.). Eine solche Auffassung ist je-doch indirekt an bestimmte sprachphilosophische Thesen über dieNatur von Eigennamen gebunden, um überhaupt den Anschein derPlausibilität erwecken zu können; Thesen, die sich bei näheremHinsehen als äußerst fragwürdig herausstellen. Dazu nur ein Hin-weis: Welchen Sinn sollte es für den Autor eines historischen Ro-mans machen, sich eine Geschichte über eine fiktive Person aus-zudenken, die Napoleon heißt und dem historischen Napoleonextrem ähnlich sieht, statt über den historischen Napoleon selbst ?

Diese Überlegungen machen deutlich, daß es sich bei Fiktiona-lität und Fiktivität um zwei logisch voneinander unabhängige Phä-nomene handelt. Dementsprechend sollen im folgenden die Pro-blemfelder der Fiktionalität und der Fiktivität getrennt voneinanderbehandelt werden.

2.3 Theorien der Fiktionahtät2.3.1 Die Grundfrage der FiktionalitätstheorieNahezu alle Fiktionahtätstheorien rekonstruieren den fiktionalenText als eine bestimmte Art von Rede des Autors. Dies gilt auch fürfiktive Gespräche wie philosophische Lehrdialoge, Dramen als >Le-setext< oder Ich-Romane. Ein fiktiver Dialog etwa wird als elliptischin bezug auf die Inquit-Formeln aufgefaßt, also so, daß der Autorhier erzählt: »A sagt: >...<, dann sagt B: >...<, dann wieder A: >...<«und so weiter; und bei einem Ich-Roman wird angenommen, derAutor unterstelle, es gebe eine Person namens David Copperfield,die folgendes erzähle: »...«. Die Inquit-Formeln sowie die Unter-stellung der Existenz einer erzählenden Person bilden dann gleich-sam Äußerungen erster Stufe, die dem Autor direkt zugeschriebenwerden, während die Dialogbeiträge der fiktiven Sprecher und dieganze Erzählung David Copperfields Äußerungen zweiter Stufedarstellen, die vom Autor innerhalb seiner Äußerungen erster Stufelediglich zitiert werden. Auf diese Weise kommt man fast zwangs-läufig zu dem Schluß, die Rede des Autors eines fiktionalen Textesbesitze stets explizit oder implizit die Struktur einer Erzählung; daaber Erzählungen in Form von Behauptungssätzen abgefaßt wer-den, ergibt sich als Grundform jeden fiktionalen Textes ebenfalls

Fiktionalität und Poetizität 3 1

der Behauptungssatz. Solche dem Autor direkt zuzuschreibendeÄußerungen in Form von Behauptungsätzen sollen im folgendender Kürze halber >fiktionale Äußerungen genannt werden.

Da, wie wir gesehen haben, die Erwähnung fiktiver Gegenständekein notwendiges Merkmal für die Fiktionalität eines Textes dar-stellt, liegt es nahe, sich auf die Frage zu konzentrieren, welchenillokutionären Sprechakt der Autor mit seinen expliziten oder prä-supponierten fiktionalen Äußerungen vornimmt. Da nun aber mitBehauptungssätzen in der Regel Behauptungen vorgenommen wer-den, also ein Sprechakt, der dazu führt, daß den Sätzen das Prädikat>wahr< oder >falsch< zugesprochen werden kann, ergibt sich als zwei-te Grundfrage der Fiktionalitätstheorie, ob fiktionalen Äußerungenein Wahrheitswert zugeschrieben werden kann und wenn ja, wel-cher. Entscheidend für das Verständnis von Fiktionalität sind dieserAuffassung zufolge also lediglich fiktionale Äußerungen; die Äuße-rungen höherer Stufe hingegen sind unproblematisch, da mit ihnendieselben illokutionären Sprechakte ausgeführt -werden wie mitentsprechenden Äußerungen in nicht-fiktionalen Texten.

2.3.2 Fiktionale Äußerungen ah wahre oder falsche ÄußerungenDer erste Typ von Fiktionalitätstheorie geht davon aus, daß mitfiktionalen Äußerungen ganz einfach jener Sprechakt ausgeführtwird, der normalerweise mit Behauptungssätzen vollzogen wird:der des Behauptens. Die älteste und zugleich wohl populärsteVariante dieser Theorie, die bereits auf Piaton zurückgeht und unteranderem von David Hume wiederholt wurde, nimmt zudem an,diese Behauptungen seien im buchstäblichen Sinne falsch und dieDichter daher »hars by profession« (Hume). Doch diese Auffassungist im höchsten Maße unplausibel. Zwar ist es richtig, daß diefiktionalen Äußerungen, wenn sie denn behauptet würden, falschwären (GOODMAN 1983, S. 336); doch es wäre inadäquat, wenn einLeser auf sie so reagieren würde wie auf eine falsche Behauptung imeigentlichen Wortsinne. Ein solcher Leser würde damit vielmehrlediglich dokumentieren, daß er die Erzählung nicht als eine fiktio-nale rezipiert. Natürlich kann ein Leser wissen, daß all das, was inder Geschichte erzählt "wird, sich niemals ereignet hat, und sie folg-lich falsch wäre, wenn sie behauptet würde; doch dies läßt es eherfraglich erscheinen, ob es sich bei fiktionalen Äußerungen tatsäch-lich um Behauptungen handelt.

Eine weitere Theorie, die fiktionale Äußerungen als Behauptun-gen auffaßt, geht im Gegensatz zu der soeben skizzierten davon aus,

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diese Behauptungen seien wahr. Diese Auffassung läßt sich auf dieunter anderem von Saul A. Kripke im Anschluß an Gottfried Wil-helm Leibmz entwickelte Theorie der »möglichen Welten« als einerSemantik für die Modallogik zurückführen. Danach konstituiert einfiktionaler Text eine oder mehrere mögliche Welten; und die fik-tionalen Äußerungen des Textes sind nur -wahr in bezug auf diesemöglichen Welten, nicht jedoch in bezug auf die -wirkliche Welt(MARTINEZ-BONATI 1973, S. 186). Eine derartige Theorie ist aller-dings so lange unbefriedigend, solange sie nicht zu erklären vermag,auf welche Weise präzise ein fiktionaler Text solche möglichen Wel-ten konstituiert. Dies aber kann sie schon deshalb nicht, weil der fürdie Explikation so wesentliche Ausdruck »mögliche Welt« lediglicheine Metapher darstellt (THÜRNAU 1994, S. 29), die in der Semantikder Modallogik ihre Berechtigung haben mag, sich für die Klärungdes Fiktionalitätsbegriffs ohne weiterführende Überlegungen je-doch als -wenig hilfreich erweist.

2.3.3 Fiktionale Äußerungen als vorgebende ÄußerungenEinwände wie diese lassen es fraglich erscheinen, ob man fiktionalenÄußerungen überhaupt die Prädikate >wahr< oder >falsch< zuspre-chen kann und ob es sich bei diesen folglich überhaupt um Behaup-tungen handelt. Auch dieser Zweifel ist nicht neu: »the poet [...]never affirmeth« heißt es in einem bereits 1595 erschienenen Essaydes elisabethanischen Dichters Sir Philip Sidney zur Verteidigungder Literatur gegen Piatons Vorwurf der Dichterlüge. Er kommtebenfalls in einigen eher beiläufigen Bemerkungen des Begründersder modernen Logik, Gottlob Frege, zu Problemen der »Dichtung«zum Ausdruck, auf die zwei der wichtigsten zeitgenössischen Ty-pen von Fiktionalitätstheorien zurückgehen. So heißt es bei Frege:»Wie der Theaterdonner nur Scheindonner, das Theatergefecht nurScheingefecht ist, so ist auch die Theaterbehauptung nur Scheinbe-hauptung. [...] Sie [d.h.: der Schauspieler und der Dichter] tun nurso als behaupteten sie.« (FREGE 1918/19193, S. 36) Dieser Gedanke,fiktionale Äußerungen seien »Scheinbehauptungen«, ist insbeson-dere durch den amerikanischen Philosophen John R. Searle zu einergenuinen Fiktionahtätstheorie ausgebaut worden.

