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2012 Zur Diskussion gestellt Martin Werding, Reiner Klingholz, Jürgen Liminski, Hans-Peter Klös, Joachim Pfeiffer Familienpolitik in Deutschland: Trotz hoher Ausgaben nur wenig erfolgreich? Kommentar Hans-Werner Sinn Kurzvortrag zur Eurokrise vor dem Verfassungsgericht Reiner Peter Hellbrück Regionale Zinspolitik Forschungsergebnisse Jasmin Gröschl Neuer Protektionismus – Gefahren für den Freihandel Daten und Prognosen Ludwig Dorffmeister Weiterhin verhaltene Wohnungsbautätigkeit in Europa Annette Weichselberger Westdeutsche Industrie: Investitionsanstieg geplant Sebastian Benz, Joachim Karl, Erdal Yalcin Der UNCTAD World Investment Report 2012 Im Blickpunkt Anna Ciesielski und Jana Lippelt Kohleabbau, Wachstum und Klimawandel in Europa Klaus Wohlrabe ifo Konjunkturtest Juli 2012 ifo Schnelldienst 65. Jg., 31.–33. KW, 17. August 2012 15 Institut Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.

ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

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2012

Zur Diskussion gestelltMartin Werding, Reiner Klingholz, Jürgen Liminski, Hans-Peter Klös, Joachim Pfeiffer■ Familienpolitik in Deutschland:

Trotz hoher Ausgaben nur wenig erfolgreich?

KommentarHans-Werner Sinn■ Kurzvortrag zur Eurokrise vor dem Verfassungsgericht

Reiner Peter Hellbrück■ Regionale Zinspolitik

ForschungsergebnisseJasmin Gröschl■ Neuer Protektionismus – Gefahren für den Freihandel

Daten und PrognosenLudwig Dorffmeister■ Weiterhin verhaltene Wohnungsbautätigkeit in Europa

Annette Weichselberger■ Westdeutsche Industrie: Investitionsanstieg geplant

Sebastian Benz, Joachim Karl, Erdal Yalcin■ Der UNCTAD World Investment Report 2012

Im BlickpunktAnna Ciesielski und Jana Lippelt■ Kohleabbau, Wachstum und Klimawandel in Europa

Klaus Wohlrabe■ ifo Konjunkturtest Juli 2012

ifo Schnelldienst65. Jg., 31.–33. KW, 17. August 2012

15

InstitutLeibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

an der Universität München e.V.

Page 2: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam.Vertrieb: ifo Institut.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design.Satz: ifo Institut.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

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Familienpolitik in Deutschland: Trotz hoher Ausgaben nur wenig erfolgreich?

Deutschland gibt mehr Geld für Familienpolitik aus als andere Industrieländer. Trotzdieser hohen Ausgaben scheinen die Maßnahmen im internationalen Vergleich we-nig erfolgreich zu sein. Denn während die Förderleistungen für Familien in den letz-ten Jahren kontinuierlich stiegen, gingen die Geburten in Deutschland zurück. Martin Werding, Universität Bochum, verweist darauf, dass die Ergebnisse einerumfangreichen Evaluierung der familienbezogenen Leistungen erst 2013 vollstän-dig vorliegen. Erst im Anschluss daran könne nach der Effektivität und Effizienz ein-zelner Instrumente oder nach Notwendigkeiten zur Umgestaltung des heutigenMaßnahmenbündels der Familienpolitik gefragt werden. Bis dahin sollte die Politikvoreilige Debatten und Schlussfolgerungen meiden. Reiner Klingholz, Berlin-Institutfür Bevölkerung und Entwicklung, schlägt vor, die zur Verfügung stehenden Mittelfür familienbezogene Maßnahmen auf lediglich vier Säulen zu verteilen: Kindergeld,Steuererleichterungen für Familien, Elterngeld und – neben Krippen und Kindergär-ten – Vorschulen und Ganztagsschulen. Nach Auffassung von Jürgen Liminski,Deutschlandfunk und Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie, sollteFamilienpolitik mit sekundären Hilfen – »Zeit oder Geld oder beides« – zu mehr Ge-rechtigkeit beitragen und damit der Familie eine Zukunft ermöglichen. Für Hans-Peter Klös, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, sollte der Erfolg der Familienpo-litik nicht an der Geburtenzahl gemessen werden. Es gebe auch andere familien-politische Ziele als die Steigerung der Geburtenzahl. Die Familienpolitik müsse sichstärker als bisher einer Wirkungsforschung unterziehen, und die Bedeutsamkeitnicht-budgetwirksamer familienpolitischer Maßnahmen sollte in das Blickfeld derWirkungsforschung genommen werden. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion, unterstreicht, dass »mehr Geld« nicht mehr Familienpolitik heißt. MehrFamilienfreundlichkeit erfordere auch moderne Zeitpolitik für Familien und größereSpielräume der Eltern bei ihrem Zeitmanagement.

Kurzvortrag zur Eurokrise vor dem VerfassungsgerichtHans-Werner Sinn

Am 10. Juli 2012 verhandelte das Bundesverfassungsgericht über den ESM undden Fiskalpakt. Hans-Werner Sinn wurde von dem Gericht als Gutachter bei derAnhörung geladen. Dabei wurde dieser Text in gekürzter Form frei vorgetragen.

Regionale ZinspolitikReiner Peter Hellbrück

Die bisherigen Ansätze zur Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise setzen alle beidem Realteil der Wirtschaft an. Jede Transaktion besteht jedoch aus Leistung undGegenleistung. Reiner Peter Hellbrück, Universität Hohenheim, sucht nach denBestimmungsgründen von Leistungsbilanzsalden bei der Finanzierung und zeigt,dass durch eine regionale Zinspolitik ein geldpolitischer Hebel vorhanden ist, dergeeignet erscheint, die Leistungsbilanzströme umzukehren.

Neuer Protektionismus – Gefahren für den FreihandelJasmin Gröschl

In Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs greifen immer mehr Staaten zu weit-reichenden protektionistischen Maßnahmen. Die Folgen des Protektionismus sindnicht zu unterschätzen, denn er schränkt den Freihandel nachhaltig ein undhemmt die wirtschaftliche Erholung. Dabei spielen im Gegensatz zu früher nicht-

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Zur Diskussion gestellt

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Kommentar

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Forschungsergebnisse

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tarifäre Maßnahmen (NTMs) immer häufiger eine entscheidende Rolle. Diese neueForm des Protektionismus ist eine ernstzunehmende Bedrohung für den globalenFreihandel und die Weltwirtschaft.

Weiterhin verhaltene Wohnungsbautätigkeit in EuropaAusgewählte Ergebnisse der Euroconstruct-Sommerkonferenz 2012Ludwig Dorffmeister

Nach einem Rückgang des europäischen Wohnungsbauvolumens um insgesamtrund ein Fünftel in den Jahren 2008 bis 2010 und einem bescheidenen Anstieg um1½% im Jahr 2011 dürften die Wohnungsbauleistungen in diesem Jahr wiederleicht abnehmen. Zu diesem Ergebnis kamen die Mitglieder der Euroconstruct-Gruppe auf ihrer Sommer-Konferenz in London. Die Experten erwarten für 2013ebenfalls keine spürbare Erholung.

Westdeutsche Industrie: Für 2012 weiterer Investitionsanstieg geplantAnnette Weichselberger

Die Unternehmen des westdeutschen Verarbeitenden Gewerbes wollen nach denaktuellen Ergebnissen des ifo Investitionstests 2012 ihre Investitionen um 7% stei-gern. Für das vergangene Jahr ergaben die Meldungen der Firmen einen Zuwachsvon 16%. Wie schon im letzten Jahr ist auch 2012 die Kapazitätserweiterung vor-rangiges Investitionsziel.

UNCTAD World Investment Report 2012:Die Entwicklung ausländischer DirektinvestitionenSebastian Benz, Joachim Karl und Erdal Yalcin

Die aktuellsten Entwicklungen zu ausländischen Direktinvestitionen werden imjährlichen World Investment Report der Vereinten Nationen ausführlich dargestellt.Dieser Artikel fasst die wesentlichen Entwicklungen des letzten Jahres zusammenund geht auch auf das Schwerpunkthema »Investitionen und nachhaltige Ent-wicklung« ein.

Kurz zum Klima: Kohleabbau, Wachstum und Klimawandel in Europa – eine historische BetrachtungAnna Ciesielski und Jana Lippelt

Im Rahmen des Klimawandels wird der globale, durchschnittliche Temperaturan-stieg der Erdoberfläche zumeist relativ zur vorindustriellen Zeit angegeben. DieseFormulierung betont implizit die Kausalität des Temperaturanstiegs, nämlich diewährend der Industriellen Revolution beginnende Förderung von Kohle und diedamit verbundene Emission von Treibhausgasen. Der Beitrag zeigt den Zusam-menhang von Ressourcenabbau, ökonomischem Wachstum und Klimawandel.

ifo Konjunkturtest Juli 2012 in KürzeKlaus Wohlrabe

Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche Wirtschaft Deutschlands hat imJuli nachgegeben. Die aktuelle Geschäftslage wird nach dem Anstieg im Vormo-nat nun wieder zurückhaltender beurteilt. Auch die Erwartungen für den weiterenGeschäftsverlauf fallen pessimistischer aus. Die Eurokrise belastet zunehmend dieKonjunktur in Deutschland.

Daten und Prognosen

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Im Blickpunkt

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Familienpolitik und Gebur-tenzahl: MissverstandeneZusammenhänge undübereilte Folgerungen

Seit einigen Jahren interessiert sich diePolitik in Deutschland für die Geburten-entwicklung. Jahr um Jahr ergibt sich da-bei kurz vor der Sommerpause dasselbeSpiel: Das Statistische Bundesamt ver-öffentlicht Anfang Juli eine vorläufige Zahlder Geburten im Vorjahr, an der sich einekurze, aber heftige Debatte entzündet. Fürdie Berechnung aussagekräftigerer Kenn-ziffern braucht die amtliche Statistik stetsetwas länger – dann ist das Thema aller-dings schon abgehakt, und übereilte Fol-gerungen bleiben im Raum stehen. Weildie Geburtenzahl 2011 leicht zurückge-gangen ist, wurde dieses Jahr öffentlichgefordert, das 2007 neu eingeführte El-terngeld auf den Prüfstand zu stellen unddie gesamte Familienpolitik einer gründli-chen Wirkungsanalyse zu unterziehen. Dieerste dieser Forderungen basiert auf ei-ner profunden Unkenntnis demographi-scher Zusammenhänge und Kennziffern,die zweite kommt definitiv zur Unzeit – ent-weder vier Jahre zu spät oder ein bis zweiJahre zu früh.

Geburtenzahl und Geburtenverhalten

Seit dem Babyboom der 1960er Jahresind die jährlichen Geburtenzahlen inDeutschland dramatisch gesunken. Zähltman die damals beobachteten Werte fürWest- und Ostdeutschland zusammen,waren die Zahlen seinerzeit mehr als dop-pelt so hoch wie heute. Hinter diesem fun-damentalen Rückgang der Geburtenzah-

len steht in erster Linie ein Verhaltensef-fekt, d.h. eine geringere Geburtenneigung,die sich am genauesten durch kohorten-spezifische Geburtenziffern von Frauender Jahrgänge ab etwa 1930, ersatzwei-se auch durch die »zusammengefasstenGeburtenziffern« der Jahre von 1960 biszur Gegenwart messen lässt.1

Auch wenn man sich auf die Zeit seit derWiedervereinigung konzentriert, sind diejährlichen Geburtenzahlen in Deutschlanddeutlich zurückgegangen. Wurden 1990rund 900 000 Kinder geboren, waren es2011 nur noch rund 660 000 – gut einViertel weniger. Ein Teil dieses Rückgangsist auf Turbulenzen zurückzuführen, diedie Vereinigung und die anschließendeTransformationsphase wegen der damitverbundenen Unsicherheiten vor allem beider Geburtenziffer in den neuen Bundes-ländern auslösten. Sie haben die gesamt-deutschen Geburtenzahlen bis etwa 1997beeinflusst. Eine andauernde Verhaltens-änderung lässt sich an den zusammen-gefassten Geburtenziffern für das wieder-vereinigte Deutschland aber nicht able-sen (vgl. Abb. 1). Vielmehr verharrt dieseKennziffer seit 1991 ohne große Schwan-kungen auf einem Niveau um 1,4 (Kinderje Frau), auf das sie bereits Mitte der1970er Jahre gefallen ist – viel früher, vielstärker und vor allem auch nachhaltigerals in der Mehrzahl der OECD-Länder.

Trotz hoher Ausgaben nur wenig erfolgreich?Familienpolitik in Deutschland:

Martin Werding*

Deutschland gibt mehr Geld für Familienpolitik aus als andere Industrieländer. Trotz dieser hohen

Ausgaben scheinen die Maßnahmen im internationalen Vergleich wenig erfolgreich zu sein. Denn

während die Förderleistungen für Familien in den letzten Jahren kontinuierlich stiegen, gingen

die Geburten in Deutschland zurück. Hat die deutsche Familienpolitik versagt?

* Prof. Dr. Martin Werding ist Professor für Sozial-politik und öffentliche Finanzen an der Ruhr-Uni-versität Bochum und ifo-Forschungsprofessor fürden Bereich Sozialpolitik und Arbeitsmärkte.

1 Die zusammengefasste Geburtenziffer eines Ka-lenderjahres gibt an, wie viele Kinder eine Frau be-käme, wenn sie im Laufe ihres Lebens stets dasdurchschnittliche Geburtenverhalten aller Frauenim Alter von 15 bis 49 Jahren in diesem Jahr auf-weisen würde. Da diese Kennziffer auf jahresbe-zogenen (»Querschnitts«-)Daten basiert, könnensich Verzerrungen durch Änderungen im Timingder Geburten ergeben, etwa wenn Frauen ver-schiedener Jahrgänge ihre Kinder im Durchschnittimmer später im Lebenszyklus bekommen. Unver-zerrt sind in dieser Hinsicht nur kohortenspezifi-sche Geburtenziffern, die das durchschnittlicheGeburtenverhalten jedes Jahrgangs von Frauennachzeichnen. Sie können aber erst für Frauen imAlter ab 50 Jahren als vollendet gelten und lieferndaher nie ein aktuelles Bild.

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Zur Diskussion gestellt

Der aktuell anhaltende Rückgang der jähr-lichen Geburtenzahlen, der sich 2011 er-neut bemerkbar gemacht hat, liegt dem-nach nicht an Änderungen im Geburten-verhalten, für die man u.a. die derzeitigeFamilienpolitik verantwortlich machenkönnte. Hauptgrund ist, dass die Zahl derFrauen im Alter von 15 bis 49 Jahren seitMitte der 1990er Jahre laufend abnimmt(vgl. Abb. 2). Dies gilt verstärkt für Frauenim Alter von 25 bis 34 Jahren, auf die der-zeit knapp zwei Drittel aller Geburten ent-fallen. Die Geburtenzahlen sinken also, weilmittlerweile auch schon die Zahl potenziel-ler Mütter von geburtenschwachen Jahr-gängen dominiert wird, die nach 1975 ge-boren sind. Mit den Mitteln der Familienpo-litik lässt sich dieser fundamentale Trendkaum beseitigen.

Erhöht das Elterngeld dieGeburtenzahlen?

Schaut man allein auf die Geburtenzahlender letzten Jahre, könnte man meinen, dassdas Elterngeld, das nun in die Diskussiongeraten ist, trotzdem einen positiven Effekthat. Bei seiner Einführung im Jahr 2007 stie-gen – trotz eines deutlichen Rückgangs derZahl der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jah-ren (und einer Stagnation der mittleren Jahr-gänge dieser Altersgruppe) – sowohl dieGeburtenzahl als auch die jährliche Gebur-tenziffer, wenn auch jeweils nur in geringemMaße. Für Urteile dieser Art ist es jedochimmer noch zu früh. Änderungen des Ge-burtenverhaltens lassen sich durch famili-enpolitische Instrumente generell nicht leichthervorrufen (vgl. Werding et al. 2006, ins-bes. Kap. 8.8; Werding 2011). In jedem Fallbraucht es aber Zeit, bis junge Erwachse-ne sich in ihrer Lebensplanung auf neue in-stitutionelle Rahmenbedingungen einge-stellt haben bzw. bis sie anfangen, eine klei-nere Zahl von »Pionier-Eltern« zu imitieren,deren veränderten Lebensstil sie attraktivfinden. Die jüngsten Zahlen könnten so ge-sehen auf eine zögernd beginnende Trend-wende hindeuten, unterbrochen durch ei-nen negativen Effekt der sehr ungünstigenkonjunkturellen Entwicklung im Jahre 2009.Immerhin ist die letzte, amtlich festgestell-te Geburtenziffer für 2010 die höchste seitdem Jahr 1990.

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Deutschland

früheres Bundesgebiet

neue Bundesländer

Zusammengefasste GeburtenzifferDeutschland (1990–2010)

Geburten je Frau

Quelle: Sta�s�sches Bundesamt, Sta�s�k der Geburten.

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1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

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850

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1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

Potenzielle Mü�er und GeburtenzahlDeutschland (1990 – 2010/11)

a) Zahl der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahre

b) Zahl der Frauen im Alter von 25 bis 34 Jahre

c) Zahl der lebendgeborenen Kinder

Quelle: Sta�s�sches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung und Sta�s�k der Geburten.

Tsd. Personen

Mill. Personen

Mill. Personen

Abb. 2

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Zur Diskussion gestellt

Schnelle »Erfolge« im Sinne rasch steigender Geburtenzah-len erweisen sich auf Dauer allerdings oft als reine Timing-Effekte. Unter dem Eindruck neuer Maßnahmen ziehen ei-nige Eltern dann Geburten vor, die sie ohnedies geplant hat-ten. Ihre endgültige Kinderzahl bleibt davon jedoch unbe-rührt. Solche Effekte haben sich auch bei der Einführungdes Elterngelds in Schweden in den 1980er Jahren ge-zeigt (vgl. Andersson et al. 2006), das als Vorbild für diedeutsche Regelung gelten kann. Sie könnten genauso guthinter dem leichten Anstieg der Geburtenzahlen in Deutsch-land ab 2007 stehen wie eine langsame, aber nachhaltigeVeränderung des Geburtenverhaltens. Um das zu unter-suchen, braucht es mehr Zeit, detailliertere Daten und nichtzuletzt gründliche Analysen.

Welche Ziele verfolgt die Familienpolitik?

Die Forderung nach einer gründlichen Untersuchung derWirkungen aller familienpolitischen Maßnahmen erscheintso gesehen als durchaus wohlbegründet. Für die Mehr-zahl der Instrumente der Familienpolitik, die – trotz laufen-der, kleinerer Anpassungen – seit vielen Jahren in Ansatz-punkten und Ausgestaltung weitgehend unverändert gel-ten, erscheint sie allerdings als überholt. Seit vier Jahrenwerden in Deutschland konkrete Vorbereitungen und mitt-lerweile auch schon ein Gutteil der eigentlichen Forschungs-arbeiten für eine »Gesamtevaluation der ehe- und familien-bezogenen Leistungen« unternommen, die international indiesem Maßstab ohne Beispiel ist.2

Aus den Vorarbeiten zu dieser Gesamtevaluation ergibtsich eine wichtige Lektion für die jüngsten Diskussionenüber das Elterngeld und die gesamte Familienpolitik. Werüber die Wirksamkeit solcher Maßnahmen reden will, musszuerst ihre Ziele benennen. Es ist sicherlich bemerkens-wert, dass zu den Zielen der Familienpolitik im Rahmen derlaufenden Evaluation auch die »Realisierung von Kinder-wünschen« gezählt wird – nach Jahrzehnten einer histo-risch bedingten Abgrenzung gegenüber jeder Form vonBevölkerungspolitik. Erfolge bei der Realisierung diesesZiels sollten sich in der Tat an der Entwicklung der Gebur-tenzahlen ablesen lassen. Erstens können solche Erfolgeaber auch darin bestehen, einen durch die aktuelle Bevöl-kerungsstruktur bedingten Abwärtstrend der Geburten-zahlen zu dämpfen. Zweitens kann und soll Familienpoli-tik daneben auch noch andere Ziele verfolgen. So werdenbei den Wirkungsanalysen für die Gesamtevaluation im An-schluss an den »Siebten Familienbericht« (vgl. Sachver-ständigenkommission 2006) insbesondere folgende wei-tere Ziele berücksichtigt: »wirtschaftliche Stabilität von Fa-

milien«, »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« sowie das»Wohlergehen von Kindern«.

Wirkungen gründlich untersuchen – dann neu gestalten

Betrieben wird das Vorhaben der Gesamtevaluation fami-lienpolitischer Maßnahmen gemeinsam vom Bundesmi-nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vomBundesministerium der Finanzen. Anknüpfend an eineMachbarkeitsstudie zur Klärung von Forschungsfragen undAnalysemöglichkeiten sowie an Anstrengungen zur Verbes-serung der Datenbasis wird das historisch gewachsene,äußerst vielgliedrige »System« aller einschlägigen Maßnah-men nun nach zeitgenössischen methodischen Standardsstufenweise auf seine Wirkungen für alle diese Ziele hinuntersucht.

Selbst die wichtigsten und bekanntesten Instrumente derdeutschen Familienpolitik lassen sich sicherlich nicht ohneweiteres einzelnen dieser Ziele zuordnen. Aufgrund kom-plexer Wirkungen und Nebenwirkungen können bei genaue-rer Untersuchung einerseits diverse Interdependenzen, an-dererseits auch Zielkonflikte zutage treten. Nimmt man et-wa gemäß der Gesetzesbegründung (vgl. Deutscher Bun-destag 2006) die wirtschaftliche Stabilität von Familien mitkleinen Kindern als zentrale Zielsetzung des Elterngeldes,so erscheint es als plausibel, dass sich dadurch im Er-folgsfall auch günstige Effekte für die Geburtenentwick-lung ergeben. Dies ist aber nicht zwingend, und widrigen-falls bedeutet es auch nicht, dass die Leistungen ver-schwendet sind. Ähnliches gilt für den aktuell so intensivbetriebenen Ausbau der Kinderbetreuung, mit dem wohlin erster Linie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf be-fördert werden soll. Weitere Wirkungen können die Reali-sierung von Kinderwünschen betreffen, sie müssen es abernicht. Wirklich spannend ist in beiden Fällen wohl vor allem,welche Auswirkungen sich auf das Wohlergehen von Kin-dern ergeben. Auch das gilt es zunächst ganz nüchtern zuoperationalisieren, d.h. messbar zu machen, und zu ana-lysieren. Im Lichte eingehender und umfassender Wirkungs-analysen lassen sich dann mögliche Widersprüche auflö-sen oder abwägen und nötigenfalls Prioritäten setzen.

Die Ergebnisse aller Einzelstudien aus der Gesamtevalua-tion werden plangemäß allerdings erst 2013 vollständig vor-liegen. Erst im Anschluss daran kann, ganz im Sinne einesBemühens um evidenzbasierte Politik, ernsthaft nach derEffektivität und Effizienz einzelner Instrumente oder nachMöglichkeiten bzw. Notwendigkeiten zur Umgestaltung desheutigen Maßnahmenbündels der Familienpolitik gefragtwerden. Bis dahin sollte die Politik voreilige Debatten undSchlussfolgerungen meiden, und manche ihrer Akteurekönnten sich über einige Grundlagen besser ins Bild set-

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2 Der Verfasser war zusammen mit Forscherinnen und Forschern des ZEW,Mannheim, des DIW, Berlin, und des ifo Instituts, München, an der inhalt-lichen Vorbereitung des Gesamtprojekts beteiligt. Derzeit arbeitet er anmehreren der dazu gehörigen Einzelprojekte mit.

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Zur Diskussion gestellt

zen. Als reichlich deplatziert erscheint vor diesem Hinter-grund schließlich die aktuelle Diskussion um das Betreu-ungsgeld. Das Instrument wurde in gewisser Weise in Thü-ringen auf Landesebene erprobt und mittlerweile – wennauch ohne öffentlichen Auftrag – im aussagekräftigen Ver-gleich zu den anderen neuen Bundesländern rigoros eva-luiert (vgl. Gathmann und Sass 2012). Ohne erkennbareRücksicht auf die dabei nachgewiesenen, sozial stark stra-tifizierten negativen Effekte für Frauenerwerbsbeteiligungund Kinderbetreuung soll es nun auf Bundesebene einge-führt werden, unmittelbar bevor sich der Familienpolitik imLichte neuer Erkenntnisse vielleicht ganz andere Fragen undGestaltungsaufgaben stellen.

Literatur

Andersson, G., J. Hoem und A.-Z. Duvander (2006), »Social differentials in speed-premium effects in childbearing in Sweden«, Demographic Research 14(4), 51–70.

Deutscher Bundestag (2006), Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes, BT-Drs. 16/2454.

Gathmann, C. und B. Sass (2012), »Taxing childcare: effects on family laborsupply and children«, IZA Discussion Paper Nr. 6440.

Sachverständigenkommission für den Siebten Familienbericht (2006), Fami-lie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit: Perspektiven für eine lebenslauf-bezogene Familienpolitik (Siebter Familienbericht), BT-Drs. 16/1360.

Werding, M. (2011), »The economics of the family and its policy implicati-ons: why should we care about fertility outcomes?«, in: N. Takayama and M. Werding (Hrsg.), Fertility and Public Policy: How to Reverse the Trend ofDeclining Birth Rates, MIT-Press, Cambridge, MA, London, 15–49.

Werding, M., S. Munz und V. Gács (2006), Fertility and Prosperity: Links Between Demography and Economic Growth, ifo Forschungsberichte Nr. 42,ifo Institut, München.

Familienpolitik braucht einenlangen Atem

Spontane Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen desBerlin-Instituts: Wie viele Kinder wünscht ihr euch im LaufeEures Lebens? Wie viele, glaubt ihr, werden es in Wirklich-keit? Und hätten die Rahmenbedingungen, die der Staatsetzt, die finanzielle Unterstützung für Familien oder die Ver-fügbarkeit von hochwertigen Betreuungseinrichtungen, ei-nen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen Kinder?

Überraschendes Ergebnis: Die Wunschkinderzahl liegt beidurchschnittlich 2,3 und damit deutlich über dem Wert, densich die Deutschen gemeinhin vorstellen. Aber weil allen Kol-legen klar ist, dass Wünsche selten in Erfüllung gehen, glau-ben sie, dass es am Ende im Schnitt doch nur 1,7 werden.Immerhin. Auch damit lägen sie noch um mehr als 20% überder deutschen Fertilitätsrate, die seit Jahrzehnten um denWert von 1,4 je Frau pendelt. Das sind gute Aussichten fürdie Familienpolitik des Landes: Theoretisch müsste man die-se Leute nur noch abholen und schon hätte es ein Endemit dem tiefen Tal des Kindermangels.

Das Problem bei der Sache ist, dass die zehn Frauen undMänner bis dato auf eine Fertilitätsrate von null kommen. Einpaar sind verheiratet, manche leben in festen Beziehun-gen, aber Kinder haben sie keine. Zugegeben, die Beleg-schaft ist recht jung, im Mittel knapp 31 Jahre. Alle sind Aka-demiker, und die fangen in Deutschland generell spät mitder Familiengründung an. Vermutlich werden noch ein paarJahre ins Land gehen, bis wir in unseren Reihen Nachwuchsbegrüßen dürfen. Aber ob die Zeit reicht, um auf die Ziffervon 1,7 Kindern zu kommen, ist fraglich. Bekanntlich wirddas Kinderkriegen oftmals so lange aufgeschoben, bis esganz ausfällt. Fast überall in der EU beenden die Menschenihre reproduktive Karriere mit weniger Kindern, als sie ur-sprünglich dachten (vgl. Testa 2012).

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Reiner Klingholz*

* Dr. Reiner Klingholz ist Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung undEntwicklung und Vorstand der Stiftung Berlin-Institut für Bevölkerung undEntwicklung.

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Zur Diskussion gestellt

Natürlich ist die Befragung von zehn Personen alles ande-re als repräsentativ. Aber sie stützt ein paar wichtige, auchaus verlässlichen Umfragen bekannte Fakten, die für diedeutsche Familienpolitik von Bedeutung sind. Vor allem zeigtsie, dass es der deutschen Familienpolitik trotz erheblichenAufwands und einer Vielzahl von Maßnahmen nicht gelingt,den Menschen ihren Wunsch nach Familie adäquat zu er-füllen. Was läuft da falsch?

In der Fertilitätsfalle

Ein wichtiger Grund für die niedrige Fertilität in Deutsch-land liegt darin, dass sie nicht erst seit gestern auf das heu-te beklagte Niveau abgesunken ist, sondern (ähnlich wiein Österreich) seit rund 40 Jahren um die Ziffer von 1,4 pen-delt. Diese 40 Jahre bedeuten mehr als eine Generation,innerhalb derer die durchschnittlich kleine Familie zu einersozialen Norm geworden ist. Das ist kein Wunder, dennwer heute Kinder bekommt, ist sein ganzes Leben in ei-nem Umfeld von wenigen Kindern und Geschwistern undvon kleinen Familien groß geworden. Zudem leben wir ineiner pluralistischen Gesellschaft, in der es längst nichtmehr tabuisiert ist, gar keine Kinder zu haben. Entspre-chend ist auch der Kinderwunsch heute deutlich geringerals vor ein paar Jahrzehnten. Die Wissenschaft spricht indiesem Zusammenhang von einer »Fertilitätsfalle«. Wie ihrzu entkommen wäre, ist unbekannt, denn es fehlen histo-rische Vorbilder. Womöglich kann die Politik gar nichts be-wirken, solange die Gesellschaft als Ganzes ihr Verständ-nis von Familie und ihr Klima im Umgang mit Kindern nichtlangfristig verändert.

Hinzu kommt, dass die deutsche Politik zwar seit 1955 Fa-milienförderung betreibt, zunächst mit der Einführung desKindergeldes von monatlich 25 DM für das dritte Kind, unddass sie diese seither stetig ausgebaut hat. Die Familien-politik sollte aber bis vor wenigen Jahren erklärtermaßengar nicht zur Erhöhung der Fertilitätsraten dienen. KeinBundeskanzler von Adenauer bis Kohl hat jemals ein Inte-resse an einer nachhaltigen Demographie signalisiert. Eswar geradezu verpönt zu diskutieren, dass Kinder aucheine volkswirtschaftliche Größe sind, weil sie einmal zu pro-duktiven Mitgliedern der Gesellschaft werden, die Steu-ern und Sozialabgaben zahlen, und dass umlagefinan-zierte Sozialsysteme ohne Nachwuchs nicht funktionierenkönnen. Erst seit der SPD-Familienministerin RenateSchmidt ist öffentlich, dass die immer neuen familienpoli-tischen Maßnahmen eben auch die Erhöhung der Gebur-tenrate zur Folge haben sollten.

Heute notiert das Familienministerium 160 »ehe- und fami-lienbezogene Leistungen« mit einem Gesamtvolumen von196 Mrd. Euro pro Jahr (vgl. BMFSFJ 2012). Pro Kind in-vestiert kein OECD-Land mehr Geld. Doch trotz eines seit

Jahren wachsenden Leistungsangebots und steigenden Auf-wands ist auf den ersten Blick keinerlei Erfolg der Maßnah-men zu beobachten. Es ist auch nicht zu erwarten, dassdie Lektüre des Maßnahmenkatalogs den Kinderwunsch inirgendeiner Weise beeinflussen könnte – eher im Gegenteil.Denn die Leistungen sind nicht koordiniert, in ihrer Fülle un-durchsichtig, sie sind in ihrer Wirkung teilweise kontrapro-duktiv oder haben gar nichts mit Familie zu tun. So zahltder Staat jährlich rund 20 Mrd. Euro für das Ehegattensplit-ting, einen der größten Posten im Familienbudget. Damitaber werden Ehen ohne Kinder gegenüber Partnerschaf-ten mit Kindern finanziell bevorteilt.

Nutzlos und überflüssig?

Aber sind die Leistungen für Familien deshalb überflüssig?Das lässt sich nicht sagen, denn erstens sollen sie nebender Erhöhung der Fertilität noch andere Effekte haben, undzweitens wissen wir nicht, wo die Fertilität in Deutschlandläge, wenn es keinen Ausbau der Kinderbetreuung gäbe,kein Kindergeld und kein Elterngeld.

Die jüngste Kritik an womöglich überzogenen, unwirksamenund deshalb überflüssigen Maßnahmen zu Familienförde-rung entzündet sich an dem 2007 eingeführten Elterngeld.Es soll vor allem Frauen nach der Geburt eines Kindes dieRückkehr ins Berufsleben erleichtern und so für eine bes-sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für mehr Ge-schlechtergerechtigkeit sorgen. Die jährlichen Aufwendun-gen für das Elterngeld liegen mit weniger als 5 Mrd. Eurobei einem Viertel jener für das Ehegattensplitting.

Auch die Einführung des Elterngeldes hat nichts an der Fer-tilitätsrate geändert – wohl aber hatte es wichtige qualitati-ve Effekte. So sind, insbesondere seit Einführung des Eltern-geldes und seit dem Ausbau von Betreuungseinrichtun-gen, in den früher so kinderarmen urbanen Zentren die Kin-derzahlen gestiegen. In den einst vergleichsweise kinder-reichen ländlichen Regionen in Westdeutschland sind sie je-doch kontinuierlich gesunken – im Oldenburger Münster-land im Westen von Niedersachsen ebenso wie im Land-kreis Biberach oder in der Hocheifel. Insgesamt sind die his-torischen Unterschiede »viele Kinder auf dem Land – wenigNachwuchs in den Städten« in Deutschland weitgehend ver-schwunden.

Folgen des Elterngeldes

Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Ganz offensicht-lich verliert das traditionelle Familienmodell mit einem männ-lichen Hauptverdiener, das auch ohne öffentliche Kinder-betreuung auskommt und eher in ländlichen Gebieten üb-lich war, gerade bei jungen Menschen zunehmend an At-

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traktivität. Das liegt vor allem an der wachsenden Qualifi-kation von Frauen und an deren Wunsch, diese Ausbildungauch gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen.Weil das Elterngeld die Doppelverdienergemeinschaft unddamit erwerbstätige, vor allem gut qualifizierte Frauen be-günstigt, können ländliche Regionen davon wenig profi-tieren. Wohl aber städtische Regionen, wo sich mittler-weile die Betreuungsbedingungen deutlich verbessert ha-ben, wenn sie auch immer noch nicht ausreichen. In die-sen Gebieten sind die Fertilitätsraten seit Einführung desElterngeldes tatsächlich erkennbar gestiegen: am stärks-ten in jenen Städten, in denen die Erwerbsquoten von Frau-en am höchsten liegen (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerungund Entwicklung 2009).

Das Elterngeld hatte somit genau jenen Effekt, den sichdie damalige Familienministerin versprochen hatte, obwohldieser Aspekt in der öffentlichen Diskussion kaum zur Spra-che kam: Es sollte die Kinderzahl bei den Leistungsträgernder Gesellschaft erhöhen. Bei jenen mit höheren Qualifika-tionen und höheren Einkommen, die auch für den Staatdie höchsten Renditen abwerfen und die ihren Status mög-lichst auch an ihre Kinder weitergeben. Dieses Ziel ist sonachvollziehbar wie politisch unkorrekt, aber es wurde er-reicht. Dass unterm Strich die Fertilität in Deutschland nichtgestiegen ist, liegt zum einen daran, dass gleichzeitig dieKinderzahlen in den traditionell geprägten ländlichen Ge-bieten weiter gesunken sind, und zum anderen an der er-wähnten »Fertilitätsfalle«.

