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r 1 HEFT 2/63. JAHRGANG/2014 MAGAZIN / PdN BIOLOGIE in der Schule Praxis der Naturwissenschaften Magazin/PdN BIOLOGIE in der Schule 63(2):39-42 (2014) es die Apotheke aus dem Meer? S. Siebert, P. Enge!hard, S. Kraan, R. Schauer und H.- C. Siebert Vielfältige Beispiele belegen, wie bedeutend neue pharmakologische Wirkstoffe aus marinen Organismen sind, damit schwer zu heilende Krankheiten besser therapiert werden nnen. Stichwörter: Seeanemonen, Clownßsche, Sialin- säuren, Kollagen, Polysaccharide 1 Einleitung Steht im Biologieunterricht die Botanik auf dem Programm und streift dabei auch die Gesundheitslehre, dann kommt man an den Heilkräutern nicht vorbei. Sogar eine Verbindung zum Geschichtsunter- richt biet et sich unter interdisziplinären , ichtspunkten an, denn das Wissen uni. die Heilkraft der Natur lässt sich über Tausende vo n Jahren zurückverfolgen und hat den Verlauf der Menschheitsge- schichte geprägt. Im Mittelalter ist dieses Wissen insbesondere in den Klostergär- ten erweitert worden. Die hochgebildeten und umtriebigen Ordensleute griffen da- bei allerdings auch auf zahlreiche Schrif- ten zurück, die ihnen von Händlern aus unterschiedlichst en Winkeln der Erde ge- bracht wurden. Eine vergleichbar gründli- che Untersuchung mariner Lebensformen in Hin blick auf ihr pha rmakologisches Potenzi al war aufgrund ihrer Unzugäng- lichkeit zu der damaligen Zeit noch nicht möglich. Wenn es eine Apotheke der Natur gi bt , die von den Menschen schon seit Jahrtau- sende n genutzt wird, dann ist es nicht ver- wunderlich , dass auch eine Apotheke aus dem Meer existiert. Hier enthalten viele tie rische und pflanzliche Lebensformen Stoffe, welche in ganz gezielter Weis e bei der Bekämpfung bestimmt er Krankhei- ten nützlich sind. Was macht die Wirk- stoffe aus dem Meer so besonders , dass man sie als eine ganz spezielle Abteilu ng der Naturapotheke betrachten kann? Es ist der Umstand, dass alles Leben aus dem Meer kommt u nd die Tatsache, dass viele Mo lekülformen mariner Lebewesen eine riesige Variatio nsbreite besit ze n und teil- weise noch un entdeckt sind . An einigen Abb. 1: Clo wnfi sch im Schutz einer Seeanemone einprägsamen Beispielen sollen diese Frag en in dem vorliegenden Artikel einer Antwort näherge bracht werden. 2 Clownfische und Seeanemonen leben in biochemischer Harmonie In manchen Fäll en reicht eine genaue Be - obachtung des Zusammenlebens mari- ner Organismen aus, um biochemischen Wechselwirkungsprozessen auf die Spur zu kommen , die für neuartige therapeu- Fot o: Ritiks, Wikimedia Commons. lizenziert unter cc-by-sa-3.0 39

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HEFT 2/63. JAHRGANG/2014 MAGAZIN / PdN BIOLOGIE in der Schule

Praxis der Naturwissenschaften

Magazin/PdN BIOLOGIE in der Schule

63(2):39-42 (2014)

~ibt es die Apotheke aus dem Meer? S. Siebert, P. Enge!hard, S. Kraan, R. Schauer und H.- C. Siebert

Vielfältige Beispiele belegen, wie bedeutend neue pharmakologische Wirkstoffe aus marinen Organismen sind, damit schwer zu heilende Krankheiten besser therapiert werden können.