Searle zufolge gibt der Autor eines fiktionalen Textes vor (»pre-tend«), eine Reihe von illokutionären Akten zu vollziehen, worausfolge, daß das Kriterium dafür, ob ein Text fiktional sei oder nicht,notwendigerweise in den illokutionären Intentionen des Autors be-gründet liege (SEARLE 1975, S. 325). Die illokutionären Akte, die der

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Autor des Textes Searle zufolge zu vollziehen vorgibt, sind solchedes Behauptens, Aussagens, Beschreibens, der Identifikation, derErklärung und zahlreiche andere. Zu prätendieren, einen solchenAkt zu vollziehen, heißt dann nichts anderes als Behauptungssätzezu äußern, mit denen normalerweise ein derartiger illokutionärerAkt vollzogen wird, ohne aber diesen damit tatsächlich zu vollzie-hen. Dies ist deshalb möglich, weil es im Falle der Fiktionalität eineReihe von Konventionen gibt, welche die »normalen Operationensuspendieren, die eine Verbindung zwischen den illokutionärenAkten und der Welt herstellen« (ebd.). Für Searle bedeutet dies: DerAutor eines fiktionalen Textes tut nur so, als behaupte, beschreibe,erkläre er, und dies wird ihm ermöglicht durch eine pragmatischeLizenz, die im Falle der fiktionalen Äußerungen wirksam -wird.

Gegen diese Theorie lassen sich vielfältige Einwände vorbringen.Zum einen ist durchaus strittig, ob es allein von den Intentionen desAutors abhängt, ob ein Text fiktional ist oder nicht; dagegen sprichtjedenfalls der schon erwähnte Umstand, daß wir einige Texte, dieursprünglich als Sachtexte intendiert "waren, heute als fiktional be-trachten können, obwohl wir wissen, daß wir sie damit gleichsamgegen den Strich lesen. Zum anderen aber kann man sich fragen, wasmit dem »Vorgeben« eigentlich genauer gemeint ist. Searle selbstscheint hier wie Frege eher an eine Art Rollenspiel zu denken, wenner den Dichter mit dem Schauspieler gleichsetzt. Doch die Annah-me, der Autor spiele gleichsam einen Behauptenden, ist wenigüberzeugend, zumal alle anderen Anzeichen des Rollenspiels, wiewir sie aus entsprechenden Situationen kennen, bei fiktionalen Äu-ßerungen gänzlich fehlen; und geradezu widersinnig erscheint sie,wenn wir bedenken, daß im Standardfall der Rezeption fiktionalerTexte, bei der stillen Lektüre durch einen Leser, der Autor gar nichtals Person anwesend ist (weitere Einwände gegen Searle finden sichbei KLEMM 1984, S. 155-170, und MACCORMICK 1988, S. 38-77).

2.3.4 Fiktionale Äußerungen als nicht-behauptende ÄußerungenLäßt man den Gedanken der »Scheinbehauptung« und des »Vorge-bens« beiseite und konzentriert sich ausschließlich auf die Beschrei-bung, die Searle von diesem Vorgeben gibt, dann ist man schnell beidem anderen auf Frege zurückgehenden Typ von Fiktionahtäts-theorie. Searle hatte angenommen, mit fiktionalen Äußerungenwürden Behauptungssätze geäußert, ohne daß mit ihnen beispiels-weise der Sprechakt des Behauptens vorgenommen werde. DieserGedanke begegnet bei Frege wieder, -wenn er im Anschluß an die

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bereits wiedergegebene Äußerung über die »Scheinbehauptungen«fortfährt: »Der Schauspieler in seiner Rolle behauptet, er lügt auchnicht, selbst wenn er etwas sagt, von dessen Falschheit er überzeugtist. In der Dichtung haben wir den Fall, daß Gedanken ausgedrückt•werden, ohne daß sie trotz der Form des Behauptungssatzes -wirk-lich als •wahr hingestellt werden [...].« (FREGE 191871919a, S. 36) Dader »Gedanke« für Frege die Bedeutung (im Sinne von englisch»meaning«, bei Frege als »Sinn« bezeichnet) eines Behauptungssat-zes ist, läßt sich seine These auch dahingehend verstehen, daß es sichbei fiktionalen Äußerungen um solche handelt, die zwar Bedeutunghaben, aber nicht »mit behauptender Kraft« gesprochen -werden(FREGE 1969c, S. 252), also Sätze, die nichts weiter tun, als eineProposition auszudrücken.

Man hat mehrfach versucht, diese Äußerungen Freges durch einenähere Bestimmung dessen, was es heißt, Behauptungssätze ohne»behauptende Kraft«, also nicht-behauptend zu äußern, zu einersystematischen Theorie der Fiktionalität auszubauen (GABRIEL1975, S. 45; GALE 1971, S. 335f.). Alle diese Versuche, ebenso -wiedie These Freges selbst, scheitern jedoch aus einem wesentlichenGrund: Eine Explikation fiktionaler Äußerungen als Äußerung vonBehauptungssätzen, mit denen nichts behauptet -wird, ist defizitär.Illokutionäre Sprechakte stellen sinnvolle Handlungen dar, und umeine Handlung als sinnvoll aufzufassen, ist es notwendig, zu wissen,welcher Zweck mit ihr erreicht werden soll. Über einen solchenZweck aber sagt dieser auf Frege zurückgehende Typ von Fiktio-nahtätstheorie nichts, und folglich wird überhaupt kein illoku-tionärer Sprechakt spezifiziert, der mit dieser Art nicht-behaup-tender Rede vollzogen würde. Fiktionale Äußerungen wären daherRede ohne jegliche Illokution, Sprechhandlungen ohne Sinn undZweck, also gar keine sinnvollen Handlungen und vielleicht nichteinmal Rede im eigentlichen Sinne des Wortes. Eine solche Theoriemuß daher so lange unbefriedigend bleiben, wie es ihr nicht gelingt,fiktionale Äußerungen als Vollzug einer sinnvollen Sprechhandlungdarzustellen.

2.3.5 AusblickDas Defizit dieser Theorie ließe sich dadurch beheben, daß maneinen anderen lllokutionären Sprechakt annimmt, der mit Behaup-tungssätzen vollzogen und unabhängig davon charakterisiert wer-den kann, ob die Rede zusätzlich behauptend ist oder nicht. Einsolcher Sprechakt ist beispielsweise der des Erzählens; und da die

Fiktionalität und Poetizität 3 5

unter 2.3.1 skizzierte Grundannahme der Fiktionalitätstheorie vonder Erzählstruktur eines jeden fiktionalen Textes ausgeht, könnteman fiktionale Äußerungen so im Sinne der zuletzt referierten The-orie zwanglos als erzählende Sätze beschreiben, mit denen nichtsbehauptet wird. Ein fiktionaler Text wäre dann nichts weiter als eineErzählung ohne Wahrheitsanspruch. Eine solche Lösung beruht aufder Möglichkeit, Texte aufgrund von rein formalen Kriterien alsErzählungen zu identifizieren, ohne daß wir dazu wissen müssen,ob der Autor behauptet, seine Erzählung sei wahr, oder ob die Er-zählung tatsächlich wahr ist.