Die Pauschalkritik an den vermeintlich unwirksamen Maß-nahmen der neuen Familienpolitik ist demnach unfair. Zumaldie positiven sozialen und ökonomischen Nebeneffekte die-ser Politik in Rechnung gestellt werden müssten: Dass ge-rade Frauen mit guter Qualifikation schneller ins Erwerbsle-ben zurückkommen. Dass Männer mehr vom »AbenteuerFamilie« mitbekommen, was sich möglicherweise auf de-ren soziale Kompetenz auswirkt. Dass es gerechter und mehrim Sinne der jungen Menschen ist, wenn sich die Beschäf-tigung mit dem Nachwuchs mehr als bisher auf beide Ge-schlechter verteilt. Gut möglich, dass sich bei Berücksich-tigung all dieser Faktoren das Elterngeld als gesellschaftli-cher Gewinn erwiese. Ein Gewinn, der bei dem vom Bun-deskabinett jüngst beschlossenen Betreuungsgeld kaum zuerwarten ist. Denn die »Herdprämie«, die mit erwarteten Kos-ten von jährlich 1,2 Mrd. Euro zu Buche schlägt, entziehtdem Arbeitsmarkt potenziell Beschäftigte.

Verlässlich – langfristig – unideologisch – transparent

Wir wissen, dass gute Rahmenbedingungen theoretisch dieFertilitätsrate auch in Deutschland positiv beeinflussen könn-ten. Das lehren die Vergleiche mit der Familienpolitik in Frank-

reich oder den skandinavischen Ländern. Deren Grund-sätze und Erfolgsrezepte sind einfach zu verstehen: DieseLänder investieren weniger in Direktzahlungen, sondern vorallem in eine Familieninfrastruktur und in Steuererleichte-rungen für Familien. Frankreich verfügt über ein gut ausge-bautes Netz von Kinderkrippen und eine kostenlose undganztägige Vorschule für die Kleinen ab drei Jahren, die frei-willig von nahezu allen Kindern besucht wird. Die universi-tär ausgebildeten Erzieher/innen unterstehen dem Bildungs-ministerium.

In Schweden standen bei der familienfreundlichen Sozialpo-litik schon in den 1930er Jahren bevölkerungspolitische undökonomische Überlegungen im Vordergrund. Schon damalspropagierte das Land eine bessere Vereinbarkeit von Fami-lie und Beruf, insbesondere für Frauen. Heute bieten dieKommunen ein umfassendes Angebot an Kinderbetreuungund Ganztagsschulen. Das Kindergeld hingegen fällt inSchweden wie in Frankreich deutlich geringer aus als inDeutschland. Auch die nicht repräsentative Umfrage unterden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Berlin-Institutskommt zu dem Ergebnis, dass bessere Betreuungsbedin-gungen nach dem Vorbild dieser Länder den Entschlusszur Familiengründung eindeutig fördern würden, mehr Bar-geld aber kaum.

Diese Art von Familienpolitik ist in Skandinavien und in Frank-reich von der Bevölkerung akzeptiert. Niemand käme auf dieIdee, die kollektive öffentliche Betreuung entmündige die El-tern. In Schweden erwartet niemand, dass die Ehe sub-ventioniert wird, weil ohnehin über die Hälfte der Neugebo-renen Eltern haben, die nicht verheiratet sind. Die Menschenwissen, dass sie sich auf diese Politik verlassen können,denn sie unterliegt keinen parteipolitischen Streitereien undIdeologien. In Frankreich mochten Gaullisten oder Sozialis-ten regieren – die Familienpolitik blieb im Prinzip, wie sie war.Familie ist dort die Grundlage von Politik und kein Mittel fürsie – genau so sollte es sein.

Diese Verlässlichkeit und Langfristigkeit ist die Vorausset-zung für ein Vertrauen, das die Menschen gegenüber demStaat brauchen, um sich häufiger auf das Abenteuer Fami-lie einzulassen. Dieses Vertrauen kann nicht entstehen, wenndie Familienpolitik zu Wahlkampfzwecken missbraucht wirdund wenn gerade erst aus guten Gründen eingeführte Maß-nahmen wie das Elterngeld bei der ersten Gelegenheit er-ratisch über Bord geworfen werden sollen.

Damit die Menschen die Familienpolitik verstehen und an-nehmen, muss sie praktisch, nachvollziehbar und transpa-rent sein. Aufgabe der Familienpolitik ist es, Familien Sicher-heit zu bieten und ein zeitgemäßes Familienbild zu fördern,nach dem Mütter zum Erwerbseinkommen beitragen undVäter sich an den Familienaufgaben beteiligen. In diesemGefüge muss Zeit für den eigentlichen Sinn von Familie blei-

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ben – für die Kinder. Denn Kinder sind nicht nur Humanka-pital für die Gemeinschaft, sondern kleine Menschen, die inder ersten Zeit ihres Lebens in den Eltern ihre wichtigstenAnsprechpartner haben, mit denen sie zusammen sein wol-len und sollen.

Vier Säulen der Familienpolitik

Deshalb wäre es sinnvoll, den Dschungel aus undurchsich-tigen familienbezogenen Maßnahmen radikal zu lichten undstattdessen die zur Verfügung stehenden Mittel auf ledig-lich vier Säulen zu verteilen.

Die erste Säule wäre das Kindergeld. Denn Kinder verursa-chen für die Eltern nicht nur Kosten, diese leisten damit aucheinen wesentlichen Finanztransfer an die Allgemeinheit. EinKind zahlt im Laufen seines Lebens über Steuern und So-zialabgaben im Durchschnitt knapp 80 000 Euro mehr in dieGemeinschaftskasse ein, als es erhält (vgl. Robert BoschStiftung 2005). Die Familien dafür zu entschädigen ist mehrals gerecht. Im Grunde ist es in Deutschland unsinnig von»Familienförderung« durch den Staat zu sprechen, dennbis dato fördern die Familien den Staat.

Kindergeld sollte aber nur bis zu einer bestimmten Einkom-mensgrenze gewährt werden. Familien mit niedrigen Ein-kommen erhalten so eine Grundsicherung. Um Lenkungs-effekte in Sachen Erwerbstätigkeit zu erzielen und damit sichBesserverdienen lohnt, sollten als zweite Säule die Steuer-erleichterungen für Familien deutlich ausgebaut werden. Kla-res Vorbild ist das französische Familiensplitting, das dortgar nicht als Förderinstrument gilt, sondern als Mittel zurSteuergerechtigkeit. Unterhaltsberechtigte Kinder werden inFrankreich bei der Ermittlung der Steuerlast mit berück-sichtigt. Das erste und zweite Kind zählen dabei als halbePerson, alle weiteren als ganze und die Steuerlast der Fa-milie wird durch die Summe dieser Personen geteilt. Damitfördert Frankreich explizit (und erfolgreich) die Geburt vondritten Kindern, denn für Normalverdiener sinkt die Einkom-mensteuerlast in diesem Fall gegen null.

Als dritte Säule sollte das Elterngeld beibehalten werden,weil es sich als funktionierendes Instrument zur Gleichstel-lung und zur Förderung der Frauenerwerbstätigkeit etab-liert hat. Weil der demographische Wandel immer größereLücken im Arbeitsmarkt reißen wird, ist es notwendig, mehrjunge Frauen in die Erwerbstätigkeit zu holen, zumal sie heut-zutage im Mittel besser ausgebildet sind als ihre männlichenAltersgenossen. Das Elterngeld kompensiert zumindest teil-weise die durch das Kinderkriegen entstehenden höherenOpportunitätskosten für Menschen mit guten Jobs. Dennsie opfern für die Auszeit, die sie mit Kindern verbringen, ei-nen vergleichsweise hohen Betrag von ihren Verdienstmög-lichkeiten. Das Elterngeld sorgt dafür, dass sich Vater oder

Mutter für ein Jahr ohne allzu große Verdienstausfälle umdas Kind kümmern können.

Um die Familienförderung auch nach diesem Jahr effizientfortführen zu können, ist als vierte Säule die Betreuung vonKindern und Jugendlichen unerlässlich. Dazu gehören ne-ben qualitativ hochwertigen Krippen und Kindergärten Vor-schulen mit pädagogisch ausgebildetem Personal und vorallem Ganztagsschulen, wie sie in den meisten Ländernder Welt üblich sind. Generell ist die Familienpolitik stärkermit der Bildungspolitik zu verknüpfen. Es kann der Politik janicht darum gehen, möglichst viel Nachwuchs zu erzielen,sondern vielmehr darum, dass aus den Kindern einmal et-was wird. Heute erlangt von den wenigen Kindern inDeutschland ein erheblicher Teil nicht die Grundqualifikatio-nen, die für eine Ausbildung notwendig wären. Noch im-mer schaffen 6,5% der Jugendlichen keinen Hauptschulab-schluss. Und von jenen mit Hauptschulabschluss landet fastdie Hälfte im so genannten Übergangssystem, weil ihnendie Einstiegsfähigkeiten für eine Berufsausbildung fehlen (vgl.Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2012).

Mit diesem vier Säulen könnte die Politik eine klare Nach-richt an die potenziellen Eltern senden: Wir wollen Euchunterstützen, und zwar nicht nur in den ersten Lebensjah-ren des Kindes – und wir wollen, dass generell Kinder ge-boren werden, denn wir haben ein Interesse an einem dau-erhaften Staat, der ohne eigenen Nachwuchs nicht exis-tieren kann. Diese Politik müsste keinen Cent mehr als heu-te kosten, denn sie ließe sich kostenneutral gestalten. Weilsich obendrein durch die Vereinfachung Abertausende vonStellen in der Familienverwaltungs- und Verteilungsbüro-kratie einsparen ließen, bliebe für die Familien sogar mehrals heute.

Literatur

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2009), Kleine Erfolge. Auchwenn es in Deutschland 2008 weniger Nachwuchs gab: Die Menschen be-kommen wieder mehr Kinder – vor allem im Osten der Republik, online ver-fügbar unter: http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Veroeffent-lichungen/Kleine_Erfolge/Kleine_Erfolge_TFR_final.pdf.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2012), »Bildung wirkt – Lebenslanges Lernen für Wachstum und Wohlstand«, Diskussionspapier, on-line verfügbar unter: http://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Bil-dung_wirkt/20120703_bildung_wirkt_final.pdf.

BMFSFJ (2012), online verfügbar unter: http://www.bmfsfj.de/Redak-tionBMFSFJ/Abteilung2/Pdf-Anlagen/familienbezogene-leistungen-tableau-2009,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf.

Robert Bosch Stiftung (2005), Starke Familie, Bericht der Kommission »Familie und demographischer Wandel«, Robert Bosch Stiftung, Stuttgart.

Testa, M.R. (2012), Family Sizes in Europe: Evidence from the 2011 Euroba-rometer Survey, online verfügbar unter: www.oeaw.ac.at/vid/download/edrp_2_2012.pdf.

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Familienpolitik: Vor allem eine Frage derGerechtigkeit

Die erste Schwierigkeit der Familienpolitiker heute ist die Fra-ge: Was ist eine Familie? Es gibt weltweit Dutzende ethno-logische Definitionen von Familie. Sie reichen vom Stam-mesverband bis zur Ein-Eltern-Familie. Der Naturrechtler Jo-hannes Messner definierte Familie als Lebens-, Wirtschafts-und Hausgemeinschaft. So sieht es vermutlich noch dieMehrheit der Menschen, die Politik längst nicht mehr. Derfünfte Familienbericht (aus dem Jahr 2010) begreift Familie»als eine dynamische Form menschlichen Zusammenle-bens«. Der Familienreport 94, der Bericht der DeutschenNationalkommission zum Internationalen Jahr der Familie1994, verstand Familie noch als »eine auf Ehe, Abstammungoder Ausübung der elterlichen Sorge gegründete Verbin-dung von Personen«. Für das »Lexikon der Politik« gilt inBand 7 (Politische Begriffe), »die Familie als kleinste Formdes gesellschaftlichen Zusammenschlusses vielfach auchals Keimzelle der Gesellschaft«. Seit Hartz IV haben wir nocheine weitere Definition: Hier ist nicht mehr die Rede von Fa-milie, sondern von Bedarfsgemeinschaften. Das StatistischeBundesamt in Wiesbaden hält für Deutschland einfach zwölfFamilienformen fest. Ihnen allen kommen in der einen oderanderen Weise Transferleistungen zu. Die meist ideologischmotivierte Ausuferung des Begriffs lässt auch die Transfer-leistungen ausufern.

Was leistet die Familie?

Das zweite fundamentale Problem für Familienpolitiker: DieBedeutung und Anerkennung der Familienarbeit wurde undwird im Kalkül von Politik und Wirtschaft vernachlässigt, unddas von Anfang an. Schon Adam Smith hat Familie und Fa-milienarbeit ins Private abgedrängt. Die unsichtbare Handgalt nur dem Markt, die Arbeit der unsichtbaren Hände der

Frauen und Mütter galt nicht. Verständlich, denn die Frau-en spielten im Großbritannien des 18. Jahrhunderts nur ei-ne untergeordnete Rolle. Unterricht für Mädchen und Frau-en war meist auf häusliche Fähigkeiten beschränkt, der Be-such einer Universität gar verboten. Die Bevormundung undBenachteiligung der Frauen führte in der patriarchalischenGesellschaft des 18. Jahrhunderts zu einer strikten Tren-nung des häuslichen, privaten Bereichs von dem öffentli-chen und dem der Wirtschaft. Und selbst da finden Frauenbei Adam Smith kaum Erwähnung, obwohl Frauen-und Kin-derarbeit in manchen Wirtschaftszweigen aus purer Not weitverbreitet war. Selbst als er anhand seines berühmten Bei-spiels von der Stecknadelproduktion die Arbeitsteilung be-schreibt, geht er nicht auf den Anteil der Frauen ein, dergerade bei dieser Produktion erheblich war. Weibliche Er-werbsarbeit zählte nicht. Erst recht nicht ihre häusliche Ar-beit. Der »Wohlstand der Nationen« kam ohne sie aus. Erstin den letzten Jahrzehnten wird Familienarbeit zum Gegen-stand nationalökonomischer Forschung, die Erkenntnissehaben bisher aber kaum Zugang ins Bewusstsein der Poli-tik gefunden.

Die mentale Ausschaltung der Familienarbeit hatte sozialeFolgen. Die Familie hat im Lauf der letzten Jahrhunderte,also seit der Industrialisierung und der entstehenden Sozi-algesetzgebung mehr und mehr die Aufgaben der wirtschaft-lichen Erhaltung, der Daseinsvorsorge bei Krankheit, Inva-lidität, Alter usw. verloren oder an den Staat abgegeben undbeschränkt sich zunehmend auf die Funktionen der Zeu-gung des Nachwuchses, seiner Sozialisation und auf diePflege der innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen.Das ist die Kernkompetenz der Familie heute. Die Gestal-tung und das Management der innerfamiliären Beziehungs-welt ist auch die Grundlage für die Bildung von Humanver-mögen. In dieser Funktion und Kompetenz ist die Familienach Gary Becker unersetzlich. Dieses Management kos-tet Zeit. Da die emotionalen Bedürfnisse von Kindern nichtplanbar sind, sondern schlicht Präsenz erfordern, sind Kon-zepte wie »quality time« zwar arbeitnehmerfreundlich und»wieder eine Art, den Effizienzkult vom Büro auf das Zu-hause zu übertragen« wie Arlie Russel Hochschild schreibt,aber doch ziemlich realitätsfern und familienfremd.

Aber das kümmert die Politik wenig. Es dominiert in denmeisten Industrieländern ein System, in dem nur die Erwerbs-arbeit als Teil der unmittelbaren Produktion Geltung besitzt.Kinder sind in diesem System nur Kostenfaktoren, so dassdiejenigen am meisten von Kindern profitieren, die selberkeine eigenen haben. Es gilt das Wort von Paul Samuel-son: »Kinder zu haben ist rein wirtschaftlich gesehen un-rentabel und unsinnig«. Drastischer formulierte vor ihm Fried-rich List: »Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, werMenschen erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesell-schaft«. Familienpolitische Diskussionen reduzieren sich des-halb häufig auf die Frage, welche öffentlichen Leistungen

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Jürgen Liminski*

* Jürgen Liminski, Dipl.info. Dipl.pol., ist Moderator beim Deutschlandfunk,Publizist und Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemein-wohl und Familie e.V.

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den Familien zugute kommen. Mindestens ebenso bedeut-sam ist jedoch die Frage, welchen volkswirtschaftlichen Wertdie in den Familien erbrachten Pflege- und Erziehungsleis-tungen haben. Aufschlüsse hierzu ermöglicht die »Zeitbud-geterhebung des Statistischen Bundesamts«. Im Rahmendieser erstmals 1991 durchgeführten und 2001/2002 wie-derholten Studie hat das Statistische Bundesamt den Wertder unbezahlten, in Privathaushalten erbrachten Leistungenauf mindestens 820 Mrd. Euro bzw. knapp 40% des Brut-toinlandsprodukts beziffert. Bei dieser Schätzung handelt essich um eine Untergrenze, andere Schätzungen kommen zuwesentlich höheren Beträgen. Selbst bei dieser vorsichtigenBewertung entsprach die Haushaltsproduktion in etwa derBruttowertschöpfung der Bereiche Handel, Gastgewerbeund Verkehr zusammen. Vor diesem Hintergrund schrump-fen die Transferleistungen für die Familie im Buch der Nati-on auf Vignettengröße zusammen.

Auf einer Karikatur sagt eine ältere Dame mit dem Antragauf Rente in der Hand einem leer und gelangweilt an ihrvorbeischauendem Beamten/Angestellten: »Erst hab ichmeine vier Kinder großgezogen, dann die drei Enkel, dannhab ich mich um Obdachlose und Arme gekümmert undschließlich meinen alten Vater bis zuletzt gepflegt«. Die Ant-wort des Beamten: »Sie haben also nicht gearbeitet«. DieKarikatur ist treffend. Sie illustriert die Schieflage des Leis-tungs- und Sozialsystems und veranschaulicht die Diskrimi-nierung der familiär geleisteten Sorgearbeit in unserem lohn-abhängigen Erwerbssystem. Diese Diskriminierung verwei-gert die Anerkennung einer Leistung, ohne die die Gesell-schaft nicht leben kann. Die Mütter sind es vor allem, diedie Voraussetzungen schaffen, von der der Staat lebt unddie er selber nicht schaffen kann. Sie vor allem sind es, diedas Humanvermögen bilden. Der größte Teil der Bruttowert-schöpfung wird in Deutschland unbezahlt erbracht – in Pri-vathaushalten, in, wie Norbert Bolz das nennt, »der Weltder Sorge«. Diese Welt zählt nicht, weil kein Geld fließt. »We-der für die Wirtschaft noch für den Sozialstaat ist Elternschaftein relevanter Faktor. Sozialstaatliche Leistungen kann manaufgrund von Erwerbsarbeit beanspruchen – nicht aber auf-grund von Erziehungsleistungen. Erwerbsarbeit ist der ge-sellschaftliche Attraktor, der alles andere strukturiert«.

Der ehemalige Richter beim Bayerischen Verfassungsge-richt, Dieter Suhr, analysierte bereits 1989 diese Gerechtig-keitsfrage und seine Analyse hat an Aktualität nichts verlo-ren, im Gegenteil, die Lage hat sich für Familien noch ver-schärft. Suhr schrieb: »Die Familie wird gesetzlich gezwun-gen, auf Privatkosten positive externe Effekte bei Kinderlo-sen zu produzieren. … Die kapitalistische Struktur unserersozioökonomischen Welt selbst ist familien- und kinderfeind-lich: Kinder kosten ihre Eltern Gegenwartsgeld. Wer sein Ge-genwartseinkommen für Kinder ausgibt, ist nicht nur seinGeld los. Außerdem wird er durch entgangene Erträge be-nachteiligt. Wer gar Geld für die Ausbildung aufnimmt, wird

mit Zinsen bestraft. Der Kinderlose dagegen erwirbt dankZins und Zinses-zins mit verhältnismäßig wenig Gegenwarts-geld unverhältnismäßig viel Zukunftsgeld. Und Zukunftsgeld,das sind Ansprüche an die Kinder!«

Nur Umverteilung oder auch eine Existenzfrage?

Die grundsätzlich unterschiedliche Bewertung von Arbeitund Leistung ist eine offene Frage der Gerechtigkeit. WennRecht und Gerechtigkeit das Maß der Politik sind, wie Be-nedikt XVI. schreibt, dann richtet sich diese Frage an daspolitische Establishment. Mehr Gerechtigkeit ist auch einMaß – ein Maß für Erfolg. Die Gerechtigkeitsfrage zu lösen,ist ein Auftrag an die Politik. Ein anderer Auftrag ist, für denBestand des Staatsvolkes und damit für die Zukunft desStaates zu sorgen. Natalistische Akzente in der Familien-politik sind in Frankreich und anderen Ländern selbstver-ständlich, in Deutschland waren sie bis in die jüngste Zeithinein ein Tabu. Erst die frühere Familienministerin RenateSchmidt brach damit und formulierte die Erhöhung derGeburtenzahlen als Ziel ihrer Politik. Leider treibt der öffent-liche Diskurs auch hier manche Sumpfblüte. So spricht dieRobert Bosch Stiftung gern von der »demographischenRendite« und mancher Politiker plappert es nach. Man spa-re viele Milliarden, weil man weniger Kosten für Schulen,Kindergärten, Kinderkliniken etc. aufzubringen habe. DerDenkfehler: Man sieht die Ausgaben für Kinder nur als Kos-ten, nicht als Investitionen (wie z.B. die Franzosen oder dieFinnen). So gesehen ist die demographische Rendite amhöchsten, wenn es gar keine Kinder mehr gibt. Hier schlägtdie Lebensphilosophie des auf Gegenwartsgeld orientier-ten Individualismus voll auf die Lebenserwartung aller, alsodes Staatsvolkes durch. Hier hat die Politik ein Gleichge-wicht zu finden zwischen individuellen Rechten und staat-lichen Zielen. Gegenwart(sgeld) darf nicht gegenZukunft(sgeld) ausgespielt werden. Das generative Gleich-gewicht ist eine Systemfrage – und eine Existenzfrage. Auchinnerhalb des jetzigen, nach Maßstäben der Gerechtigkeitsehr defizitären Systems, können Maßnahmen getroffenwerden, um Unrecht zumindest abzubauen und natalisti-sche Ziele zu erreichen.

Der Unterhalt von Kindern ist heute teurer als früher. Undzwar nicht nur wegen der Markenkleidung oder Handys,sondern weil auch das Leben selbst teurer geworden ist.Paul A. Samuelson hat diesen Trend vor Jahrzehnten gese-hen und deshalb in seiner Theorie von der »Wohlstandsmög-lichkeitskurve« das Elternsein als Risiko betrachtet. Statt nundas Risiko zu minimieren und dadurch den Kinderwunschnäher an eine Realisierung zu rücken, handelt die Politik kon-trär. Sie kassiert bei den Eltern ab. Die steigenden Zahlenüber die Kinder, die in Armut leben, beweisen es ebenso wiedie sinkenden Geburtenziffern. Niemand wird gern freiwilligarm, und deshalb sinkt auch der Kinderwunsch selbst.

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Zur Diskussion gestellt

Über die Ausgaben von Eltern für ihre Kinder gibt es empi-rische Erkenntnisse. Der Soziologe und FamilienforscherStefan Fuchs hat sich in den Newslettern des Instituts fürDemographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. (online verfü-bar unter: www.i-daf.org) mehrfach damit befasst und Be-rechnungen des Statistischen Bundesamtes herangezogen.Er kommt zu dem Schluss: Zwar entsprächen die Ausga-ben von Eltern für ihre Kinder nicht den gesamten Lebens-haltungskosten für Kinder, Kreditzinsen und Versicherungenseien in der Rechnung nicht enthalten, aber es lasse sichdoch eine realitätsnahe Schätzung vornehmen. »Demnachgaben Paare mit einem Kind in 2006 pro Monat durchschnitt-lich 576 und Alleinerziehende 563 Euro monatlich für denKonsum ihres Kindes aus. Paare mit zwei Kindern benötig-ten pro Kind 497 (Alleinerziehende 464) und Eltern mit dreiund mehr Kindern 474 Euro. Dass die Kosten für Einzelkin-der höher sind als für zweite und weitere Kinder ist im Blickauf die Notwendigkeit von Erstanschaffungen an Babyaus-stattung, Spielzeug etc. leicht nachvollziehbar. Paare mitzwei Kindern wendeten im Durchschnitt 994 und Eltern (Paare und Alleinerziehende) mit drei und mehr Kindern1 550 Euro für den Konsum ihrer Kinder auf«. An Kinder-geld erhalten Eltern seit 2009 für erste und zweite Kindermonatlich 164, für dritte Kinder 170 und für vierte und wei-tere Kinder 195 Euro im Monat. Das Kindergeld deckt da-mit bei Paaren mit einem Kind maximal etwa 28% und beiPaaren mit zwei Kindern nur knapp ein Drittel der Konsum-ausgaben für Kinder ab – die Kaufkraftverluste seit 2006 sindhierbei noch nicht berücksichtigt. Auch in Familien mit dreioder mehr Kindern kann das Kindergeld im Durschnitt ma-ximal 35–40% des Konsumbedarfs der Kinder abdecken.Zu berücksichtigen seien nach Fuchs auch »die Unterschie-de je nach Einkommenslage der Familien: Bereits im Jahr2003 wendeten Eltern der untersten Einkommensgruppeschon 325 Euro monatlich für den Konsum ihrer Kinder auf– nicht einmal die Hälfte dieser Ausgaben konnte das Kin-dergeld abdecken. Zu behaupten, dass Kinder für (einkom-mensschwache) Eltern ein Geschäftsmodell seien, zeugtnicht nur von Unkenntnis dieser grundlegenden Sachverhal-te, sondern auch von einer gewissen Lebensfremdheit«.

Für Familien ist vor allem eine Größe relevant: Die Kaufkraft.Der Familienlastenausgleich machte in den 1960er Jahrenrund 400 Arbeitsstunden pro Jahr aus, heute sind es weni-ger als 200. Löhne, Gehälter, Renten, Preise stiegen – derAusgleich für die Leistungen von Familien blieb zurück. DasSystem vollzieht seine Logik. Der Sozialwissenschaftler Xaver Kaufmann sprach in diesem Zusammenhang schonvor Jahren von der »strukturellen Rücksichtslosigkeit« ge-genüber Familien.

Was wäre zu tun?

Spätestens nach den ersten, eine Neugestaltung der Sozi-alsysteme eigentlich schon gebietenden Urteilen (29. Mai

1990, BVerfGE 82,60 sowie 12. Juni 1992, BVerfGE 82,198),hätte die damalige Regierung Kohl im Interesse der Zukunfts-fähigkeit des Sozialstaats eine Umverteilung oder Neuge-wichtung der Beiträge vornehmen müssen. Es wäre die Ge-legenheit gewesen, die seit 1954 im Rang eines Ministeri-ums stehende Familienpolitik in Deutschland den neuen de-mographischen Umständen anzupassen und von dem Rufdes fünften Rads am politischen Wagen zu befreien. Manwollte es nicht. Entweder weil man die Problematik unter-schätzte oder weil man in der »Falle der Selbstverständ-lichkeit« (Helmut Schatovits) saß: Familie ist, gab es immerund wird es immer geben.

Das Bundesverfassungsgericht hat wegen der Weigerungder Politik konzeptuelle Arbeit geleistet und mit mehrerenUrteilen einen Forderungskatalog aufgestellt, der sich an denmonetären und strukturellen Defiziten der Familienpolitik ori-entiert. Dazu gehört das Gebot, die wirtschaftliche Benach-teiligung von Eltern gegenüber Kinderlosen schrittweise beiallen familien-, steuer-, und sozialpolitischen Maßnahmen zuverringern; die institutionelle und familiäre Kinderbetreuungzu verbessern; einen Erziehungsfreibetrag einzuführen, derdie steuerliche Verschonung des minimalen Sachbedarfs fürden Lebensunterhalt (Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Kör-perpflege, Hausrat, Heizung), des Betreuungsbedarfs (dasBundesverfassungsgericht definiert ihn als die für die Erfül-lung der elterlichen Pflicht zur Erziehung und Betreuung (»er-forderliche Betreuungszeit«) und des Erziehungsbedarfs(»Aufwendungen der Eltern, die dem Kind die persönlicheEntfaltung, seine Entwicklung zur Eigenständigkeit und Ei-genverantwortlichkeit ermöglichen«, z.B. Mitgliedschaft inVereinen, Erlernen moderner Kommunikationstechniken) ge-bietet. Die Politik hat sich nur ungenügend an diesen For-derungen orientiert, was den geringen Stellenwert demons-triert, den die Familienpolitik bei nahezu allen Kanzlern, nichtnur beim »Gedöns-Kanzler«, innehatte und immer noch hat.Heinz Lampert führt als wesentlichen Grund dafür an, »dassim politischen Bereich die von den Familien getragenen Las-ten und vor allem der Wert der Beiträge der Familien für dieHumanvermögensbildung weithin verkannt werden«.

Die seit den 1970er Jahren vorhersehbare und seit den1980ern dokumentierte demographische Entwicklung hatdie Problematik weiter zugespitzt. Die Zukunft wird Gegen-wart und immer noch hat die Politik weder ein gesellschafts-politisches Konzept noch den Willen, ein solches mit demQuerschnittsthema Familie auszuarbeiten. Es bleibt bei ei-ner ideologisch-ökonomistisch bestimmten Flickschusterei.Die Politik sollte wenigstens mangels eigener Konzepte aufdie Forderungen des Bundesverfassungsgerichts eingehen.Damit würde sie Leistungsgerechtigkeit und Wahlfreiheitschaffen. Das sind zwei Säulen einer modernen Familienpo-litik. Die dritte wäre, vor allem für Regierungen in Europa:Bevölkerungswachstum und damit zusammenhängend Ge-nerationengerechtigkeit.

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Zur Diskussion gestellt

Anerkennung einer Leistung, mithin auch Leistungsgerech-tigkeit, und das Angebot der Wahlfreiheit erreicht man in un-serer durchökonomisierten Gesellschaft mit Finanzmitteln.Diese werden per Gesetz verteilt. Hier ist der Gestaltungs-raum für die Politik. Wegen der indifferenten bis hostilen Ein-stellung gegenüber Familien in den meisten Medien (einGrund: 70% der Journalisten sind kinderlos) ist der Eindruckentstanden, Familien würden mit Transferleistungen über-schüttet. Dem widerspricht nicht nur die Tatsache, dass vonden mythischen 189 Mrd. Euro für Familien mindestens zweiDrittel von den Eltern selbst erbracht werden. Dem stehenauch die Kürzungen unter der großen Koalition entgegen(z.B. Eigenheimzulage gestrichen, Kindergeld um zwei Jah-re gekürzt, Mehrwertsteuer erhöht, etc.) Die Mehrwertsteu-er belastet natürlich Familien besonders, weil sie konsu-mieren müssen. Die Nichterhöhung bei Brot und Milch undBüchern etc. hilft den Familien wenig. Sie werden nur nichtzusätzlich belastet. Sinnvoller wäre es in der Tat, auch die-se Waren mit der höheren Mehrwertsteuer zu belegen undden Familien eine Kompensation – etwa über das Kinder-geld – zukommen zu lassen. Sonst subventioniert man, wieder Finanzexperte Rolf Peffekoven richtig sagt, »auch dieMilch für die Katzen der Reichen«.

Monetäre Zuwendungen sind nicht nur ein Gebot der Leis-tungsgerechtigkeit. Gute Scheine lassen, anders als Gut-scheine, den Eltern, die diese Leistung erbringen, auch dieFreiheit der Entscheidung. »Geld ist gedruckte Freiheit«,meinte Dostojewskji. Die Aussicht auf gute Scheine wirktsich aber auch auf das generative Verhalten aus. Zwar istder Zusammenhang zwischen monetären Zuwendungenund einer Steigerung der Geburtenzahlen nicht nachweis-bar. Empirisch erwiesen ist aber der Zusammenhang zwi-schen Kürzungen oder mangelnden monetären Zuwendun-gen und der Geburtenquote. Mit anderen Worten: Streichun-gen senken die Neigung zum Kind. Noch einmal: Niemandwird gern freiwillig arm. Weltweit lässt sich nachweisen, dassüberall da, wo der Wohlstand steigt, die Geburten sinken.Die »utilitaristischen Lektionen« des Marktes, so JosephSchumpeter, lassen »die Werte des Familienlebens« verblas-sen. Die Wertewalze des Kapitalismus kann ebenso erdrü-ckend sein wie der Sozialismus, sie nimmt keine Rücksichtauf Fragen der Gerechtigkeit.

Fazit: Zeit, Geld, Anerkennung

Familien überleben, weil sie Synergie-Effekte nutzen, weilsie sparsamer einkaufen, weil sie vielfach nicht in Urlaubfahren (während die kinderlosen Doppelverdiener drei- undviermal fahren), weil die Großeltern helfen (der private Trans-fer der älteren auf die jüngere Generation beläuft sich mitt-lerweile auf rund 30 Mrd. Euro pro Jahr), weil sie billigerenWohnraum suchen, weil sie das Kindergartengeld sparen,weil sie mit zusätzlichen Jobs ein Zubrot verdienen, weil

sie keine (zweite) Lebensversicherung für die Altersvorsor-ge abschließen, weil sie kein Auto fahren oder nur ein al-tes, weil sie nicht ins Theater oder Kino gehen, sondern sichKinoabende zuhause machen, weil sie kein Handy habenoder nur eins mit begrenzten Sprechzeiten, weil sie Res-taurants nur von außen kennen, weil, weil, weil. Sicher ist:Die größte Alltagsbelastung stellen für die deutschen ElternGeldsorgen dar.

Die Erziehungsarbeit erfordert eine andere Zeitverwendungals die Erwerbsarbeit. Sie ist nicht auf Termine und Taktzei-ten, sondern auf die Befriedigung elementarer Lebensbe-dürfnisse ausgerichtet. Die meisten Mütter unterbrechendeshalb, wenn (kleine) Kinder zu betreuen sind, ihre Erwerbs-arbeit oder schränken diese deutlich ein. Teilzeit bei der Er-werbsarbeit ist deshalb der Wunsch der meisten Mütter, unddie OECD-Statistiken belegen das auch. Das entspricht auchden Ergebnissen der Bindungs-und Hirnforschung. Auchsie legen nah, was schon Pestalozzi in seinen drei »Z« alsSumma der Erziehung zusammenfasste: Zuwendung, Zärt-lichkeit, Zeit. Zeit ist dabei das wichtigste »Z«, denn ohneZeit gibt es nur wenig oder keine Zuwendung.

Zeit ist Geld, sagt der kapitalistische Volksmund. Aber Geldist auch Zeit, weil es die Möglichkeit bietet, auf Erwerbstä-tigkeiten zu verzichten um der Zuwendung für das Kind wil-len. Diese Möglichkeit macht die Option des Kinderwun-sches realistischer, ohne diese Möglichkeit der Zuwendungfür das Kind wird es kaum mehr Kinder geben. Geld istnicht die primäre Ursache für eine größere Fertilität, das bleibt– hoffentlich – die Liebe. Aber Familienpolitik kann mit se-kundären Hilfen (Zeit oder Geld oder beides) zu mehr Ge-rechtigkeit beitragen und damit Familie und Zukunft ein Zu-hause ermöglichen, in dem man mehr als nur überlebt.

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Familienpolitik in Deutschland: Mehr als Geburtenförderung

Die Diskussion über die Familienpolitik in Deutschlandist schlagzeilenträchtig und gesellschaftspolitisch wie öko-nomisch gleichermaßen bedeutsam. Getrieben wird sieaktuell im Wesentlichen durch die Auseinandersetzungum das Betreuungsgeld, den hinter den selbstgesteck-ten Zielen zurückbleibenden Ausbau der Kinderbetreu-ung sowie durch das wegen seines großen Mitteleinsat-zes stets besonders kritisch begutachtete Elterngeld, dasbereits im Jahr 2007 als eine zusätzliche Lohnersatzleis-tung für vormals erwerbstätige Mütter und Väter einge-führt wurde. Beim »Krippengipfel« im Jahr 2007 hattensich Bund, Länder und Kommunen zudem darauf geei-nigt, dass ab dem Jahr 2013 für Kinder ab dem vollen-deten ersten Lebensjahr ein Rechtsanspruch auf einenstaatlich geförderten Betreuungsplatz bestehen soll.Gleichzeitig wurde beschlossen, dass Eltern, die Kinderim zweiten und dritten Lebensjahr zu Hause betreuen, alsAnerkennung ihrer Erziehungsleistung ein Betreuungs-geld in Höhe von 150 Euro erhalten sollen. Dazu hat dasBundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend (BMFSFJ) im Juni 2012 einen Gesetzentwurf vor-gelegt.