Stichwörter: Seeanemonen, Clownßsche, Sialin­säuren, Kollagen, Polysaccharide

1 Einleitung Steht im Biologieunterricht die Botanik auf dem Programm und streift dabei auch die Gesundheitslehre, dann kommt man an den Heilkräutern nicht vorbei. Sogar eine Verbindung zum Geschichtsunter­richt bietet sich unter interdisziplinären

,ichtspunkten an, denn das Wissen uni. die Heilkraft der Natur lässt sich über Tausende von Jahren zurückverfolgen und hat den Verlauf der Menschheitsge­schichte geprägt. Im Mittelalter ist dieses Wissen insbesondere in den Klostergär­ten erweitert worden. Die hochgebildeten und umtriebigen Ordensleute griffen da­bei allerdings auch auf zahlreiche Schrif­ten zurück, die ihnen von Händlern aus unterschiedlichsten Winkeln der Erde ge­bracht wurden. Eine vergleichbar gründli­che Untersuchung mariner Lebensformen in Hin blick auf ihr pharmakologisches Potenzial war aufgrund ihrer Unzugäng­lichkeit zu der damaligen Zeit noch nicht möglich.

Wenn es eine Apotheke der Natur gibt, die von den Menschen schon seit Jahrtau­senden genutzt wird, dann ist es nicht ver­wunderlich, dass auch eine Apotheke aus dem Meer existiert. Hier enthalten viele tierische und pflanzliche Lebensformen

Stoffe, welche in ganz gezielter Weise bei der Bekämpfung bestimmter Krankhei­ten nützlich sind. Was macht die Wirk­stoffe aus dem Meer so besonders, dass man sie als eine ganz spezielle Abteilung der Naturapotheke bet rachten kann? Es ist der Umstand, dass alles Leben aus dem Meer kommt und die Tatsache, dass viele Molekülformen mariner Lebewesen eine riesige Variationsbreite besitzen und teil­weise noch unentdeckt sind. An einigen

Abb. 1: Clownfisch im Schutz einer Seeanemone

einprägsamen Beispielen sollen diese Fragen in dem vorliegenden Artikel einer Antwort näherge bracht werden.

2 Clownfische und Seeanemonen leben in biochemischer Harmonie In manchen Fällen reicht eine genaue Be­obachtung des Zusammenlebens mari­ner Organismen aus, um biochemischen Wechselwirkungsprozessen auf die Spur zu kommen, die für neuartige therapeu-

Foto: Ritiks, Wikimedia Commons. lizenziert unter cc-by-sa-3.0

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Abb. 2: Demonstrationsdarstellung zur Erarbei­tung unterschiedlicher Schutzmechanismen in der Haut von Clown- und Palettendoktorfischen.

Foto: S u. H. C Sieber!

tische Strategien in der Human- und der Veterinärmedizin von Bedeutung sein können. Selbst beim Ansehen des Anima­tionsfilms „Findet Nemo" wird aufmerk­samen Beobachtern sehr schnell klar sein, dass sich ein Clownfisch (Amphiprion) , der auch unter dem Namen Anemonen­fisch bekannt ist, vor den Angriffen sei­ner Fressfeinde schützen kann, wenn er sich in unmittelbarer Nähe von Seeane­monen bzw. Nesseltieren aufhält (Abb. 1). Das Gift der Seeanemonen wird von den Clownfischen nicht freigesetzt. Wird die Giftentladung von einem Fressfeind aus­gelöst, ist dies für die Clownfische nicht weiter schlimm, da ihre Haut von einer dichten Schutzschicht umgeben ist, die die Nesselkapseln nicht zur Explosion bringt und undurchdringlich für Nessel­gifte ist. Clownfische können sich in der Obhut dieser Nesseltiere sicher fühlen . Wie diese Symbiose genau funktioniert, kann im Rahmen einer Demonstration in verschiedenen Klassenstufen mit einem unterschiedlichen Grad an Detailgenau­igkeit anschaulich erläutert werden. See­anemonen, Polypen und Quallen gehören zu den Cnidarien, sind also Nesseltiere, de­ren Nesselkapseln durch ein bestimmtes mechanisch-chemisches Signal zur Ent­ladung gebracht werden. In einer Szene des Films „Findet Nemo" schwimmen der Clownfisch Marlin und der Palettendok­torfisch Dori durch einen Schwarm von Quallen. An dieser Schlüsselszene, die in einem Demonstrationsaufbau nachge­stellt wird (Abb. 2), können die Schüler die entscheidenden Gedanken entwickeln, so dass ein anschaulicher Einstieg in die Un­terrichtseinheit gewährleistet ist: Der Pa­lettendoktorfisch (Paracanthurus hepatus)