Man kann hier jedoch noch einen Schritt weitergehen, indem mandiese Überlegungen auf andere Sprechakte als den des Erzählensausdehnt; auf diese Weise könnte dann auch auf die Grundannahmeverzichtet werden, alle fiktionalen Texte besäßen Erzählstruktur.Texte wie die bereits als Beispiel erwähnten philosophischen Lehr-dialoge oder Dramen als >Lesetexte< lassen sich nämlich ebenfallsaufgrund rein formaler Kriterien unabhängig davon als Gesprächidentifizieren, ob dieses je stattgefunden hat oder nicht, oder ob je-mand behauptet, es habe stattgefunden. Ganz allgemein könntenfiktionale Texte dann als solche Texte charakterisiert werden, die1. zu einem Typus von Sprechhandlung (in einem weiten Sinn)gehören, für die gilt, daß die Identifikation eines Textes als eben sol-che Sprechhandlung aufgrund rein formaler Kriterien möglich ist,und von denen 2. der Autor mit den ihm zugeschriebenen oderpräsupponierten Äußerungen erster Stufe nicht behauptet, das inihnen Dargestellte sei wahr. Eine derartige Theorie entspräche imübrigen auch unserer Intuition in bezug auf außersprachliche fik-tionale Darstellungen und würde somit den eingangs aufgestelltenAnforderungen an eine Fiktionalitätstheorie Genüge tun; denn esist ja offensichtlich, daß ein Gemälde beispielsweise eine Schlachtdarstellen kann, also rein formal als ein >SchIacht-Gemälde< identifi-ziert werden kann (GOODMAN 1968, S. 39), ohne daß damit zugleichauch behauptet würde, diese Schlacht habe wirklich stattgefunden.

Freilich liegt hier zugleich auch em Problem. Wir sind bisher,wenn auch stillschweigend, davon ausgegangen, daß die fiktionalenTexte, mit denen wir es bei den hier skizzierten Theorien zu tunhatten, stets in irgendeinem Sinne >darstellende< Texte waren. Nunstellt sich jedoch die Frage: Können nicht-darstellende Texte auchfiktional sein? Wie ist es beispielsweise mit solchen Texten, die aus-schließlich aus Zitaten bestehen, wie es etwa in der Agitprop-Lyrikder Fall ist, oder gar mit literarischen Ready-mades wie Peter Hand-

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kes Gedicht »Die Aufstellung des i. FC Nürnberg vom 27.1.1968«:Daß es sich dabei um literarische Texte handelt, ist unbestritten(—» GATTUNGSFRAGEN) - doch auch um fiktionale? Vielleicht läßtsich eine solche Frage gar nicht beantworten ohne eine bewußteEntscheidung, also einen Akt der Willkür; dann aber ist es möglich,daß unsere bisherigen Überlegungen zur Fiktionahtät von Textenum ein weiteres, bislang noch unbekanntes Moment ergänzt werdenmüssen.

2.4 Theorien der FiktivitätIm Gegensatz zu dem der Fiktionahtät ist das Problem der Fikti-vität fast ausschließlich aus philosophischer Perspektive untersuchtworden. Zwei Typen von Auffassungen zu fiktiven Gegenständenlassen sich unterscheiden, die sich beide mit dem Problem befassen,ob diese existieren und worauf man sich mit einem Eigennamen wie>Sherlock Holmes< bezieht.

2.4.1 Fiktivität als »Subsistenz«Diese Theorie geht auf Überlegungen des österreichischen Philoso-phen Alexius Meinong (1853-1920) zurück. Meinong zufolge gibtes ein »Jenseits von Sein und Nichtsein«, eine Klasse von Gegen-ständen, die zwar in irgendeiner Weise »bestehen, in keinem Falleaber existieren« (MEINONG 1904, S. 486) und denen damit eine eige-ne Seinsweise der »Subsistenz« unabhängig von ihrer Existenz oderNicht-Existenz zukommt. Obwohl die Argumente, die Meinongfür die Annahme einer solchen Seinsweise anführt, vielfach kritisiertwurden, hat seine Theorie mit Bezug auf fiktive Gegenstände in denvergangenen zwei Jahrzehnten eine gewisse Renaissance erlebt. DieRechtfertigung einer solchen Theorie wird darin gesehen, daß wirüber fiktive Objekte wahre Aussagen machen können wie etwa»Sherlock Holmes raucht Pfeife« und eine solche Behauptung aufden ersten Blick mit der negativen Existenzaussage »Sherlock Hol-mes existiert nicht« unverträglich zu sein scheint (PARSONS 1980,S. 37). Vielmehr scheint es ein berechtigter Einwand zu sein, auf dieLeugnung der Existenz von Sherlock Holmes zu antworten: »Erexistiert im Roman.« (Ebd., S. 50)

Dieser intuitiven Auffassung versucht Terence Parsons im GeisteMeinongs zu entsprechen, indem er zwei verschiedene Arten vonPrädikaten einführt, »nukleare« und »extranukleare«: >Mensch<oder >grün< sind demzufolge nukleare Prädikate, >möglich<, >fiktiv<oder eben >existent< hingegen sind extranukleare Prädikate. Einer

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fiktiven literarischen Gestalt wie Sherlock Holmes kommt danndieselbe Art nuklearer Prädikate zu wie existierenden Menschen,aber nicht dieselbe Art extranuklearer Prädikate, da Sherlock Hol-mes nicht existent ist.

2.4.2 Fiktivität als semantisches ProblemDer häufigste Einwand gegen eine Meinongsche Theorie fiktiverGegenstände lautet, daß sie zweifelhafte ontologische Annahmenmache, die für die Analyse wahrer oder falscher Aussagen über fik-tive Gegenstände und die Erklärung der Fiktivität zudem überflüs-sig seien. Als Alternative wird eine Theorie entwickelt, derzufolgesich jede (mcht-fiktionale) Aussage über fiktive Gegenstände imSinne der Kennzeichnungstheorie von Bertrand RUSSELL 1905 be-handeln läßt, indem der auf das fiktive Objekt verweisende Eigen-name ersetzt wird durch eine definite Kennzeichnung (GABRIEL1975, S. 33ff.), die ihrerseits wieder durch eine Existenzaussage er-setzt werden kann. Aus der Aussage »Sherlock Holmes raucht Pfei-fe« wird dann etwa: »In den Romanen Conan Doyles gibt es dieBeschreibung eines Detektivs, der Sherlock Holmes heißt und Pfei-fe raucht.« Mit dem singulären Terminus >Sherlock Holmes< beziehtman sich dann also nicht mehr auf eine fiktive Person, sondern dar-auf, was den Romanen Conan Doyles zufolge über Sherlock Hol-mes gesagt wird, also auf eine Sherlock-Holmes-Beschreibung alsauf einen »komplexen prädikativen Ausdruck« (ebd., S. 38).

2.4.3 Fiktivität als ExistenzweiseGegen diesen Typ von Theorie sind von den Anhängern der Auf-fassung von Fiktivität als einer bestimmten Existenzweise ihrerseitsschwerwiegende Einwände geäußert worden, die insbesondere sol-che Aussagen betreffen, in denen fiktive und existierende Objektezugleich erwähnt werden. Die Aussage »Sherlock Holmes ist be-rühmter als jeder existierende Detektiv« etwa läßt sich nicht mehr inder Weise analysieren, die GABRIEL (1991, S. 142-146) vorgeschla-gen hat, nämlich als: »Die fiktionale Beschreibung des DetektivsSherlock Holmes ist berühmter als jeder existierende Detektiv«;denn wir wollen ja nicht den Ruhm der Beschreibung, sondern dendes Beschriebenen mit dem eines jeden existierenden Detektivs ver-gleichen.

Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, kann man nun annehmen,daß man sich auf den Gegenstand einer Beschreibung unabhängigdavon beziehen kann, ob dieser existiert oder nicht; dieser Vor-

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schlag weist gewisse Ähnlichkeiten mit dem unter 2.3.5 skizziertenzum Problem der Fiktionalität auf. Sherlock Holmes wäre demnachgenau jene Gestalt, die in den entsprechenden Romanen ConanDoyles beschrieben wird, ein »reiner Referent oder ein gramma-tisches Objekt« (CRITTENDEN 1991, S. 97). Fiktive Gegenständeunterscheiden sich dann von existierenden dadurch, daß die »Be-dingungen der Identifizierung«, die für sie gelten, von denen fürexistierende Gegenstände abweichen (CARL 1974, S. 205): FiktiveGegenstände können nur mit Bezug auf einen bestimmten Kontextidentifiziert werden, in dem sie beschrieben werden, etwa die Ro-mane Conan Doyles. Dieser Kontext legt zugleich jenen Bereichfest, mit Hinblick auf welchen es sinnvoll ist zu sagen, daß fiktiveObjekte existieren. Über fiktive Gegenstände sind daher zwei Ty-pen von Existenzaussagen möglich: einmal eine >normale< wie»Sherlock Holmes existiert«, die falsch ist, zum anderen jedoch aucheine qualifizierte, die den Existenzbereich angibt, in dem die fikti-ven Gegenstände vorkommen, wie »Sherlock Holmes existiert inden Romanen Conan Doyles«, die wahr ist.

Die Frage nach der »Existenzweise« fiktiver Gegenstände läßtsich dann so beantworten: Fiktive Gegenstände existieren nicht,•wenn man >existieren< im normalen Sinne verwendet; sie existierenjedoch sehr wohl, wenn man damit auf bestimmte Redeweisen ab-stellt, die wir über solche »reinen Referenten« haben. Mit anderenWorten: Die Aussage »Es gibt fiktive Gegenstände« läßt sich analy-sieren als »Es gibt (eine bestimmte Art von) Beschreibungen vonGegenständen, die es nicht gibt«. Auf diese Weise scheinen sich so-wohl die Schwierigkeiten der semantischen Analyse als auch diemetaphysischen Implikationen einer Theorie vom MeinongschenTyp vermeiden zu lassen.

3. Poetitzität

3.1 Probleme der ExplikationPoetizität ist notwendiges und hinreichendes Merkmal zur Unter-scheidung literarischer Texte von nicht-literarischen, also genaujene Eigenschaft oder Klasse von Eigenschaften, die allen litera-rischen Texten zukommt und allen nicht-literarischen abgeht. Zuexplizieren, was Poetizität ist, heißt explizieren, was Literatur ist.Eine Explikation besteht stets in der Angabe notwendiger und hin-reichender Merkmale des zu explizierenden Begriffs. Darauf noch

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einmal ausdrücklich hinzuweisen, gibt es gerade bei Theorien überLiteratur und Kunst jeden Anlaß, da hier auch andere Typen vonTheorien begegnen, die keine notwendigen und hinreichendenMerkmale von Kunst und Literatur angeben - obwohl dies auf denersten Blick keineswegs deutlich wird. So gehen einige Theoretikerbeispielsweise unterschwellig von ihrem je eigenen Erleben des Äs-thetischen an der Kunst aus, um dies dann theoretisch zu verall-gemeinern. Paradigmatisch ist dies etwa in der »Ästhetischen Theo-rie« Theodor W. Adornos der Fall, wo Adorno unter anderem dieAnsicht vertritt, Kunstwerke brächten eine Wirklichkeit zum Aus-druck, die noch nicht durch irgendwelche Verstandeskategorienoder gesellschaftliche Zwänge verstellt worden sei, so daß sich beider Rezeption gelungener Kunstwerke ein »Glück jähen Entron-nenseins« einstelle (ADORNO 1970, S. 30). Einer solchen These liegtein bestimmtes affektives Weltverhältnis, eine bestimmte >Weltan-schauung< zugrunde, so daß sie nur von solchen Personen geteiltwerden kann, die ein ähnliches affektives Verhältnis zur Welt haben;andere Personen hingegen werden der These die Zustimmung ver-sagen müssen, selbst wenn sie eine gewisse Sympathie für sie auf-bringen sollten. Dies zeigt, daß eine auf einer subjektiven Welt-anschauung basierende bloße Interpretation von Kunst nicht zurGrundlage einer allgemeinen Explikation werden kann. Damit istfreilich keine Geringschätzung dieser Art von Theorien verbunden,da in ihnen ja andere wesentliche Einsichten über Literatur undKunst enthalten sein mögen, etwa solche über die psychologische,gesellschaftliche oder historische Funktion von Kunstwerken; nur:Diese Theorien können nicht erklären, was Kunst ist.

Die Explikation des Begriffs der Literatur beziehungsweise derKunst führt jedoch auch eine Schwierigkeit mit sich, die in diesemselbst begründet ist: Er kann nämlich entweder rein klassifikato-nsch oder aber normativ-evaluativ verwendet werden (WEITZ 1956,S. 204). Klassif ikatorisch wird er gebraucht, wenn er zur Kennzeich-nung des Status eines Textes als literarisch dienen soll, unabhängigvon der Qualität des jeweiligen Textes; normativ-evaluativ hinge-gen wird er verwendet, wenn er Texte kennzeichnen soll, die diesenliterarischen Status und darüber hinaus noch hohe Qualität besit-zen. Im klassif ikatorischen Smne etwa wäre ein Roman von HedwigCourths-Mahler als Literatur anzusehen, im normativ-evaluativenhingegen nicht notwendigerweise (-> LITERARISCHE WERTUNG;-* WERT, KANON UND ZENSUR). ES ist dann offensichtlich, daß eineExplikation des Begriffs der Literatur ebenso wie desjenigen der

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Kunst sich gleichsam per definitionem stets nur auf die klassifi-katorische Verwendungsweise des Begriffs beziehen kann.

3.2 Literaturspezifische Theorien der PoetizitätPoetizität ist, wie wir eingangs sahen, das auf Texte bezogene Merk-mal der Ästhetizität und Literatur somit nichts weiter als Kunst ineinem bestimmten Medium, nämlich der Sprache. Daraus ergab sichfür uns die Forderung, die Reflexion über Poetitzität einzubetten ineine allgemeine Kunsttheorie, die Ästhetik. Dennoch hat es in derVergangenheit nicht an Versuchen gemangelt, eine Definition vonLiteratur zu geben, die unabhängig ist von einer Explikation desKunstbegriffs. Zwei einflußreiche Typen solcher literaturspezifi-scher Theorien der Poetizität sollen im folgenden skizziert werden,ehe wir uns dann literaturübergreifenden Kunsttheorien zuwenden.

3.2.1 RegelpoetikenDer älteste Typ von Theorien zur Poetizität und der mit derbei weitem längsten Tradition sind die sogenannten Regelpoeti-ken (-> POETIK). In ihnen werden der klassifikatorische und dernormativ-evaluatorische Literaturbegriff implizit miteinander ver-mischt. Regelpoetiken nennen zum einen Normen, denen jeder lite-rarische Text genügen sollte, um als guter literarischer Text ange-sehen zu werden, und geben zum zweiten Anweisungen, wie dieseNormen praktisch erfüllt 'werden können. Texte, die diesen Anwei-sungen nicht Folge leisten und damit den angegebenen Normennicht genügen, können daher entweder nicht mehr als Literatur imklassifikatorischen Sinne aufgefaßt oder aber müssen im normativ-evaluatorischen Sinne als schlechte oder minderwertige Literaturaufgefaßt werden. Regelpoetiken können daher allenfalls, wennüberhaupt, als Explikation eines zu einer Zeit vorherrschendenLiteraturbegriffs angesehen werden, nicht jedoch als Explikationdes Begriffs von Literatur überhaupt.