Alle drei Politikmaßnahmen stellen instrumentelle Innova-tionen dar. Dadurch hat die schon lange währende Dis-kussion darüber, welche Wirksamkeit denn dem famili-enpolitischen Mitteleinsatz eigentlich zugeschrieben wer-den kann, zusätzliche Nahrung erhalten. Diese Diskussi-on trägt bis zum heutigen Tag an der Hypothek, dass dieWirkungsforschung zu den familienpolitischen Leistungenerst im Aufbau begriffen ist, obwohl nach Angaben desBundesfamilienministeriums für ehe- und familienbezoge-ne Leistungen im Jahr 2009 alles in allem etwa 195 Mrd.Euro aufgewendet werden (vgl. BMFSFJ 2012a). Der Mit-

teleinsatz ist damit zwischen 2006 und 2009 um nominalknapp 8% gestiegen. Mit diesem Ausgabevolumen nimmtDeutschland auch im internationalen Vergleich einen vor-deren Platz ein. Es wendet etwa 2,7% seines BIP – etwa5 100 Euro pro Kind unter 18 Jahren jährlich – für famili-enpolitische Leistungen auf (vgl. OECD 2012; Wiegard2012).

Angesichts des auch im internationalen Vergleich beträcht-lichen familienpolitischen Mitteleinsatzes ist es daher durch-aus verständlich, wenn sich an den jährlichen Veröffentli-chungen des Statistischen Bundesamtes zu den aktuellenGeburtenzahlen in Deutschland oder den OECD-Studienüber den familienpolitischen Mitteleinsatz Deutschlands iminternationalen Vergleich nahezu regelmäßig eine Debatteum den Erfolg von Familienpolitik entzündet. Im Folgendenwerden – gestützt auf ein stark reduziertes Bezugssystemfür Familienpolitik mit den wichtigsten Zielen, ausgewähltengängigen Indikatoren zur Bewertung der Zielerreichung undden drei wichtigsten Instrumentenebenen (vgl. Übersicht) –fünf Einschätzungen zur Wirkung familienpolitischer Maß-nahmen formuliert.

These 1: Die Erwerbstätigkeit von Müttern wird nichtdurch die geltende familienpolitische Förder-kulisse forciert.

Bezogen auf den Instrumenteneinsatz lassen sich im We-sentlichen die Ebenen »Geld«, »Infrastruktur« und »Zeit« un-terscheiden. Die beiden Instrumentenebenen »Geld« und»Infrastruktur« sind dabei direkt budgetwirksam. Nach derÜbersicht der ehe- und familienbezogenen Leistungen gibtes aktuell 152 verschiedene familienbezogene Leistungenim Bereich des Steuerrechts, der direkten Geldleistungen,der Sozialversicherungsleistungen, der Realtransfers sowieder ehebezogenen Leistungen. Der größte Finanzierungs-block entfällt auf die ehebezogenen Leistungen mit 72,5 Mrd.Euro, danach folgen die familienbezogenen steuerlichenMaßnahmen mit knapp 46 Mrd. Euro sowie nahezu gleich-auf die Sozialversicherungsleistungen (knapp 27 Mrd. Euro),die Realtransfers (25,1 Mrd. Euro) und die direkten Geld-leistungen (24,6 Mrd. Euro).

Bei einer näheren Aufschlüsselung der Ausgabenarten wirddeutlich, dass das für die drei oben genannten Maßnah-men Elterngeld (4,45 Mrd. Euro), Kinderbetreuung ohneSchulen (14,5 Mrd. Euro) und Betreuungsgeld (geplant ca.1,2 Mrd. Euro) anzusetzende Budget mit rund 20 Mrd. Eurozwar beträchtlich ist, aber alles in allem nur gut 10% dergesamten ehe- und familienpolitischen Leistungen aus-macht. Sortiert man das Finanztableau danach, welchesdie größten Blöcke bei den Ausgaben resp. den Minder-einnahmen sind, so rangiert etwa die Kinderbetreuung

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Hans-Peter Klös*

* Dr. Hans-Peter Klös ist Leiter Bildungspolitik und Arbeitsmarktpolitik, Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).

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erst auf Rang 5 nach dem Kindergeld (38,6 Mrd. Euro),den Witwen- und Witwerrenten (37,7 Mrd. Euro), dem Ehe-gattensplitting (20 Mrd. Euro) und der beitragsfreien Mitver-sicherung von Kindern und Jugendlichen in der Kranken-versicherung (15,5 Mrd. Euro). Unter dem Gesichtspunktder Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der dafür er-forderlichen Wahlfreiheit zwischen den Zielen, erwerbstä-tig sein zu wollen und zu können oder Kinder zu Hausebetreuen zu können, kann mit einiger Sicherheit noch im-mer von einem finanziellen Übergewicht derjenigen famili-enpolitischen Leistungen ausgegangen werden, die nichtdirekt die Erwerbstätigkeit fördern. Die mögliche Präferenzvon Müttern für eine Erwerbsarbeit wird durch die derzei-tige familienpolitische Förderkulisse mit hoher Wahrschein-lichkeit nicht eigenständig forciert.

These 2: Nicht alle familienpolitischen Maßnahmen sindunmittelbar budgetwirksam, können aber trotzdem hochwirksam sein.

Bei weitem nicht alle familienpolitischen Maßnahmen sinddirekt budgetwirksam. Vor allem die gesetzlichen Maßnah-men der Zeitpolitik als dritter Instrumentenebene können dieMöglichkeiten für Familien beeinflussen, über ihre Zeit ge-mäß den Präferenzen der Familienmitglieder verfügen zukönnen (vgl. BMFSFJ 2012b). Zeitpolitik kann damit hoch-bedeutsam für einzelne familienpolitische Ziele sein, spiegeltsich jedoch nicht in den Tableaus des familienpolitischen Mit-teleinsatzes wider. So ist zum Beispiel die Elternzeit nicht mitdirekten Ausgaben verbunden, aber sie schafft ein besse-res Umfeld für die Realisierung bestehender Kinderwünsche.Die Regelungen des Bundeselterngeld- und Elternzeitgeset-zes (BEEG) oder des Teilzeit- und Befristungsgesetzes(TzBfG) haben unmittelbare Auswirkungen auf die Möglich-

keit zur Vereinbarung beruflicher und familialer Verpflichtun-gen. Öffnungszeiten öffentlicher Infrastrukturen (z.B. Behör-den), und die gesetzlichen Regelung von Ferienzeiten (z.B.Kindergärten und Schulen) haben einen großen Einfluss aufdie Zeitsouveränität von Familien und auf die Möglichkeit zurSynchronisierung verschiedener Anforderungen an die täg-lichen Zeitbudgets.

Die Wirksamkeit von Familienpolitik bemisst sich mithin nichtallein an der fiskalischen Budgetwirksamkeit. So können zeit-politische Maßnahmen Auswirkungen auf die familiale Ar-beitsteilung zwischen Mann und Frau haben und damit aufalle drei in der Übersicht genannten Ziele einwirken. Famili-enzeitpolitik kann es etwa Vätern erleichtern, sich stärkerder Familienarbeit widmen zu können, ohne dadurch be-rufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Sie kann Müt-tern erleichtern, sich in dem von ihnen gewünschten Um-fang am Erwerbsleben zu beteiligen. Ganz nebenbei liegt inden Vätermonaten im Rahmen des Elterngeldes wohl einerder wirksamsten Hebel für eine Veränderung der intrafami-lialen Arbeitsteilung. Der stetige Anstieg der Väterbeteiligungbei der Inanspruchnahme des Elterngeldes (vgl. StatistischesBundesamt 2012) gilt vielfach als Beleg dafür, dass eine fis-kalisch vergleichsweise kleine Regeländerung eine offen-bar nachhaltige Verhaltensänderung bewirken kann.

These 3:Eine Bewertung der Angemessenheit familienpo-litischer Leistungen setzt auch eine Betrachtungvon Opportunitätskosten und Erträgen familienpolitischer Leistungen voraus.

Die Steigerung der Geburtenzahlen ist eines der vorstehendgenannten Ziele von Familienpolitik. Fertilitätsentscheidun-gen erfolgen zwar einerseits dezidiert auf der Basis indivi-

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Übersicht Ausgewählte Instrumente, Ziele und Zielerreichungsindikatoren der Familienpolitik

Instrumentenebene Zielebene Zielerreichungsebene Geldleistungen:

Kindergeld Elterngeld Ehebezogene Leistungen …

Infrastrukturleistungen:

U3-Kinderbetreuung Ü3-Kinderbetreuung

Zeitpolitische Maßnahmen:

Elternzeit Familienpflegezeit Flexible Arbeitszeiten …

Wirtschaftliches und soziales Wohlergehen von Eltern und Kindern

Armutsrisikoquoten von Haushalten und Kindern

Well being …

Wahlfreiheit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Erwerbstätigenquoten von Müttern mit Kindern

Dauer der Erwerbsunter-brechungen Männer/Frauen

… Erfüllung von Kinderwünschen Geburtenraten

Differenz zwischen ge-wünschter/tatsächlicher Kinderzahl

Quelle: Übersicht zusammengestellt vom Autor.

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dueller Werte, sind andererseits aber auch von Anreizstruk-turen, direkten Kosten und Opportunitätskosten abhängig.Familienpolitik kann aber über die drei InstrumentenebenenGeld, Infrastruktur und Zeit einen positiven Einfluss auf dieGeburtenraten ausüben, wenn sie ganzheitlich, verlässlichund nachhaltig angelegt ist und Wirkungsverzögerungen be-rücksichtigt (vgl. Bujard 2011).

Für eine fiskalische Bewertung familienpolitischer Maßnah-men müssen die mit dem Aufziehen von Kindern verbun-denen Kosten für den Staat und die Eltern und die durchKinder entstehenden Erträge für den Staat berücksichtigtwerden, die aber in der kontrovers geführten öffentlichenDiskussion um Familienpolitik regelmäßig ausgeblendet blei-ben. Es gibt belastbare Hinweise darauf, dass die Kosten-Nutzen-Bilanz von Kindern für den Staat mit seinen Steuer-einnahmen und Sozialversicherungssystemen deutlich po-sitiv ausfällt und insoweit positive Externalitäten von Kindernvorliegen (vgl. Werding und Hofmann 2006). Eine öffentlicheFörderung der Geburt und des Aufziehens von Kindern lässtsich aus dieser Perspektive auch mit Blick auf die gesamt-fiskalische Bilanz rechtfertigen.

Ferner müssten auch die Opportunitätskosten für die Elterngewürdigt werden, die wegen des Aufziehens von Kindernauf die Erzielung von Markteinkommen verzichten und da-für nicht systematisch gegenüber Nicht-Eltern entschädigtwerden. Empirische Ergebnisse deuten darauf hin, dasssich der Staat im Wege der familienpolitischen Leistungennur zu einem Teil an den Opportunitätskosten für die Elternvon Kindern beteiligt (vgl. Werding und Hofmann 2006, 34).Soweit diese nicht durch die übrigen immateriellen Erträgefür die Eltern durch ihre Kinder (z.B. Elternfreude) gedecktwerden, lebt der Staat damit gleichsam von Vorausset-zungen, die er selbst nicht unbedingt schaffen kann (Bö-ckenförde).

Unter Opportunitätskostengesichtspunkten verdient auchnoch die sogenannte Familienpflegezeit eine kurze Würdi-gung, die Beschäftigten die Möglichkeit zu einer Freistel-lung für die häusliche Pflege von Angehörigen einräumt.Dies kann zu Anspannungen bei der betrieblichen Arbeits-organisation führen, für die Betriebe nicht kompensiert wer-den und für die diese Regelung mithin sowohl direkte alsauch Opportunitätskosten produzieren kann. Allerdings wer-den durch dieses Arrangement im Gegenzug weit höhereKosten im Falle einer stationären Pflege vermieden. Inso-weit es zu Belastungen der Betriebe und zur Entlastung derPflegeversicherung kommt, liegt auch hier eine Externali-tät vor, die im bisherigen Arrangement nicht kompensiertwird. Dieses Beispiel verdeutlicht daher nicht nur, wie großdie Effekte nicht-monetärer und damit in keinem Tableauvon ehe- und familienbezogenen Leistungen auftauchen-den familienpolitischen Leistungen sein können, sondernbelegt auch die mangelnde Berücksichtigung der bei an-

deren Wirtschaftsakteuren als den staatlichen Fisci anfal-lenden Erst- und Zweitrundenkosten.

These 4: Die Sicherstellung von Zielkongruenz ist eineMindestanforderung an eine wirksameFamilienpolitik.

An der intensiven Debatte um das Betreuungsgeld wird un-abhängig von unterschiedlichen Leitbildern der Familienpo-litik vor allem deutlich, dass der Instrumenteneinsatz derFamilienpolitik nicht immer widerspruchsfrei ist. Das er-klärte Ziel der Einführung des Betreuungsgeldes soll es nachAuffassung seiner Befürworter sein, Eltern Wahlfreiheit beider Kleinkinderbetreuung zu ermöglichen und gleichzeitigdie Erziehungsleistung von Eltern, die sich für eine Betreu-ung zu Hause entscheiden, zusätzlich zu würdigen. Bisherkönnen aber viele Eltern noch gar nicht wählen, ob sie ihrKind in einer Kindertagesstätte oder von einer Tagesmut-ter betreuen lassen oder ausschließlich zu Hause versor-gen wollen. Denn um Unter-Dreijährige im Umfang der ge-setzlich formulierten Ziele betreuen zu können, fehlten 2011noch mindestens 233 000 Betreuungsplätze, um den ur-sprünglichen Zielwert von 750 000 Betreuungsplätzen zuerreichen. Es ist deshalb absehbar, dass die Einlösung desab 1. August 2013 geltenden Rechtsanspruchs nicht ge-lingen wird.

Vor diesem Hintergrund sind das auch im Juni 2012 veröf-fentlichte Zehn-Punkte-Programm des Familienministeriumsund letztlich auch das Betreuungsgeld zu sehen. Das Pro-gramm zielt auf eine Verbesserung und einen weiteren Aus-bau der Kindertagespflege durch eine Festanstellung vonTagespflegepersonen und durch verbesserte Weiterbildungs-angebote für Tagesmütter, eine Vereinfachung bürokratischerStandards und zinsgünstige KfW-Darlehen für die Errich-tung neuer Betreuungseinrichtungen. Es zielt damit auf dasProblem, dass in vielen Kommunen noch geeignete Räu-me für die Betreuung der Unter-Dreijährigen fehlen. Auchkönnte der Ausbau der Tagespflege den rasch ansteigen-den Bedarf an Erzieherinnen und Erziehern (vgl. Bertels-mann-Stiftung 2012) in Tageseinrichtungen etwas dämpfen.

Mit dem Betreuungsgeld scheint letztlich eine Entlastung derinstitutionellen Kinderbetreuung intendiert zu sein. Dies kannzu einem familienpolitischen Zieldilemma führen: Es kannnämlich als gesichert gelten, dass sich frühkindliche Betreu-ung günstig auf die Kompetenzentwicklung insbesonderevon Kindern aus bildungsfernen Schichten und insbeson-dere aus bildungsfernen Migrantenhaushalten auswirkenkann. Deshalb kann es ein Widerspruch sein, dass das Be-treuungsgeld an die Bedingung geknüpft wird, auf die In-anspruchnahme staatlich geförderter Kinderbetreuung zuverzichten, obwohl eigentlich gerade für Kinder von bildungs-

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fernen Familien Wert auf eine qualitativ hochwertige früh-kindliche Betreuung und Bildung gelegt werden sollte. Diesgilt auch für den Ausbau der Tagespflege dann, wenn dieQualifikationsanforderungen an Tagespflegepersonen sehrgering sind.

Das Betreuungsgeld schafft zudem einen zusätzlichen An-reiz zu einer längeren Unterbrechung der Erwerbstätigkeit.Zwar schließt die Zahlung des Betreuungsgeldes eine Er-werbstätigkeit nicht grundsätzlich aus, doch ist ohne dieInanspruchnahme einer institutionellen Betreuung die zeit-liche Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, in derRegel sehr eingeschränkt. Es ist damit zu rechnen, dass sichMütter dann für längere Erwerbsunterbrechungen entschei-den werden. Das Betreuungsgeld wirkt sich also vor allemfür Frauen negativ aus, die einen großen Teil der Erziehungs-leistung zu Hause erbringen und gleichzeitig im Rahmen ei-ner Teilzeittätigkeit weiterhin am Arbeitsmarkt aktiv sein wol-len, wohingegen es die Entscheidungssituation für Mütter,die eine Vollzeittätigkeit anstreben, kaum ändert. Mit Blickauf die Sicherung der Wahlfreiheit und der Qualität der Kin-derbetreuung wäre der für das geplante Betreuungsgeld er-forderliche Mitteleinsatz für einen schnelleren Ausbau derKinderbetreuung effizienter eingesetzt.

These 5:Die Transparenz bei familienpolitischen Leistungen hat zugenommen, aber die Evaluation steht noch am Anfang.

Die Einführung eines jährlichen Finanztableaus familienpoli-tischer Leistungen ist ein wichtiger Schritt in Richtung einergrößeren Transparenz. Studien haben darüber hinaus zwarein verbreitetes Interesse an einer Bündelung familienpoliti-scher Leistungen bzw. des Familienleistungsausgleichs ar-tikuliert und etwa die Frage einer Familienkasse aufgewor-fen (vgl. z.B. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen2006). Bei nüchterner Würdigung des Nebeneinanders derfamilienpolitischen Leistungen auf der Basis ganz unter-schiedlicher rechtlicher Grundlagen ist aber eine solche Zu-sammenfassung der Leistungen aus der Renten-, Kranken-und Pflegeversicherung, dem Kindergeld, dem Steuerrechtund der Kinderbetreuung zu einem einzigen Familienleis-tungsausgleich nicht sehr realistisch.

Umso bedeutsamer erscheint daher die Einlösung der lang-jährigen Ankündigung der Bundesregierung, eine Gesamt -evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen vor-zunehmen. Diese sollte eine Wirkungsmessung bei ausge-wählten und abgrenzbaren familienpolitischen Maßnahmenaus einer Ex-post-Perspektive ermöglichen. Darüber hinauswäre es wichtig, den finanziellen Mitteleinsatz im Lebens-verlauf abbilden zu können. Schließlich sollten im Rahmeneiner Evaluation auch Aussagen darüber gewonnen werden

können, ob es Schnittstellen zwischen einzelnen Rechts-bereichen gibt und ob der Mitteleinsatz insofern wider-spruchsfrei ist, dass die Wirkungsrichtungen der einzelnenInstrumente das gleiche Vorzeichen aufweisen. Darüber hi-naus ist wünschenswert, dass Wirkungsforschung auch Aus-sagen darüber erlaubt, welche Effekte nicht budgetwirksa-me Maßnahmen der Familienpolitik haben.

Fazit

Der Erfolg der Familienpolitik ist nicht an der Geburten-zahl allein festzumachen. Zum einen gibt es auch anderefamilienpolitische Ziele als die Steigerung der Geburten-zahl, zum anderen ist die kontrafaktische Entwicklung derGeburtenzahlen ohne den Einsatz von Familienpolitik nichtbekannt. Dennoch muss sich auch die Familienpolitik sehrviel stärker als bisher einer Wirkungsforschung unterzie-hen. Diese sollte erstens Aussagen darüber erlauben, obder Einsatz der budgetwirksamen Instrumente mit gleichenVorzeichen auf die Erreichung der Ziele einwirkt und inso-weit widerspruchsfrei ist. Zum zweiten sollte sie der Poli-tik Anhaltspunkte dafür liefern, welche Priorisierung auf derInstrumentenebene dem Erreichen bestimmter Ziele zu-träglich ist. Drittens sollte Wirkungsforschung die Oppor-tunitätskosten der Übernahme von Familienverantwortung,das durch fiskalische Externalitäten begründete Auseinan-derfallen von Nutzern und Zahlern familienpolitischer Leis-tungen und die Ertragsseite von Familienpolitik stärker alsbisher beleuchten. Viertens sollte die WirkungsforschungRückschlüsse darüber erlauben, ob sich durch den jeweilsgetätigten Mitteleinsatz die Wahlfreiheit zwischen verschie-denen Familienmodellen vergrößert. Fünftens sollte die Be-deutsamkeit nicht-budgetwirksamer familienpolitischerMaßnahmen stärker in das Blickfeld der Wirkungsforschunggenommen werden.

Literatur

Bertelsmann-Stiftung (2012), Ländermonitor frühkindliche Bildungssyste-me, Bertelsmann-Stiftung Gütersloh.

Bujard, M. (2011), Geburtenrückgang und Familienpolitik. Ein interdisziplinä-rer Erklärungsansatz und seine empirische Überprüfung im OECD-Länder-Vergleich 1970–2006, Nomos, Baden-Baden.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2012a), »Be-standsaufnahme der ehe- und familienbezogenen Leistungen 2009«, Inter-netmeldung vom 19. Januar 2012, online verfügbar unter:http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/Pdf-Anlagen/familien-bezogene-leistungen-tableau-2009,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf, aufgerufen am 20. Juli.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2012b), Zeitfür Familie. Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik.Achter Familienbericht, Berlin.

OECD (2012), OECD Family Database, online verfügbar unter:http://www.oecd.org/document/4/0,3746,en_2649_34819_37836996_1_1_1_1,00.html, aufgerufen am 23. Juli.

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Zur Diskussion gestellt

Statistisches Bundesamt (2012), Pressekonferenz »Elterngeld – wer, wielange und wie viel?«, 27. Juni, Berlin.

Werding, M. und H. Hofmann (2006), »Die fiskalische Bilanz eines Kindes imdeutschen Steuer- und Sozialsystem«, ifo Schnelldienst 59(2), 28–36.

Wiegard, W. (2012), »Finanzielle Förderung von Familien«, online verfügbarunter: www.atkearney361grad.de vom 3., 9. und 12. Juli.

Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen (2006), Mehr Transparenz im mo-netären Familienleistungsausgleich. Familienfreundliche Reform der sozialenSicherungssysteme, Berlin.

Back to the Roots: Familienpolitik alsgesamtgesellschaftliche Aufgabe

Familien sind die Grundpfeiler unseres Landes. Daher stehtdie christlich-liberale Koalition für eine moderne Familienpo-litik für alle Generationen. Unser Ziel ist es, die soziale Leis-tungsfähigkeit von Familien zu stärken und die grundlegen-den Strukturen unseres Zusammenlebens im Hinblick aufden demographischen Wandel und die zunehmende Glo-balisierung zukunftsfest zu machen.

Mit dem Elterngeld, der verbesserten steuerlichen Absetz-barkeit von Betreuungskosten, der Erhöhung des Kinderzu-schlags und dem Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkei-ten hat die Union für viele Familien messbare Fortschritte er-reicht. Das ist wichtig und richtig, trotzdem dürfen wir dieaktuellen Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren. Wäh-rend die finanziellen Ausgaben für familienpolitische Leistun-gen erheblich gestiegen sind, ist die Geburtenrate inDeutschland weiter zurückgegangen und hat vergangenesJahr einen neuen Tiefstand erreicht. Noch nie sind inDeutschland so wenige Kinder auf die Welt gekommen wie2011. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts ging dieGeburtenrate im Vergleich zu 2010 um 2,2% zurück, dassind 15 000 Neugeborene weniger. EU-weit ist der Trendhingegen positiv: Die Geburtenrate ist von 1,45 Kinder proFrau auf 1,6 gestiegen, in Deutschland sind es dagegennur 1,36 Kinder pro Frau.

Während die Geburten in Deutschland zurückgingen, stie-gen die Förderleistungen für Familien in den letzten Jahrenkontinuierlich an: Von 1996 bis 2004 stiegen die Ausgabenfür Familien um 65% bei einem Geburtenrückgang von 11%.Auch zwischen 2005 und 2009 stiegen die Leistungen umweitere 4% bei einem Geburtenrückgang von 3%. Das zeigt,moderne und zukunftsfeste Familienpolitik verlangt mehr, alsnur milliardenschwere Förderungen zur Verfügung zu stellen.

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Joachim Pfeiffer*

* Dr. Joachim Pfeiffer, MdB, ist wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

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Zur Diskussion gestellt

Das Elterngeld verfolgt das Ziel, junge Eltern in der Anfangs-zeit zu schonen und finanziell zu unterstützen, damit sie sichvorrangig der Kinderbetreuung widmen können. Laut El-terngeld-Monitor des DIW (Stand: Februar 2012) stehenden Familien seit der Einführung des Elterngeldes im ers-ten Jahr nach der Geburt monatlich rund 400 Euro mehrzur Verfügung. Mütter mit Kindern im ersten Lebensjahrnehmen die Auszeit zur Kinderbetreuung in Anspruch, daszeigt der Rückgang ihrer Erwerbstätigkeit um rund zwei Pro-zentpunkte. Das Elterngeld sorgt nicht nur für die nötige Fa-milienzeit, sondern schafft auch Anreize für einen schnel-leren beruflichen Wiedereinstieg der Mütter und soll somitzur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen.Allein durch das Elterngeld ist der Anteil der erwerbstäti-gen Mütter mit Kindern im zweiten Lebensjahr um rund4% gestiegen. Das damit verbundene indirekte Ziel, durchfamilienfreundlichere Rahmenbedingungen dem Geburten-rückgang entgegenzuwirken, wurde jedoch nicht erreicht.Daher sollten ohne Denkverbote alle familienpolitischenMaßnahmen mittelfristig auf den Prüfstand, um den Heraus-forderungen der Zeit mit einer modernen und zeitgemäßenFamilienpolitik zu begegnen. Dabei geht es nicht darum,den Familien Leistungen zu streichen, sondern diese ziel-orientiert dort einzusetzen, wo sie sinnvoll sind und ge-braucht werden.

Familienleistungen sind keine Gebärleistungen; die Entschei-dung für Familie und Kinder ist nicht am Geld festzuma-chen. In einem alternden Deutschland ist eine Debatte überdie nicht monetären Werte von Familie und Kindern not-wendiger denn je. Der internationale Vergleich lehrt, dasshohe Geburtenraten mit einer stimmigen Kombination ausGeld, Infrastruktur- und Zeitpolitik verbunden sind. Insbe-sondere Kinderbetreuungsangebote erweisen sich hier alsSchlüsselfaktor.

Mehr Geld heißt nicht mehr Familienpolitik

Unser Staat unterstützt Familien jährlich mit rund 170 Mrd.Euro, allein das Elterngeld kostet knapp 5 Mrd. Euro. Ins-gesamt stehen etwa 160 verschiedene familienpolitische Ins -trumente zur Verfügung. Dazu zählen neben dem Kinder-geld u.a. das Elterngeld, das Ehegattensplitting, die kosten-lose Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse, di-verse Zuschläge, Ausbildungsfreibeträge und vieles mehr.Gerade diese Fülle an Leistungen ist mehr Stolperstein alsWeichensteller. Daher ist es dringend geboten, die vorhan-denen Maßnahmen zu prüfen, anstatt noch mehr Geld in dieFamilienförderung zu investieren. Das Kindergeldgesetz wur-de vor 50 Jahren verabschiedet, seitdem hat sich unsereGesellschaft fundamental verändert. Die Welt wird immerstärker digitalisiert und vernetzt, die Lebensstile halten mitInnovationen und Entwicklungen Schritt, die Ansprüche anWachstum und Wohlstand haben sich verändert, der demo-

graphische Wandel stellt eine zunehmende Herausforde-rung dar. Entsprechend gilt es auch zu prüfen, welche Ins -trumente der Familienförderung nach wie vor zeitgemäß sindund tatsächlich einen Anreiz zur Familiengründung darstel-len und welche wirkungslos verpuffen und die öffentlichenHaushalte belasten. Vor allem Parallelförderungen müssengestrafft und Mitnahmeeffekte minimiert werden.

Bis zum 18. Lebensjahr zahlt der deutsche Staat für jedesKind rund 146 000 Euro an Familienleistungen. Das Kin-dergeld stellt dabei mit einem Gesamtbetrag von 38,8 Mrd.Euro den größten Posten der familienpolitischen Ausgabendar. Damit greift Vater Staat den Familien hierzulande deut-lich mehr unter die Arme, als andere Länder in Europa diestun. Laut OECD-Familienreport vom April 2011 liegen diedurchschnittlichen Ausgaben pro Kind in den OECD-Län-dern bei 570 Euro pro Monat – in Deutschland sind es fast700 Euro pro Monat. Das zeigt, Geld allein macht keineKinder. Daher prüft das Bundesministerium für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit dem Bundes-ministerium für Finanzen alle ehe- und familienpolitischenLeistungen auf ihre Wirksamkeit und Effizienz. Die Evaluati-on umfasst alle Leistungen, d.h. steuerliche Förderungenund monetäre Leistungen sowie familienbezogene Maßnah-men im Bereich der Sozialversicherung und des Realtrans-fers wie z.B. die Bereitstellung von Kinderbetreuung. Im Ge-gensatz zur Überprüfung von Einzelmaßnahmen lässt sichhierbei analysieren, wie Leistungen zusammenwirken undob widersprüchliche Anreize oder Zielkonflikte bestehen.Denn es darf nicht sein, dass sich die zahlreichen Maßnah-men durch Überschneidungen gegenseitig wieder aufhebenoder negativ beeinflussen.

Grundsätzlich ist festzuhalten: Deutschland braucht drin-gend neue familienpolitische Ansätze, die am Puls der Zeitsind und die dem demographischen Wandel aktiv begeg-nen. Denn es sind die jungen Arbeitskräfte, die unsere So-zialversicherungssysteme stabil halten und die Zukunft un-seres Landes schreiben. Zweifelsohne ergeben sich aus demgesellschaftlichen und demografischen Wandel neue He-rausforderungen für Familien. Daher sind alle gefordert –Kommunen, Städte, Unternehmen, Wirtschaft, Politik unddie Gesellschaft insgesamt – für mehr Familienfreundlichkeitzu sorgen.

Demographischer Wandel als Nachwuchsbremse

Heutzutage leben die Menschen in Deutschland über 30 Jah-re länger als noch vor 100 Jahren. Die höhere Lebenserwar-tung und der Rückgang der Geburtenrate lassen die gesam-te Bevölkerung altern. Bis zum Jahr 2030 wird jeder dritteBundesbürger über 60 Jahre alt sein. Diese Entwicklung darfman nicht ausblenden, da sie entsprechende Auswirkungenauf die sozialen Sicherungssysteme mit sich bringt. In un-

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Zur Diskussion gestellt

serem umlagefinanzierten Rentensystem zahlt die junge Ar-beitnehmergeneration mit ihren Beiträgen die Renten der Äl-teren. Ein Blick auf die Bevölkerungsstruktur macht dieSchieflage deutlich – die nachkommenden Generationenwerden zahlenmäßig immer kleiner und können diese Lastauf Dauer nicht alleine stemmen. Schrumpfende Generatio-nen bedeuten gleichzeitig weniger Frauen, die Kinder be-kommen können. Diese Lücke kann auch durch ein Mehran Förderung nicht ausgeglichen werden, da selbst eine Stei-gerung der Geburtenrate den absoluten Geburtenrückgangnicht verhindern könnte. Auch der Zeitpunkt für Familien-gründungen hat sich nach hinten verschoben. Immer mehrFrauen bekommen erst im Alter von 30 Jahren und älter Kin-der. Familiengründungen noch in der Ausbildungsphase sindmittlerweile eher Ausnahme als die Regel. Während Anfangder 1970er Jahre Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahren nochdie meisten Kinder zu Welt brachten, war es 2010 die Grup-pe der 30- bis 34-jährigen Frauen.

Auch nimmt die Anzahl der Geburten mit steigendem Bil-dungsniveau der Frauen ab. Diese Entwicklung ist nicht nurin Deutschland, sondern weltweit zu beobachten. Um auchfür höher qualifizierte Frauen bessere Anreize zur Familien-gründung zu schaffen, brauchen wir ein kinderfreundlichesGesellschaftsklima sowie eine moderne Unternehmenskul-tur mit mehr Flexibilität für junge Mütter und Väter.

Hierzulande sind Frauen in einem wesentlich geringeren Um-fang erwerbstätig als Männer – im Jahr 2011 gingen insge-samt nur 55% aller erwerbstätigen Frauen einer Vollzeitbe-schäftigung nach. Damit belegt Deutschland den vorletz-ten Rang im EU-15-Vergleich. Hauptgrund für die geringeErwerbsbeteiligung ist laut Angaben der Mütter eine unzu-reichende Betreuungsinfrastruktur sowie fehlende Flexibili-tät bei den Arbeitszeiten. Schätzungen zufolge wollen rund1,2 Millionen nicht erwerbstätige Mütter bei ausreichendenKinderbetreuungsangeboten wieder in das Erwerbslebeneintreten (vgl. SOEP 2009). Auch in Familien mit Kindern zwi-schen sechs und 16 Jahren könnte fast eine halbe MillionFrauen für den Arbeitsmarkt gewonnen werden, wäre dieBetreuung ihrer Kinder nach der Schule gesichert. Vor al-lem für Alleinerziehende ist die Herausforderung, Kinderbe-treuung und Beruf zu vereinbaren, enorm.

Für die christlich-liberale Koalition steht die bessere Verein-barkeit von Beruf und Familie ganz oben auf der Agenda.Daher stellt der Bund für den Ausbau der Kinderbetreuungder unter Dreijährigen 4 Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung.Ein größeres Angebot an Kitas erleichtert die Rückkehr anden Arbeitsplatz und kann positiv zur Familienplanung bei-tragen. Arbeitende Eltern stärken wiederum den Bundes-haushalt und die sozialen Sicherungssysteme, da sie Steu-ern und Sozialabgaben zahlen. Bis 2013 wollen Bund, Län-der und Kommunen bundesweit für 35% der unter Dreijäh-rigen Betreuungsplätze schaffen.

Gleichzeitig setzt sich die Union mit dem Betreuungsgeldfür die Wahlfreiheit von jungen Familien ein. Sie sollen selbstentscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen. Viele Elternwollen ihr Kind erst mit drei Jahren in den Kindergarten ge-ben und sich bis dahin selbst um die Erziehung kümmernoder eine familiennahe Betreuung organisieren. Auch die-sen Eltern gilt es unter die Arme zu greifen, denn sie be-kommen bislang keine zusätzliche materielle Unterstüt-zung, während der Staat jeden Krippenplatz mit ca.1 000 Euro pro Monat subventioniert. Auch zwingt das Be-treuungsgeld Frauen nicht, ihre Erwerbstätigkeit aufzuge-ben, denn es wird auch gezahlt, wenn sie in Voll- oderTeilzeit erwerbstätig sind. Die einzige Bedingung ist, dasskein Krippenplatz in Anspruch genommen wird. Beide Maß-nahmen sollen dazu beitragen, das kinderfreundliche Kli-ma hierzulande zu verbessern.

Die Maßnahmen der Politik allein reichen nicht aus, um Fa-miliengründungen wieder zu beflügeln. Mehr Familienfreund-lichkeit erfordert auch moderne Zeitpolitik für Familien. El-tern brauchen einen größeren Spielraum bei ihrem Zeitma-nagement. Das fängt schon bei der besseren Vereinbarkeitvon Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Betreuungs- undBildungseinrichtungen oder Behörden an. Allein das Abstim-men von Zeitstrukturen vor Ort könnte viele Zeitkonflikte vonFamilien verhindern.