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ist gegen Nesseltiere nicht gut geschützt; es kann sehr leicht zu einer Giftentladung der Nesselkapseln kommen.

Wie lässt sich dieser Sachverhalt er­klären? Die meisten Fische haben auf ih­rer Haut eine Schutzschicht, die reich an Sialinsäuren ist. Dies sind saure Zucker, die bei Fischen und auch beim Menschen schleimartige Schutzschichten ausbilden. Beim Kontakt mit Nesseltieren können die Zuckermoleküle nun ein verhängnisvolles Signal auslösen und zur Freisetzung von Nesselgiften führen. Die Schutzschicht auf der Haut der Clownfische enthält da­gegen keine Sialinsäuren (1, 2], so dass die Freisetzung der Nesselgifte ausbleibt.

Der Clownfisch ist das typische Beispiel für ein Tier, das in einer Symbiose lebt -allerdings nicht mit Quallen, sondern mit den ortstreuen Seeanemonen. Die enge biologische Verwandtschaft zwischen den Quallen und den Seeanemonen wird ver­deutlicht, indem die Schülerinnen und Schüler Quallen als Nesseltiere zu identi­fizieren lernen. Nachdem abgeklärt wor­den ist, dass die Seeanemone den Clown­fisch vor Fressfeinden schützt, wird diese Art der Symbiose noch genauer analy­siert. Zu einer echten Symbiose gehört ein beidseitiger Nutzen. Die Anemonenfische verbessern durch ihre Ausscheidungen das Nahrungsangebot der Wirtsanemo­nen, denn diese ernähren sich von einem breiten Spektrum organischer Stoffe -hauptsächlich von mikroskopisch kleinen planktonischen Organismen, die sie aus dem Meerwasser filtern, und gelegentlich von größeren Beutetieren wie Fischen, die in ihre nesselnden Tentakel geraten sind. Desweiteren können die Anemonenfische ihre Wirte auch vor gewissen Fischen be­schützen, wie den Gauklerfischen (Chae­todontidae), die sich auf den Verzehr von Anemonen und Korallenpolypen speziali­siert haben. Durch ein ausgeklügeltes Zu­sammenspiel chemischer Stoffe optimiert die Natur in kontinuierlicher Weise bio­logische Abläufe. Kann man ein solches Wissen nun auch zur Lösung pharmakolo­gischer Fragestellungen nutzen?

Am Beispiel der Sialinsäuren, die bei den Stachelhäutern, wie Seesternen und Seeigeln (Echinodermata), in der Evolu­tionsgeschichte zuerst auftauchten (2], lässt sich aufzeigen, wie genaue Beobach­tungen bei der Entwicklung neuer medi­zinischer Wirkstoffe aus Molekülen von Meereslebewesen bedeutsam sind. Wis­sensbereiche aus der Paläontologie und der modernen Biochemie wirken bei der Aufdeckung der Evolutionsgeschichte von Sialinsäuren auf eine hochinteressante