Bereits die älteste uns überlieferte Abhandlung über Literatur,die »Poetik« des Aristoteles, ist eine solche Regelpoetik. Schon imersten Satz heißt es: »Wir wollen hier von der Dichtkunst als solchersprechen, ihren Gattungen und deren verschiedenen Wirkungen,ferner davon, wie man die Erzählungen aufbauen muß, wenn dieDichtung schön werden soll [...].« (ARISTOTELES, S. 23) Im folgen-den bestimmt Aristoteles die Kunst im allgemeinen als »Nach-ahmung«, »Mimesis«, »handelnder Menschen« (ebd., S. 24) und dieDichtkunst im besonderen als Nachahmung, die unter anderem

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oder ausschließlich die Sprache verwendet. Wie sehr bei Aristotelesdeskriptive und normative Sprache Hand in Hand gehen, ergibt sichaus seinen Ausführungen zur Tragödie: »Es kann [...] Furcht undMitleid aus dem Bühnenbild entstehen oder auch aus dem Aufbauder Handlung selbst«, heißt es zunächst rem beschreibend; dochdann fährt er fort: »[...] dies ist ursprünglicher und zeigt den besse-ren Dichter.« (Ebd., S. 42)

Für eine Explikation von Literatur sind Regelpoetiken nur vonbegrenztem Wert. Dies zeigt sich am deutlichsten dann, wenn neu-artige Kunstwerke entstehen, die sich bewußt nicht mehr an diekanonisierten Normen halten wollen, wie dies insbesondere imZeitraum vom Ende des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts in der»Querelle des Anciens et des Modernes« der Fall ist (-» POETIK).Der Sieg der einen Partei (in diesem Falle der der »Modernen« überdie »Alten«) nämlich läßt die Regelpoetiken der unterlegenenzwangsläufig entweder zum Ausdruck der bloß subjektiven Präfe-renz einer bestimmten Art von Literatur werden oder aber erweistdiese als Definition von Literatur mit einem Schlage als inadäquat.

3.2.2 AbweichungspoetikenEin anderer Typ von Poetizitätstheone versucht den Begriff derLiteratur durch die Angabe bestimmter Bedingungen zu explizie-ren, denen ein literarischer Text im Gegensatz zu einem nicht-lite-rarischen gerade nicht genügen muß. Diese Theorien fassen Lite-ratur also als in gewisser Hinsicht von normaler Sprachverwendungabweichend auf und versuchen gerade diese Abweichung für eineExplikation fruchtbar zu machen. Solche Abweichungspoetikenwurden insbesondere im Russischen Formalismus und den an die-sen anschließenden verschiedenen strukturahstischen Strömungendiskutiert und verdanken sich der intensiven Auseinandersetzungmit modernistischer Literatur und Kunst (-> FORMALISMUS UNDSTRUKTURALISMUS).

Allerdings führt die Orientierung an modernistischer Literaturdie formalistischen und strukturahstischen Abweichungspoetikenhäufig in die Nähe von Weltanschauungstheorien. Ganz deutlichwird dies bereits bei Viktor Sklovskij, der »das Verfahren der Kunst«als das »Verfahren der >Verfremdung< der Dinge« bestimmt und als»Verfahren der erschwerten Form«, »das die Schwierigkeit undLänge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeßist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden« (SKLOVS-KIJ 1919, S. 15). Dies führt ihn schließlich zur Explikation der

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»dichterischen Sprache« als einer »schwienge[n], erschwerte[n],gebremste[n] Sprache« (ebd., S. 33). Für Sklovskij ermöglicht Lite-ratur aufgrund ihrer innovativen, traditionsbrechenden Verfahrens-weisen eine »Entautomatisierung« der Wahrnehmung und somiteine Wahrnehmung der Dinge, wie sie wirklich sind, unverstelltdurch tradierte Beschreibungs- und Darstellungskonventionen.Daß hinter dieser Explikation eine unhinterfragte weltanschauliche,metaphysische Grundannahme steht, wird deutlich, wenn man be-denkt, daß es keineswegs notwendig ist, daß alle Leser gerade aufdiesen verfremdenden Aspekt eines literarischen Textes aufmerk-sam werden müssen, ja daß es Texte gibt, bei denen eine solcheBetrachtungsweise für ein angemessenes Verständnis zweitrangigist, wie etwa bei engagierter Literatur. Im Grunde nennt Sklovskijnur gewisse Eigenschaften an literarischen Texten, auf die man sei-ner Ansicht nach besonders achten sollte, und empfiehlt damit einebestimmte Rezeptionsweise von Literatur (ohne freilich deren Vor-züge vor etwaigen anderen explizit zu machen), um diese dann zureinzig möglichen und damit dem >Wesen< der Literatur entspre-chenden zu verabsolutieren.

Ein entsprechender Einwand trifft auch den Explikationsversuchvon Roman Jakobson, die vielleicht berühmteste der strukturalisti-schen Definitionen von Literatur. Für Jakobson ist die Poetik »-we-sentlicher Bestandteil der Linguistik«, da sie es »mit Problemen dersprachlichen Struktur zu tun« habe (JAKOBSON i960, S. 100), unddies bedeutet für ihn insbesondere, daß eine Explikation von Lite-ratur nur im Vokabular einer linguistischen Theorie vorgenommenwerden kann. Für Jakobson besteht nun das Besondere der poeti-schen Sprachverwendung, das, was sie von der alltäglichen unter-scheidet, darin, daß die »poetische Funktion« »das Prinzip derÄquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombi-nation« überträgt (ebd.). Das heißt, daß die syntagmatische Reihung(»Kombination«) der Wörter im Text, die in nicht-literarischerSprache durch das »Prinzip der Kontiguität« charakterisiert ist (alsodadurch, daß die einzelnen Wörter einzig den syntaktischen und se-mantischen Sprachregeln gemäß kombiniert -werden dürfen), nunnach dem ansonsten allein die Auswahl (»Selektion«) aus dem ent-sprechenden Paradigma von semantisch austauschbaren Wörtern(»Äquivalenzklasse«) bestimmenden »Prinzip der Äquivalenz«vollzogen wird. Jakobson veranschaulicht dies am Beispiel »horri-ble Harry«, das für ihn einen Fall poetischer Sprachverwendungdarstellt: Hier werden die Wörter >horrible< und >Harry< deshalb

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kombiniert, weil sie in bezug auf den Anfangsbuchstaben »äquiva-lent« sind, also -weil sie denselben Anfangsbuchstaben besitzen.Dies zeigt, daß Jakobson das Besondere der »poetischen Sprach-verwendung« und damit auch der Literatur im allgemeinen darinsieht, daß im Text gewisse formale Bezüge hergestellt werden: etwadurch die Wiederholung einzelner Klänge, Wörter, Motive oderanderer Strukturelemente.

Abgesehen davon, daß sich der scheinbar streng wissenschaftlicheAnstrich seiner Ausführungen ausschließlich der extrem unpräzisenVerwendungsweise von Schlüsselbegriffen wie »Äquivalenz« oder»Prinzip der Äquivalenz« verdankt, bedeutet eine Bestimmung vonLiteratur, die allein auf deren formale Eigenschaften abstellt, wie-derum die Bevorzugung einer bestimmten Rezeptionsweise zuun-gunsten möglicher anderer. Es gibt sicher Texte, bei denen die Be-achtung solcher Strukturen für ein angemessenes Verständnis desTextes unerläßlich ist; doch auf der anderen Seite gibt es ebenso si-cher auch Texte, bei denen derartige Strukturen nur eine unter-geordnete Rolle spielen, ja bei denen die ausschließliche Beachtungder formalen Bezüge sogar ein angemessenes Verständnis verhin-dert. Zudem mögen in einem alltäglichen Text etwa Alliterationenvorkommen, ohne daß diese an sich schon eine poetische Funktionbesäßen, einfach deshalb, weil sie zufällig oder gar unbemerkt vonSprecher und Zuhörer zustandegekommen sind. Dies zeigt, daß sol-che strukturellen »Isotopien« zwar prinzipiell charakteristische,also häufig vorkommende Merkmale von literarischen Texten seinmögen, daß sie aber weder notwendige noch hinreichende Eigen-schaften von Literatur darstellen.