Auch die Unternehmen sind gefragt, Familien als Erfolgs-faktor und wesentliches Element zur Bekämpfung des Fach-kräftemangels zu erkennen. Familienbewusste Arbeitswel-ten sind nicht nur im Interesse der Eltern und Kindern, son-dern kommen auch den Unternehmen zugute. Kinder dür-fen nicht als Einschränkungen gesehen werden, sondernals Gewinn für unsere Gesellschaft. Frauen sollen sich nichtmehr zwischen Familie und Beruf entscheiden müssen. Fle-xible und familienfreundliche Arbeitszeitmodelle ermögli-chen Müttern mehr Karrierechancen und Vätern mehr Fa-milienzeit. Mittels betrieblich unterstützten Kinderbetreu-ungsangeboten können die Betreuungszeiten der Kinderbesonders gut auf die Arbeitszeiten der Eltern abgestimmtwerden. Immer mehr Unternehmen erkennen Investitionenin Kinderbetreuungsangebote als Investition in die Leis-tungs- und Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens. Umdiese Haltung zu fördern, unterstützt das Bundesfamilien-ministerium seit 2008 Unternehmen bei der Einrichtung vonBetreuungsplätzen.

Tatsächlich ist der Kinderwunsch in den letzten Jahren inDeutschland angestiegen. So wünschten sich im vergange-nen Jahr mehr als die Hälfte der kinderlosen unter 50-Jäh-rigen auf jeden Fall Kinder, 20% vielleicht und nur jeder Fünf-te schloss Kinder für sich aus. Die Lücke zwischen der ge-wünschten und tatsächlichen Kinderzahl zu minimieren, ge-lingt nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Auch Unter-nehmen, Kommunen und Städte müssen den Wert und die

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Zur Diskussion gestellt

Bereicherung der Wirtschaft und Region durch Familienschätzen.

Der europäische Vergleich zeigt, dass insbesondere dieje-nigen Länder hohe Geburtenraten aufweisen, die sich denfamilienpolitischen Herausforderungen frühzeitig gestellt ha-ben. Deutschland hat die Herausforderungen mit dem Aus-bau der Kinderbetreuung, der Einführung des Elterngeldesund dem Einsatz für eine familienfreundliche Gesellschaftund Arbeitswelt in Angriff genommen. Nun gilt es, für dieUmsetzung der Maßnahmen zu sorgen und dort nachzu-steuern, wo es notwendig ist.

Deutschland muss die Bedeutung von Familien neu ent-decken, denn Familienpolitik kann nur wirken, wenn sie aufallen Ebenen gelebt wird. Gefordert sind moderne Unter-nehmenskulturen mit flexiblen Arbeitszeitmodellen für jun-ge Mütter und Väter, mehr Zeitsouveränität und individu-elle Gestaltungsmöglichkeiten der Kinderbetreuung. Bil-dungspolitik, die schon bei den Kleinsten beginnt, und In-frastruktur- sowie Gesundheitspolitik, die sich am Wohl undGelingen von Familien ausrichten. Das fängt bei einer kin-derfreundlichen Gestaltung von Gesetzen an. So verhin-dert das Gesetz zur Privilegierung des von Kindertages-einrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kin-derlärms, dass Lärmschutzklagen gegen Kitas und Spiel-plätze diese Einrichtungen aus den Wohngebieten verdrän-gen. Denn Kinderlärm ist Zukunftsmusik und darf nicht wieLärm von Industrieanlagen oder anderen Lärmquellen be-handelt werden.

Die Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen undInfrastruktur ist nur der Grundstein für eine familienfreundli-che Gesellschaft. Das allein reicht bei weitem noch nicht aus.Ein kinderfreundliches Deutschland kann nicht nur auf po-litischen und wirtschaftlichen Pfeilern stehen, sondern be-ginnt in den Köpfen der Menschen. Deutschland braucht ei-nen Mentalitätswechsel: Elternschaft und Erziehungsleis-tung müssen wieder größere gesellschaftliche Anerkennungerhalten. Lokale Bündnisse vor Ort müssen die Gemein-schaft von Familien stärken und das Umfeld kinderfreundli-cher gestalten. Denn Kinder bereichern nicht nur das Le-ben der Eltern, sondern bringen auch Leben in die Städteund Gemeinden. Sie sind es, die unsere Werte, Traditio-nen, Kulturen später aufrechterhalten und weitertragen. Siesind es, die die Geschichte von morgen schreiben und inZukunft für Wachstum und Wohlstand sorgen.

Eine moderne Familienpolitik trägt ihres dazu bei, den ak-tuellen Herausforderungen aktiv zu begegnen und die vor-handenen Potenziale zielgerichtet auszuschöpfen.

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Sehr geehrter Herr Präsident, hoher Senat,

die Eurozone steht im fünften Jahr derRettung durch öffentliche Kredite der EZBund der Staatengemeinschaft, und es hilftalles nichts. Die Summe aller Kredite derStaatengemeinschaft und der EZB, dieden Krisenländern zur Verfügung gestelltwurden, liegt mittlerweile bei etwa 1,5 Bill.Euro, und sie wird auf 2 200 Mrd. Eurosteigen, wenn der ESM ausgeschöpft wird(vgl. Abb. 1, weiter unten). Das sind zweiDrittel der Staatsschulden der sechs Kri-senländer Griechenland, Irland, Italien,Portugal, Spanien und Zypern. Von derzur Verfügung gestellten Summe sind in-klusive der Target-Kredite bislang (Juni2012) 1,2 Billionen ausgezahlt worden.Rechnet man die Staatsanleihenkäufe desEZB-Systems hinzu, kommt man auf gut1,4 Billionen Euro.

Warum sind die Maßnahmen wirkungslos?

Weil die Theorie, auf der die Hilfen basie-ren, falsch ist. Es wird die falsche Krank-heit therapiert. Man geht von der Geld-im-Schaufenster-Theorie aus. Das einzi-ge Problem sind die unruhigen Märkte.Beruhigt man sie mit Rettungsschirmen,fallen die Zinsen, die Krisenländer werdenwieder solvent und zahlen ihre Schuldenzurück. Das Geld muss nur im Schaufens-ter liegen, um die Märkte zu beruhigen.Es wird nie genommen.

Tatsächlich sind die erwähnten 1,5 Bill.Euro einzelnen Ländern zugewiesen wor-den, und dennoch ist die Krise bedrohli-cher denn je. Die Gelder bleiben ebennicht im Schaufenster liegen, sondern flie-ßen in ein Fass ohne Boden. Unter demEuro kam in der Zeit vor der Finanzkrisebilliger Kredit in die südlichen Länder. DerKredit erzeugte einen inflationären Boomund zerstörte die Wettbewerbsfähigkeit.Man wurde schlichtweg zu teuer. Da dieKapitalmärkte die daraus resultierendenLeistungsbilanzdefizite nicht mehr finan-

zieren wollen, nachdem die amerikanischeFinanzkrise nach Europa überschwapp-te, tut es nun die Staatengemeinschaft.

Wie weit ist der Weg zur Wettbewerbsfähigkeit?

Nach Goldman Sachs sind die zur Wie-derherstellung der Wettbewerbsfähigkeitnötigen Preissenkungen oder realen Ab-wertungen:

Griechenland 30%, Portugal 35%, Spa-nien 20%, Frankreich 20%, Italien 10 bis15%. Nach Angaben der OECD müssteGriechenland um 39% billiger werden, umdas Preisniveau seines unmittelbarstenWettbewerbers, nämlich der Türkei, zu er-reichen.

Die Rettungsgelder sind nur Schmerzmit-tel. Die Krankheit wird unterdrückt undbricht vollständig wieder aus, wenn mandie Mittel absetzt. Schlimmer noch: Weildie Schmerzmittel die Krankheit verschlei-ern, verzögern und behindern sie die The-rapie der Ursachen. Man wähnt sich ge-sund und ist es nicht. Man verliert nur Zeitbis zur notwendigen Operation, und wäh-renddessen breitet sich die Krankheit wei-ter aus.

In Italien, Spanien, Portugal und Griechen-land ist beim Preisindex der selbst erstell-ten Waren (BIP-Deflator) nichts passiert.Diese Länder sind in der Krise eher nochteurer geworden. Die Re-Adjustierung derPreise, ohne die sich die Wettbewerbsfä-higkeit nicht wiederherstellen lässt, hatnoch nicht stattgefunden. (Verbesserun-gen der Lohnstückkosten sind ein Arte-fakt, das mit der Zerstörung der wenigerproduktiven Stellen in der Krise zu tun hat.Dadurch steigt die gemessene Produktivi-tät, und es fallen die Lohnstückkosten, weilman die Nullproduktivität der wachsendenZahl an Arbeitslosen nicht mitrechnet.)

Warum ist nichts passiert?

Die reale Abwertung hat nicht stattgefun-den, weil die öffentlichen Kredite der Staa-tengemeinschaft auch kontraproduktiveWirkungen hatten, die die Selbstheilungs-kräfte der Märkte unterminierten.

10. Juli 2012Kurzvortrag zur Eurokrise vor dem Verfassungsgericht1

Prof. Dr. Dres. h.c.Hans-Werner SinnPräsident des ifo Instituts

1 Der Verfasser wurde vom Verfassungsgericht alsGutachter bei einer Anhörung zum ESM am 10. Juli2012 geladen. Dabei wurde dieser Text in gekürz-ter Form frei vorgetragen.

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Kommentar

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(1) Langfristiges Kapital blieb weg, da die Vermögenspreise(z.B. Immobilien und Aktien) künstlich durch die Injektionöffentlicher Mittel gestützt wurden und die Anleger wussten,dass sie irgendwann fallen würden, nämlich dann, wenn denRettern das Geld ausgeht. (Die reichen Griechen kommenso lange mit ihrem Anlagevermögen aus der Schweiz nichtzurück, wie der Preissturz bei den Immobilien nicht stattge-funden hat und die Immobilienpreise gemessen am langfris-tig stabilen Niveau zu hoch sind.)

(2) Kurzfristiges und langfristiges Kapital blieb weg und wurdevertrieben, weil es nicht mit den offenen Rettungsschirmen,insbesondere nicht mit den EZB-Krediten, konkurrieren konn-te, die zu Konditionen unterhalb des Markts angeboten wur-den. (Das Geld aus der Notenpresse wurde den Banken derKrisenländer während der Krise zu einem Zins von 1% ange-boten, wobei Sicherheiten verlangt wurden, mit denen sich derInterbankenmarkt bei diesem Zins nicht begnügen konnte.)

(3) Die Leistungsbilanzdefizite blieben strukturell bestehen,weil sie mit den öffentlichen Mitteln weiter finanziert wur-den. Die Lohnzugeständnisse der Gewerkschaften bliebenklein, die Firmen mussten ihre Preise nicht senken, der Staatkonnte weiter kreditfinanzierte Gehälter zahlen, aus denenImporte finanziert wurden. (Die Leistungsbilanzdefizite ha-ben sich in letzter Zeit verkleinert, weil die Importe wegender realen Kontraktion der Krisenländer zurückblieben. Dasist kein struktureller nachhaltiger Effekt, denn er kam nichtaufgrund einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu-stande. Sobald sich die Länder wieder erholen, steigen dieLeistungsbilanzdefizite wieder. Strukturelle Verbesserun-gen ergeben sich nur durch reale Abwertungen, also Ände-rungen der relativen Preise im Euroraum.)

Was rettet der ESM?

Den ESM als Rettungsschirm zu bezeichnen ist im Lichte die-ser Effekte irreführend. Richtig ist zwar, dass der ESM Vermö-genswerte rettet und insofern den Anlegern Abschreibungs-verluste erspart, was die Kurse der Vermögenswerte stabili-siert. Falsch ist aber die Vermutung, der ESM rette die betrof-fenen Länder selbst. Das Gegenteil könnte der Fall sein, dennin dem Maße, wie die Gelder des ESM zur Verfügung stehen,wird die Anpassung der Leistungsbilanz verhindert oder pri-vates Kapital vertrieben. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht,weil die Summe aus dem Saldo der Leistungsbilanz, demSaldo des (kurz- und langfristigen) privaten Kapitalverkehrs unddem Saldo der Rettungsbilanz definitorisch null ist. In der öko-nomischen Literatur wird dieser Zusammenhang HolländischeKrankheit genannt, denn in Holland hatten seinerzeit die Gas-funde die Exportindustrie geschwächt, weil der Gasverkauf einLeistungsbilanzdefizit bei den reproduzierbaren Waren erzeugthatte. Die Erlöse aus dem Gasverkauf hatten für den Rest derÖkonomie ähnlich schädliche Wirkungen wie andere Geldmit-tel, die einem Land ohne eigene Arbeitsleistung zur Verfü-

gung gestellt werden. Insofern existiert der von Politikern häu-fig behauptete Zielkonflikt zwischen einer Rettung der betrof-fenen Länder und der Notwendigkeit, die Überlastung der Ret-ter zu vermeiden, nicht wirklich.

Warum Irland?

Nur Irland hatte eine reale Abwertung von 15% in fünf Jah-ren. Warum? Irland kam schon 2006, mehr als zwei Jahrevor den anderen Ländern, in die Krise. Es half anfangs kei-ner. Die offenen Rettungsschirme gab es noch nicht, und esgab auch keine Sonderprogramme der EZB. Die anderenLänder kamen nach Lehman, also nach dem Herbst 2008,gemeinsam in die Krise. Sie suchten dann lieber die politi-sche Lösung ohne die schmerzlichen Preisanpassungen, diein Irland stattfanden. Irland hat sein großes Leistungsbilanz-defizit inzwischen in einen Überschuss verwandeln können.

Das deutsche Haftungsrisiko

Für Deutschland wird das Fass ohne Boden zur Vermögens-vernichtungsmaschinerie. Unterstellen wir einmal, dass derESM und die IWF-Mittel voll ausgeschöpft werden und dieschon zugesagten Mittel aus der EFSF und dem EFSM voll-ständig ausgezahlt werden, dass aber die Target-Krediteoder der Bestand der von der EZB erworbenen Staatspa-piere nicht mehr wächst. Falls die Krisenländer insolvent wer-den, aus dem Euro austreten und nichts zurückzahlen, wäh-rend der Euro als solcher überlebt, würde Deutschland771 Mrd. Euro verlieren. Diese Summe wächst von Monatzu Monat. Eher noch größere Summen ergeben sich unteranderen Konstellationen, z.B. wenn die Länder insolventwerden, ohne aus dem Euro auszutreten.

Das nachfolgende Diagramm (vgl. Abb. 1) zeigt das Ergeb-nis der laufend vom ifo Institut aktualisierten Berechnung desHaftungspegels (zu den Details der Rechnung vergleiche ifo-Homepage www.cesifo-group.de, dort findet man eine aus-führliche Beschreibung der Rechnungen). Die linke Säule zeigtdie Rettungssummen, die den einzelnen Ländern bislangschon zur Verfügung gestellt und größtenteils auch schon ab-gerufen wurden, die mittlere Säule zeigt die Summen, dieinsgesamt zur Verfügung gestellt werden könnten, wenn derESM eingeführt würde, und die rechte Säule zeigt auf Basisder mittleren Säule den potenziellen Verlust der Bundesrepu-blik, wenn die Krisenländer insolvent werden und nichts zu-rückzahlen. (Konkret: sie zahlen nicht zurück und treten ausdem Euro aus, während der Euro als solcher erhalten bleibt,so dass Deutschland seine Target-Forderung gegen das EZB-System behält und nur anteilig am Verlust der Forderungender Institutionen der Staatengemeinschaft (IWF, EU, EZB, Eu-roländer) gegenüber den Krisenländern beteiligt ist.)

Mit 408 Mrd. Euro betrifft der größte Posten beim potenziel-len deutschen Verlust die Target-Schulden der Krisenländer.

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Kommentar

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Was sind Target-Schulden?

Target-Schulden entstehen, wenn die Leistungsbilanzdefizi-te der Krisenländer nicht mehr über Marktkredite gedecktwerden, sondern über Kredite der eigenen Notenbank. Mandruckt (elektronisch) und verleiht der eigenen Bevölkerungdas Geld, das sie sich auf den Kapitalmärkten nicht mehrleihen kann oder mag, und die Bevölkerung kauft sich damitin anderen Ländern die Waren, die sie braucht, oder tilgt dieSchulden, deren Besicherung ihr zu teuer geworden ist. DieNotenbanken der Überschussländer erhalten für die Durch-führung der Zahlungsvorgänge eine Forderung gegen dasEZB-System, weil sie den Empfängern der Zahlungen im Auf-trag anderer Notenbanken eine Gutschrift erteilen. Faktischhaben die Notenbanken der Überschussländer den ande-ren Ländern einen öffentlichen Kredit gegeben.

Die Umwidmung der Ersparnisse

Da die Liquidität in den Überschussländern nicht benötigtund bei der Notenbank geparkt wird, wandern nun Erspar-nisse der Bürger dieser Länder im Umfang der Target-Über-schüsse zur eigenen Notenbank, statt am Kapitalmarkt an-gelegt zu werden: So beziehen die deutschen Banken imUmfang der Target-Salden weniger Refinanzierungskredit vonder Bundesbank, oder sie leihen der Bundesbank Geld, wasauf dasselbe hinausläuft. Bis zum Juni 2012 waren auf die-se Weise ca. 730 Mrd. Euro deutsche Ersparnisse zur Bun-desbank gewandert und sind dort nur durch Target-Aus-gleichsforderungen der Bundesbank gegen das EZB-Sys-tem gedeckt. Das sind knapp 18 000 Euro pro Erwerbstäti-

gen und mehr als drei Viertel (78%) des Net-toauslandsvermögens der BundesrepublikDeutschland vom Jahresende 2011.

Die Summe ist potenziell verloren, wenn derEuro zerbricht, weil sich die Forderung derBundesbank dann gegen ein System richtet,das es nicht mehr gibt, und, soweit ich weiß,auch keine rechtlichen Vorkehrungen für die-sen Fall existieren. Wenn der Euro nicht zer-bricht und nur einzelne Länder insolvent wer-den, hängt der deutsche Verlust nicht unmit-telbar von den deutschen Target-Forderun-gen ab, sondern von den Target-Verbindlich-keiten der ausfallenden Länder, an denenDeutschland dann nach seinen Kapitalantei-len partizipiert. Deutschland müsste bei klei-nen Verlusten nominell 27% tragen, dochwenn die sechs Krisenländer gemeinsamausfallen und selbst nicht mehr in der Lagesind, die Verluste anderer Länder mitzutra-gen, entfallen auf Deutschland 43% der Ver-luste des restlichen EZB-Systems. Auf derBasis dieses Anteilswerts ist der genannte

deutsche Verlust von 408 Mrd. Euro aus den Target-Schul-den der Krisenländer berechnet worden. (Wenn gar zusätz-lich Frankreich ausfiele, läge dieser Prozentsatz bei 63%.)

Die deutschen Target-Forderungen haben den Charakter vonEinkaufsgutscheinen in anderen Euroländern. Sie werden au-tomatisch abgebaut, wenn Deutsche in diesen Ländern Gü-ter oder private Forderungstitel erwerben. Insofern mag eszunächst scheinen, dass hieraus kein Nachteil für die deut-schen Sparer entsteht. Indes hat der dahinter stehende Kre-dit, der zu Bedingungen unterhalb der Marktkonditionen ver-geben wurde, die Preise der Güter der Krisenländer künst-lich hoch- und die Renditen der dort verfügbaren Vermögens-objekte künstlich tiefgehalten, so dass der Eintausch der Ein-kaufsgutscheine ein schlechtes Geschäft für die deutschenSparer ist. Im Übrigen ist gar nicht klar, ob diese Einkaufsgut-scheine überhaupt jemals eingetauscht werden können.

Wie kann die Bundesbank zurückzahlen?

Wenn die anderen Euroländer nicht in der Lage oder willenssind, Güter oder Vermögenstitel zur Tilgung zur Verfügungzu stellen, etwa weil der Euro zerbricht, kann die Bundes-bank ihre Rückzahlungsverpflichtung gegenüber den deut-schen Banken, die die Ersparnisse der Bevölkerung bei ihrangelegt haben, nur auf einem von zwei Wegen erfüllen. Ent-weder sie bedient die Forderungen der Banken mit zusätz-lich geschaffenem Geld, oder sie bittet den Finanzminister,ihr dafür Steuermittel zu übertragen. Im ersten Fall gibt eseine Inflation, die die vorhandenen Geldvermögen entwer-tet, im zweiten Fall bezahlen die Bürger sich selbst ihre Er-

386

1533 2216

1070

408

771

952

211

53***

500

49188

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5715***2

108015

952

211

77

12018

786330 30

1147 1147

16 16

7

* Datenstand: 06.07.2012.** Griechenland, Irland, Portugal, Zypern: Ende April 2012; Italien, Spanien: Ende Juni 2012.*** Bis Ende 2011 ausgezahlte Kredite; die noch nicht ausgeschöpften Mittel werden künftig durch die EFSF ausgereicht.

Die Ausleihsummen für Euroländer (in Mrd. Euro)Der Haftungspegel

(ohneEZB)

Target-Verbindlichkeiten**(GIPS, Italien und Zypern)

EZB-Staatsanleihenkäufe*

1. Rettungspaket für Gr. (EU)

2. Rettungspaket für Gr. (EU)

1. Rettungspaket für Gr. (IWF)

IWFparallel EFSM

und EFSF bzw. ESM

EFSM

EFSF

ESM-Ausleihung

(ohne EZB)2. Rettungspaket für Gr. (IWF)

Portugal (IWF, EFSM, EFSF)Irland (IWF, EFSM, EFSF)

Bislangschonzugesagt

Potenzialmit ESM

DeutscheHaftung****

**** Auf Basis des Potenzials mit ESM bei Zahlungsausfall der GIPS-Länder, Italiens und Zyperns.

Forderung ausunterproportionaler

Banknotenausgabe*****

***** Stand: Ende April 2012.

Quelle: www.ifo.de – Haftungspegel.

22; ESM-Kapitaleinlagen168; ESM-Garan�en

Abb. 1

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sparnisse zurück. (Technisch gibt es noch die Möglichkeit,dass die Bundesbank ihre Forderungen abschreibt und mitnegativem Eigenkapital weiterarbeitet oder dass sie eine un-verzinsliche Ausgleichsforderung gegen den deutschen Staaterhält. Das ändert aber nichts daran, dass es den deutschenBürgern nicht gelingen würde, die Ersparnisse bei Bedarf auf-zulösen, ohne dafür über Vermögensverluste durch Inflationoder neue Steuern selbst aufzukommen.)

Wie machen es die USA?

Hätte die Eurozone ein System wie die USA, so wäre das al-les nicht passiert, denn dort ist die Kreditaufnahme zwischenden Notenbanken nicht günstiger für die Schuldnerregionen,als wenn man sich den Kredit auf dem Markt besorgt. Loka-le Zentralbanken, die mehr Geld schöpfen, als es für die Li-quiditätsversorgung ihrer Wirtschaft erforderlich ist, also Geld,das für einen Nettoerwerb von Gütern oder Vermögenstitelnin anderen Regionen verwendet wird, müssen den anderenZentralbanken, in deren Gebiet das Geld überwiesen wird,einmal im Jahr zum Ausgleich handelbare Vermögenstitel über-eignen (indem die Eigentumsanteile an einem Clearing-Port-folio verschoben werden). Dadurch ist sichergestellt, dass daszusätzliche Geld nicht zu günstigeren Konditionen verliehenwerden kann, als sie auf dem Kapitalmarkt für Kredite ähnli-cher Sicherheit gewährt werden. Die Bürger einer Region,die auf Kredit leben möchten, sind also auf den Kapitalmarktangewiesen und müssen ihm Zinsen anbieten, die ihrer Bo-nität entsprechen. Deshalb sind die amerikanischen Target-Salden heute faktisch bei fast null, während im EurosystemTarget-Forderungen von etwa 11% des BIP existieren. Abbil-dung 2 verdeutlicht diese Verhältnisse, indem sie die jeweili-

ge Bruttosumme der Target-Forderungen mit dem jeweiligenBIP des Währungsgebiets in Beziehung setzt.

Wie wurde der Exportüberschuss bezahlt?

Diese Verhältnisse werfen auch ein schiefes Licht auf die deut-schen Exporterfolge. Normalerweise erhält ein Land für sei-nen Leistungsbilanzüberschuss mit dem Ausland verzinsli-che, marktgängige Forderungstitel im Austausch. Das warseit dem Ausbruch der Finanzkrise für Deutschland aber nichtmehr der Fall. Der gesamte deutsche Leistungsbilanzüber-schuss mit den anderen Ländern der Eurozone ist seit 2008ausschließlich mit Target-Krediten, also neu geschaffenemGeld der Notenbanken der Empfängerländer, bezahlt worden.

Fehlende demokratische Legitimation

Die Target-Kredite waren ein Rettungsschirm vor dem Ret-tungsschirm, aber einer, der vom EZB-Rat, der gar keine de-mokratische Legitimation für fiskalische Rettungsmaßnahmenhat, aufgespannt wurde, indem der Rat die Bedingungen fürdie Besicherung von Refinanzierungskrediten sukzessive im-mer weiter abgemildert hat. Dadurch wurde es den Zentral-banken der Krisenländer ermöglicht, weitaus mehr Geld zuschaffen, als es ihrer Größe entsprach. Zum Jahresende 2011waren mehr als 90% der Zentralbankgeldmenge des gesam-ten Euroraums dort entstanden.

Pfadabhängigkeit der Politik

Problematisch an diesem ersten, der Öffentlichkeit und denParlamentariern nicht bekannten Rettungs-schirm war, dass er die offenen Rettungsschir-me, die seit Mai 2010 eingerichtet wurden,politisch erzwungen hat. Es war nämlich dieEZB, die angesichts der wachsenden Un-gleichgewichte in ihrer Bilanz im Winter2009/2010 darauf drängte, einen intergou-vernementalen Rettungsschirm aufzubauen.Sie erhöhte diesen Druck bis in den Mai 2010so stark, dass schließlich ein Rettungspaketohne Haircuts für Griechenland zustande kam,dass auf dem Summit vom 8./9. Mai 2010 dieEFSF beschlossen wurde und dass später dievielfachen Initiativen zur Ausweitung der EFSFund Gründung des ESM zustande kamen.So, wie seinerzeit Präsident Trichet die Regie-rungen Europas bedrängt hat, drängt heutePräsident Draghi auf eine Ausweitung der Ret-tungssysteme, um seine Organisation zu ent-lasten. So wird es immer weitergehen. Die Er-schöpfung des einen Rettungsschirms wirdeinen neuen erzwingen, und der politischeDruck wird immer größer werden, weil die im

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2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

% des BIP des jeweiligen Vorjahres

USA

Eurozone

Juni:1060 Mrd.Euro

30 Mrd.US-$

Juni:

Brutto-Target-Forderungen und Brutto-ISA-Forderungen

Hinweis: Die Graphik zeigt die Quotienten zwischen den Monatswerten der positiven Target- bzw. ISA-Salden und den Vorjahres-werten des BIP der Eurozone bzw. der USA, da die Jahreswerte des BIP am aktuellen Rand noch nicht bekannt sind. Die Daten der Target-Forderungen der Eurozone für Mai 2012 und Juni 2012 sind fortgeschriebene Werte: Für Finnland, Estland und Luxemburg wurden die Daten von Ende April 2012, für die Niederlande von Ende Mai 2012 und für Deutschland von Ende Mai 2012 bzw. von Ende Juni 2012 verwendet.Quellen: Board of Governors of the Federal Reserve System, Data Download Program, Principal Economic Indicators, Factors Affecting Reserve Balances; Bureau of Economic Analysis, U.S. Economic Accounts, Gross Domestic Product; Target-Salden der Euroländer; Eurostat Datenbank, Wirtschaft und Finanzen, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen; Berechnungen des ifo Insti-tuts.

11,3%

0,2%

Abb. 2

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Risiko stehenden Kreditsummen immer weiter ansteigen. Esbesteht eine verhängnisvolle Pfadabhängigkeit der Politik, diedem Bundestag seine Entscheidungsfreiheit nimmt.

Die neuesten Zahlen zu den Target-Krediten zeugen von ei-ner atemberaubenden Dramatik. So sind allein in Spanienseit dem Sommer 2011 für etwa 350 Mrd. Euro neue Tar-get-Kredite gewährt worden. Der neueste Wert (Juni 2012)der gesamten Target-Kredite Spaniens lag, wie gerade be-kannt wurde, bei 408 Mrd. Euro. Noch im Mai 2012 warenes 345 Mrd. Euro gewesen. Insgesamt erhielten die sechsKrisenländer Target-Kredite im Umfang von 952 Mrd. Euro.

Ich hoffe, hohes Gericht, dass ich Sie von der Brisanz des The-mas überzeugen konnte. Das Fass hat wirklich keinen Boden.

Was wäre, wenn es den ESM nicht gäbe?

Was würde passieren, wenn es nun nicht zum Einsatz desESM käme? Zunächst einmal würde die Finanzierung derKrisenländer nicht unterbrochen, weil die EFSF für diesesJahr noch über genügend Restkapital verfügt. Zum ande-ren würde der fehlende ESM-Kredit dann zu weiteren Tar-get-Krediten führen. Finanzierungsengpässe wären also vor-läufig nicht zu erwarten.

Was wäre, wenn die EZB ihre Kreditersatzpolitikbeenden würde?

Die eigentliche Frage ist, was passieren würde, wenn dieEFSF erschöpft wäre und die EZB von ihrer Kreditersatz-politik Abstand nähme. Man weiß es nicht genau. Hier istmeine Einschätzung.

a) Man müsste mit Austritten peripherer Länder rechnen.

b) Es gäbe keinen Weltuntergang, wohl aber Turbulenzen anden Kapitalmärkten. Die Finanzmärkte rechnen immer da-mit, dass der Steuerzahler die Zeche zahlt, wenn sich dieAnleger verspekuliert haben. Wird diese Erwartung enttäuscht,gibt es eine Krise. Es gibt aber keine allgemeine Katastro-phe, wie es einige Vertreter der Finanzindustrie und mancheder ihnen zugeneigten Zeitschriften gerne behaupten, nurdie Überschuldungskrise, die sich ohnehin nicht vermeidenlässt. Je schneller man die Vermögensverluste abschreibt,desto eher kann nach dem Gewitter die Sonne wieder schei-nen. Die Welt hat seit dem Krieg viele Dutzende von Staats-konkursen überlebt. Das wird diesmal nicht anders sein.

c) Die Ansteckungsgefahren bestehen, werden aber aus of-fenkundigem Eigeninteresse übertrieben. Als Beleg verweiseich auf den griechischen Staatskonkurs vom Frühjahr. Es gabeinen (angeblich freiwilligen) Haircut in Höhe von 106 Mrd. Euro,dessen Interpretation als Konkurs die Versicherungsgesell-schaften akzeptierten. Das war der vermutlich größte Staats-

konkurs der Geschichte. Nach den Horrorbildern, die vorheran die Wand gemalt wurden, hätte nun die große, alles ver-schlingende Krise ausbrechen müssen. Sie tat es aber nicht.

d) Das Vertrauen der Finanzmärkte wiederherzustellen darfkein separates Ziel der Wirtschaftspolitik sein, denn es gehtja um die Frage, wer die Abschreibungslasten auf die toxi-schen Immobilien und Unternehmenskredite in den Krisen-ländern zu tragen hat. Derjenige, den die Last zu treffen droht,verliert verständlicherweise sein Vertrauen. Dabei kann essich um die Schuldner, deren Gläubiger (die Finanzmärkte)oder die Steuerzahler der noch soliden Länder handeln.Wenn die Schuldner nicht zahlen können, kommt man umden Vertrauensverlust als solchen nicht herum. Das Vertrau-en der Märkte kann man in diesem Fall nur um den Preis ei-ner Verringerung des Vertrauens der Steuerzahler stärken.Das sollte man aber nicht tun, denn man kann nicht denennachgeben, die am lautesten schreien; schon gar nicht, wennes sich dabei um jene Personengruppen handelt, die dieRisiken durch ihre Anlageentscheidungen bewusst einge-gangen sind. Die Länder der Eurozone dürfen nicht zulas-sen, dass das Haftungsprinzip in ein Erpressungsprinzip um-gewandelt wird.

e) Das Fass ohne Boden verschlingt permanent Ressour-cen. Sobald kein neues Geld kommt, bricht die politischeKrise wieder aus. Das kann so lange gehen, bis Deutsch-land kein Geld mehr hat, und dennoch löst man das Pro-blem nicht. Selbst wenn eine große Krise kommt, wennDeutschland nicht mehr zahlt, kann das kein Grund sein, im-mer weiter zu zahlen, bis kein Geld mehr da ist, dennDeutschland kann die zur Disposition stehenden Summenohnehin nicht aufbringen. So oder so muss sich die Staa-tengemeinschaft irgendwann zu radikaleren Schritten durch-ringen. Meines Erachtens führt kein Weg daran vorbei, denEuroraum auf diejenigen Länder zu reduzieren, die in die-sem Raum wettbewerbsfähig sein können, und in größeremUmfang private und öffentliche Schuldenschnitte in den süd-lichen Ländern durchzuführen.

Literatur

ifo Institut, Der Haftungspegel – die Rettungsmaßnahmen für die Euroländerund die deutsche Haftungssumme, online verfügbar unter: http://www.ces -ifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/B-politik/_Haftungspegel.

Sinn, H.-W. (2012), »Die Target-Kredite der deutschen Bundesbank«, ifo Schnelldienst 65, Sonderheft, 21. März, online verfügbar unter:http://www.ces ifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1215973.PDF.

Sinn, H.-W. und T. Wollmershäuser (2012), »Target Loans, Current AccountBalances, Capital Flows and the ECB’s Rescue Facility«, International Tax andPublic Finance 19, 2012, 468–508, http://www.springerlink.com/content/rt6673wt2188346g/fulltext.pdf; Ausführlichere Vorfassungen erschienen alsNBER Working Paper Nr. 17626, 2011 und CESifo Working Paper Nr. 3500,2011; auf deutsch: »Target-Kredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalver-kehr. Der Rettungsschirm der EZB«, Ifo Working Paper No. 105, 24. Juni,http://www.cesifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1215221.PDF.

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Problem

Die Eurokrise kann als eine Staatsschul-denkrise, aber auch als eine Zahlungsbi-lanzkrise aufgefasst werden. Ganz gleichwelcher Position man sich zugehörig fühlt,in jedem Fall müssen sich die Leistungs-bilanzströme umkehren, wenn die ge-währten Kredite zurückbezahlt werdensollen. Zudem sollte verhindert werden,dass der damit verbundene Umstruktu-rierungsprozess für nationale Volkswirt-schaften zu einer unzumutbaren Belas-tungsprobe wird.

Maßnahmen zur Behandlung der gegen-wärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise las-sen sich in

1. jene einteilen, die geeignet erscheinen,aus der Krise herauszuführen, und

2. solche, die zusätzlich vermeiden möch-ten, dass sich eine solche Situation wie-derholt.

In der ersten Kategorie finden sich Ansät-ze, die über eine Steigerung der Wettbe-werbsfähigkeit der Peripherieländer errei-chen möchten, dass die aufgelaufenenKredite zurückgezahlt werden können.Diese Überlegungen laufen darauf hinaus,dass sich die Preise in den jetzigen Defi-zitländern im Verhältnis zu denen derÜberschussländer verringern, um eineUmkehrung der Leistungsbilanzströme zuerreichen. Dies ist möglich über eine re-lative Senkung der Lohnkosten der Defi-

zitländer im Vergleich zu den Ländern, dieNettoforderungspositionen gegenüberdem Ausland aufgebaut haben, oder aber,dass sich die Produzentenpreise in denDefizitländern stärker verringern als inÜberschussländern. So bekamen jüngstdie deutschen Tarifpartner national und in-ternational Beifall, als es zu deutlichen Ta-riflohnsteigerungen kam. Ein Problem al-lerdings ist, dass es keinen Hebel gibt,wodurch ein wirtschaftspolitischer Akteurdirekt eine Umkehrung der Leistungsbi-lanzsalden herbeiführen könnte. Aus die-sem Grund dauert es lange, bis das ei-gentliche Ziel erreicht wird.