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Weise zusammen. Die biochemischen Grundkenntnisse der Schüler sollten da­bei so weit vorangeschritten sein, dass sie einen Zuckerring erkennen können. Vom Chemieunterricht dürfte bereits in der Mittelstufe zumindest die Ringstruk­tur der Glukose (Traubenzucker) bekannt sein. Falls dies nicht der Fall ist, muss das Molekül im Zusammenhang mit seiner Bedeutung als Energielieferant im Biolo­gieunterricht kurz erläutert werden. Im Gegensatz zur Glukose tauchen am Zu­ckerring der Sialinsäuren bzw. ihrer Grund­form, der Neuraminsäure, noch weitere chemische Gruppen (wie z.B . die negativ geladene Carboxylgruppe und die unge­ladene, aber polare N-Acetylgruppe) auf (Abb. 3) , die bei der Interaktion mit unter­schiedlichen Rezeptore~ wichtige biologi­sche Funktionen erfüllen. Die Anheftung von Bakterien und Würmern (Nern den) an marine Lebensformen stellt einen Motor der Evolution dar, denn diese mo­lekular vermittelten Wechselwirkungen bestimmen das überleben und den Un­tergang einer Art (2]. Die Einführung einer neuen Molekülklasse wie der Sialinsäuren bei den Stachelhäutern hat Auswirkungen auf den Gang des makroskopischen Evo­lutionsgeschehens. Die Variationsvielfalt der Bausteine der Zuckerketten, die sich an den Zelloberflächen befinden und An­heftungsprozesse von anderen Zellen, Vi­ren und unterschiedlichsten Wirkstoffen kontrollieren, hat die Evolution an ge­nau dieser Stelle in entscheidender Weise weiter vorangetrieben. Die Sialinsäure-

Rs R 4,7,B,9

-NH-C-CH II

3 - H (4,7,8,9)

0

- NH- C- CH II 1

2 -C-CH II

3 (4,7,8,9)

0 OH 0

- NH-C-CH II 1

2 -C-CH-CH 11 1

3 (9)

0 C=O 0 OH 1 CH3 - CH3 (8)

-OH -S03H (8)

- P03H2 (9)

Abb. 3: Strukturformel der Sialinsäuren. Die Grundform wird als N-Acetyl-neuraminsäure be­zeichnet. In der linken Spalte ganz oben befindet sich die N-Acetylgruppe (NHCOCH3) . Die Carbo­xylgruppe (COOH) kommt bei allen Sialinsäuren obligatorisch vor [1 , 2] .

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biochemie liefert daher ein instruktives Beispiel für das Ineinandergreifen mole­kularer und makroskopischer Evolution. Die vielseitigen biologischen Funktionen der Sialinsäure, insbesondere bei ihren Wechselwirkungen mit spezifischen Re­zeptoren (den molekularen Andockstel­len), haben bereits zu einer Reihe von me­dizinischen Anwendungen geführt. Bei entzündlichen Prozessen und bei Infekti­onskrankheiten zeigt sich das pharmazeu­tische Potenzial von Sialinsäuren. Sialin­säureartige Hemmstoffe von Sialidasen oder Neuraminidasen spielen bei der Ab­schwächung von Grippesymptomen eine wichtige Rolle. Sialidasen bzw. Neurami­nidasen sind Enzyme, die Sialinsäure bzw. Neuraminsäure abspalten und dadurch nachkommenden Virengenerationen er­möglichen, sich von der befallenen Wirts-

• zu lösen. Das Beispiel der Clown­hsche und Seeanemonen, das gerade auf der Abwesenheit von Sialinsäuren basiert, macht die biologische Ambivalenz der Si­alinsäuren deutlich, die einem komplexen Organismus Schutz vor Feinden bieten, aber auch eine spezielle Angriffsfläche zur Verfügung stellen, wie es bei den Anhef­tungsstrategien von den erwähnten Influ­enzaviren offensichtlich wird.