Die am weitesten ausgearbeitete Abweichungspoetik stammt vondem deutschen Literaturwissenschaftler Harald Fricke, der sichähnlich wie Jakobson auf die Charakterisierung einer auch in nicht-literarischen Texten vorkommenden poetischen Sprachverwendungbeschränkt und die Frage »Was ist Literatur?« ausdrücklich aus-klammert. Fricke zufolge ist eine Sprachverwendung genau dannpoetisch, wenn sie erstens die Abweichung von einer sprachlichenNorm darstellt und zweitens diese Abweichung eine bestimmteFunktion besitzt (FRICKE 1982, S. 87). Die Funktion ist entwedereine »interne«, das heißt eine solche, die »Beziehungen nur zwi-schen Tatsachen innerhalb des betreffenden Textes« herstellt, odereine »externe«, das heißt eine solche, die »Beziehungen zwischenTatsachen im Text und Tatsachen außerhalb des Textes« herstellt(ebd., S. 91). Dies ist in jedem Fall eine Verbesserung gegenüber

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Jakobsons Vorschlag, der überhaupt nur interne Funktionen be-rücksichtigt hatte, während Fricke durch den Begriff der externenFunktion auch solche Phänomene wie satirische Anspielungen oderpolitische Literatur in den Blick bekommt.

Freilich steht auch diese Theorie sogleich wieder vor unüber-steigbaren Schwierigkeiten. Zunächst einmal scheint Fricke häufigsprachliche Handlungen, die gar nicht unter bestimmte Normenfallen, als »Verletzung« einer sprachlichen Norm aufzufassen, wasungefähr so plausibel ist wie »die Charakterisierung eines Mordesmittels eines Tennisschlägers als Verstoß gegen die Regeln des Ten-nisspiels« (MARTINEZ/RÜHLING 1986, S. 389). Dies in Rechnunggestellt, bliebe von seiner Explikation aber nichts weiter übrig, alsdaß in poetischer Sprachverwendung Sprache anders verwendetwird als in nicht-poetischer, gerade weil sie hier eine andere Funk-tion besitzt. Mit anderen Worten: Poetische Sprachverwendung be-sitzt eine andere Funktion als nicht-poetische Sprachverwendung.In einer solchen Explikation hinge dann alles ausschließlich von derCharakterisierung eben dieser Funktion ab, und da zeigt sichschnell, daß Frickes Begriff der poetischen Funktion viel zu vageund inhaltsleer ist, um ein hinreichendes Merkmal von poetischerSprachverwendung spezifizieren zu können (-> WERT, KANON UNDZENSUR; -> STILISTIK).

3.3 Anti-essentialistische Theorien3.3.1 Ist eine Explikation von Literatur überhaupt möglich ?Alle der hier vorgestellten literaturwissenschaftlichen Theorien derPoetizität scheitern also daran, daß die von ihnen angegebenenMerkmale weder hinreichend noch notwendig für Poetizität nochüberhaupt mit ausreichender Präzision charakterisiert sind. An die-ser Stelle legt sich die Frage nahe, ob es überhaupt möglich ist, Lite-ratur dadurch zu definieren, daß man eine Klasse von Merkmalenbestimmt, die allen literarischen Texten gemeinsam sind, ohne sichin unspezifischen Allerweltsformeln zu verlieren, oder ob man sichnicht vielmehr mit »Symptomen des Ästhetischen« begnügen muß,Merkmalen also, die zwar charakteristisch für Literatur, aber wedernotwendig noch hinreichend sind (GOODMAN 1968, S. 253-256);von solchen »Symptomen« hätten die skizzierten Theorien dannimmerhin einige angeführt. Ein starker Grund, sich gegen die Mög-lichkeit einer solchen essentialistischen Explikation von Literatur imbesonderen und von Kunst im allgemeinen auszusprechen, hegtdarin, daß diese anscheinend jederzeit von der Wirklichkeit über-

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holt werden kann, »so daß nach irgendeiner Revolution in derKunstwelt die gutgemeinte Definition an den kühnen neuen Kunst-werken einfach abprallt« (DANTO 1981, S. 12). Dies hat seine Ursa-che unter anderem darin, daß die Schriftsteller und Künstler geradedes 20. Jahrhunderts sich dem Prinzip der Innovation verschriebenund einander zum Teil in dem Bestreben überboten haben, neuarti-ge Kunstwerke zu produzieren, die alle bisherigen Bestimmungenvon Kunst sprengen. »Art is the Definition of Art«, hat der ameri-kanische Concept-Künstler Joseph Kosuth einmal programmatischverkündet: Das Ziel der Kunst solle gerade darin bestehen, mitjedem neuen Kunstwerk die bisherigen Definitionen des Begriffs>Kunstwerk< ad absurdum zu führen und so indirekt zu dessenjeweiliger Neubestimmung beizutragen.

3.3.2 Kunst als »Familienähnlichkeit«Angesichts dieses Umstandes ist es schwierig, sich vorzustellen, wieeine essentialistische Theorie von Kunst und Literatur überhauptbeschaffen sein sollte, und man hat daher versucht, anti-essentiali-stische Alternativen zu entwickeln. Diese Alternativen, die nahezuausschließlich für den Bereich der Kunst, nicht aber für den der Li-teratur vorgeschlagen wurden, gehen davon aus, daß eine Explika-tion von Kunst und entsprechend von Literatur grundsätzlich nichtmöglich ist. Statt dessen schlägt etwa der Philosoph Morris Weitzim Anschluß an den späten Wittgenstein eine Analyse des Begriffsder Kunst vor, derzufolge dessen Verwendung keine Gemeinsam-keit aller der mit ihm bezeichneten Gegenstände zugrundeliegt,sondern vielmehr »ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, dieeinander übergreifen und kreuzen« (Wittgenstein, »PhilosophischeUntersuchungen«, § 66): Das Prädikat >Kunst< ist ein »offener Be-griff«, das heißt ein solcher, dessen »Anwendungsbedingungen ver-besserungsfähig und korrigierbar sind« (WEITZ 1956, S. 2oof.). Mitanderen Worten: Für die Bedeutung des Prädikats >Kunst< selbst istes wesentlich, daß sie durch jedes neuartige Kunstwerk ein Stückweit neu definiert werden kann.

Gegen diesen Vorschlag ist freilich einzuwenden, daß er nichtmehr Probleme löst, als er sogleich neue wieder aufwirft; denn zumeinen ist die Annahme eines offenen Kunstbegriffs ebensowenignotwendig, um das Auftauchen immer neuer Arten von Kunstwer-ken zu erklären, wie dieses Auftauchen an sich schon eine Explika-tion von Kunst unmöglich macht, da nämlich »die Ausdehnung desBegriffs nicht unbedingt dessen Bedeutung tangieren muß« (LÜDE-

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KING 1988, S. 77). Vielmehr könnte man sich auch hier wieder vor-stellen, ähnlich wie bereits beim Begriff der Fiktionalität, daß sichim Laufe der Zeit einfach die Kriterien dafür gewandelt haben,wann für uns ein Gegenstand diesen Begriff erfüllt. Zum anderenaber läßt eine solche Theorie völlig ungeklärt, nach welchen Krite-rien Entscheidungen darüber getroffen werden, ob ein neuer Fall alsKunstwerk zu bezeichnen ist oder nicht. Warum beispielsweisestellt die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 einenliterarischen Text dar, wenn sie in einem Gedichtband von PeterHandke abgedruckt wird, nicht hingegen, wenn sie am Vereinsbrettaushängt oder in der Tageszeitung bekannt gegeben wird ? Auf Fra-gen dieser Art weiß dieser Typ von Theorie offensichtlich keineAntwort.