In die zweite Kategorie fällt beispielswei-se der Vorschlag, eine Bankenunion zugründen (vgl. Fuest 2012). Hier wie auchbei den Bemühungen, eine Schulden-bremse einzuführen, geht es darum zuverhindern, dass es wieder zu einer aus-ufernden Staatsverschuldung kommt. Indieselbe Kategorie fallen auch Vorschlä-ge über Regelungen zum Umgang mitTarget-Salden (vgl. Sinn 2012). Ursprüng-lich waren die Target-Kredite als kurzfris-tige Kontokorrentkredite konzipiert, dochdas jetzige Eurosystem ist kein Clearing-haus. Die Tilgung der Salden innerhalb ei-nes vorgegebenen Zeitraums würde dasEurosystem zum Clearinghaus machen,wodurch der Aufbau weiterer Schulden-berge, denen keine freiwillige Finanzierungdurch Private gegenübersteht, verhindertwürde.

Allerdings besteht weiterhin das Problem,wie mit den aufgelaufenen Schulden ver-fahren werden soll. Über eine gemeinsa-me europäische Fiskalpolitik soll einerseitserreicht werden, dass sich die Euro-Re-gierungen künftig an auferlegte Schulden-bremsen halten. Dies wird als Vorausset-zung angesehen, dass per Transferzah-lungen die gegenwärtigen Finanzierungs-probleme gelöst werden. Die einzelnen

Regionale Zinspolitik

Reiner Peter Hellbrück*

Die bisherigen Ansätze zur Lösung der Finanz- und Wirtschaftskrise setzen alle bei dem Realteil

der Wirtschaft an. Jede Transaktion besteht jedoch aus Leistung und Gegenleistung. So liegt es

nahe, nach den Bestimmungsgründen von Leistungsbilanzsalden bei der Gegenleistung, der Finan-

zierung, zu suchen. Es zeigt sich, dass durch eine regionale Zinspolitik ein geldpolitischer Hebel

vorhanden ist, der geeignet erscheint, die Leistungsbilanzströme umzukehren.

* Prof. Dr. Reiner Peter Hellbrück lehrt an der Hoch-schule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt.Ohne die aufmunternden Worte und Diskussio-nen mit Burkhard Schmidt (AOK-BV) wäre dieserArtikel nicht entstanden. Zu großem Dank verpflich-tet bin ich auch den Teilnehmern des diesjährigenErnst-Heuß-Seminars: Simone Danek, Ulrich Fehl,Armin Haas, Peter Heimann, Günter Hesse, HorstMünker, Hendrik Senkbeil, Karl von Delhaes undChristoph Wockenfuß, sowie meinem Kollegen Robert Jäckle.

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Vorschläge unterscheiden sich dann hinsichtlich der Ausge-staltung dieser Zahlungen (vgl. z.B. Maas 2012; Overhaus2012). In diese Kerbe schlägt beispielsweise auch der Vor-schlag des Sachverständigenrates, einen Schuldentilgungs-pakt für Europa umzusetzen (vgl. SVR 2011).

Die Finanz- und Wirtschaftskrise entstand, weil in den Pe-ripherieländern mehr ausgegeben als eingenommen wurde,was sich in Leistungsbilanzsalden niederschlug, und diesemVerhalten wurde von keiner Seite Einhalt geboten. Die Ban-kensysteme der Peripherieländer haben eine im Vergleichzu denen Deutschlands und den Niederlanden größere Kre-ditschöpfung betrieben und damit die Erzielung von Aus-gabenüberschüssen ermöglicht. Diese Interpretation erfolgtaus der Perspektive der Kapitalbilanz und dieser Denkan-satz wird im Folgenden verfolgt.

Gängiger ist jedoch die Argumentation über die Leistungs-bilanz: die Wettbewerbsfähigkeit in den Peripherieländernverschlechterte sich im Vergleich zu den Ländern mit Leis-tungsbilanzüberschüssen zusehends. In den Peripherie-ländern hätte es eigentlich zu Preissenkungen kommen müs-sen, damit sich die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder ver-bessert, doch dazu kam es nicht, und wirtschaftspolitischwurde nicht gegengesteuert.

Im Gegenteil, die Politik hat bereits vor 2007/08 Ausgaben-programme aufgelegt, statt Staatsschulden zu senken. DieNotenbank sieht sich grundsätzlich außer Stande, das Preis-niveau in einzelnen Mitgliedsländern zu steuern (vgl. Euro-päische Zentralbank 2011), wodurch die krisenhafte Ent-wicklung im Vorfeld hätte abgeschwächt werden oder ihrzumindest seit 2007/08 hätte gegensteuern können. Mit Be-ginn der Krise in den USA 2007/2008 übernahm die Zen-tralbank die Finanzierung der Leistungsbilanzsalden über dieTarget-Kredite. Die EZB perpetuierte damit die bisherige Ent-wicklung und verhinderte die notwendigen Anpassungspro-zesse in den Defizitländern, doch dazu sah sie, so sieht esaus, keine Alternative. Hier wird dagegen argumentiert, dasses sehr wohl eine Alternative gibt, eine, mit der auch diegegenwärtige Situation verbessert werden könnte.

Es wird eine Maßnahme vorgeschlagen, die geeignet er-scheint, vergleichsweise schnell eine Umkehrung der Sal-den herbeizuführen, indem einem wirtschaftspolitischen Ak-teur diese Aufgabe übertragen wird. Es wird eine Antwortgesucht auf die Frage, wie mit geldpolitischen Maßnahmendem Übel begegnet werden könnte, ohne dass es zu un-zumutbaren Härten in einzelnen nationalen Volkswirtschaf-ten kommen muss. Es zeigt sich, dass die Geldpolitik ge-eignet ist, die Maßnahmen, die unter dem Titel Fiskaluniondiskutiert werden, zu unterstützen.

Kein Beitrag zur Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigtsich umfassend mit möglichen geldpolitischen Maßnah-

men des Eurosystems zur Überwindung der Krise. Born etal. (2012) vergleichen einen möglichen Austritt Griechen-lands mit der Verbesserung der Leistungsbilanz über Lohn-und Preissenkungen und kommen zu dem Schluss, dassein Austritt durchaus eine Option darstellt. Bofinger (2011)und Sinn (2012) beschäftigen sich mit einer wichtigen Fa-cette der Krise, den Anleihekäufe von Staatsschuldtitelndurch die Zentralbank. Es wird lamentiert, dass Wechsel-kursanpassungen bei einer gemeinsamen Währung nichtmöglich sind (vgl. Kastrop et al. 2012). Neuhäuser (2012)nimmt dies zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen undspricht sich für eine Parallelwährung aus. Eine neue Wäh-rung soll eingeführt und die Geldmenge durch Bindung anein zu gründendes staatliches griechisches Sondervermö-gen knapp gehalten werden. Es wird gemutmaßt, dass dieneue Währung wegen Wertdeckung »werthaltig« sei. Dabeiwird verkannt, dass beispielsweise bei Goldwährungen dasUmtauschverhältnis von Gold zu Papiergeld jederzeit ge-ändert werden kann und von dieser Möglichkeit auch Ge-brauch gemacht wurde. Private Inländer Griechenlands hät-ten bei diesem Konzept einen Annahmezwang für die neueWährung, doch wer könnte ihn in einer von Misstrauen ge-prägten Welt durchsetzen?

Es gibt auch Gedanken, eine höhere Inflation im Euroraumzuzulassen, um den rigiden Reallöhnen auf die Sprünge zuhelfen (vgl. Straubhaar und Vöpel 2012). Damit wird Geldil-lusion zum wirtschaftspolitischen Prinzip erhoben. Dies istder Einstieg in den Ausstieg von Vertrauen und Verlässlich-keit. Von einer Geldpolitik als Ersatz für eine strukturelle Kon-vergenz der Euroländer halten die Autoren nichts. Warumnur erfolgt eine solche Einengung auf die Leistungsbilanz-seite? Dabei erbringt bei einer Goldwährung beispielsweisedoch gerade die monetäre Seite den nötigen Schub für dieUmkehrung der Leistungsbilanzströme.

Der Duktus der derzeitige Diskussion wird kritisiert (vgl. Bo-finger 2012), doch die Lösung der Krise wird in einer ge-meinsamen Finanzpolitik gesehen, ohne diesen positivenAnsatz umzumünzen. Hier wird demgegenüber die geziel-te Nutzung der Medien zwecks Beeinflussung der Erwar-tungen des breiten Publikums anempfohlen. Zweck ist dieNutzung des Effektes der sich selbst erfüllenden Erwartun-gen. Bislang hat dieser vor allem durch die Erzeugung vonAbwärtsspiralen für Aufmerksamkeit gesorgt, doch in Ver-bindung mit einer überzeugenden Geldpolitik könnte er se-gensreich sein.

Eines haben die dargestellten Diagnosen und Behandlun-gen der Krise gemeinsam: beide setzen den Hebel bei derLeistungsbilanz an. Bei jeder ökonomischen Transaktionjedoch gibt es zwei Seiten, Warenlieferung, die in der Leis-tungsbilanz verbucht wird, und Gegenleistung, deren Bu-chung in der Kapitalbilanz erfolgt. Hinsichtlich der Diagno-se kann man nicht sagen, welche der beiden Seiten Ursa-

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che und welche Wirkung ist. Ebenso wenig sollte man sichbei der Behandlung darauf versteifen, nur jene Möglichkei-ten zu beleuchten, die sich auf der Leistungsbilanzseite fin-den. Im Gegensatz zu bestehenden Diagnosen und Wirt-schaftskuren wird hier nach möglichen Auswegen bei derKapitalbilanz gesucht.

Im nächsten Abschnitt wird aufbauend auf der Saldenme-chanik aufgezeigt, welche prinzipiellen Wege es gibt, mit derKrise umzugehen. Es zeigt sich, dass auch geldpolitischeMaßnahmen in Frage kommen, wobei zwei Wege unter-schieden werden können:

1. eine regionale Geldmengenpolitik zur Steuerung der In-flationsdifferenzen zwischen den Euroländern und

2. eine regionale Zinspolitik, die in Peripherieländern Anrei-ze setzt, Ausgabenübschüsse zu verringern und güns-tigstenfalls in Einnahmeüberschüsse umzuwandeln.

Die regionale Geldmengenpolitik ist im Eurosystem nichtmöglich, wohl aber eine regionale Zinspolitik. Im letzten Ab-schnitt werden die vorhandenen Instrumente einander ge-genübergestellt.

Saldenmechanik

Eigentlich wäre es wünschenswert, wenn der Geldfluss zwi-schen Ländern mit gemeinsamer Währung genau so ver-laufen würde wie bei einer Goldmünzwährung. Leistungs-bilanzdefizite führen zu einem Goldabfluss und bei Ländernmit positiver Leistungsbilanz zu einem Goldzufluss. In Defi-zitländern kommt es infolgedessen zu einem Sinken und inÜberschussländern zu einem Steigen der Preise, wodurchsich die Wettbewerbsposition der Länder umkehrt. Es kommtzu Nettoexporten aus den bisherigen Defizitländern, denenZahlungsströme in exakt derselben Höhe gegenüberstehen,wodurch die aufgelaufenen Schulden beglichen werden kön-nen und die bisherigen Überschuss- zu Defizitländern mu-tieren und das Spiel von vorne beginnt.

Die bisherigen Ansätze zur Lösung der Krise nutzen die Wir-kungskette, die an der Leistungsbilanzseite ansetzt. Es wirdversucht, indirekt eine Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit der Defizitländer zu erzielen, indem Lohn- bzw. Produ-zentenpreise und hierüber die Absatzpreise gesenkt wer-den. Alternativ hierzu wäre es möglich, dass die Zentralbanküber eine adäquate Geldpolitik die Preise der Defizitländersenkt und jene der Überschussländer erhöht. Vorteil dessenwäre in der augenblicklichen Lage, dass ein wirtschaftspo-litischer Akteur direkt in das Geschehen eingreift, um dieLeistungsbilanzströme umzukehren.

Die Saldenmechanik (vgl. Stützel 1978) weist einen zwei-ten Weg, der zu einer Umkehrung der Leistungsbilanzströ-

me führen kann. Jeder Leistung steht bekanntlich eine Ge-genleistung gegenüber. In der Zahlungsbilanz werden Leis-tungstransaktionen in der Leistungs- oder der Bilanz derVermögensübertragungen und die Gegenleistungen in derKapitalbilanz verbucht. Beide Seiten bedingen sich. Ohnewettbewerbsfähige Produkte wird es keinen Export geben,aber ebenso ist die Finanzierung nötig. Ein Nettoexportführt zu einem Nettokapitalexport desselben Landes inexakt derselben Höhe. Findet sich in den Überschusslän-dern niemand, der bereit ist, sein Geldvermögen gegen-über dem Ausland zu erhöhen, so werden keine weiterenLeistungstransaktionen möglich sein. Umgekehrt müssenin einem Defizitland Personen sein, die ihren Geldvermö-gensbestand in exakt derselben Höhe senken möchten,wie jene in den Überschussländern bereit sind, ihn zu er-höhen.

Will man die Leistungsbilanzdefizite eines Landes verrin-gern, so müssen die Bürger des Defizitlandes künftig Geld-vermögen aufbauen, also statt Ausgabenüberschüsse zuproduzieren, müssen sie Einnahmeüberschüsse erzielen.Folglich lautet die Frage: Welche Stellschrauben gibt es,damit die Bürger des Defizitlandes animiert werden, künf-tig Einnahmeüberschüsse und jene des Überschusslan-des einen Anreiz haben, künftig Ausgabenüberschüssezu haben?

Das Beispiel der Goldwährung gibt auch hierzu einen Rat.Man braucht lediglich danach zu fragen, durch welchen Me-chanismus es dazu kommt, dass Bürger des Defizitlandesgeneigt sind, ihre Ausgabenüberschüsse aufzugeben undkünftig Einnahmeüberschüsse zu produzieren. Durch denAbfluss des Goldes kommt es zu einer Zinssteigerung imDefizitland und infolge des Goldzuflusses zu einem Sinkender Zinsen im Überschussland. Diese Zinsänderungen ani-mieren die Bürger des Defizitlandes, künftig Einnahmeüber-schüsse und Bürger des Überschusslandes in exakt der-selben Höhe Ausgabenüberschüsse zu produzieren. Ers-tere erhöhen also künftig ihr Geldvermögen, und letzteresenken es. Dies geht aber vermittels der Zahlungsbilanznotwendigerweise einher mit einer Umkehrung der Leis-tungsbilanzströme.

Folglich gibt es prinzipiell zwei geldpolitische Ansatzpunk-te, dem derzeitigen Übel einer unausgeglichenen Zahlungs-bilanz zu begegnen.

1. Das Eurosystem könnte versuchen, die Preisniveaus derEuromitgliedsländer so zu steuern, dass die Peripherie-länder in der nächsten Zeit unterdurchschnittliche unddie Überschussländer überdurchschnittliche Inflations-raten aufweisen.

2. Ferner ist es möglich, dass eine regionale Zinspolitik be-trieben wird, wodurch der Zins in den Schuldnerländernhöher wird als in den Gläubigerländern.

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Der erste Weg ist dem Eurosystem allerdings versperrt, dieZentralbank sieht sich in einem Dilemma gefangen. Damitentfällt die Möglichkeit der Nutzung der Leistungsbilanz-seite, um der Finanzkrise beizukommen. Die Beschrei-tung des zweiten Weges führt zu dem Vorschlag einer re-gionalen Zinspolitik.

Das Dilemma des Eurosystems

Die Bundesbank geht davon aus, dass es einen systema-tischen Zusammenhang zwischen Inflationsdifferenzen undLeistungsbilanzsalden gibt (vgl. Deutsche Bundesbank2007). Die Leistungsbilanzdefizite seien zum größten Teil (ca.80%) bedingt durch Salden im Handel mit Gütern und Dienst-leistungen. Inflationsdifferenzen seien ein Maß für die Wett-bewerbsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften. Ländermit Inflationsraten, die höher sind als die gewichteten Infla-tionsraten der anderen Euroländer, hätten gegenüber jeneneinen Wettbewerbsnachteil. Also liegt es nahe, dass das Eu-rosystem genutzt wird, um vermittels einer Änderung derPreisdifferenzen eine Umkehrung der Leistungsbilanzsaldenzu erreichen. Hierzu sieht sich allerdings die Zentralbank au-ßer Stande (vgl. Europäische Zentralbank 2011).

Die Probleme, denen sich das Eurosystem gegenübersieht,werden über folgendes Gedankenexperiment klarer. Die EZBkönnte versuchen, Inflationsdifferenzen zu verringern, indemeine regionalspezifische Geldpolitik verfolgt würde. Stattein Inflationsziel für das gesamte Eurosystem im Durchschnittaller Länder anzustreben, würde für jede Region das für al-le Regionen geltende Inflationsziel mittelfristig angestrebt.Würde das Ziel erreicht, würden auch die Leistungsbilanz-salden verschwinden (bzw. durch eine Umkehrung der ge-genwärtigen Inflationsdifferenzen könnten bestehende Un-gleichgewichte beseitigt werden).

Hierzu wäre es auch notwendig, die Zuständigkeit einer je-den nationalen Zentralbank eindeutig zu klären. So könnteverfügt werden, dass sich jede Geschäftsbank nur über dieeigene nationale Zentralbank mit Zentralbankgeld versorgendarf. Wird nun in einem Mitgliedsland eine überdurchschnitt-liche Inflation gemessen (»Inflationsland«), so wäre die zu-ständige nationale Zentralbank gehalten, die Geldbasis zuverringern. Die Beschaffung von Zentralbankgeld verursachtGeschäftsbanken in Defizitländern höhere Kosten als ohneEinschränkung der Geldbasis, die Zinsen des Defizitlandeswerden steigen, die Geldmenge tendenziell sinken, und derInflation wird entgegengewirkt.

Selbstverständlich steht es den hiervon betroffenen Ge-schäftsbanken frei, sich bei anderen Geschäftsbanken Zen-tralbankgeld zu besorgen. Innerhalb derselben Region wirddies jedoch nur eingeschränkt möglich sein. Als Ausweg ver-bleibt die Möglichkeit, sich an eine Geschäftsbank eines an-

deren Eurolandes zu wenden. Hierdurch steigt die Nach-frage nach Zentralbankgeld in Regionen mit unterdurch-schnittlicher Inflationsrate (»Deflationsland«). Durch diese Fi-nanztransaktion wird letztlich aber die Geldnachfrage imInflationsland gestillt; die Inflationsdifferenzen können nichtvöllig beseitigt werden, denn die weggebrochene Geldba-sis im Inflationsland wird durch die steigende des Deflations-landes kompensiert. In diesem Dilemma sieht sich die Deut-sche Bundesbank gefangen.

Regionale Zinspolitik

Aus der vorangegangenen Diskussion lohnt sich festzuhal-ten, dass eine regionale Geldpolitik über eine Verringerungder Geldbasis die Zinsen eines Defizitlandes erhöhen unddie Zinsen in Überschussländern senken kann, ohne dassdas Ziel der allgemeinen Preisstabilität im gesamten Euro-raum aufgegeben werden müsste. Hierdurch werden Per-sonen in Defizitländern ermutigt, mehr Geldvermögen an-zuhäufen, und in Überschussländern entsteht eine Tendenz,Geldvermögen abzubauen. Da keine Wechselkursrisiken be-stehen und für jeden Bürger die Inflation seines Heimatlan-des relevant ist, sind Realzinsunterschiede ohne Belang.Dies ist aber gleichbedeutend mit einer Verringerung desLeistungsbilanzsaldos in Defizitländern; bei Überschuss-ländern tritt die entgegengesetzte Entwicklung ein.

Mit anderen Worten müsste die europäische Notenbankpo-litik sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt werden. DieGeldbasis in den Defizitländern müsste gesenkt und die inÜberschussländern erhöht werden. Die ganz und gar un-seriöse Praxis der Geldschöpfung in den Defizitländern unddie überbordenden Staatsschulden führen zu Misstrauens-bekundungen ihrer Bürger, die ihre Überschüsse lieber insAusland verlagern und damit den Finanzierungsspielraumihrer Regierungen verengen.

Die Tatsache, dass die Bürger der Defizitländer ihr Heil inÜberschussländern wie Deutschland und den Niederlandensuchen, ist allerdings nicht nur eine Misstrauensbekundungihrer eigenen Regierung gegenüber, sie signalisiert auchMisstrauen gegenüber ihrer nationalen Notenbank. Dassselbst nach der Installation von Expertenregierungen in Grie-chenland und Italien die Geldabwanderung nicht gestopptwerden konnte, kann als Indiz hierfür gewertet werden. Soll-te die gegenwärtige Entwicklung anhalten, so ist selbst einvermehrtes Abstimmen mit den Füßen zu erwarten.

Eine Umkehrung der Geldpolitik würde im Falle eines Erfol-ges dazu führen, dass in Überschussländern ein Anreiz ent-stünde, mehr auszugeben als einzunehmen. Ausgaben deseinen führen zu Einnahmen des Geschäftspartners in exaktderselben Höhe. Infolgedessen wäre in Überschussländernwie Deutschland und den Niederlanden mit einem Auf-

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Kommentar

schwung zu rechnen, der sich ja schon definitionsgemäß(über die Bildung von Ausgabenüberschüssen) in einer Ver-ringerung des Leistungsbilanzüberschusses bemerkbarmacht. Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte; eineKorrektur muss vorgenommen werden. Denn nun lohnt sichvermehrt die Anlage in den Peripherieländern, weshalb zuerwarten ist, dass die in Deutschland geparkten Fluchtgel-der, die sich in Target-Salden niedergeschlagen haben, wie-der abgezogen werden, was kontraktiv wirkt.

Den Defizitländern würden über den Rückfluss der Flucht-gelder Finanzierungsspielräume gegeben; gleichzeitig wür-den sich hierüber die Target-Kredite vermindern. Je mehrsich die Erwartung breit macht, dass auch in den Defizit-ländern eine seriöse Geld- und Wirtschaftspolitik betriebenwird, desto eher werden sich Anleger finden, die zu markt-üblichen Zinsen bereit sind, Forderungstitel aufzukaufen.

Der Aufbau von Geldvermögen in den Peripheriestaaten (bis-herige Defizitländer) gegenüber dem Ausland wird dazu füh-ren, dass sich die Nettoexporte erhöhen. Denn Nettoex-porte sind lediglich die andere Seite derselben Medaille. Bis-lang haben die Bürger der Defizitländer über ihre Verhält-nisse gelebt. Eine Umkehrung der Geldpolitik wird auch diesumkehren. Der Aufbau von Geldvermögen gegenüber demRest der Welt heißt per Definition auch, dass bei unverän-derter Höhe der Nettoinvestitionen das volkswirtschaftlicheSparen zunehmen muss. Diese Differenz aus Volkseinkom-men und Konsum steigt, wenn das Einkommen schnellersteigt als der Konsum oder das Einkommen konstant bleibtund der Konsum sinkt. Konsum wie Exporte sind Determi-nanten des volkswirtschaftlichen Einkommens, das Absin-ken des einen (Konsum) kann prinzipiell durch den Anstiegdes anderen (Exporte) ausgeglichen werden. Es ist also mög-lich, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in Defizit-ländern durch den Anstieg der Exporte gestützt wird.

Damit verbleibt noch, die Höhe der Investitionen zu disku-tieren, die sich nach üblicher Lesart bei einer Erhöhung derZinsen vermindern. Allerdings ist zu bedenken, dass diezurückfließenden Fluchtgelder Anlagemöglichkeiten suchen.Insofern ist es nicht zu vermessen anzunehmen, dass einTeil dieser Gelder in inländische Investitionen fließen, wo-durch auch diese Seite gestärkt würde.

Der Rückfluss der Fluchtgelder in die Heimatländer wird denFinanzierungsspielraum der Regierungen in den Periphe-rieländern wieder erhöhen. Hierdurch entspannt sich die La-ge zusehends und die Inanspruchnahme der Rettungsschir-me wird sich im Zeitverlauf verringern.

Folgt man dieser Argumentation, so wäre eine Möglichkeitgegeben, über die monetäre Seite der Krankheit zu begeg-nen. Es handelt sich freilich um einen diskretionären, aberdennoch marktkonformen Eingriff, der geeignet erscheint,

Vertrauen zu schaffen. Vertrauen und Verlass auf die Ein-haltung der geschlossenen Verträge sind die Schmiermittelfür Wachstum und Wohlstand. Vorteil dieses Verfahrens istdie schnellere Wirksamkeit im Vergleich zu Instrumenten, dieüber die Leistungsbilanzseite wirken.

Das Eurosystem kann über die Refinanzierungskosten derGeschäftsbanken die Zinsspanne beeinflussen, innerhalbderer sich die Geschäftsbanken des Defizitlandes in Über-schussländern Zentralbankgeld besorgen können. Die un-tere Grenze für solche Kredite ist der Zins in Überschuss-ländern, der von ihren Geschäftsbanken für die Beschaf-fung von Zentralbankgeld zu zahlen ist, und dem höherenZins, den die Geschäftsbanken bei der Geldbeschaffungin Defizitländern zu zahlen haben. Je geringer die Bereit-stellung von Zentralbankgeld in den Defizitländern ist, des-to höher wird die Nachfrage nach Zentralbankgeld ihrer Ge-schäftsbanken bei den Geschäftsbanken der Überschuss-länder und desto höher werden die Zinsen in den Defizit-ländern ausfallen.

Eine regionale Zinspolitik hätte zudem den nützlichen Ne-beneffekt, dass die Geldschöpfung innerhalb des Eurosys-tems auf eine gesündere Grundlage gestellt würde. Im ers-ten Schritt sollte Zentralbankgeld, das mit ungenügendenSicherheiten ausgegeben wurde, zurückgefahren werden.Hierdurch vermindert sich die Gefahr, dass in Umlauf be-findliches Geld wegen der Unmöglichkeit der Liquidierungder hinterlegten Sicherheiten weiterhin in Umlauf bleibt unddie Geldsteuerung beeinträchtigt. Vorteil einer regionalenZinspolitik wäre zudem, dass es nicht nur zu einer Anpas-sung der externen Schulden käme: auch die interne Ver-schuldung würde sich an die neuen Rahmenbedingungenanpassen. Bei einer Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeitüber Lohn- und Preissenkungen käme es dagegen nichtzu einer Anpassung der internen Verschuldung (vgl. Bornet al. 2012).

Kritische Geister mögen einwerfen, dass ja gerade die Zins-differenz zwischen Peripherieländern und Überschusslän-dern augenblicklich das Problem darstellt. Dem kann grund-sätzlich nicht widersprochen werden, doch wird hierdurchein Aspekt in die Diskussion geworfen, der bislang über-haupt nicht behandelt wurde: das Risiko. Die augenblickli-chen Zinsdifferenzen resultieren aus den Risiken der Kredi-te, die von den Gläubigerländern an die Peripherieländer ver-geben worden sind. Ihnen wird ein hohes Risiko beigelegt,weil nicht ersichtlich ist, wie die Peripherieländer die Kredi-te zurückzahlen sollen. Da alle bisherigen Lösungsansätzean der Leistungsbilanzseite ansetzen, muss es sich hierbeium einen sehr langen Prozess handeln.

Letztlich besteht dieses Problem unvermindert auch bei Um-setzung einer regionalen Zinspolitik. Aus diesem Grund sindbegleitende Maßnahmen nötig, um den beschriebenen Pro-

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Kommentar

zess überhaupt in Gang setzen zu können. Denn die Nei-gung der Geschäftsbanken der Überschussländer, an Ban-ken der Defizitländer Kredite zu vergeben, wird ohne zusätz-liche Anreize gering sein. Durch geschickten Einsatz der be-stehenden Rettungsschirme könnte die Entwicklung jedochbefördert werden.

Zudem wäre es sinnvoll, den beschriebenen Prozess durchöffentliche Kommunikation des zugrunde liegenden Wir-kungsmechanismus zu unterstützen. Je mehr der Finanz-sektor von der Wirksamkeit der neuen Geldpolitik überzeugtwerden kann, desto eher wird er zum Erfolg führen und um-so weniger wird der Einsatz der Rettungsschirme nötig sein.Zudem wäre es sinnvoll, auch das breite Publikum über al-le Medienarten hinweg wie auch über öffentliche Diskus-sionen zu informieren, um es davon zu überzeugen, dassdie neuen Maßnahmen geeignet sind, die Krise zu über-winden. Je mehr sich Zuversicht breit macht, dass die ge-troffenen Maßnahmen wirklich zu einer Verbesserung der Si-tuation beitragen können, desto eher wird sich eine Besse-rung über sich selbst erfüllende Erwartungen einstellen undsich die Risikoaufschläge vermindern.

Anstatt Angst und Zukunftssorgen zu verbreiten, wäre es sinn-voll, Zuversicht und Vertrauen in die Einhaltung der privat-wirtschaftlichen und zwischenstaatlichen Verträge zu beför-dern. Es wäre sinnvoll, Bürgern der Überschussländer nahe-zulegen, mit mediterraner Gelassenheit die Überwindung derKrise anzugehen. Denn indem sie Ausgabenüberschüsse pro-duzieren, steigt die Chance, dass die gewährten Kredite zu-rückgezahlt werden können. Umgekehrt wäre es wünschens-wert, die Menschen in den Defizitländern davon zu überzeu-gen, dass kein Weg daran vorbeiführt, härter zu arbeiten alsbisher, und den Bürgern der Überschussländer zu zeigen,dass sie ebenso gut und erfolgreich arbeiten können wie sie.

Probleme mit dem Ausgleich von Zahlungsbilanzsalden gabes schon in den 1950er Jahren, einer Zeit, die, nicht nur inDeutschland, durch Devisenbewirtschaftung gekennzeichnetwar. Damals wurden die Salden in der Europäischen Zahlungs-union (EZU) verbucht. Überschritt ein Land den festgelegtenKreditrahmen, so wurden darüberhinausgehende Kredite mitAuflagen verbunden. So wurde die Zahlungsbilanzkrise derBundesrepublik Deutschland im Jahre 1950 durch einen Son-derkredit beigelegt; gleichzeitig wurde jedoch die Bundesre-publik zur Umsetzung restriktiver Maßnahmen verpflichtet (vgl.Knortz 2008, S. 63 ff.). Was die heutige Bundesregierung vonden Nachbarländern fordert, wurde vor nicht allzu langer Zeitauch der Bundesrepublik abverlangt. Bemerkenswert ist auch,wie sich die Situationen damals und heute ähneln. Auch zujener Zeit waren Deutschland und die Niederlande die größ-ten Gläubigerländer, und ein wesentlicher Konstruktionsfehlerder EZU war, wie heute auch, dass sie kein Clearinghaus war(vgl. Stützel 1973, S. 26 ff.). In gewisser Weise wiederholt sichdie Geschichte, doch dabei muss es nicht bleiben.

Abschließende Bemerkungen

Zusammenhänge mit eindeutiger Wirkungsrichtung erklä-ren zu wollen, ist gerade im Bereich der Ökonomie rechtfragwürdig. Jedes Geschäft beruht auf der Übereinkunftzweier Parteien. Welche der beiden die treibende Kraft, al-so Ursache, war und welche eher Resultante, kann mitun-ter selbst durch die betroffenen Geschäftspartner im Nach-hinein schwer bestimmt werden. Jedes Geschäft bestehtebenso aus Leistung und Gegenleistung: eine Seite be-dingt die andere. Zu sagen, dass es zum Geschäftsabschlusskam, weil das Produkt konkurrenzlos gut und preisgünstigist, entbehrt ebenso einer gewissen Berechtigung wie dieBegründung, dass die vorhandene günstige Kreditfinanzie-rung zum Kauf bewegte. Nur wenn beide Seiten sich ge-genseitig bedingen, kommt es zum Geschäftsabschluss.

In der bisherigen Diskussion liegt der Schwerpunkt auf derLeistung, hier liegt er auf der Gegenleistung, der Finanzie-rungsseite. Die Korrektheit der Argumentation über die Leis-tungsbilanz wird nicht bezweifelt, sie erfolgt jedoch indirektüber Aktivitäten im Realteil der Wirtschaft. Im Vergleich zurGeldpolitik ist zu erwarten, dass die Anpassungen mit gro-ßer Verzögerung eintreten.

Hier führt die empfohlene Medizin direkt zu einem Leistungs-bilanzdefizit. Denn versetzt man sich in die Lage einer Person,die darüber zu entscheiden hat, ob sie Geldvermögen auf-oder abbaut, so wird diese Entscheidung von der Zinshöheabhängen. Sinken die Zinsen, so führt dies zu einer Steigerungder Ausgabenüberschüsse. Handelt die überwiegende Mehr-heit der Entscheidungsträger wie beschrieben, so entsteht hier -aus definitionsgemäß bereits ein Leistungsbilanzdefizit.

Die Entwicklung im Euroraum ist von den Rahmenbedingun-gen abhängig, die maßgeblich von der EZB bestimmt wer-den. In ihrem Bemühen, auch innerhalb des Eurosystemsdie Vorreiterrolle für Geldwertstabilität einzunehmen, verfolgtdie Deutsche Bundesbank, wie früher, einen eher restrikti-ven Kurs. Liest man ältere Abhandlungen über ihre Geld-politik in den frühen Anfangsjahren, so erscheint einem diesüberaus aktuell.

»Indem z.B. die Bundesbank es den inländischen Unter-nehmen und öffentlichen Haushalten mit Hilfe des Liquidi-tätseffektes ihrer Politik systematisch erschwert, sich hö-her zu verschulden, macht sie es unmöglich, dass dieseNettoverschuldung auf das Niveau der Geldersparnisseansteigt, die Leistungsbilanz also zum Ausgleich kommt.

Je stärker die Liquiditätsverknappung, desto sicherer undweiter bleibt die Nettoverschuldung von Unternehmenund Haushalten hinter der gleichzeitigen inländischenGeldersparnis zurück, desto hartnäckiger und größer derLeistungsbilanzüberschuss.« (Stützel 1973, S. 75)

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Kommentar

Genau dieses Ergebnis erzielt die Deutsche Bundesbank imVerbund mit den deutschen Geschäftsbanken bis zum heu-tigen Tag.

Umgekehrt scheint das Bankensystem in den Peripherie-ländern ebenfalls seine früheren Verhaltensschemata beibe-halten zu haben und unter denselben Bedingungen dazu zuneigen, mehr Kredite zu schaffen als etwa das deutsche oderniederländische Bankensystem, wodurch in den Peripherie-ländern negative Leistungsbilanzsalden produziert wurden.So passt eins zum anderen und wächst sich zur Krise aus.Mit anderen Worten wird auch in den tradierten Verhaltens-schemata der nationalen Noten- und Geschäftsbanken ei-ne Ursache gesehen, die zu der von Sinn (2012) beklagtenKreditausweitung in den Peripherieländern beigetragen hat.

Zur Überwindung erscheint es deshalb angezeigt, dass dienationalen Notenbanken ihre Verhaltensmuster, zumindestvorübergehend, tauschen. Die Deutsche Bundesbank wirdvon ihrer restriktiven Geldpolitik abgehen und im Vergleichzu Peripherieländern niedrigere Zinsen erlauben; die No-tenbanken der Peripherieländer werden eine restriktivereGeldpolitik betreiben, um die Geldwertstabilität im gesam-ten Euroraum zu gewährleisten. Letztlich kommt es jedochnicht darauf an, dass Überschussländer wie Deutschlandnoch niedrigere Zinsen erhalten, vielmehr kommt es aufZinsdifferenzen zwischen den Gläubiger- und Schuldner-ländern an. Dies wird kein leichtes Unterfangen, aber mitgegenseitigem Vertrauen und einer adäquaten Kommuni-kation gegenüber den Bürgern könnte dies gelingen. Zieldieser Maßnahmen muss es sein, Vertrauen zu schaffenund die Verlässlichkeit in die Einhaltung der geschlosse-nen Verträge auf privatwirtschaftlicher wie zwischenstaat-licher Ebene zu stärken.