3 Die Artenvielfalt der Meere liefert unzählige Wirkstoffe Vor dem Hintergrund dieses speziellen Beispiels stellen wir uns jetzt die Frage, ob generell marine Lebewesen wie Fische, Algen und Quallen Träger wertvoller Wirk­stoffe sind, die es weiter zu erforschen gilt. Die genaue Kenntnis der molekula­li Zusammenhänge ist dabei auch ein S 'tiutz für die Meereslebewesen selbst, da die Biochemie Möglichkeiten bereitstellt, pharmazeutisch kostbare Substanzen sel­tener, verfolgter oder vom Aussterben be­drohter mariner Lebensformen nachzu­bauen bzw. zu synthetisieren.

Im Rahmen von Kindervorlesungen [3] haben wir mit 8- bis 12-jährigen Kindern nach diesen Vorgaben eine ganze Reihe interessanter Kommentare aus dem Kreis der jungen Vorlesungsteilnehmer zu die­sem Thema aufgreifen können, die darauf hinausliefen, dass in den Fischabfällen wie in Haut und Gräten möglicherweise besonders wertvolle Stoffe enthalten sind. Man darf Fische, Algen und Quallen unter ihren ganz bestimmten Nutzaspekten se­hen und sollte dabei ihre besondere Be­deutung für die Umwelt aufdecken. Fische stellen eine überaus gesunde Nahrungs­quelle dar, insbesondere wegen ihrer un­gesättigten Fettsäuren. Ein ganz bestimm-

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Abb. 4: Sulfatierte Polysaccharide aus Algen. Ein Fragment (Stäbchendarstellung) ist in der Bindungs­tasche eines Enzyms (Oberflächendarste llung) zu sehen. (Proteindatenbakcode: 1 KTW.pdb) Urheber: S. u. H. C. Siebert

ter Gesichtspunkt, das pharmazeutische Potenzial unterschiedlichster Wirkstoffe aus marinen Organismen zu gewinnen, wird nun anhand weiterer Beispiele ge­nauer erläutert . Fast jedes Meereslebewe­sen besitzt ein, zum Teil noch unentdeck­tes, molekulares Spektrum neuartiger Wirkstoffe mit biomedizinischer Rele­vanz, wie es beispielsweise am Kollagen von Quallen und Fischen [ 4] sowie an den langen Zuckerketten in Algen [5] anschau­lich gezeigt werden kann. Trennt man diese Molekülgemische auf, so weisen in bestimmten Unterfraktionen einige die­ser kettenartigen Molekülstränge von un­terschiedlicher Länge und Zusammenset­zung eine erstaunliche Bioaktivität auf.

4 Kollagenstränge und Polysaccharid­ketten mariner Organismen Kollagene und Polysaccharide werden in der Pharmazie aufgrund ihrer biologi­schen Unwirksamkeit häufig als Träger­substanzen für Wirkstoffe eingesetzt und nicht als Wirkstoffe selbst. Wenn aller­dings Fragmente des langkettigen Kolla­gens oder bestimmte Abschnitte langer Zuckerketten, die nur noch aus wenigen (z.B. sechs) Bausteinen bestehen, isoliert und angereichert werden, dann können diese Fragmente Bioaktivität erlangen, in dem sie gegebenenfalls bestimmte En-

zyme blockieren und biochemische Re­gelkreisläufe verändern, die zum Beispiel mit der Knorpelgesundheit in Zusam­menhang stehen. Da menschliche Gelenk­knorpel neben sehr viel Wasser aus den Biomakromolekülen Kollagen und Pro­teoglykanen (langkettigen Zucker- und Proteinstrukturen) bestehen, leiten sich aus diesen Erkenntnissen neuartige Stra­tegien zur Erhaltung der Knorpel- bzw. der Gelenkgesundheit ab. Proteoglykane mit Schwefelsäuregruppen (Abb. 4) und Kolla­gene in der Haut von Knorpelfischen (wie Haien und Rochen) liefern wertvolle mo­lekulare Baupläne für eine künftige Me­dikamentenentwicklung. Ein besonde­rer Anreiz für den Unterricht liegt darin, dass diese Darstellungen problemlos mit einer geeigneten, frei zugänglichen Soft­ware von den Schülerinnen und Schülern am PC selbsttätig erstellt werden können. Die Strukturdaten werden im pdb-Format heruntergeladen und zwar über www. pdb. org. Ein geeignetes kostenloses Molekül­visualisierungsprogramm ist VMD (siehe Punkt 5).