3-3-3 Institutionelle Theorien der KunstGerade solche Fragen sind es jedoch, die für die zeitgenössischeÄsthetik zum Kardinalproblem geworden sind: der Unterschiedzwischen einem beliebigen Gegenstand und einem Kunstwerk. Dieshat damit zu tun, daß im 20. Jahrhundert, nach Marcel DuchampsErfindung des Ready-mades und dem Aufkommen des Happen-ings in den späten fünfziger Jahren jeder beliebige Gegenstand, jajede beliebige Handlung zum Kunstwerk werden kann. Dies giltmutatis mutandis auch für die Literatur, wie sich an Peter HandkesGedicht »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968« ge-zeigt hat, obwohl dort Ready-mades bei weitem nicht die gleicheüberragende Rolle gespielt haben wie in der Kunst. InstitutionelleTheorien der Kunst, die ursprünglich auf einen Aufsatz des ame-rikanischen Philosophen Arthur C. Danto zurückgehen (DANTO1964), versuchen dort weiterzumachen, wo die Theorie vom offe-nen Begriff der Kunst aufhörte: Ihnen zufolge ist ein Kunstwerk einvon Menschen geschaffener Gegenstand, dem von einer Person(dem Künstler) der Status als Kunstwerk übertragen wurde (DICKIE1969, S. 254). Ein Kunstwerk ist dann folglich das, was vom Künst-ler als solches definiert wurde und in einem entsprechenden insti-tutionellen Rahmen (etwa einem Museum oder einer Ausstellung)als solches präsentiert wird.

Ein Problem dieser Theorie besteht dann, daß sie nicht zu er-klären vermag, warum es für die Übertragung des Kunststatuswesentlich zu sein scheint, wer diese vornimmt: Es macht einenUnterschied, ob eine beliebige Person Brillo-Schachteln ausstelltoder Fotoserien von Campbell's Suppendosen macht oder aber

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Andy Warhol - obwohl die handwerklichen Fähigkeiten dazu in derTat jeder besitzt. (Für die Literatur hingegen scheint sich dieses Pro-blem nicht zu ergeben, da hier tatsächlich jede beliebige Person dieAufstellung einer Fußballmannschaft zum literarischen Text de-klarieren kann, indem er sie in seine eigene Gedichtsammlung auf-nimmt - selbst -wenn diese nie veröffentlicht -werden sollte.) Einnoch schwerwiegenderer Einwand gegen diese Art von Theoriedürfte jedoch sein, daß sie nahezu tautologisch ist: Ihr zufolge istetwas genau dann ein Kunstwerk, wenn jemand es als solches aus-gibt. Jemandem, der nicht weiß, -was ein Kunstwerk ist, ist mit einersolchen >Erklärung< aber nicht geholfen, da ihm keinerlei inhaltlicheMerkmale des Prädikats >Kunst< spezifiziert werden, die dieses vonanderen Prädikaten unterscheiden. Der gleiche Einwand gilt im üb-rigen auch für die erste der hier skizzierten anti-essentialistischenTheorien: Indem sie jegliche Art von Explikation entweder vermei-den oder nur tautologische anbieten, lassen sie uns mit der Frage»Was ist Kunst, was ist Literatur?« allein.

3.4 Kunst als ZeichenAnti-essentialistische Theorien scheinen also einerseits zwar keinebefriedigende Alternative zu den vorher dargestellten essentialist-ischen zu bieten; andererseits aber sind die Argumente gegen dieMöglichkeit von essentialistischen Theorien nicht von der Hand zuweisen. In dieser aporetischen Situation kam der zusammen mitNelson Goodman wohl bedeutendste und einflußreichste analyti-sche Kunstphilosoph der Gegenwart, der bereits erwähnte ArthurC. Danto, 1981 mit einem erstaunlichen Vorschlag, der alle genann-ten Probleme mit einem Schlage zu erledigen scheint. Dantos Lö-sung sieht so aus, daß er zwar die Ansicht der Anti-Essentialistenteilt, eine Explikation von Kunst sei unmöglich, solange diese sichnoch weiter so entwickele, wie sie es in ihrer bisherigen Geschichtegetan habe, jedoch der Meinung ist, diese Entwicklung sei definitivzu einem Ende gekommen. Daher bestehe jetzt zum ersten Malüberhaupt die Möglichkeit einer Explikation von Kunst (DANTO1981, S. 12).

Auf der Basis dieser Annahme expliziert Danto den Begriff derKunst wie folgt: Ein Kunstwerk ist 1. die Darstellung eines be-stimmten Themas (»Sujet«), das sich 2. dem Rezipienten in einemAkt der Interpretation erschließt, die optimalerweise die bisherigeKunstgeschichte in Rechnung stellt; und 3. das Thema wird dar-geboten in einem bestimmten Stil, der charakteristisch ist für den

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Künstler und seine Epoche. Mit den ersten beiden Punkten betontDanto den Zeichencharakter von Kunst: Sie ist stets »über« etwas(»about«) (ebd., S. 89), und das, worüber sie ist, ist ausschließlichdurch Interpretation zugänglich, so daß er in Anspielung auf Berke-leys berühmtes Postulat »Esse est percipi« deklarieren kann, das essedes Kunstwerks sei sein interpretari (ebd., S. 193). Gerade diesesInterpretiert-werden-können unterscheidet denn auch einen Textwie Handkes bereits mehrfach erwähntes Gedicht »Die Aufstellungdes 1. FC Nürnberg vom 27.1. 1968« vom gleichlautenden Text ineiner Tageszeitung oder als Ankündigung am Vereinsbrett.

Mit >Interpretation< ist dabei freilich nicht das gemeint, was fürgewöhnlich in den Geisteswissenschaften so genannt wird. Dantounterscheidet nämlich zwischen »Oberflächen-« und »Tiefeninter-pretation«. Die Oberflächeninterpretation ist genau jene, welchedas Konzept erläutert, das dem Künstler bei der Verfertigung seinesWerkes vorschwebte; dieses kann aber nur mit Bezug auf die Auto-rität des Künstlers herausgefunden werden und erfordert daher einbestimmtes Wissen seitens des Rezipienten; mit anderen Worten:Wir müssen wissen, welche Intentionen der Künstler mit seinemKunstwerk verfolgt hat, aber wir müssen darüber hinaus auch denbisherigen Verlauf der Kunstgeschichte kennen. So muß man bei-spielsweise wissen, daß ein Großteil der Kunst des 20. Jahrhundertskeine Gefühle zum Ausdruck bringen wollte, sondern statt dessendie bisherige Auffassung von Kunst ironisch kommentieren odereben die Grenzen der Kunst neu bestimmen wollte, um ein Gedichtwie das Handkes angemessen zu verstehen. Erst die für diese Artvon Interpretation vorausgesetzte »richtige Art von Wissen gibtdem Werk seine Identität« (DANTO 1986, S. 66). Eine Tiefeninter-pretation hingegen setzt eine solche korrekte Oberflächeninter-pretation bereits voraus und strebt statt dessen nach einer Deutung,die sich nicht auf die Intentionen des Künstlers berufen muß. Einesolche Interpretation ist für eine angemessene Rezeption eines Tex-tes oder Gegenstandes qua Kunstwerk Danto zufolge nicht not-wendig; ja er lehnt sie sogar ab. Da es aber genau diese Tiefeninter-pretation ist, die er als typisch hermeneutisch ansieht, verurteilt erjede Art von Hermeneutik (ebd., S. 60) und stimmt dem berühmtenSchlachtruf Susan Sontags zu, demzufolge »statt einer Hermeneu-tik« »eine Erotik der Kunst« notwendig sei (-> HERMENEUTIK).