Was sind die Alternativen? Darauf zu hoffen, dass es inner-halb der nächsten Jahre mehr oder weniger automatischzu einer Verbesserung der Leistungsbilanzsalden kommt,scheint derzeit der einzige Weg zu sein. Im Wesentlichengibt es jedoch zwei Alternativen:

1. Es kommt zu einer verbesserten Abstimmung der na-tionalen Wirtschaftspolitiken mit im Vergleich zu heuteerhöhten Transfers, also einer Transferunion, wodurchdas Bailout-Verbot mehr und mehr aufgeweicht wird.

2. Das Experiment Europäische Union mit gemeinsamerWährung scheitert.

Zu 1.: Das Problem des Zahlungsbilanzausgleichs betrifftnicht nur Staaten innerhalb der Gemeinschaft der Euro-länder, sondern auch Regionen innerhalb eines Staates.Auch hier treten Leistungsbilanzsalden auf. Sie dauern an,so lange es Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit derregionalen Wirtschaften und Ausgabenüberschüsse ineinem und Einnahmeüberschüsse in anderen gibt.

In Deutschland erfolgt die Finanzierung solcher Salden überden Länderfinanzausgleich. Die Buchung erscheint in derBilanz der laufenden Übertragungen. Damit vermindert sichder Druck in Regionen mit Wettbewerbsnachteil und Aus-gabenüberschüssen, sich den veränderten Bedingungenanzupassen. In Deutschland finden auch durch Pendeln so-wie Migration aus solchen Gebieten Anpassungen statt.Pendler aus Gebieten mit negativer Leistungsbilanz in sol-che mit positiver erhöhen in der Zahlungsbilanz den Saldoder Erwerbs- und Vermögenseinkommen der Defizitgebie-te, und dies trägt dazu bei, dass sich der Saldo der Leis-tungsbilanz der Defizitgebiete verbessert. Migranten ändernihren Wohnort. Üblicherweise kommt es zu Transferzahlun-gen in ihre Heimatregionen, wodurch sich der Saldo der lau-fenden Übertragungen in Überschussländern verschlech-tert. Entfiele der Länderfinanzausgleich oder würde er im Ni-veau deutlich abgesenkt, so müsste es in defizitären Re-gionen zu größeren Anpassungen kommen als jenen, diebereits vonstatten gehen. Gleichzeitig erhöht sich die Ten-denz zu Agglomeration infolge der Wanderungsbewegun-gen, also durch Pendler und Migranten.

Die Strukturen, die innerhalb Deutschlands seit Jahrzehn-ten zu beobachten sind, finden ihre Entsprechung auf eu-ropäischer Ebene. In der EU finden Transfers in struktur-schwache Gebiete beispielsweise über den Strukturfondsstatt. Da Pendeln über größere Entfernungen mit höherenTransaktionskosten verbunden sind als über kleine, sinkt die-ser Einfluss. Hierdurch erhöht sich der Anreiz zur Migrationin Überschussländer. Die Lösung der italienischen Zahlungs-bilanzkrise der 1950er Jahre erfolgte beispielsweise überdiesen Mechanismus. Entgegen der landläufigen Meinung,dass die Bundesrepublik Gastarbeiter ins Land geholt hät-te, deuten wirtschaftshistorische Untersuchungen daraufhin, dass Italien durch die Entsendung von Gastarbeiternseine Zahlungsbilanzprobleme lösen wollte (vgl. Knortz 2008,S. 67 ff.).

So verständlich der Ruf nach gleichen Lebensverhältnissenin allen Gebieten eines Staates wie auch in allen Ländernder Eurozone, ja in allen Ländern der Welt ist, so zeigen dieErfahrungen innerhalb Deutschlands, dass dauerhafte Trans-ferzahlungen eher kontraproduktiv wirken. Denn hierdurchsinkt der Anreiz in Schuldnerländern, die inneren Struktu-ren anzupassen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Die-selbe Wirkung entfaltet der Ruf nach gleichem Lohn fürgleiche Arbeit. Die Umsetzung solcher Ziele führt lediglichdazu, dass bestehende Ungleichheiten zu Dauereinrich-tungen werden. Über eine regionale Zinspolitik ist es je-doch möglich, über die Finanzierungsseite solchen Ten-denzen entgegenzuwirken.

Jenen Menschen, die sich eine multikulturelle Gesellschaftwünschen, und sich gleichzeitig stark machen für Transfer-zahlungen, sei gesagt, dass es sich hierbei um widerstrei-

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tende Ziele handelt. Denn Transferzahlungen mindern Wan-derungsbewegungen. Zudem sei angemerkt, dass Perso-nen, die Multikulti und Transferzahlungen vermeiden möch-ten, auch Ziele verfolgen, die in Konkurrenz zueinander ste-hen. Transferzahlungen führen zu einer Aufrechterhaltungdes Status quo, perpetuieren ungleiche Lebensverhältnis-se, münden in einer Leistungsungerechtigkeit und führenhierüber zu Wachstumseinbußen. Diese Einsicht könnte da-zu führen, dass es im politischen Raum leichter wird, einenKompromiss zu finden.

Zu 2.: Zerbricht der Euroraum, so werden sich alle Beteili-gen tendenzmäßig als Verlierer empfinden: die Menschenin Gläubigerländern, weil sie für gute Ware mit wertlosemPapiergeld entlohnt worden sind; die Menschen in Schuld-nerländern, weil ihnen der Wohlstand genommen wurde. Esist zu befürchten, dass gerade das Gegenteil dessen ein-tritt, das man sich durch die Europäische Union und diegemeinsame Währung erhofft hat. Dies sollte auch bei Dis-kussionen über Austrittsoptionen aus dem Euroraum be-rücksichtigt werden.

Heute mag man nicht glauben, dass irgendjemand ein In-teresse an Alternative 2 hat. Je mehr bei Alternative 1 vondem Bailout-Verbot abgewichen wird, desto größer wer-den die Widerstände in den Geberländern und desto mehrrückt diese Alternative in Nähe zu 2. Somit verbleibt der Über-gang zu einer regionalen Zinspolitik oder zu einer Fiskaluni-on, die mehr und mehr zu einer Transferunion mutiert odereiner Kombination aus beiden.

Wendet man das Instrument der regionalen Zinspolitik an,so muss man sich darüber klar sein, dass hierdurch in denMitgliedsländern des Eurosystems Konjunkturen erzeugtwerden. Länder, die bislang einen Leistungsbilanzüberschussverbuchten, werden im Zeitverlauf gezwungen, Nettoimpor-te zuzulassen; bei den Defizitländern ist es gerade umge-kehrt. Eine Wirtschaftspolitik, die auf ein stetiges Wirtschafts-wachstum ausgerichtet ist, die wirtschaftliche Schwankun-gen unterbinden möchte, konterkariert den notwendigenWechsel zwischen Leistungsbilanzüberschuss und -defizit.Die Konsequenz werden weitere Finanzkrisen sein, die, wieim Falle der Goldwährung im 20. Jahrhundert (vgl. von Hayek 1970), zum Zusammenbruch der gemeinsamen Wäh-rung führen können. In jedem Fall führt eine solch falsch ver-standene Stabilisierungspolitik dazu, dass Transferzahlun-gen großen Ausmaßes nötig werden, um das System amLeben zu erhalten.

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Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich der globale Handel stark liberalisiert. Schätzungen der Welthandelsorganisati-on (WTO) zufolge wurden die durch-schnittlichen Schutzzölle innerhalb derletzten 60 Jahre von mehr als 40% auf un-ter 4% reduziert. Umso fataler ist die Ent-wicklung seit der Finanzkrise 2008. Al-lein im Jahr 2011 zählt die WTO 344 neueprotektionistische Schritte – eine Zunah-me von 12,4% gegenüber dem Vorjahr(vgl. WTO 2012).

Die Situation wird oftmals mit der Krisein den 1930er Jahren verglichen. Die ver-hängnisvollen Folgen des Protektionis-mus führten damals zu einer handelspo-litischen Katastrophe und zu einer tie-fen Rezession von der sich die Weltwirt-schaft lange Zeit nicht erholte. Die Ge-schehnisse der Großen Depression zei-gen, dass Protektionismus kombiniertmit einer Rezession wie ein Schock aufdie Wirtschaftslage und den Welthandelwirkt. Denn die Eigendynamik des Pro-tektionismus ist kaum zu kontrollierenund birgt folgenschwere Konsequenzen.Vor allem die indirekten Folgen, wie Ver-geltungsmaßnahmen der Handelspart-ner als Antwort auf einseitigen Protektio-nismus, führen dazu, dass der Freihan-del immer stärker eingeschränkt wird unddie Weltwirtschaft in eine immer gravie-rendere Rezession rutscht (vgl. Irwin2011).

Im Vergleich zur Großen Depression gibtes heute allerdings weniger Gelegenheitfür den Einsatz von direktem Protektio-

nismus. Verantwortlich dafür sind die zunehmenden Regeln der WTO, dieSenkung der Zollobergrenzen und dieEntwicklung der globalen Lieferketten.Trotz dem besteht seit der Finanzkrise2008 die Gefahr, dass der Freihandeldurch restriktive Eingriffe immer stärkereingeschränkt und damit die wirtschaft-liche Erholung behindert wird. Proble-matisch ist dies insbesondere für Volks-wirtschaften, die stark vom Export ab-hängig sind.

Es drängt sich die Frage auf, weshalbRegierungen gerade in Krisenzeiten aufProtektionismus setzen. Meist ist Protek-tionismus in erster Linie politisch moti-viert. Staaten versuchen, durch das Er-richten von künstlichen Handelshemm-nissen die heimische Wirtschaft vor demglobalen Wettbewerb zu schützen undzugleich ausländische Unternehmen da-zu zu bringen, ihre Produktion ins Inlandzu verlagern und dadurch Arbeitsplätzezu schaffen. Allerdings kann Protektio-nismus nicht als Allheilmittel zum Schutzder heimischen Wirtschaft eingesetztwerden. Denn wer Handelsbarrieren auf-baut, muss damit rechnen, dass die ei-genen Exporteure ebenfalls protektionis-tischen Maßnahmen ausgesetzt werden,so dass sie entweder Exportmärkte ver-lieren, oder weniger Gewinn erwirtschaf-ten. In beiden Fällen werden Arbeitsplät-ze vernichtet. Am Ende geht es allenmeist noch schlechter als zuvor, da Er-folge des Protektionismus durch Vergel-tungsmaßnahmen der Handelspartnerwieder zunichte gemacht werden.

Jasmin Gröschl

Neuer Protektionismus – Gefahren für den Freihandel

In Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs greifen immer mehr Staaten zu weitreichenden pro-

tektionistischen Maßnahmen. Global Trade Alert spricht von einem Debakel und warnt, dass in

den letzten Jahren weit mehr Handelsbarrieren eingeführt wurden als angenommen. Die Folgen

des Protektionismus sind nicht zu unterschätzen, denn er schränkt den Freihandel nachhaltig ein,

ist schwer zu beseitigen und hemmt die wirtschaftliche Erholung. Dabei besteht die Gefahr, dass

die Weltwirtschaft in eine immer tiefere Rezession rutscht. Im Gegensatz zu früher spielen nicht-

tarifäre Maßnahmen (NTMs) immer häufiger eine entscheidende Rolle als Hemmschuh des Frei-

handels. Dieser Artikel liefert Antworten auf zwei prominente Fragen: Erstens, welche Auswir-

kungen hat Protektionismus? Und zweitens, welche Rolle spielen NTMs? Um dies zu verdeutlichen,

erläutert der Beitrag die veränderte Bedeutung und die aktuellen globalen Trends im Zusammen-

hang mit protektionistischen Maßnahmen und befasst sich insbesondere mit der Auswirkung von

Maßnahmen des Gesundheits- und Pflanzenschutzes (SPS) auf den globalen Agrarhandel.

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Forschungsergebnisse

Die Rolle nicht-tarifärer Handelshemmnisse

In den letzten 25 Jahren wurden die tradi-tionellen protektionistischen Maßnahmenschrittweise reduziert, und Schutzzölle wur-den an rechtlich vereinbarte Obergrenzen ge-bunden. Um dennoch, gerade in Krisenzei-ten, die heimische Wirtschaft zu schützen,greift eine wachsende Anzahl an Staaten zuindirekten protektionistischen Maßnahmen.Problematisch ist, dass NTMs den Nutzender multilateralen Zollbindung untergrabenoder sogar zunichte machen können.

Einige der NTMs sind zwar im AllgemeinenZoll- und Handelsabkommens (GATT) ab-gedeckt, wie etwa Artikel XI, der die allge-meine Abschaffung von Quoten betrifft. Dennoch bleibenNTMs für die WTO oftmals schwer greifbar und stellen soeine Gefahr für das multilaterale Handelssystem dar. DieUrsache liegt darin, dass nicht-traditionelle Formen desProtektionismus weitreichende wirtschaftliche Folgen ha-ben. Sie sind intransparent, unterliegen kaum Regelun-gen und ersetzten mühelos traditionelle regulierte Instru-mente. Wo Schutzzölle durch einen geringeren heimischenPreisindex noch die inländische Wohlfahrt seigerten (vgl.Ossa 2011), treten an deren Stelle nun Maßnahmen, dieim Gegensatz zu Schutzzöllen keinerlei Wohlfahrtseffekteerzeugen (vgl. Felbermayr et al. 2012). Erschwerend kommthinzu, dass die Palette an NTMs ständig wächst. In Han-delsabkommen geregelte protektionistische Maßnahmenkönnen durch nicht regulierte NTMs substituiert werden.Besonders durch Entwicklungen im Marktumfeld, wie et-wa die jüngste Finanzkrise, aktuelle Klimadebatten und diewachsende Besorgnis über die Lebensmittelsicherheit,kommt es vermehrt zu nicht-traditionellemProtektionismus.

NTMs sind zwar in der Theorie die erstbes-te Politikmaßnahme, um ein Marktversagenzu korrigieren. Da jedoch zur Erreichung le-gitimer nationaler Ziele, wie etwa die Sicher-stellung der Gesundheit, Sicherheit undWohlbefinden der Verbraucher, dieselbenNTMs eingesetzt werden, die auch den Frei-handel verzerren, ist es schwierig, den Ein-satz von NTMs aus legitimen von protektio-nistischen Beweggründen zu unterscheiden.

Aktuelle Trends

Historische Daten zeigen, dass der Anteilan Produktlinien und am Güterhandel, die

durch NTMs betroffen sind, zwischen 1996–2000 und 2001–2004 anstieg und sich bis zum Jahr 2008 kaum änderte odersogar leicht rückläufig war (vgl. Abb. 1). Im Zuge der Fi-nanzkrise ist jedoch wieder ein klarer Aufwärtstrend zu be-obachten. Global Trade Alert spricht von einer Gefahr fürden Freihandel und warnt, dass es seit der Finanzkrise zueinem Trend hin zu mehr Protektionismus kam. Allerdingsmachen traditionelle Formen des Protektionismus, wie Zoll -erhöhungen und handelspolitische Schutzinstrumente, we-niger als die Hälfte (44%) der weltweit eingesetzten pro -tektionistischen Maßnahmen aus (vgl. Abb. 2). Kurz ge-sagt, nicht-traditionelle Formen, wie NTMs, dominieren im21. Jahrhundert.

Nach Erkenntnissen der WTO verzeichnen vor allem spezi-fische Maßnahmen, wie technische Handelsbarrieren (TBT)und Maßnahmen zum Gesundheits- und Pflanzenschutz(SPS), einen allgemeinen Aufwärtstrend und haben stark

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1996–2000 2001–2004 2005–2008

Produktpaletten Güterhandel

Quelle: WTR (2012); UNCTAD TRAINS.

Anteil in %

Güterhandel und Produktpaletten, die durch NTMs betroffen sind

1996–2008

Abb. 1

handelspolitische Schutzinstrumente, 642

Zölle, 536

Rettungspakete/Staatshilfen, 404

Exportsteuern oder Migrationsmaßnahmen, 99

Exportsubventionen, 65

Importverbot, 54

Quoten, 44

Handelsfinanzierung, 32

andere Maßnahmen, 86

Protektionistische Maßnahmen nach Art der Maßnahme, 2008–2012

Anzahl und Prozent

4%

24%

6%

1%

3%

20%

1%2%

2%2%

2%2%

2%3%6%

6%

15%

Beschränkungen, 159

Investitionsmaßn., 158

Vergabe öffentll. Aufträge, 76

nicht-tarifäre Barriere, 166

synitäre u. phytosanitäre Maß-

techn. Handelsbarrieren, 43

nahmen, 31

(nicht anderweitig spezifiziert)

Dienstleistungssektor, 44

Anforderungen an regionale Inhalte, 54

Maßnahmen im

Quelle: CEPR und Global Trade Alert (2012).

Abb. 2

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Forschungsergebnisse

an Bedeutung gewonnen. Insgesamt wurdenzwischen 1995 und 2010 312 Beschwerdenin Bezug auf SPS (vgl. Abb. 3) und 286 spe-zifische Beschwerden zu TBT vor den jewei-ligen WTO-Komitees vorgebracht. Unterneh-mensbefragungen des International TradeCenter (ITC) belegen, dass TBT und SPS zuden gewichtigsten Barrieren für Exporteurezählen. Im Jahr 2010 lag der Anteil an TBTund SPS innerhalb aller NTMs, die von Ex-portunternehmen als belastend empfundenwurden, bei 47% (vgl. Abb. 4). Der Einsatzvon TBT und SPS variiert zwischen den Sek-toren, sie betreffen aber weit häufiger land-wirtschaftliche Erzeugnisse als das Verarbei-tende Gewerbe (vgl. Abb. 5).

Auswirkungen von SPS auf den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen

NTMs können sehr unterschiedliche, sogargegenteilige Auswirkungen auf den Freihan-del haben. Die Ursache liegt darin, dass ver-schiedene Maßnahmen unterschiedliche Me-chanismen in Gang setzen. Ordnungspoliti-sche Maßnahmen, die auf den Verbraucher-schutz abzielen, neigen dazu, die Fixkostenfür Exporteure zu erhöhen, während die meis-ten mengenmäßigen Beschränkungen denWettbewerb verzerren, indem sie die vari ab-len Kosten anheben.

Um die Auswirkungen von SPS-Maßnahmenauf die Wahrscheinlichkeit, dass Firmen land-wirtschaftliche Erzeugnisse in einen geschütz-ten Markt exportieren, und auf das Handels-volumen zu analysieren, verwenden wir einHeckman-Selektionsmodell. Hierbei schät-zen wir ein Probit Binary Choice Model derForm

wobei φ (•) die Standard-Normalverteilung ist,und eine Handelsgleichung der Form

wobei D eine Dummy-Variable beschreibt undX ein Vektor von Kontrollvariablen einer Stan-

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1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009

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250

neuen SPS-spezifischen Anliegengelösten Anliegen

Quelle: WTR (2012); WTO STC Database.

Anzahl der

SPS-spezifische Anliegen

Anzahl der

kumulativ aktiven Anliegen

Abb. 3

techn. Anforderungen

KonformitätsbeurteilungenKontrolle vor Versand

Para-tarifäre Maßnahmen

Maßnahmen d. Mengenkontrolle

Regelungen über Ursprung/Herkunft

andere importver- bundene Maßnahmen

Belastung durch NTMs nach Art der Maßnahme, 2010

Durchschnitt gewichtet nach Handelsvolumen

23%

24%

27%

4%

9%

4%

5%

4%

exportverbundene Maßnahmen

Abb. 4

Anmerkung: Technische Anforderungen entsprechen in der Nomenklatura des ITC technischen Handelsbar-rieren (TBT) und Konformitätsbeurteilungen entsprechen SPS-Maßnahmen.

Quelle: WTR (2012); ITC-Unternehmensbefragung zu NTMs.

53.4

60.1

50.851.2

62.5

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0

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50

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70

gesamt Landwirtschaft VerarbeitendesGewerbe

einfacher Durchschnitt Durchschnitt gewichtet nach Handelsvolumen

Quelle: WTR (2012); ITC-Unternehmensbefragung zu NTMs.

%

Häufigkeit des Auftretens von NTMs nach Sektoren

2010

Abb. 5

,

,

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Forschungsergebnisse

dard-Gravitätsgleichung, MR ein Vektor von multilateralenResistenztermen und λ(α) die Inverse Mills Ratio ist. Detailshierzu finden sich in Crivelli und Gröschl (2012). Zur Schät-zung des Modells nutzen wir die Datenbank der WTO fürspezifische handelsbezogene SPS-Anliegen, die in AnnexC des SPS-Abkommens der WTO beschrieben werden. Wirunterscheiden in Maßnahmen in Bezug auf die Konformi-tätsbewertung, wie etwa Anforderungen an Zertifikate, Prü-fungen, Inspektion und Genehmigungsverfahren, und inMaßnahmen in Bezug auf die Produkteigenschaften, wie et-wa Anforderungen an die Behandlung von Krankheiten oderPestizidrückstände.

Die Analyse zeigt, dass sich SPS-Maßnahmen, die vom Ein-fuhrland verhängt werden, in der Regel negativ auf die Wahr-scheinlichkeit auswirken, dass Unternehmen in den betrof-fenen Markt exportieren (vgl. Tab. 1, Spalte 1). Allerdings fin-den wir auch, dass das Handelsvolumen derer zunimmt, diedie Markteintrittsfixkosten überwinden (Spalte 2). Die Ergeb-nisse deuten darauf hin, dass vor allem Maßnahmen derKonformitätsbewertung den Markteintritt verhindern (Spal-te 3), während sich Maßnahmen, die auf die Produkteigen-schaften abzielen, positiv auf das Handelsvolumen auswir-ken (Spalte 4). Letzteres hängt damit zusammen, dass SPS-Maßnahmen, die vor allem dem Gesundheits- und Pflanzen-schutz dienen, das Vertrauen der Konsumenten in impor-tierte Produkte stärken und somit das Handelsvolumen derExporteure steigern, die die Fixkosten des Markteintrittsüberwinden können. In der Summe lässt sich sagen, dassvor allem die Kosten der Konformitätsbewertung zu Friktio-

nen im Handel mit Lebensmitteln und landwirtschaftlichenErzeugnissen führen.

Fazit

Angesichts der Tendenz zu mehr Freihandel in den Jahrenvor 2008, ist es gravierend, dass Staaten in und nach derFinanzkrise Maßnahmen getroffen haben, die erneut zu ei-ner Fragmentierung der Märkte entlang nationaler Grenzenführen. Es ist bekannt, dass Regierungen in Zeiten des wirt-schaftlichen Abschwungs zu protektionistischen Mitteln grei-fen. Doch in den letzten Jahren kam es mehr und mehrzum Einsatz nicht-traditioneller Formen des Protektionis-mus. Dadurch kristallisieren sich Herausforderungen vor al-lem auf vier Dimensionen heraus. Erstens, NTMs sind imVergleich zu Zollsätzen von Natur aus weniger transparentund verursachen dadurch stärkere Informationsprobleme.Zweitens, NTMs erzeugen im Gegensatz zu Schutzzöllenkeinerlei Wohlfahrtseffekte. Drittens, die Möglichkeit der Sub-stitution von regulierten traditionellen Instrumenten hin zukaum regulierten NTMs gefährdet in und nach Wirtschafts-krisen den globalen Freihandel und die wirtschaftliche Er-holung. Letztlich ist zu beachten, dass nicht alle NTMs ne-gative Auswirkungen auf den Handel mit Waren und Dienst-leistungen haben, dass aber oftmals die Friktionen, die durchNTMs verursacht werden, überwiegen. Zusammengenom-men stellt diese neue Form des Protektionismus also eineernstzunehmende Bedrohung für den globalen Freihandelund die Weltwirtschaft dar.

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Tab. 1 SPS und Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (1996–2010)

Abhängige Variable Pr(Importeijst) ln(Importeijst) Pr(Importeijst) ln(Importeijst)

(1) (2) (3) (4)

SPSijs(t–1) – 0,144*** 0,661*** (0,05) (0,14)

SPS Konformitätsbewertungijs(t–1) – 0,270*** – 0,406*

(0,07) (0,23)

SPS Produkteigenschaftenijs(t–1) 0,012 0,962*** (0,06) (0,19)

Kontrollvariablen Ja Ja Ja Ja

Fixe Effekte Ja Ja Ja Ja

Geschätzte Korrelation 0,460*** 0,460***

(rho) (0,01) (0,01)

Geschätzte Selektion 1,370*** 1,371***

(lambda) (0,04) (0,04)

Beobachtungen 5,452,530 5,452,530

Anmerkungen: Die Variable SPS bezeichnet einen Dummy für das Vorliegen einer Maßnahme innerhalb eines Sektors s, gegen die ein Anliegen vorgebracht wurde. Die Kontrollvariablen beinhalten den Logarithmus des Produkts des BIP, des Produkts der Bevölkerung, der Distanz, einen Dummy für die Nachbarschaft, die gemeinsame Sprache und das koloniale Erbe. Die Selekti-onsvariable in der ersten Stufe der Schätzung ist ein Index für Religion. Die Schätzung beinhaltet fixe Effekte für den Importeur, Exporteur, HS4 Produkt und Jahr, und multilaterale Resistenzterme. Standardfehler in Klammern. – ***, **, * geben das Signifi-kanzniveau für 1, 5 und 10% an.

Quelle: Crivelli und Gröschl (2012); Berechnungen des ifo Instituts.

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Forschungsergebnisse

Literatur

CEPR und Global Trade Alert (2012), Débâcle: The 11th GTA report on protectionism, Centre for Economic Policy Research, London, online ver-fügbar unter: http://www.globaltradealert.org/.

Crivelli, P. und J. Gröschl (2012), »SPS Measures and Trade: Implementa-tion Matters«, WTO Staff Working Paper ERSD-2012-05.

Felbermayr, G., M. Larch und B. Jung (2012), »Optimal Tariffs, Retaliation andthe Welfare Loss from Tariff Wars in the Melitz Model«, Jounal of Internatio-nal Economics, im Erscheinen.

Irwin, D.A. (2011), Trade Policy Disaster: Lessons from the 1930s, MIT Press,Cambridge.

Ossa, R. (2011), »A ›New Trade‹ Theory of GATT/WTO Negotiations«,Journal of Political Economy 119(1), 122–152.

WTO (2012), World Trade Report 2012, Trade and Public Policies: A CloserLook at Non-tariff Measures in the 21st Century, World Trade Organization,Genf.

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Im vergangenen Jahr wurden in den19 Euroconstruct-Partnerländern Woh-nungsbauleistungen im Umfang von ins-gesamt 600 Mrd. Euro (in Preisen von2011) erbracht. Der daraus resultierendeAnstieg des Wohnungsbauvolumens um1½% war der erste seit drei Jahren. Zwi-schen 2008 und 2010 hatten sich dieBauaktivitäten in der Summe noch ummehr als ein Fünftel verringert. Von einerTrendwende kann angesichts dieser leich-ten Belebung allerdings nicht gesprochenwerden. So wird der europäische Woh-

nungsbau – den Einschätzungen der Bau-experten zufolge – 2012 wieder schrump-fen, und zwar voraussichtlich um rund½%. Ein weiterer Zuwachs der Woh-nungsbauausgaben wird erst für die Jah-re 2013 und 2014 prognostiziert (+ 1%bzw. + 2½%).

Prognosen für 2012 und 2013 wur-den deutlich nach unten korrigiert

Ursprünglich war man davon ausgegan-gen, dass die Wohnungsbauaktivitäten2012 weiter zunehmen würden. Der Prog-nosewert vom November 2011 lag bei fast1½% (vgl. Abb. 1). Mittlerweile (Stand: Ju-ni 2012) erwartet die Euroconstruct-Grup-pe sogar einen leichten Rückgang. Nachunten korrigiert wurden die ursprünglichenVorhersagen vor allem für die Länder Ir-land, Spanien, Ungarn, Schweden, dieNiederlande und Belgien.

Neben dem Neubau dürfte auch der Um-fang der Bestandsmaßnahmen (Instand-haltung, Modernisierung, Umbau) 2012rückläufig sein. Der Neubau wurde um fast3 Prozentpunkte herunterkorrigiert. Imnächsten Jahr dürften die Neubaumaß-nahmen lediglich um 1% zulegen, nach-dem vor einem halben Jahr ein Plus vongut 3½% geschätzt worden war. Die

Ausgewählte Ergebnisse der Euroconstruct-Sommerkonferenz 2012

Ludwig Dorffmeister

Weiterhin verhaltene Wohnungsbautätigkeit in Europa

Nach einem Rückgang des europäischen Wohnungsbauvolumens um insgesamt rund ein Fünftel

in den Jahren 2008 bis 2010 und einem bescheidenen Anstieg um 1½% im Jahr 2011 dürften die

Wohnungsbauleistungen in diesem Jahr wieder leicht abnehmen. Die Experten der Eurocons -

truct-Gruppe1 erwarten für 2013 ebenfalls keine spürbare Erholung. So soll die Wohnungsbautä-

tigkeit in den 19 Partnerländern im nächsten Jahr um lediglich 1% ansteigen.

Dem Jahr 2014 sehen die Bauexperten hingegen weitaus zuversichtlicher entgegen. Für das Eu-

roconstruct-Gebiet prognostizieren sie ein Plus von knapp 2½%. Die vielfältigen negativen Aus-

wirkungen der Eurokrise auf den Wohnungsbausektor werden bis dahin voraussichtlich spürbar

an Intensität eingebüßt haben. Auch in Irland dürfte die Wohnungsbaunachfrage 2014 erstmals

seit langer Zeit wieder zunehmen. Die bis dahin erfolgte dramatische Marktkorrektur sollte eine

gesunde Grundlage für eine – wenn auch moderate – Aufwärtsbewegung bilden. Dagegen ist in

Spanien und Portugal allenfalls mit einer Marktstabilisierung zu rechnen.

Die Zahl der Wohnungsfertigstellungen in neu errichteten Wohngebäuden dürfte bis 2013 europa-

weit auf rund 1,40 Mill. Einheiten zurückgehen. Für 2014 wird ein Anstieg um lediglich 30 000 Neu-

bauwohnungen erwartet. Damit wäre zumindest wieder das Niveau des Jahres 2012 erreicht. Zum

Vergleich: Während des Höhepunkts der europäischen Wohnungsbaubooms im Jahr 2007 wurden

mehr als 2,5 Mill. Fertigstellungen registriert.

1 Das europäische Forschungs- und Beratungsnetz-werk »Euroconstruct« wurde 1975 gegründet. Indiesem Verbund kooperieren Institute mit spezifi-schem Know-how im Bau- und Immobiliensektoraus 15 westeuropäischen sowie vier osteuropäi-schen Ländern. Den Kern der Euroconstruct-Ak-tivitäten bilden Konferenzen, auf denen die neu-esten Prognosen zum Baugeschehen in den Mit-gliedsländern vorgestellt werden. Diese Veranstal-tungen finden zweimal im Jahr an wechselnden Or-ten in Europa statt. Außerdem werden Spezialstu-dien zu den längerfristigen Perspektiven und zu denStrukturveränderungen im europäischen Bausek-tor erstellt.Das ifo Institut ist Gründungsmitglied und deutschesPartnerinstitut des Netzwerks. Die in diesem Bei-trag präsentierten Analysen und Prognosen basie-ren auf den 19 Länderberichten zur 73. Eurocon-struct-Konferenz, die am 15. Juni 2012 in Londondurchgeführt wurde. Die 74. Euroconstruct-Kon-ferenz ist für den 12. Dezember 2012 in Münchengeplant. Interessenten können sich wegen des Pro-gramms und der Anmeldeformalitäten im Internetinformieren (www.ifo.de/euroconstruct2012 oderwww.eurocons truct.org) oder sich schon jetzt di-rekt an das ifo Institut wenden.

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Daten und Prognosen

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Prognosekorrekturen für die Bauaktivitätenim Gebäudebestand sind weniger drastisch,die Skepsis hat jedoch auch hier zugenom-men. Insgesamt ruhen die Hoffnungen aufdem Jahr 2014. Die Wohnungsbautätigkeitdürfte demnach vorerst schwach bleiben.

Anteil des Neubauvolumens verharrtbei 40%

Das jähe Ende des Wohnungsbaubooms hatin vielen europäischen Ländern tiefe Spurenhinterlassen. 2008 wurden im Euroconstruct-Gebiet noch 320 Mrd. Euro (in Preisen von2011) in neue Wohngebäude investiert (vgl.Abb. 2). In den Spitzenjahren 2006 und 2007waren es sogar rund 390 Mrd. Euro (in Prei-sen von 2011). 2008 betrug der Neubauan-teil am gesamten Wohnungsbauvolumen im-merhin noch 47%. Derzeit fließen nur rundzwei Fünftel der Investitionsvolumina oder240 Mrd. Euro (in Preisen von 2011) in die-ses Teilsegment. Auch 2014 dürfte der Neu-bau die Marke von 250 Mrd. Euro (in Preisenvon 2011) noch knapp verfehlen. Der Um-fang der Bestandsmaßnahmen wird dage-gen bis 2014 auf fast 370 Mrd. Euro (in Prei-sen von 2011) zulegen. Größere jährliche Zu-wächse sind dabei allerdings auch nicht zuerwarten.

Trübe Aussichten für Portugal undSpanien

Eine Analyse der einzelnen Länder zeigt,dass in Tschechien, Portugal, der Slowa-kei, Ungarn, aber vor allem in Spanien undIrland die Wohnungsbautätigkeit in den ver-gangenen Jahren dramatisch zurückgegan-gen ist (vgl. Abb. 3). Eine rasche Erholungist eher unwahrscheinlich und eine Rückkehrauf das ehemalige Niveau mittelfristig aus-geschlossen. In der Slowakei und Ungarnwird für 2013 eine leichte Belebung für wahr-scheinlich gehalten. In Tschechien und Irlandsollte es erst 2014 wieder aufwärts gehen.In Portugal und Spanien dürfte sich die Si-tuation bis zum Ende des Prognosehorizon-tes lediglich stabilisieren.

Die genannten Länder kämpfen derzeit mitden Nachwirkungen der Wirtschaftskriseund der sich anschließenden Euro-Schul-

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2012 2013 2014

Veränderung gegenüber Vorquartal in %

preisbereinigte Veränderungen

Prognose vom

Neubau Bestandsmaßnahmen Wohunungsbau insgesamt

November 2011

Juni 2012

Prognosen für das europäische Wohnungsbauvolumen nach Teilsegmenten

Quelle: Euroconstruct.

Abb. 1

47% 41% 40% 40% 40% 40% 40% 53% 59% 60% 60% 60% 60% 60%

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2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Quelle: Euroconstruct.

Mrd. Euro

Wohnungsbauvolumen nach Teilsegmentenin Preisen von 2011

NeubauBestandsmaßnahmen

Prozentangaben: Anteil am gesamten Wohungsbauvolumen

Abb. 2

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2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Quelle: Euroconstruct.

Index 2011 = 100

Entwicklung des Wohnungsbauvolumens in ausgewählten Ländern (1) in Preisen von 2011

Irland

Tschechien

Spanien

UngarnPortugal

Slowakei

Abb. 3

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Daten und Prognosen

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denkrise bzw. mit den negativen Folgen deszurückliegenden Wohnungsbaubooms. Fürden Bau oder den Erwerb einer Wohnungfehlt den Privathaushalten häufig das nötigeKapital; zudem scheuen sich viele, aufgrundder düsteren Zukunftsaussichten langfristi-ge, finanzielle Verpflichtungen einzugehen.Die Kreditwirtschaft hat ihre Aktivitäten zu-meist stark zurückgefahren und agiert sehrvorsichtig. Hinzu kommt, dass die öffentlicheHand nicht nur kein Geld für zusätzliche In-vestitionsanreize zur Verfügung hat, sondernim Rahmen der eigenen Haushaltskonsoli-dierung sogar vorhandene Vergünstigungenzurückführen muss. Auch belasten vielerortshohe Leerstände und noch immer sinkendeWohnimmobilienpreise.