Allein die Haie, die als Erfolgsmodelle der Evolution gelten, bergen aufgrund ih­rer morphologischen Unterschiede [ 6], die erst bei detaillierter Betrachtung sichtbar werden, ein nahezu unerschöpfliches Re­servoir potenzieller Therapeutika. Der

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Abb. 5: Ein lipidbindendes Protein aus Fischen (Oberflächendarstellung) mit Liganden (Stäbchen­darstellung) hat den Proteindatenbakcode 1 EMO.pdb. Urheber: S. u. H. C. Siebert

Blick auf die molekulare und submoleku­lare Ebene versetzt uns allerdings auch in die Lage zu erkennen, dass die erwähn­ten Therapeutika ebenfalls in anderen marinen Lebensformen wie Algen sowie Hohl- und Krustentieren vorkommen. Die Grenzen zwischen Arznei- und Nahrungs­mitteln mit gesundheitsfördernden Ei­genschaften bestehen weiter, aber es kann den Schülerinnen und Schülern nun we­sentlich besser verdeutlicht werden, dass diese Trennlinien in der Dosis sowie in der Reinheit der betreffenden Substanzen lie­gen und sich bei der Therapie von Krank­heiten, die zur Zeit noch schwer zu behan­deln sind, Chancen eröffnen können [7, 8). Bei artgerechter und optimierter Hal­tung bzw. einer gezielten Zufütterung von Algen können sogar Meerestiere, die in Aquakulturen aufgezogen werden, einen großen Wert als gesunde bzw. gesund­heitsfördernde Nahrungsmittel erlangen.

Gesunde Nahrung aus marinen Le­bensformen wie den Algen, sowie neue Medikamente aus dem Meer, die bei tücki­schen Krankheiten wie Infektionen, Krebs und neuronalen Leiden helfen [7, 8], sind die ganz pragmatischen Anreize, die zei­gen, dass die Meeresforschung mit phar­mazeutischer Ausrichtung, die eigentlich erst an ihren Anfängen steht, in sinnvoller Weise ausgebaut werden muss.

Die Makroalgen besitzen Inhaltsstoffe, die die Fische bei guter Gesundheit halten und zwar durch die gesamte Nahrungs­kette im Meer. Bei richtiger Anwendung, d. h. selbst bei der Aufzucht der Tiere in Aquakultur, kann dies auch für die Ge­sundheitsvorsorge der Menschen von großem Vorteil sein. Zwischen einem ge­sunden Fisch und einem Fisch, der als

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Nahrungsquelle positive Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat, be­steht ein enger Zusammenhang.

5 Ungesättigte Fettsäuren aus Fischen Die ungesättigten Fettsäuren aus Fischen sind deshalb so wichtig für die menschli­che Ernährung, da sie Vorstufen für lebens­notwendige Lipidhormone, wie die Prosta­glandine, darstellen. Auch diese Abbildung eines Strukturmodells (Abb. 5) kann mit den in einer Proteinstrukturdatenbank abgelegten Koordinaten 3EMO.pdb (un­ter www.pdb.org) und einem geeigneten Molekülvisualisierungsprogramm (http: // www.ks.uiuc.edu/Research/vmd/) im Un­terricht mit Hilfe des Internets und einem Computer erstellt werden [9]. Mit diesen Hilfsmitteln gelingt es, das molekulare Zusammenspiel in den Meereslebewesen exemplarisch am Computerbildschirm zu verdeutlichen und für den Biologieunter­richt nutzbar zu machen.