Der Stil als drittes Explikationsmerkmal von Kunst spezifiziertdie besondere Weise, in der Kunstwerke, im Gegensatz zu anderenArten von Darstellungen wie insbesondere wissenschaftlichen, ihr

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Thema darstellen (-> STILISTIK). Danto expliziert den Stil als eineArt metaphorischer Darstellung, und das Kunstwerk wird so fürihn zu einer Art Gesamtmetapher. »Das Kunstwerk verstehen«heißt dann, »die Metapher erfassen, die immer da ist« (DANTO 1981,S. 262). Wieder auf Handkes Gedicht bezogen, würde dies bedeu-ten: Dieses stellt metaphorisch dar (nämlich durch den Fakt, daß eseine Mannschaftsaufstellung ist, die in einen Gedichtband aufge-nommen wurde), 1. daß auch eine Mannschaftsaufstellung ein Ge-dicht sein kann, 2. daß jeder beliebige Gegenstand ein Kunstwerksein kann, wenn es vom Künstler dazu erklärt wird, 3. daß das Ge-dicht zum Teil durchaus sogar traditionellen Definitionen von Ly-rik entspricht, da es in einer Art >Versform< verfaßt ist, und Ähn-liches mehr. Ein Kunstwerk wie Handkes textuelles Ready-madebringt also »die Strukturen der Kunst zum Bewußtsein«, wie Dantoin bezug auf ein anderes Ready-made sagt (ebd., S. 315). Die Pointedieser metaphorischen Darstellung aber im Gegensatz zur buch-stäblichen besteht darin, daß der Leser des Textes diese »Strukturender Kunst« anhand von diesem selbst erkennen muß, wenn er dasGedicht verstehen will - was wiederum ein entsprechendes Wissenvom Stand der Kunstgeschichte und von den Intentionen des Au-tors notwendig voraussetzt. Überspitzt ausgedrückt: Der Lesermuß die Ansichten Handkes über die Kunst selbst einen Augenblicklang haben, um das Gedicht zu verstehen, auch wenn er sie nicht zuteilen braucht. Genau hier liegt denn auch die eigentliche Pointe vonDantos Ausführungen: Das Kunstwerk »veräußerlicht eine Weise,die Welt zu sehen« (ebd.); es macht diese Weltsicht für den Rezipi-enten gleichsam erlebbar, während sie sonst, in diskursiver Sprache,nur beschreibbar ist.

J.J AusblickDantos Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefeninter-pretation sowie die Verurteilung letzterer zusammen mit dem siebetreibenden Berufsstand ist sachlich sicher kaum haltbar. Die An-sicht, daß das Urteil eines Autors über seine Werke nicht in jedemFall das letzte Wort sein muß, ist schließlich keine Idiosynkrasiehermeneutischen Denkens, sondern findet ihren Grund darin, daßAutoren sich bezüglich ihrer Absichten irren können: AugustStrindberg beispielsweise war der Meinung, sein Roman »Am offe-nen Meer« handele von einem Mann, der, obwohl seiner Umweltintellektuell weit überlegen, an deren Engstirnigkeit zugrundegeht;ein sorgfältiger Leser hingegen wird unweigerlich zum Ergebnis

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50 Voraussetzungen und Grundfragen der Literaturwissenschaft

kommen, daß der Roman von einem Mann handelt, der, obwohlmöglicherweise seiner Umwelt intellektuell überlegen, an seinereigenen Überheblichkeit und Überspanntheit zugrundegeht. DiesBeispiel macht auch deutlich, daß die Identifizierung des Sujets inder Literatur keineswegs immer so einfach ist, wie Danto glaubt undwie es in der bildenden Kunst vielleicht tatsächlich der Fall ist(-> HERMENEUTISCHE MODELLE; -> FORMEN >TEXTIMMANENTER<ANALYSE).

Doch abgesehen von solchen, eher die Details betreffenden Kri-tikpunkten läßt sich gegen diese Theorie auch noch ein schwer-wiegenderer Einwand vorbringen. So ist nämlich Dantos Per-spektive auf Kunst ohne Zweifel die eines Kenners und Liebhabers:Der Rezipient des von ihm definierten Kunstwerks ist jemand, derdas Sujet eines jeden Textes, gegebenenfalls unter Heranziehungvon erforderlicher Hintergrundinformation, identifizieren und lite-rarhistorisch richtig einordnen kann. Diese Charakterisierung legtdie Frage nahe, ob nicht auch hier wieder nur eine bestimmteRezeptionsweise von Kunst verabsolutiert und zum Maß allerDinge erklärt wird, ja ob hier nicht sogar ein normativ-evaluativerKunstbegriff unterschwellig dem klassifikatorischen in die Querekommt. Was etwa ist das Sujet eines mittelmäßigen Kriminalromansvon Edgar Wallace ? Die Suche nach dem Täter, würde Danto ver-mutlich antworten. Doch inwiefern wird dieses Sujet in metapho-rischer Weise dargeboten? Vielleicht würde Danto sagen: alleindadurch, daß überhaupt eine Geschichte erzählt wird. Doch einesolche Antwort ist unbefriedigend, da dann sofort wieder derUnterschied zwischen einer literarischen Geschichte und einem f ik-tionalen philosophischen Lehrstück - etwa der knappen narrativenAusschmückung unseres mehrfach als Beispiel angeführten Lehr-dialogs - verwischt würde, das ja auch ein Sujet besitzt, nämlich daßder eine Gesprächspartner dem anderen Erkenntnisse vermittelt.Diese Schwierigkeit könnte man vermeiden, indem man Dantodahingehend interpretiert, daß die veräußerlichte »Weise, die Weltzu sehen«, eine »existentielle« sein müsse, »eine Vergegenwärtigungvon Bedürfnis- und Wertperspektiven« (KOPPE 1991, S. 99). Dannaber -wäre erst recht nicht mehr verständlich, warum Produkte derMassenkultur wie Wallaces »Hexer« zur Literatur gehören. Natür-lich könnte man an dieser Stelle stehenbleiben und einfach behaup-ten, solche Werke würden gar nicht als zur Klasse der Kunstwerkeim klassifikatorischen Sinne gehörig betrachtet; es handele sichbei ihnen vielmehr um zwar fiktionale, aber keineswegs literarische

Fiktionalität und Poetizität 51

Texte. Doch dies scheint, gerade auch nach den entsprechenden Per-spektivverschiebungen der letzten drei Jahrzehnte in den Kultur-wissenschaften,, empirisch falsch zu sein.

Diese Überlegungen können als Hinweis darauf verstanden wer-den, daß es heutzutage eher Werke der bis vor kurzem noch so ge-nannten >Trivialkunst< zu sein scheinen, die eine Provokation für dieExplikation des Begriffs der Kunst beziehungsweise Literatur dar-stellen, und nicht mehr so sehr die einer ästhetischen Avantgarde.Im Zeichen der »Postmoderne« sind diese Werke freilich längst inden Blick gerückt, und der Unterschied zwischen >hoher< und >med-iiger< Kunst ist inzwischen obsolet geworden (—> LITERARISCHEWERTUNG). In der Debatte jedoch um die Frage danach, was Kunst,was Literatur ist, hat diese Grenzverwischung bisher offensichtlichnoch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die notwendig wäre, da-mit nicht wieder einmal, wie in der Geschichte der Ästhetik undLiteraturtheorie so oft, bestimmte Kunstwerke von vornherein,wenn auch unterschwellig, aus der Klasse der zu definierenden Ge-genstände ausgeschlossen bleiben. In jedem Fall aber scheint mir dieTheorie vom Kunstwerk als Zeichen diejenige Kunst- und Litera-turtheorie zu sein, die von den hier vorgestellten bei der zukünf-tigen Bearbeitung des »noch ungelösten Problems« (Boethius) ammeisten Aufmerksamkeit verdient.