Die Länder Nord- und Mitteleuropas profitierenvon der Misere des Südens

Ganz anders sieht die Lage dagegen in Ländern wie Nor-wegen, Deutschland, der Schweiz, Polen und Finnland aus.Als wirtschaftlich stabile und zugleich finanziell solide Staa-ten zählen diese fünf Länder zu den Krisengewinnern. Einer-seits investiert die einheimische Bevölkerung ihre Ersparnis-se zunehmend im Inland. Andererseits ziehen immer mehrPrivatanleger und professionelle Investoren ihr Kapital ausSüdeuropa ab und bringen es u.a. in den genannten Län-dern »in Sicherheit«. Doch auch hier sind die Anlagemög-lichkeiten begrenzt, und aus Furcht vor steigender Inflationsowie den Folgen eines möglichen Zusammenbruchs derEurozone »flüchten« sie in Sachwerte. Nicht selten läuft esauf den Erwerb bzw. den Bau einer Wohnimmobilie hinaus.Dabei kommen die derzeit günstigen Finanzierungskondi-tionen in diesen Ländern den Anlegern höchst gelegen.

Aber nicht nur Kapital strömt nach Nord- und Mitteleuro-pa. Immer häufiger sind es Menschen, die auf der Suchenach Arbeit und besseren Lebensbedingungen ihrem Hei-matland den Rücken kehren. Daraus resultiert eine zusätz-liche Wohnraumnachfrage. In Deutschland beispiels-weise wurde im vergangenen Jahr ein Zuzug von rund960 000 Personen registriert, was ein Plus von 160 000 Zu-zügen gegenüber 2010 bedeutet. Dieser Anstieg dürfteauch mit der 2011 in Kraft getretenen vollen Freizügigkeitfür osteuropäische Arbeitnehmer zu tun haben. Insgesamtist jedoch bereits seit 2009 ein verstärkter Zuzug nachDeutschland zu beobachten. In den Jahren 2006 bis 2008ließen sich hierzulande nur jeweils 660 000 bis 680 000 Per-sonen nieder. Diese zusätzliche Wohnraumnachfrage trifftin Deutschland auf eine aktuell noch immer sehr niedrigeNeubautätigkeit. So wurden 2011 in neuen Wohngebäu-den nur gut 160 000 Wohnungen fertig gestellt. Zum Ver-

gleich: 2001 – also nur zehn Jahre zuvor – waren es nochrund 285 000 Wohneinheiten.

In den drei Jahren bis 2014 dürfte sich das norwegischeWohnungsbauvolumen am besten entwickeln (vgl. Abb. 4).Der durchschnittliche Zuwachs pro Jahr dürfte knapp 5½%betragen. Auf dem zweiten Platz dieser Rangfolge der 19 Eu-roconstruct-Länder folgt bereits Deutschland mit einem jähr-lichen Wachstum von im Schnitt gut 3%. Für den schwei-zerischen Wohnungsbausektor wird mit einer durchschnitt-lichen Zuwachsrate von rund 2% p.a. gerechnet. Die Woh-nungsbautätigkeit in Polen und Finnland dürfte sich im Prog-nosezeitraum bis 2014 zwar deutlich schwächer entwickeln.Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern werden dieBauleistungen über den Sechsjahreszeitraum 2009 bis 2014aber voraussichtlich zulegen können. Dies bedeutet, dassWirtschafts- und Schuldenkrise keine nachhaltigen Auswir-kungen auf die polnische und finnische Wohnungsbaunach-frage haben dürften.

Negative Einflussfaktoren in der Überzahl

Ein Blick auf die Einflussfaktoren des europäischen Woh-nungsbaus zeigt, dass bis 2014 vor allem von der demo-graphischen Entwicklung positive Impulse ausgehen wer-den (vgl. Abb. 5). Mittelfristig dürften sich in zehn der 19 Eu-roconstruct-Partnerländer Entwicklungen wie eine steigen-de Zuwanderung, die weitere Abnahme der durchschnittli-chen Haushaltsgröße bzw. eine verstärkte Binnenwande-rung günstig (grüne Hintergrundfarbe) auf die Wohnungs-baunachfrage auswirken. Für sechs dieser Länder werdendie Effekte sogar als stark positiv bewertet.

Negative Folgen für den Bausektor haben vor allem die un-günstigen Erwartungen bezüglich der Haushaltseinkommen

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2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Quelle: Euroconstruct.

Index 2011 = 100

Entwicklung des Wohnungsbauvolumens in ausgewählten Ländern (2) in Preisen von 2011

Schweiz

Deutschland

Polen

Norwegen

Finnland

Abb. 4

Page 45: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

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sowie der Arbeitsplatzsicherheit. In jeweils zwölf Ländern dürf-ten diese beiden Faktoren in den kommenden Jahren einedämpfende Wirkung auf die Wohnbautätigkeit haben (roteHintergrundfarbe). Überdies belastet die Entwicklung derWohnimmobilienpreise auf unterschiedliche Weise die Bau-nachfrage. Während die Preise in Ländern wie Spanien oderPortugal vorerst weiter deutlich fallen dürften, gelten sie in Po-len derzeit vielerorts als merklich überhöht. In der Schweiz rü-cken Hinweise auf mögliche Preisübertreibungen immer wei-ter ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Insgesamt wird in zehnLändern von ungünstigen Auswirkungen des Faktors »Wohn-immobilienpreise« auf die Wohnbautätigkeit ausgegangen.Bis 2014 belasten zudem die wirtschaftlichen Aussichten so-wie die allgemeinen Finanzierungsbedingungen (jeweils inneun Ländern). Alles in allem befinden sich in den meistenLändern die negativen Einflussgrößen in der Überzahl.

Auch in Italien wird ein erheblicher Rückgang derFertigstellungszahlen erwartet

In Norwegen und Deutschland dürften die Fertigstellungzah-len von Neubauwohnungen im Zeitraum 2011 bis 2014 pro-zentual am stärksten zulegen. Den Prognosen zufolge wirdder Zuwachs jeweils mehr als 60% betragen (vgl. Tab. 1).Auch in Schweden, Polen, der Schweiz, Österreich und Finn-land wird der Umfang der in neuen Wohngebäuden erstell-ten Wohnungen voraussichtlich zweistellig (zwischen 27 und10%) zunehmen. Absolut gesehen dürfte in Deutschland(85 000 Einheiten), Frankreich (29 000 Einheiten) und Polen

(19 000 Einheiten) die Zahl der jährlich errichteten Neubau-wohnungen bis 2014 am stärksten wachsen.

Dramatische Rückgänge der Wohnungsfertigstellungszahlensind dagegen für Spanien (– 75%), Portugal (– 61%), Irland (– 35%) und Italien (– 35%) zu erwarten. Auch in Italien hatsich bei den Privathaushalten mittlerweile große Verunsiche-rung über die wirtschaftliche Zukunft des Landes breit ge-macht. Zudem dürfte sich die durch das Bevölkerungswachs-tum hervorgerufene zusätzliche Wohnraumnachfrage weiterabschwächen. 2014 dürfte die Zahl der neu errichteten Woh-nungen nur noch bei rund 130 000 Einheiten liegen. Dieswären etwa 70 000 Wohnungen weniger als im Jahr 2010.

Schweiz, Frankreich und Finnland mit den höchsten Neubauquoten

In diesem Jahr dürften im Durchschnitt der 19 Eurocons -truct-Länder pro 1 000 Einwohner 3,1 Neubauwohnungenentstehen. In Deutschland werden es nur 2,3 Einheiten sein(vgl. Abb. 6). Aufgrund der hierzulande stark wachsendenNeubautätigkeit wird diese Quote im Jahr 2014 voraussicht-lich 2,8 Wohnungen betragen.

An der Spitze der Länderrangfolge stehen die Schweiz,Frankreich und Finnland mit Fertigstellungsquoten von rundsechs Neubaueinheiten pro 1 000 Einwohnern. Für Frank-reich erklärt sich dieser überdurchschnittlich hohe Wert ausstaatlichen Maßnahmen (sozialer Wohnungsbau, Unter-

Norwegen 5.4 + ++ + ++ 0 + 0Deutschland 3.1 + ++ ++ + ++ 0 +Schweiz 2.1 0 0 0 ++ + 0 —

Ungarn 1.8 — — — — — + +Großbritannien 1.7 0 — — + — + 0Polen 1.5 + 0 — — 0 0 ——

Dänemark 1.3 + + 0 + 0 + —

Frankreich 1.2 0 — — ++ — 0 —

Österreich 0.8 + — + ++ — 0 +Slowakei 0.7 0 — —— 0 0 — —

Schweden 0.7 + + + ++ 0 0 0Italien 0.2 — —— —— — — 0 —

Finnland 0.0 — — — + ++ — 0Niederlande -0.6 — — — 0 — — —

Belgien -1.4 — 0 —— ++ + 0 +Tschechien -2.0 — — 0 0 0 — +

Spanien -5.5 —— —— —— — —— 0 ——

Portugal -5.7 —— —— —— — — — —

Irland -8.3 —— — — 0 —— 0 ——

Wohn-immobilien-

preise

Einschätzung der einzelnen Einflussfaktoren

Einflussfaktoren im Wohnungsbausektor bis 2014 nach Ländern

Land

Wohnungsbau2012 bis 2014:durchschnittl.prozentuale

Veränderung p.a.

wirtschaftlicheAussichten

Haushalts-einkommen

Arbeits-markt

demogra-phischeEffekte

allgemeineFinanzierungs-bedingungen

steuerlicheAnreize bzw.Subventionen

Abb. 5

Erklärung: ++ starke positive Wirkung, + positive Wirkung, 0 keine Wirkung, – negative Wirkung, – – starke negative Wirkung.Demographische Effekte: Entwicklung der Einwohnerzahl, Änderung der durchschnittlichen Haushaltsgröße, der Altersstruktur, der geographischen Bevöl-kerungsverteilung usw.

Quelle: Euroconstruct.

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Daten und Prognosen

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stützung für Selbstnutzer mit niedrigem Einkommen, Ver-günstigungen für Investoren von Mietobjekten), die wäh-rend der Wirtschaftskrise initiiert wurden. Bis Ende 2012dürfte der Großteil der damals angestoßenen Bauvorha-ben abgeschlossen sein. Die Fertigstellungszahlen stei-gen daher voraussichtlich auf rund 380 000 Wohnungen.

Durch das unsichere wirtschaftliche Umfeld und die öffent-lichen Sparmaßnahmen befindet sich allerdings deutlichweniger in der Pipeline, sodass die Fertigstellungzahl be-reits 2013 auf 350 000 Einheiten sinken dürfte. Dies ent-spricht dann einer Quote von nur noch fünfeinhalb Woh-nungen pro 1 000 Einwohner.

Auf den letzten Plätzen der Länderaufstel-lung zeigt sich das mittlerweile gewohnteBild. In Irland und Ungarn werden im Verhält-nis zur Bevölkerungszahl extrem wenigeWohnungen gebaut. In Irland liegt dies ander vorangegangenen spekulativen Über-produktion, in Ungarn ist eine langwähren-de wirtschaftliche Stagnation die Ursache.Mittlerweile hat sich auch Spanien mit einerQuote von 1,7 Wohneinheiten »unten« ein-gefunden. Traditionell weist zudem Groß-britannien eine äußerst niedrige Neubautä-tigkeit auf, die durch die extrem ungünstigewirtschaftliche Lage derzeit zusätzlich ge-dämpft wird. Wie in zahlreichen anderen Län-dern ist man auch in Dänemark in den Jah-ren vor der Finanzkrise zu sorglos mit demWohnungsbauboom umgegangen. Die Fer-

Tab. 1 Wohnungsfertigstellungena) in Europa nach Ländern 2010 bis 2014

in 1 000 Wohneinheiten Veränderung

in %

2010 2011 2012 2013 2014 2014/2010

Belgien 43,4 46,4 41,7 44,6 43,5 0,2

Dänemark 11,3 11,5 12,0 12,0 12,0 6,4

Deutschlandb) 140,1 161,2 185,0 210,0 225,0 60,6

Finnland 25,9 31,7 32,0 28,5 28,5 10,0

Frankreich 316,0 336,0 380,0 350,0 345,0 9,2

Großbritannien 125,9 129,4 130,0 129,0 137,0 8,8

Irland 8,5 6,5 5,0 4,5 5,5 – 35,3

Italien 201,1 158,8 141,1 135,4 130,5 – 35,1

Niederlande 56,0 57,7 56,5 58,0 61,0 8,9

Norwegen 17,8 20,0 27,0 27,0 29,0 62,6

Österreich 37,5 38,4 40,1 41,3 41,5 10,5

Portugal 43,3 37,4 26,2 19,6 16,7 – 61,4

Schweden 20,9 28,1 23,9 22,9 26,6 26,8

Schweiz 43,6 47,0 48,9 49,2 49,6 13,7

Spanien 257,0 167,0 80,0 65,0 65,0 – 74,7

Westeuropa (EC-15) 1 348,4 1 277,2 1 229,3 1 197,1 1 216,4 –9,8

Polen 135,8 131,1 145,0 150,0 155,0 14,1

Slowakei 17,1 14,6 14,2 14,6 15,3 – 10,4

Tschechien 36,5 28,6 29,8 28,3 30,9 – 15,4

Ungarn 16,8 12,7 11,0 11,0 12,0 – 28,6

Osteuropa (EC-4) 206,2 187,0 200,0 203,9 213,2 3,4 Insgesamt 1 554,6 1 464,2 1 429,4 1 401,0 1 429,6 – 8,0 a) Fertiggestellte Wohnungen in neu errichteten Wohngebäuden (Ein-, Zwei- sowie Mehrfamiliengebäude). – b) 2011: amtlicher Wert.

Quelle: Euroconstruct.

0 1 2 3 4 5 6 7

IrlandUngarn

SpanienGroßbritannien

DänemarkDeutschland

ItalienPortugal

SchwedenSlowakei

Tschechieninsgesamt

NiederlandeBelgien

PolenÖsterreichNorwegen

FinnlandFrankreich

Schweiz

Quelle: Euroconstruct.

Wohnungsfertigstellungen in Europa 2012

Fertiggestellte Wohnungen in neu errichteten Wohngebäuden pro 1 000 Einwohner

3.1

2.3

Abb. 6

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Daten und Prognosen

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tigstellungsquote von 2,2 Einheiten liegt inzwischen unter-halb der deutschen. Damit hat sich Deutschland seit demJahr 2009 (niedrigste Neubauquote der 19 Euroconstruct-Länder) auf den 14. Platz »hochgearbeitet«.

Nächste Euroconstruct-Konferenz im Dezemberin München

Die nächste Euroconstruct-Konferenz findet am 12. De-zember 2012 im Hotel Bayerischer Hof in München statt.Die Vorbereitungen des ifo Instituts sind bereits weit fort-geschritten. Am Vormittag wird zuerst Prof. Norbert Wal-ter, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank, einenÜberblick über die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung inEuropa und der übrigen Welt geben. Im Anschluss daranstellen Vertreter der Euroconstruct-Partnerinstitute sowiedes ifo Instituts die aktuellen Prognosen für die europäi-sche Bauwirtschaft vor.

Die Nachmittagsveranstaltung steht unter dem Thema»Baukonjunktur in den weltweit wichtigsten Märkten«. AlsKooperationspartner konnte die Germany Trade and In-vest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmar-keting mbH2, kurz GTAI – gewonnen werden. Diese Ge-sellschaft der Bundesrepublik Deutschland verfügt über einweltumspannendes Netz an Auslandsbüros und wird Län-derexperten aus Standorten in den USA, China, Russlandund der Türkei nach München senden, um ihre Einschät-zungen zum dortigen Baugeschehen abzugeben. Darüberhinaus wird auf die Situation in weiteren ausgewählten Märk-ten der Region (Kanada, Mexiko und Brasilien bzw. Indien,Südkorea und Japan bzw. Kasachstan, Usbekistan undAserbaidschan) eingegangen sowie über die Auswirkungendes »Arabischen Frühlings« auf die Bauwirtschaft in die-sen Regionen berichtet.

Literatur

Euroconstruct (2012a), Country Report; 73th Euroconstruct Conference, London – June 2012, Hrsg. Experian, London.

Euroconstruct (2012b), Summary Report; 73th Euroconstruct Conference,London – June 2012, Hrsg. Experian, London.

2 Zu den Aufgaben der GTAI zählt die Vermarktung des Wirtschafts- undTechnologiestandorts Deutschland im Ausland. Sie informiert zudem deut-sche Unternehmen über Auslandsmärkte und begleitet ausländische Un-ternehmen bei der Ansiedlung in Deutschland.

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2011: Investitionsanstieg um 16%

Die erfreuliche konjunkturelle Lage imvergangenen Jahr hat die Investitionsbe-reitschaft der Unternehmen des Verar-beitenden Gewerbes beflügelt. Allerdingsmuss man die Entwicklung in diesemWirtschaftsbereich auch vor dem Hinter-grund des Investitionseinbruchs im Jah-re 2009 (– 23%) und der – trotz des kon-junkturellen Aufschwungs – 2010 sta-gnierenden Investitionen (± 0%) sehen.In Folge dieser schwachen Investitions-tätigkeit hat sich im Verarbeitenden Ge-werbe ein Nachholbedarf an Investitio-nen aufgestaut.

Nach den Ergebnissen des aktuellen In-vestitionstests hat das Verarbeitende Ge-werbe in Westdeutschland mit gut 44 Mrd.Euro seine Investitionen 2011 um 16% er-höht (vgl. Tab. 1).

Die reale und die nominale Veränderungs-rate bewegen sich zurzeit in derselben

Größenordnung. Die Preise für baulicheInvestitionen zogen im vergangenen Jahrzwar spürbar an, ihr Anteil an den Ge-samtinvestitionen ist im VerarbeitendenGewerbe Westdeutschlands jedoch re-lativ gering (2011: 12%; vgl. Tab. 2). Dem-gegenüber gaben die Preise für Ausrüs-tungsgüter (Anteil 2011: 88%) geringfü-gig nach, so dass die reale Veränderungs-rate ebenfalls bei + 16% liegt.

Rege Investitionstätigkeit in fastallen Branchen

Der Investitionsanstieg im Jahr 2011 warbreit angelegt. In allen Hauptgruppen desVerarbeitenden Gewerbes haben die In-vestitionen 2011 zugenommen. Nach denMeldungen der Firmen wurden die Aus-gaben für neue Bauten und Ausrüstungs-güter im Nahrungs- und Genussmittelge-werbe um 7% erhöht. Nur für den Berg-bau, der nicht zum Verarbeitenden Ge-werbe gehört, ergab sich ein Rückgangvon 15%.

Im Grundstoff- und Produktionsgüterge-werbe war 2011 im Durchschnitt ein In-

Für 2012 weiterer Investitionsanstieg geplant

Annette Weichselberger

Westdeutsche Industrie:

Tab. 1 Bruttoanlageinvestitionen

Bereich Mill. Euro Veränderungsraten

2010 2011 2010/2009 2011/2010 2012/2011

Bergbau 590 500 – 17 – 15 + 6

Verarbeitendes Gewerbe 38 240 44 240 ± 0 + 16 + 7 davon: Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe 9 790 10 400 – 5 + 6 + 7

Investitionsgüter produzierendes Gewerbe 20 755 25 270 + 2 + 22 + 8 Verbrauchsgüter produzierendes Gewerbe 4 365 5 010 + 7 + 15 + 6 Nahrungs- und Genussmittelgewerbe 3 330 3 560 + 1 + 7 + 4

Bergbau und Verarbeitendes Gewerbea)

38 830 44 740 ± 0 + 15 + 7 a)

Ohne Baugewerbe, allgemeine Energie- und öffentliche Wasserversorgung.

Quelle: ifo Investitionstest.

Nach den Plänen der Unternehmen zeichnet sich im westdeutschen Verarbeitenden Gewerbe für

2012 ein Anstieg der Investitionen um 7% ab. Für das vergangene Jahr ergaben die Meldungen

der Firmen einen Zuwachs von 16%. An der vom ifo Institut 2012 durchgeführten Frühjahrserhe-

bung zur Investitionsentwicklung im Verarbeitenden Gewerbe Westdeutschlands1 beteiligten sich

gut 1 900 Unternehmen. Gemessen an den Bruttoanlageinvestitionen repräsentieren sie das west-

deutsche Verarbeitende Gewerbe zu fast 48%. Erfasst wurden neben der Investitionsentwicklung

in den beiden vergangenen Jahren die Investitionspläne für 2012 sowie die Zielsetzung der Inves-

titionstätigkeit.

1 Die Ergebnisse der Frühjahrserhebung in den neuen Bundesländern werden demnächst im ifoSchnelldienst veröffentlicht.

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Daten und Prognosen

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vestitionsanstieg von rund 6% zu verzeichnen. Dieser re-lativ leichte Anstieg ist auf die nur verhaltene Investitions-tätigkeit der chemischen Industrie, die gemessen am In-vestitionsvolumen die größte Branche im Grundstoff- undProduktionsgütergewerbe ist, zurückzuführen. Nach denMeldungen kürzte die Chemie ihre Ausgaben für neueSachanlagen 2011 um rund 5%. Demgegenüber dürftensich die Ausgaben für neue Bauten und Ausrüstungsgü-ter bei den Ziehereien und Kaltwalzwerken verdoppelt ha-ben. Aufgrund des niedrigen Investitionsvolumens dieserBranche fällt diese Anhebung im Grundstoff- und Produk-tionsgütergewerbe absolut gesehen jedoch kaum ins Ge-wicht. Starke Zuwachsraten von rund 50% meldeten eben-falls die Gießereien und die Gummiverarbeitung, aber auchdie Zellstoff-, Papier- und Pappeerzeugung (+ 25%) unddie NE-Metallerzeugung (+ 15%) erhöhten ihre Investi-tionsausgaben 2011 kräftig. Investitionserhöhungen zwi-schen 5 und 10% waren in den übrigen Branchen diesesBereichs zu verzeichnen: eisenschaffende Industrie, Mine-ralölverarbeitung (einschließlich Vertrieb), Holzbearbeitungsowie in der Branche Steine und Erden.

Am stärksten hat das Investitionsgüter produzierende Ge-werbe seine Investitionsausgaben im Jahr 2011 erhöht, imDurchschnitt um fast 22%. In nahezu allen Branchen dieserHauptgruppe wurden die Investitionen 2011 angehoben. Diekräftigste Erhöhung um rund 50% meldete der – gemes-sen an seinen Investitionen – eher kleinere WirtschaftszweigStahl- und Leichtmetallbau. Ausschlaggebend für den star-ken Investitionsanstieg im Investitionsgüter produzieren-den Gewerbe waren aber vor allem die Aufstockungen inden großen Branchen: Maschinenbau (+ 30%), Straßenfahr-zeugbau (+ 25%) und Elektrotechnik (+ 20%). Hohe Zu-wachsraten (zwischen 15 und 30%) ergaben auch die Mel-dungen des Schiffbaus, des EDV-Bereichs sowie der Fein-mechanik und Optik. Demgegenüber hat die Stahlverfor-mung ihre Ausgaben für neue Bauten und Ausrüstungsgü-ter im Vergleich zum Vorjahr nur leicht – um 5% – aufge-stockt. In der Herstellung von EBM-Waren verharrten die In-

vestitionen 2011 auf dem Niveau des Vorjahres. In dieserHauptgruppe dürfte nur der Luft- und Raumfahrtzeugbauseine Ausgaben für Sachanlagen 2011 – um rund 15% –gekürzt haben.

Im Verbrauchsgüter produzierenden Gewerbe lag die durch-schnittliche Investitionssteigerung 2011 bei rund 15%. Ei-ne kräftige Erhöhung der Investitionsausgaben – um einViertel – war in der Kunststoffverarbeitung zu verzeichnen.Recht hohe Steigerungsraten meldeten mit rund 15% imDurchschnitt auch die Unternehmen der Papier- und Pap-peverarbeitung und die der Feinkeramik. Die folgendenBranchen dürften ihre Ausgaben für neue Bauten und Aus-rüstungsgüter um 5 bis 10% aufgestockt haben: Herstel-lung und Verarbeitung von Glas, Textilgewerbe, Holzverar-beitung, Bekleidungsgewerbe, Druckerei und Vervielfälti-gung sowie die Herstellung von Musikinstrumenten, Spiel-waren, Schmuck usw. Das Ledergewerbe hat demgegen-über seine Investitionen 2011 voraussichtlich leicht – umrund 5% – gekürzt.

2012: Investitionsanstieg um 7% geplant

Trotz der derzeitigen Abschwächung der konjunkturellen Dy-namik werden nach dem von den Unternehmen gemelde-ten Planungsstand die Investitionen im westdeutschen Ver-arbeitenden Gewerbe 2012 nochmals zunehmen. Betrach-tet man die von den Unternehmen gemeldeten Investiti-onstendenzen, so planen 71% der Testteilnehmer mehr undknapp 27% weniger als 2011 zu investieren, die restlichen2% wollen ihre Ausgaben für neue Bauten und Ausrüstungs-güter konstant halten (vgl. Tab. 3). Der Saldo aus den »Mehr«-und »Weniger«-Meldungen liegt bei + 44 (vgl. Abb. 1). ZumZeitpunkt der letzten Erhebung, im Herbst 2011, hatte sichaus den Investitionstendenzen für 2012 ein Saldo von + 48ergeben. Berücksichtigt man ferner die quantitativen An-gaben, so dürften die Investitionen des westdeutschen Ver-arbeitenden Gewerbes 2012 nominal und real rund 7% über

Tab. 2 Zusammensetzung der Investitionen

Bereich

Anteile an den gesamten Bruttoanlageinvestitionen in %

Betriebsbautena) (einschl. in Bau befindlicher)

Ausrüstungenb)

2008 2009 2010 2011 2008 2009 2010 2011 Verarbeitendes Gewerbe 13 12 12 12 87 88 88 88 davon: Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe 14 13 13 10 86 87 87 90 Investitionsgüter produzierendes Gewerbe 12 11 11 12 88 89 89 88 Verbrauchsgüter produzierendes Gewerbe 12 13 13 14 88 88 88 87 Nahrungs- und Genussmittelgewerbe 13 14 14 15 87 86 86 85 a) Ohne Wohnungsbauten. – b) Diese Position enthält Maschinen und maschinelle Anlagen (einschl. in Aufstellung befind-licher) sowie Fahrzeuge, Werkzeuge, Betriebs- und Geschäftsausstattung.

Quelle: ifo Investitionstest.

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dem Vorjahresniveau liegen. Damit hat sich die Investitions-planung vom Herbst letzten Jahres (+ 6) insgesamt gese-hen in etwa bestätigt. Inwieweit die Unternehmen ihre Inves-titionsabsichten letztendlich realisieren werden, bleibt aller-

dings angesichts der mittlerweile zu beobachtenden kon-junkturellen Abkühlung und aufgrund der gestiegenen Un-sicherheit in der Eurokrise abzuwarten.

Deutliche Investitionssteigerung im Investitionsgüter produzierenden Gewerbe

Nach den aktuellen Meldungen sind auch 2012 in allenHauptgruppen des Verarbeitenden Gewerbes nochmalsInvestitionszuwächse zu erwarten, wenn auch meist nichtmehr so starke wie im Jahr 2011. Die Nahrungs- und Ge-nussmittelhersteller haben gegenüber dem Vorjahr einen In-vestitionsanstieg von 4% vorgesehen. Im Bergbau ist mit ei-ner Erhöhung von 6% zu rechnen.

Nach den Meldungen der Unternehmen des Grundstoff-und Produktionsgütergewerbes ist hier 2012 ein durch-schnittliches Investitionsplus von gut 7% zu erwarten. Aus-schlaggebend für diesen Anstieg ist vor allem die von derchemischen Industrie für 2012 geplante spürbare Investi-tionserhöhung von rund 10%. Die chemische Industrie hat-te in den vergangenen drei Jahren ihre Ausgaben für neueBauten und Ausrüstungsgüter merklich gekürzt. Hohe Zu-wachsraten von 15 bzw. 10% meldeten aber auch die ei-senschaffende Industrie und die Ziehereien und Kaltwalz-werke. Nur leichte Investitionsaufstockungen – um rund 5% – planten die Gießereien, die NE-Metallerzeugung unddie Zellstoff-, Papier- und Pappeerzeugung. Ein im Vergleichzum Vorjahr konstantes Investitionsniveau zeichnet sich inder Mineralölverarbeitung (einschließlich Vertrieb) und in derHolzbearbeitung ab. Investitionskürzungen von rund 5%sind im Bereich Steine und Erden und in der Gummiverar-beitung geplant.

Auch das Investitionsgüter produzierende Gewerbe dürfteinsgesamt gesehen seine Investitionen 2012 mit – um rund

Tab. 3 Tendenzen der Investitionsplanung

Bereich

Im Jahr 2012 wollen gegenüber 2011 ... % der Unternehmen

a) investieren

zum Vergleich: Pläne für

mehr gleich- viel

weniger Saldob) 2011 2010 2009 2008 2007

Verarbeitendes Gewerbe 71 2 27 + 44 + 63 + 19 – 19 + 44 + 40

davon: Grundstoff- und Produktions- gütergewerbe 70 2 28 + 42 + 50 + 19 – 16 + 35 + 42

Investitionsgüter produzierendes Gewerbe 74 3 23 + 51 + 77 + 19 – 31 + 64 + 48 Verbrauchsgüter produzierendes Gewerbe 66 1 33 + 33 + 44 + 27 – 1 + 18 + 38

Nahrungs- und Genussmittel- gewerbe 60 0 40 + 20 + 39 + 10 + 29 – 17 – 3 a)

Gewichtet mit dem Firmenumsatz. – b)

Differenz der Prozentanteile der gewichteten »Mehr«- und »Weniger«-Meldungen aus der jeweiligen Frühjahrserhebung.

Quelle: ifo Investitionstest.

-40

-20

0

20

40

60

80

80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12

-40

-20

0

20

40

60

80

Entwicklung der Investitionen in der westdeutschen Industrie

Quelle: ifo Investitionstest (West).

-30

-20

-10

0

10

20

30

-30

-20

-10

0

10

20

30

80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12

Tendenz der Investitionspläne

Investitionsentwicklung (nominal)

a) Differenz zwischen den »Mehr«- und den »Weniger«-Meldungen, Stand: Frühjahr des laufenden Jahres.

b) Bruttoanlageinvestitionen der Industrie, 2011: vorläufig, 2012: ermittelt aufgrund der Planangaben.

Tendenzsaldena)

Veränderungsratenb) in %

Abb. 1

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9% – nochmals merklich erhöhen, wennauch bei weitem nicht mehr in dem Maße wieim letzten Jahr. Die stärkste Aufstockung sei-nes Investitionsbudgets – um rund ein Fünf-tel – hat der Maschinenbau vorgesehen.Recht hohe Zuwächse – um 10 bis 15% –meldeten auch die Elektrotechnik, der Stahl-und Leichtmetallbau, der Schiffbau sowie dieFeinmechanik und Optik. Vergleichsweisenur leichte Investitionserhöhungen haben derStraßenfahrzeugbau, die Stahlverformung,die Herstellung von EBM-Waren und derEDV-Bereich geplant. Im Luft- und Raum-fahrzeugbau werden sich die Investitionsaus-gaben 2012 voraussichtlich auf dem Vorjah-resniveau bewegen.

Im Verbrauchsgüter produzierenden Gewer-be ist insgesamt gesehen 2012 mit einem Investitionsan-stieg um rund 6% zu rechnen. Eine starke Erhöhung – umrund ein Fünftel – ist hier im Bekleidungsgewerbe geplant;absolut gesehen fällt diese Anhebung aufgrund des niedri-gen Investitionsanteils der Bekleidungsindustrie innerhalbdes Verbrauchsgüter produzierenden Gewerbes jedochkaum ins Gewicht. Aber auch die Kunststoffverarbeitungund das Textilgewerbe haben immerhin noch Zuwächse vonrund 10% vorgesehen. Nur relativ leichte Investitionsstei-gerungen von rund 5% meldeten die Unternehmen der Bran-chen Druckerei und Vervielfältigung, Feinkeramik, Lederge-werbe sowie der Branche Herstellung von Musikinstrumen-ten, Spielwaren, Schmuck usw. In der Papier- und Pappe-verarbeitung, in der Holzverarbeitung sowie in der Herstel-lung und Verarbeitung von Glas dürften die Investitionen2012 auf dem Vorjahresniveau verharren.

Ausweitungen bzw. Änderungen des Produk-tionsprogramms stehen meist im Vordergrund

Im Laufe der vergangenen Jahre hat die Kapazitätserwei-terung als Investitionsmotiv zunehmend an Bedeutung ge-

wonnen. Nach den Meldungen der Unternehmen des west-deutschen Verarbeitenden Gewerbes ist die Erweiterung2012 – wie schon 2011 – vorrangiges Investitionsziel (vgl.Tab. 4). Insgesamt haben 68% der Unternehmen 2011 inerster Linie in Erweiterungsmaßnahmen investiert. Für die-ses Jahr liegt der entsprechende Prozentsatz mit 69%sogar noch geringfügig darüber (vgl. Abb. 2). Dabei sindjedoch weniger Kapazitätserweiterungen bestehender Pro-duktionsprogramme (Kapazitätserweiterung im klassischenSinne) als vielmehr Änderungen und Ausweitungen der Pro-duktpalette vorgesehen (vgl. Tab. 5). Insgesamt gesehenwollen dieses Jahr 47% der Unternehmen vorrangig in Än-derungen bzw. Ausweitungen des Produktprogramms in-vestieren und nur 24% in die Erhöhung der Kapazitätenbestehender Produktionsprogramme. Auch auf Hauptgrup-penebene dominiert die Kapazitätserweiterung – sowohl2011 als auch 2012 – in allen Bereichen. Eine außerordent-lich hohe Bedeutung haben Erweiterungsinvestitionen indiesem Jahr wie schon 2011 im Luft- und Raumfahrzeug-bau, in der Gummiverarbeitung und vor allem im Straßen-fahrzeugbau, dessen umfangreiche Umstrukturierungs-maßnahmen auch diesem Investitionsmotiv zugeordnetwerden. In diesem Jahr will auch die chemische Industrie

Tab. 4 Zielsetzung der Investitionen

Bereich

Als Hauptziel ihrer Investitionen nannten ... % der Unternehmena)

Kapazitätserweiterung Rationalisierung Ersatzbeschaffung

2009 2010 2011

2012

geplant 2009 2010 2011

2012

geplant 2009 2010 2011

2012

geplant

Verarbeitendes Gewerbe 57 55 68 69 14 16 9 10 29 29 23 21 davon:

Grundstoff- u. Produktionsgütergewerbe 41 32 56 57 21 26 14 15 38 42 30 28 Investitionsgüter produz. Gewerbe 70 72 77 78 10 10 6 7 20 18 17 15 Verbrauchsgüter produz. Gewerbe 39 41 55 51 19 18 13 19 42 41 32 30

Nahrungs- u. Genussmittelgewerbe 41 30 56 57 13 25 12 11 46 45 32 32 a)

Gewichtet mit dem Firmenumsatz.

Quelle: ifo Investitionstest.

0

20

40

60

80

100

80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12

Umstrukturierungen des Produktionsprogramms stehen im Vordergrund

Als Hauptziel der Investitionstätigkeit nannten ...% der Unternehmena)

Quelle: ifo Investitionstest (West).

a) Meldungen aus dem westdeutschen Verarbeitenden Gewerbe, gewichtet mit dem Firmenumsatz.Stand: Frühjahr für das jeweilige Vorjahr, 2012: vorläufig.

Erweiterung i.e.S.

Rationalisierung

Ersatzbeschaffung

Ausweitung/Änderung des Produktionsprogramms

Abb. 2

Page 52: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 15/2012 – 65. Jahrgang

50

überdurchschnittlich stark in Erweiterungsmaßnahmen in-vestieren.

Gut ein Fünftel der Unternehmen will in diesem Jahr vor-rangig in Ersatzbeschaffungen investieren. Hier sind vor al-lem folgende Branchen zu nennen: NE-Metallerzeugungund die Herstellung von EDV-Geräten. Im vergangenenJahr hat auch das Bekleidungsgewerbe und 2012 die Her-stellung und Verarbeitung von Glas stark in Ersatzbeschaf-fungen investiert.