6 Schlussbetrachtung Je mehr Wissen über die Meeresbewoh- · ner gewonnen wird, um so besser kann man sie schützen und wie bei einer echten Symbiose von ihnen lernen, um Gesund­heitsprobleme sowie andere drängende Zukunftsfragen zu lösen. Diese Art von Wissenschaft mit ihrem speziellen ma­rinen Fokus kann als ein faszinierendes Abenteuer [3] aufgefasst werden, das drän­gende Menschheitsprobleme einer Lösung näher bringt. Allerdings muss man sehr ge­nau wissen, in welche Richtung vorzusto­ßen ist. Heilsversprechen können leider auch schnell in eine ganz andere Richtung umschlagen, so dass unter dem Vorzeichen der Gesundheitsforschung möglicher-

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weise sogar eine noch unkontrolliertere Ausbeutung der Ozeane vollzogen wird. Diese Fehlentwicklungen sollten sich aller­dings durch ein detailliertes Faktenwissen verhindern lassen, bei dem medizinische und ökologische Zusammenhänge deut­lich werden, die ein verantwortliches Han­deln zwingend notwendig machen. •

Literatur [l] S. Siebert, H.-C. Siebert, R. Schauer (2002) Siatinsäuren - wozu dienen diese sauren Zu­cker? Praxis der Naturwissenschafren- Chemie 4/51, 40- 44.

[2] R. Schauer (2004) Sialic acids: fa scinating sugars in higher animals and man. Zoology 107,

49- 64.

[3] S. Siebert, H. -C. Siebert (2012) Was ist WissenschaW Konzept einer Kindervorlesung. Forschung &Lehre 7, 572-573 .

[ 4] M. Burg-Roderfeld, T. Eckert, H.-C. Sieb< (20II) Bioaktive Kollagenfragmente. Neue struktur-biologische Studien an I<ollagen­Integrin-Komplexen belegen ]ustus Liebigs wegweisende Ideen. Spiegel der Forschung 28,

36- 43. http:! /geb. uni-giessen.de/geb/ volltexte/2011/8119 /

[5] S. L0vstad Holdt, S. Kraan (2010) Bioactive compounds in seaweed: functional food applica­tions and legislation.]. Appl. Phycol., published online.

[6] T. Reinecke, P. Engelhard (1997) The Se­lachian Fauna from Geschiebe of the Lower Selandian Basal Conglomerate in the Danish Subbasin. Die Hai- und Rochenfauna des Echi­nodermen-Konglomerates. Erratica - Monogra ­phien zur Geschiebekunde, Band 2, 3- 45.

[7] S. Siebert, H.-C. Siebert (2002) Prionen­können Eiweißmoleküle Krankheiten übertra­gen? Praxis der Naturwissenschafren - Che-.' ~ mie 5/51, 36-40.

[8] S. Siebert, H. -C. Siebert (2003) Lückenhafre Theorien - zu den Ursachen von BSE und Mor­bus Alzheimer. Praxis der Naturwissenschaf­ten - Biologie 8/52, 22-31.

[9] S. Siebert, H. -C. Siebert (2004) Struktur-Ei­genschafrsbeziehungen in Biomolekülen - oder:

Warum aus einem gekochten Hühnerei kein Kü­ken mehr schlüpfen kann! RAABITS - Handrei­chungen für den Chemieunterricht II/C, 1-20.

Anschriften der Verfasser Simone Siebert, Peter Engelhard und Prof Dr. Dr. habil Hans-Christian Siebert, RI-B-NT -Research Institute of Bioinformatics and Nano­technology, Schauenburgerstr. 116, 24118 Kiel, Germany, E-mail: [email protected] Stefan Kraan, Ocean Harvest Technology, NI? Business Park, Milltown, Co. Galway, Ireland Prof Dr. Roland Schauer, Biochemisches Insti­tut, Universität Kiel, Olshausenstr. 40, D-24098

Kiel, Germany.

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