Rationalisierungsmaßnahmen waren 2011 und sind auch2012 bei lediglich einem Zehntel der Unternehmen in West-deutschland der wichtigste Investitionsanlass. Dieses In-vestitionsmotiv hat im Laufe der letzten Jahre erheblichan Bedeutung eingebüßt. 1994 lag der entsprechende An-teil noch bei zwei Fünfteln. Überdurchschnittlich umfang-reiche Rationalisierungsinvestitionen sind 2012 in folgen-den Branchen geplant: Mineralölverarbeitung (einschl. Ver-trieb), Holzbearbeitung, Stahlverformung sowie im Textil-gewerbe.

Zusammenfassung

Das westdeutsche Verarbeitende Gewerbe hat seine In-vestitionen 2011 kräftig erhöht. Nach den Meldungen zumifo Investitionstest haben die Unternehmen mit knapp44 Mrd. Euro ihre Investitionsausgaben 2011 gegenüberdem Vorjahr um rund 16% erhöht. Allerdings bestand nachdem starken Investitionseinbruch 2009 und der nur verhal-tenen Investitionstätigkeit 2010 in der Industrie auch ein er-heblicher Nachholbedarf. Der Investitionsanstieg 2011 warbreit angelegt: Fast alle Branchen erhöhten ihre Investitio-nen, nur vereinzelt kam es zu Kürzungen gegenüber 2010.

Trotz der vermehrten Anzeichen für eine konjunkturelle Ein-trübung werden nach dem derzeitigen Planungsstand die

Investitionen im westdeutschen Verarbeitenden Gewerbe2012 nochmals zunehmen. Die Meldungen der Unterneh-men ergaben für 2012 einen Investitionsanstieg von (nomi-nal und real) rund 7%. Inwieweit diese Pläne auch realisiertwerden können, bleibt angesichts der mittlerweile zu beob-achtenden konjunkturellen Abkühlung und aufgrund der ge-stiegenen Unsicherheit in der Eurokrise abzuwarten.

Hauptzielsetzung der Investitionstätigkeit war 2011 – undist auch 2012 – die Kapazitätserweiterung, und zwar in ers-ter Linie mit der Absicht, das Produktionsprogramm aus-zuweiten bzw. zu verändern. An zweiter Stelle stehen Er-satzbeschaffungen, während das Rationalisierungsmotivweiter an Bedeutung verloren hat und kaum noch eine Rol-le spielt.

Tab. 5 Erweiterungsinvestitionen und Produktionsprogramm

Bereich

... % der Unternehmena)

nahmen in erster Linie

Erweiterungsinvestitionen vor, und zwar unterb)

Beibehaltung des

Produktionsprogramms Änderung bzw. Ausweitung des

Produktionsprogramms

2009 2010 2011

2012

geplant 2009 2010 2011

2012

geplant

Verarbeitendes Gewerbe 24 21 19 20 30 32 47 47 davon:

Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe 27 16 29 30 13 12 21 22 Investitionsgüter produzierendes Gewerbe 21 21 12 14 44 50 64 64 Verbrauchsgüter produzierendes Gewerbe 24 30 32 28 13 11 20 23

Nahrungs- und Genussmittelgewerbe 30 20 18 24 11 10 36 31 a)

Gewichtet mit dem Firmenumsatz. – b)

Die hier aufgeführten Prozentsätze ergänzen sich nicht zu den Anteilen für die

Hauptziele (Tab. 4), da ein Teil der Firmen hierzu keine Angaben machte.

Quelle: ifo Investitionstest.

Page 53: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

i fo Schne l ld ienst 15/2012 – 65. Jahrgang

51

Neben Exporten stellen ausländische Di-rektinvestitionen (FDI) durch multinatio-nale Unternehmen im ökonomischenGlobalisierungsprozess einen bedeuten-den Faktor dar. Ihre Entwicklung wirdim Wesentlichen durch grenzüberschrei-tende Firmenfusionen bzw. -aufkäufe(M&A) oder durch Neugründungen vonausländischen Tochtergesellschaften(Greenfield Investment) getrieben. Bei ei-ner zeitlichen Betrachtung dieser zweiunterschiedlichen Ströme ist festzustel-len, dass der internationale Güterhandelseit nunmehr über 50 Jahren, abgese-hen von kurzfristigen Krisen, einen ro-busten positiven Wachstumstrend auf-weist. Die zunehmenden internationalenExportvolumina der letzten Dekade sinddurch eine stetige Handelsliberalisierungsowohl innerhalb der Welthandelsorga-nisation (WTO) als auch durch regiona-le Freihandelsabkommen getrieben. ImGegensatz dazu ist bei ausländischenDirektinvestitionen erst seit Anfang der1980er Jahre ein signifikanter Anstieg zubeobachten. Bis heute existiert kein derWTO entsprechendes multilaterales In-vestitionsabkommen. Investoren könnensich in der Regel auf bilaterale oder re-gionale Abkommen berufen, die vor al-lem in industrialisierten Ländern konzen-triert sind.

Da ausländische Direktinvestitionen inForm von Firmengründungen einen lang-fristigen positiven Einfluss auf die natio-nalen Industriestrukturen und -entwick-lungen haben können, haben sich diePrioritäten innerhalb der Schwellen- undEntwicklungsländer in den letzten Jah-ren deutlich verändert. Länder wie Brasi-lien, China oder Südafrika richten ihre Po-litik zur Attrahierung von ausländischenInvestitionen im Gegensatz zu früherenJahren nicht mehr nur auf kurzfristige An-reize, wie z.B. niedrige Unternehmens-steuern oder auf die Anpreisung vongünstigen Rahmenbedingungen (z.B. ver-gleichsweise geringe Umweltauflagen)aus. Vielmehr wird in den neuen aufstre-benden Ländern die internationale Inves-titionspolitik als Teil einer nationalen nach-haltigen Entwicklungspolitik gesehen. Eingenerelles Anliegen bei dieser neuen Ent-wicklungspolitikagenda ist die Wahrungvon günstigen Investitionsbedingungenfür internationale Investoren.

Ein wichtiger Aspekt, der sich aus aggre-gierten Handels- und FDI-Daten ergibt,ist, dass internationale Investitionsaktivi-täten nicht ausschließlich als Substitut fürinternationalen Güterhandel anzusehensind. Abbildung 1 illustriert, dass Ländermit einem höheren Handelsanteil am BIPim Durchschnitt auch höhere transnatio-nale Investitionsflüsse relativ zum BIP auf-weisen. Dabei wird grundsätzlich zwi-schen horizontalen und vertikalen Direkt-investitionen unterschieden. Erstere re-präsentieren Firmenkäufe oder -gründun-gen im Ausland, die ausschließlich End-

Die Entwicklung ausländischer Direktinvestitionen

Sebastian Benz, Joachim Karl, Erdal Yalcin*

Der UNCTAD World Investment Report 2012:

Ausländische Direktinvestitionen stellen neben dem internationalen Handel einen integralen Teil

des weltweiten ökonomischen Integrationsprozesses dar. Im Gegensatz zu Exporten und Impor-

ten werden grenzüberschreitenden Investitionen langfristige Entwicklungswirkungen zugeschrie-

ben. Die Attrahierung von Direktinvestitionen ist in der Vergangenheit zum Großteil durch konjunk-

turelle und regionale Besonderheiten geprägt gewesen. Jedoch versuchen insbesondere Schwel-

len- und Entwicklungsländer vermehrt, durch nationale und internationale Investitionspolitiken

einen stärkeren Einfluss auf grenzüberschreitende Investitionen zu nehmen. Ein Ziel dieser neu-

en Politik ist es, Investitionen insbesondere mit einem nachhaltigen Entwicklungscharakter anzu-

werben. Die aktuellsten Entwicklungen zu ausländischen Direktinvestitionen werden im jährli-

chen World Investment Report der Vereinten Nationen ausführlich dargestellt.1 Dieser Artikel

fasst die wesentlichen Entwicklungen des letzten Jahres zusammen und geht auch auf das Schwer-

punkthema »Investitionen und nachhaltige Entwicklung« ein.

* Sebastian Benz ist Doktorand, Dr. Erdal Yalcin stell-vertretender Bereichsleiter im Bereich Außenhan-del des ifo Instituts. Dr. Joachim Karl ist Leiter derPolicy Research Section bei der UNCTAD.

1 World Investment Report 2012, Towards a NewGeneration of Investment Policies, United Na-tions, New York and Geneva, 2012.

Page 54: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

produkte für den Absatz im jeweiligen Land produzieren oderals Exportplattformen für weitere Staaten fungieren. Bei ver-tikalen Investitionen handelt es sich um die Auslagerung vonProduktionsprozessen ins Ausland (z.B. für Zwischengüter).In der Regel führt diese Form von Investition zu einer Zunah-me des internationalen Handels, da Zwischengüter vermehrtimportiert und exportiert werden. Eine Quantifizierung derRelation zwischen horizontalen und vertikalen Investitions-strömen erweist sich bis heute als äußerst schwierig, da um-fassende Daten nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Inden letzten Jahren ist allerdings eine Zunahme der vertika-len FDI anerkannt, da eine zunehmende weltweite Fragmen-tierung von Produktionsprozessen auf der Firmenebene be-obachtet wird, die zudem durch die Innovationsschübe inder Informations- und Transporttechnologie begünstigt wird.Auch wenn es nicht möglich ist, die Verteilung zwischen

horizontalen und vertikalen FDI klar zu identifizieren, lässt dieAbbildung 1 den Schluss zu, dass Länder mit einer relativhöheren transnationalen Investitionsaktivität auch höhereHandelsaktivitäten aufweisen. Internationale Güter- und In-vestitionsströme sind demzufolge primär als komplemen-tär zu sehen. Ein höherer Handel wiederum korreliert nach-weislich sehr stark mit einem höheren BIP. In diesem Kon-text sind die Bestrebungen insbesondere von Schwellen-und Entwicklungsländern, ihre nationale ökonomische Ent-wicklung auch durch eine gezielte Investitionspolitik zu ver-bessern, nachvollziehbar.

Mit der Entwicklung und Zusammensetzung von globa-len FDI-Flüssen und -Beständen beschäftigt sich die Kon-ferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwick-lung (United Nations Conference on Trade and Develop-

ment, UNCTAD), die seit 1964 als Unter-organisation der UN-Vollversammlung tä-tig ist. Der jährlich erscheinende World In-vestment Report (WIR) stellt die aktuellstenZahlen und Statistiken zu FDI für die ge-samte Welt vor und berichtet über Trendsund Entwicklungen in der internationalenInvestitionslandschaft.

Der diesjährige WIR 2012 mit dem Unterti-tel »Towards A New Generation of Invest-ment Policies« beschäftigt sich dabei inten-siv mit dem Thema Investitionen und nach-haltige Entwicklung und stellt einen Leitrah-men für nationale und internationale Investi-tionspolitik vor, der nicht nur quantitatives,sondern auch nachhaltiges, qualitatives Wirt-schaftswachstum in den Vordergrund stellt.Ziel dieses Artikels ist es, auf Basis des ak-tuellen World Investment Reports einenÜberblick über die neuesten Zahlen und Da-ten der ausländischen Direktinvestitionen so-wie über aktuelle Trends in der Investitions-politik zu geben.

Aktuelle Trends

Im Zeitraum 2000–2011 hat sich die globa-le Wirtschaft trotz der schweren Krise in2008/09 positiv entwickelt und ein jährlichesdurchschnittliches Wachstum von 7,2% er-zielt, was zu einer Verdoppelung des nomi-nalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im ge-nannten Zeitraum geführt hat. Noch rascherals die globale Wirtschaftsleistung wächstdie weltweite Integration der einzelnen Staa-ten, was sich an der dynamischen Entwick-lung von Exporten und ausländischen Direkt-

i fo Schne l ld ienst 15/2012 – 65. Jahrgang

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Offenheit von Entwicklungsländern und Industriestaaten gegenüber FDI und Handel, 2000–2010

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Entwicklungsländer (A)Durchschnitt von FDI-Zu-u. Abflüssen relativ zum BIP (2000–2010)

(A) Folgende Entwicklungsländer werden hier abgebildet: Argentinien, Brasilien, Chile, China, Indien, Indonesien, Iran, Kolumbien, Republik Korea, Malaysia, Mexiko, Saudi- Arabien, Südafrika, Taiwan, Thailand, Türkei, Vereinigte Arabische Emirate, Bolivarische Republik Venezuela.(B) Folgende Industriestaaten werden hier abgebildet: Australien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Lettland, Litauen, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika.

ARG

Durchschnitt von Exporten und Importen relativ zum BIP (2000–2010)

Industriestaaten (B)Durchschnitt von FDI-Zu-u. Abflüssen relativ zum BIP (2000–2010)

Durchschnitt von Exporten und Importen relativ zum BIP (2000–2010)

MYS

CHL

ARE

SAU

THA

TWN

COL

PRT

KOR

CHN

MEX

VEN IRN

ZAF

IDNTURIND

NLDESTBGRCHE

SWE IRL

SVKLTU

HUNCZE

SVN

GBR

ESPFrau

ISRCAN

NORDNK

FINROU

AUT

LVAPOL

DEU

NZL

ITA

AUS

GRC

USA

JPN

BRA

Quelle: UNCTAD.

Abb. 1

Page 55: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

investitionen ablesen lässt.2 Die rasante Entwicklung der Ex-porte zeigt, dass der internationale Handel mit Gütern starkan Bedeutung gewonnen hat. Das durchschnittliche jährli-che Wachstum der Exporte im betrachteten Zeitraum be-trägt 9,9% und übersteigt jenes des BIP deutlich. Auslän-dische Direktinvestitionen, die im Zuge der Finanzkrise starkeingebrochen sind, erreichen 2011 erstmals wieder das Vor-krisenniveau (berechnet als Durchschnittswert der Jahre2005–2007). Im Jahr 2011 sind FDI-Abflüsse trotz Nachwir-kungen der globalen Finanzkrise und der anhaltenden welt-weiten Schuldenkrisen um mehr als 16% gewachsen. Die-se Dynamik ist vor dem Hintergrund hoher Gewinne multi-nationaler Unternehmen und relativ hohem Wirtschafts-wachstum in Entwicklungsländern zu sehen. Der Spitzen-wert der FDI-Flüsse aus dem Jahr 2007 blieb dennoch un-erreicht.

Ein Vergleich der absoluten Höhe von weltweiten FDI-Flüs-sen und globalen Exporten lässt ausländische Direktinves-titionen zunächst relativ unbedeutend erscheinen. Dies wirdallerdings der Bedeutung von FDI nicht gerecht, da dieWachstumsraten vernachlässigt werden. Das langfristigeweltweite Wachstum von ausländischen Direktinvestitionenund Exporten relativ zum globalen BIP (FDI- und Exportquo-te) in Abbildung 2 zeigt die überdurchschnittlich dynamische

Entwicklung von FDI in den letzten Jahrzehnten. Seit 1970hat sich die weltweite FDI-Quote um rund 465% erhöht,während die Exportquote seit 1970 um rund 170% zuge-nommen hat (vgl. Abb. 2, gestrichelte Linien).

Der Anstieg von weltweiten FDI-Zuflüssen 2011 um 16%ist auf eine positive Entwicklung in allen drei ökonomischenLändergruppen – Industriestaaten, Entwicklungsländer undTransformationsländer – zurückzuführen; die zugrunde lie-genden Ursachen sind jedoch unterschiedlich. Der Anstiegvon FDI in Entwicklungs- und Transformationsländern um12% auf 777 Mrd. US-Dollar 2011 ist hauptsächlich auf ei-nen fortlaufenden Anstieg von Greenfield-Projekten zurück-zuführen. Direktinvestitionen in die Industriestaaten sind 2011um beachtliche 21% auf 748 Mrd. US-Dollar gestiegen, wasjedoch vorwiegend durch grenzüberschreitende Fusionenund Übernahmen von ausländischen multinationalen Unter-nehmen getrieben wurde. Trotz des kurzfristigen Anstiegsdes Anteils der Industriestaaten an FDI im Jahr 2011 nimmtihre langfristige Bedeutung stetig ab. Entwicklungs- undTransformationsländer haben 2011 bereits mehr als die Hälf-te der ausländischen Direktinvestitionen in ihre Regionen len-ken können (45 bzw. 6%). Abbildung 3 zeigt, dass dieserTrend über die lange Frist besteht.

Tabelle 2 fasst die regionale Entwicklung vonFDI-Zu- und -Abflüssen der letzten drei Jah-re zusammen. Der Anstieg der FDI-Zuflüssein Entwicklungsländer um 11% ist vorwie-gend durch Investitionen in Asien, Lateiname-rika und der Karibik zustande gekommen.Entwicklungsländer in Asien haben weiterhinhohe FDI-Zuflüsse erhalten, wobei vor allemdas dynamische Wachstum in Süd- undSüdostasien hervorsticht. FDI-Zuflüsse nachChina und Indien, die beiden großen Wachs-tumsmotoren in Ost- und Südasien, sind umknapp 8% beziehungsweise 31% angestie-gen. FDI-Zuflüsse nach Lateinamerika und indie Karibik wuchsen 2011 um 16% auf217 Mrd. US-Dollar (exklusive Finanzzentren

i fo Schne l ld ienst 15/2012 – 65. Jahrgang

53

Tab. 1 FDI-, Export- und BIP-Entwicklungen weltweit (in Mrd. US-Dollar)

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Nominales BIPa) 32 287 32 099 33 429 37 545 42 275 45 745 49 603 55 886 61 233 57 920 63 075 69 660 Nominale Exporte 6 449 6 190 6 481 7 562 9 189 10 502 12 134 14 005 16 124 12 526 15 256 18 197 Nominale Direktinvestitionena) 1 232 753 537 574 930 882 1 415 2 198 1 969 1 175 1 451 1 694 a) Daten für den Zeitraum 2000–2005 stammen von UNCTAD Stat, Daten für 2006–2011 wurden wegen Konsolidierung dem WIR 2012 entnommen.

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

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weltweites BIP (a)weltweite Industrie-Exporteweltweite Direktinvestitionen (a)

in 1 000

FDI-, Export- und BIP-Entwicklungen (1970 = 100)

relatives Export/BIP-Wachstum (a)relatives FDI/BIP-Wachstum (a)

in %

2011

(a) Daten für den Zeitraum 2000–2005 stammen von UNCTAD Stat, Daten für 2006–2011 wurden aufgrund einer Konsolidierung dem WIR 2012 entnommen.Quelle: UNCTAD, UNCTAD Stat.

Abb. 2

2 Tabelle 1 stellt die weltweite Entwicklung von Brutto-inlandsprodukt (BIP), Exporten und ausländischen Di-rektinvestitionen (FDI, abfließend) dar.

Page 56: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

um 27% auf 150 Mrd. US-Dollar). Investoren konzentrier-ten sich dabei insbesondere auf die Erschließung von Roh-stoffen und auf expandierende Konsummärkte. Die Entwick-lung von FDI-Zuflüssen nach Afrika und Westasien war 2011

weiterhin rückläufig. Transformationsländerkonnten sich mit einem Wachstum ihrer In-vestitionszuflüsse von 25% kräftig erholen.Aufgrund der Aufnahme von Russland in dieWelthandelsorganisation wird erwartet, dasssich dieser positive Trend an FDI-Flüssenauch in der Zukunft fortsetzt.

FDI-Zuflüsse in strukturell schwache, ver-wundbare und kleine Ökonomien haben sichuneinheitlich entwickelt. Während FDI-Flüs-se in Entwicklungsländer ohne Meereszu-gang (Landlocked Developing Countries,LLDCs) zugenommen haben, fielen die aus-ländischen Investitionsströme in die am we-nigsten entwickelten Länder (Least Develo-ped Countries, LDCs) und in die kleinen In-selentwicklungsländer (Small Island Develo-ping States, SIDS) weiter.

Was die FDI-Abflüsse anbelangt, so haben FDI aus Ent-wicklungsländern 2011 im Vergleich zu den letzten Jah-ren geringfügig an Dynamik eingebüßt und sind um 4% ge-

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Weltweite FDI-Zuflüsse nach Ländergruppen

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

a) Industrieländer, Entwicklungs- und Schwellenländer folgen der Definition der UNCTAD-Ländergruppierung. Transformationsländer beinhalten Staaten, die sich in einer Übergangsphase vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen System befinden.

Industriestaaten

Entwicklungsländer

Transformationsländer

2011

Abb. 3

Tab. 2 FDI-Flüsse, nach Region, 2009–2011 (in Mrd. US-Dollar und %) FDI-Zuflüsse FDI-Abflüsse Region 2009 2010 2011 2009 2010 2011 Welt 1 197,8 1 309,0 1 524,4 1 175,1 1 451,4 1 694,4 Industriestaaten 606,2 618,6 747,9 857,8 989,6 1 237,5 Entwicklungsländer 519,2 616,7 684,4 268,5 400,1 383,8 Afrika 52,6 43,1 42,7 3,2 7,0 3,5 Ost- und Süd-Ost-Asien 206,6 294,1 335,5 176,6 243,0 239,9 Süd-Asien 42,4 31,7 38,9 16,4 13,6 15,2 West-Asien 66,3 58,2 48,7 17,9 16,4 25,4 Lateinamerika und die Karibik 149,4 187,4 217,0 54,3 119,9 99,7

Transformationsländer 72,4 73,8 92,2 48,8 61,6 73,1 Strukturschwache, verwundbare und kleine Ökonomiena) 45,2 42,2 46,7 5,0 11,5 9,2 Am wenigsten entwickelte Länder (LDCs) 18,3 16,9 15,0 1,1 3,1 3,3 Entwicklungsländer ohne Meereszugang (LLCDs) 28,0 28,2 34,8 4,0 9,3 6,5 Kleine Inselentwicklungsländer (SIDS) 4,4 4,2 4,1 0,3 0,3 0,6 Memorandum: Prozentanteil an weltweiten FDI-Flüssen Industriestaaten 50,6 47,3 49,1 73,0 68,2 73,0 Entwicklungsländer 43,3 47,1 44,9 22,8 27,6 22,6 Afrika 4,4 3,3 2,8 0,3 0,5 0,2 Ost- und Süd-Ost-Asien 17,2 22,5 22,0 15,0 16,7 14,2 Süd-Asien 3,5 3,1 2,6 1,4 0,9 0,9 West-Asien 5,5 2,4 3,2 1,5 1,1 1,5 Lateinamerika und die Karibik 12,5 14,3 14,2 4,6 8,3 5,9

Transformationsländer 6,0 5,6 6,0 4,2 4,2 4,3 Strukturschwache, verwundbare und kleine Ökonomiena) 3,8 3,2 3,1 0,4 0,8 0,5 Am wenigsten entwickelte Länder (LDCs) 1,5 1,3 1,0 0,1 0,2 0,2 Entwicklungsländer ohne Meereszugang (LLCDs) 2,3 2,2 2,3 0,3 0,6 0,4 Kleine Inselentwicklungsländer (SIDS) 0,4 0,3 0,3 0,0 0,0 0,0 a) Ohne doppelte Erfassung.

Quelle: UNCTAD, FDI/TNC-Datenbank, online verfügbar unter: www.unctad.org/fdistatistics.

Page 57: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

sunken, was auf die rückläufige Entwicklung in allen Welt-regionen außer Süd- und Westasien zurückzuführen ist.Trotz des beachtlichen Anstiegs der FDI-Abflüsse aus denTransformationsländern um 19% sind somit 2011 die An-teile von Entwicklungs- und Transformationsländern von32% im Jahr 2010 auf 27% im Jahr 2011 gesunken. Hin-gegen haben FDI aus Schwellenländern deutlich an Be-deutung gewonnen und erreichten ihr zweithöchstes Ni-veau seit Beginn der Datenerfassung. Eine Entwicklung,die sich von früheren Jahrzehnten deutlich unterscheidet,ist, dass viele multinationale Unternehmen aus Entwick-lungs- und Transformationsländern vermehrt in anderenSchwellenländern investieren: 65% des Werts aller FDI-Projekte aus den BRIC-Ländern (Brasilien, Russische Fö-deration, Indien, China) wurden in Entwicklungs- und Trans-formationsländer investiert, verglichen mit 59% in der Zeitvor der Wirtschaftskrise.

FDI aus Industriestaaten sind 2011 eben-falls sehr dynamisch, um 25%, gewachsen.Der Anstieg an FDI aus der EU ist vorwiegenddurch grenzübergreifende Fusions- undÜbernahmetätigkeit getrieben. Das weiterhinhohe Niveau der FDI-Flüsse in Form vonGreenfield-Projekten zeigt, dass multinatio-nale Unternehmen aus Industriestaaten wei-terhin in Entwicklungs- und Schwellenlän-der investieren, um das dortige Wachstums-potenzial auszunutzen.

Die Bedeutung von Entwicklungs- und Trans-formationsländern bei ausländischen Direkt-investitionen wird in Abbildung 4 deutlich,welche die Top-20-Empfängerländer von FDIim Jahre 2011 auflistet. Wie im Vorjahr istdie USA an erster Stelle und China auf Rang 2zu finden. Mit Brasilien befinden sich insge-samt zwei Entwicklungsländer unter den Top-

5-FDI-Empfängerstaaten. Erwähnenswert ist außerdem,dass China und Hongkong zusammen mit FDI-Zuflüssen inHöhe von 207 Mrd. US-Dollar bereits sehr nahe an das Ni-veau der USA herankommen.

Was die TOP-20-FDI-Herkunftsländer anbelangt, so ste-hen auch hier die USA mit deutlichem Abstand an ersterStelle (vgl. Abb. 5). Auffallend ist, dass die FDI 2011 inDeutschland um die Hälfte eingebrochen sind undDeutschland somit von Platz 2 auf Platz 10 der investie-renden Länder gefallen ist. Die Zahlen der ersten vier Mo-nate des Jahres 2012 zeigen allerdings wieder eine posi-tive Entwicklung der FDI aus Deutschland mit einemWachstum in Höhe von 12,8% verglichen mit dem Vorjahr.Das starke Wachstum der FDI aus Japan, das 2011 aufRang 2 landete, wurde unterstützt durch die Aufwertung

des Yen, welche die Kaufkraft von japani-schen multinationalen Unternehmen ge-stärkt und somit ausländische Akquisitio-nen erleichtert hat.

Disaggregierte Betrachtung

Während im vorangegangenen Abschnitt dieUnterschiede der Entwicklung von FDI-Strö-men in den verschiedenen Weltregionen undLändern bzw. Ländergruppen im Vorder-grund standen, möchten wir diesen Abschnittnutzen, um die wichtigsten Trends in den dreiHauptsektoren einer Volkswirtschaft – Land-wirtschaft und Bergbau, Verarbeitenden Ge-werbe, sowie Dienstleistungen – zu erläutern.Zudem geben wir einen Überblick über dieArt der FDI-Investitionen.

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-915

914

219

4124

4723

3136

43514949

7181

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1717181920

292932

40414141

5354

6467

8389

124227

- 50 0 50 100 150 200 250

NiederlandeChile

LuxemburgIndonesien

MexicoItalien

SpanienIndien

DeutschlandKanada

FrankreichAustralienRussland

Vereinigt. KönigreichSingapurBrasilien

Hongkong, ChinaBelgien

ChinaUSA

2011

2010

TOP-20-FDI-Empfängerländer

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

Mrd. US-DollarNach Höhe der FDI-Zuflüsse im Jahr 2011 sortiert. Ohne British Virgin Islands.

Abb. 4

2313

233

2118

855

3833

39109

6953

6556

9577

4056

304

202020232527303237

475054

65677071

8290

107114

397

0 50 100 150 200 250 300 350 400

NorwegenAustralien

Rep. KoreaDänemark

SingapurSchwedenÖsterreich

NiederlandeSpanien

ItalienKanada

DeutschlandChina

RusslandSchweizBelgien

Hongkong, ChinaFrankreich

Vereinigt. KönigreichJapan

USA

2011

2010

TOP-20-FDI-Herkunftsländer

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

Mrd. US-DollarNach Höhe der FDI-Herkünfte im Jahr 2011 sortiert. Ohne British Virgin Islands.

Abb. 5

Page 58: ifo Schnelldienst 15/2012ifo Schnelldienst 15/2012 – 65. Jahrgang 4 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Deutschland früheres

Daten und Prognosen

Wie Tabelle 3 zeigt, war der Anstieg der FDI-Ströme im Jahr2011 sehr homogen über alle drei Sektoren hinweg. Diesist ein wichtiger Unterschied zum vergangenen Jahr, in demFDI im Verarbeitenden Gewerbe deutlich angestiegen war,während die beiden anderen Sektoren einen Rückgang vonFDI verzeichneten. Im Primärsektor erreichten die FDI-Flüs-se mit 200 Mrd. US-Dollar schon fast wieder den Höchst-wert aus dem Jahr 2008. Im Verarbeitenden Gewerbe wur-de mit 660 Mrd. US-Dollar immerhin der Durchschnittswertaus den Vorkrisenjahren 2005–2007 erreicht. Im Dienstleis-tungssektor – stärkster FDI-Volumina-Rückgang, vor allembedingt durch den Einbruch im Bereich Finanzdienstleistun-gen – liegt der Wert im Jahr 2011 mit 570 Mrd. US-Dollarjedoch noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau.

Obwohl der Primärsektor in seiner Relevanz für FDI weiter-hin deutlich hinter den beiden anderen Sektoren liegt, konn-te er doch einen größeren Anteil am gesamten FDI-Volumenerreichen als noch in den vergangenen Jahren. Ein Anstiegder Investitionen um mehr als 40% führte dazu, dass aus-ländische Direktinvestitionen im Primärsektor 2011 bereitseinen Anteil von 14% an den gesamten Direktinvestitionenausmachten.

Investitionen im Verarbeitenden Gewerbesind hingegen 2011 nur um 7% gestiegen.Dieser Anstieg wurde vor allem getriebendurch die Lebensmittel- und Chemieindus-trie. Multinationale Unternehmen in diesenBranchen haben durch Konsolidierung ihrePosition im Markt gestärkt. So hat beispiels-weise SABMiller aus dem Vereinigten König-reich das australische Unternehmen Foster’sfür 10,8 Mrd. US-Dollar gekauft. Große In-vestitionen im Pharmabereich führten zu ei-nem Anstieg von FDI in der Chemiebrancheum 65%. Die treibenden Kräfte hinter die-ser Entwicklung sind ein dynamischesWachstum der Konsumgütermärkte in Ent-wicklungsländern, die Errichtung von Pro-duktionskapazitäten für neue Gesundheits-produkte sowie ein fortlaufender Restruktu-rierungstrend. Mit dem Ablauf verschiede-

ner Patente für beliebte Medikamente investieren viele Un-ternehmen in Entwicklungsländern, wie die Übernahme vonRanbaxy in Indien durch Daiichi Sankyo aus Japan für4,6 Mrd. US-Dollar illustriert. Andere Sektoren, wie zum Bei-spiel die Automobilindustrie, mussten jedoch einen starkenEinbruch der FDI-Flüsse hinnehmen.

Direktinvestitionen im Dienstleistungsbereich stiegen im Jahr2011 um 15%. Vor allem in den Bereichen Elektrizität, Gasund Wasser führten zahlreiche Megadeals zu einem An-stieg von FDI. Auch der Bereich Transport und Kommuni-kation verzeichnete hohe Wachstumsraten, getrieben durchein starkes Engagement der Telekommunikationsindustriein Lateinamerika. Trotz eines leichten Anstiegs von FDI beiFinanzdienstleistungen im Jahr 2011 erreicht das FDI-Ni-veau in diesem Bereich erst rund 50% des Durchschnitts-wertes vor der Krise. Die meisten Aktivitäten konzentriertensich auf die Versicherungsindustrie, wie die Akquisition derfranzösischen AXA Asian Pacific France durch AMP ausAustralien um 11,7 Mrd. US-Dollar zeigt.

Wie bereits erwähnt, wird allgemein zwischen grenzüber-schreitenden Fusionen und Übernahmen, sowie grenzüber-schreitende Investitionen in neue Anlagen, auch Greenfield-

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Tab. 3 Sektorale Verteilung von FDI-Projekten, 2005–2011 (in Mrd. US-Dollar und %)

Jahr

Wert Anteil

Primärsektor Industrie Dienstleis-

tungen Primärsektor Industrie Dienstleis-

tungen Durchschnitt 2005–2007 130 670 820 8 41 50 2008 230 980 1 130 10 42 48 2009 170 510 630 13 39 48 2010 140 620 490 11 50 39 2011 200 660 570 14 46 40

Quelle: UNCTAD.

0

200

400

600

800

1 000

1 200

1 400

1 600

1 800

2007 2008 2009 2010 2011

Fusionen und Übernahmen

Greenfield-FDI-Projekte

Wertentwicklung von grenzübergreifenden Fusionen und Übernahmen und Greenfield-Projekten weltweit

Quelle: UNCTAD.

Daten zu den Werten von Greenfield-FDI-Projekten beziehen sich auf geschätzte Werte für Kapitalinves-titionen. Der Wert aller grenzübergreifenden Fusionen und Übernahmen sowie Greenfield-Investitionen wird nicht notwendigerweise übersetzt in den Wert von FDI.

Mrd. US-Dollar

Abb. 6

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Daten und Prognosen

Investitionen, als FDI-Form unterschieden. Inden letzten Jahren kam es zu einer stark di-vergierenden Entwicklung dieser beidenGruppen (vgl. Abb. 6). Das Volumen von Fu-sionen und Übernahmen ging von 2007 bis2009 zurück und stieg danach wieder starkan. Der Anstieg um 53% auf 526 Mrd. US-Dollar im Jahr 2011 lässt sich vor allem aufmehrere Megadeals in den Bereichen Phar-mazie und die Ausbeutung von natürlichenRessourcen zurückführen. Im Gegensatz da-zu stieg der Wert von Greenfield-Projektenim Jahr 2008 deutlich an und pendelte sichin den Folgejahren wieder ungefähr auf demNiveau von 2007 ein. Im Jahr 2011 betrugdas Volumen 904 Mrd. US-Dollar. Nach ei-nem starken ersten Quartal ging der Rück-gang von Greenfield-Projekten mit aufkom-mender Besorgnis über die Entwicklung derWeltwirtschaft und der Situation in der Eu-rozone einher. Am Ende des Jahres wurde die leicht positi-ve Entwicklung von Greenfield-Investitionen in Entwicklungs-und Transformationsökonomien durch den negativen Trendin den Industriestaaten neutralisiert.

Insgesamt lässt sich ein Großteil des Wachstums von Di-rektinvestitionen im Jahr 2011 durch grenzüberschreiten-de Greenfield Investitionen und erhöhte Bargeldreservenin ausländischen Tochtergesellschaften erklären. Fusionenund Übernahmen haben in der kurzen Frist meist geringe-re Auswirkungen auf die Produktionskapazität, Wertschöp-fung und Beschäftigung. Damit Investitionen als Motor fürnachhaltige Entwicklung fungieren können, werden zusätz-lich zu Fusions- und Übernahmetätigkeit auch Greenfield-Projekte oder Anlageinvestitionen in existierenden auslän-dischen Tochtergesellschaften benötigt. Deshalb wird die-se Entwicklung allgemein mit leichter Sorge betrachtet.

Nationale und internationale Investitionspolitik

Neben den regionalen und sektoralen Kon-junkturentwicklungen spielt auch die natio-nale und internationale Politik zu grenzüber-schreitenden Investitionen eine wichtige Rol-le für die Entwicklung von ausländischen Di-rektinvestitionen.

Im Jahr 2011 haben 44 Länder insgesamt67 Politikmaßnahmen mit Einfluss auf auslän-dische Direktinvestitionen erlassen. Abbil-dung 7 zeigt, dass die Anzahl der nationalenMaßnahmen im Zeitverlauf stark schwankt.

Das Jahr 2011 war durch einen Rückgang von FDI-Restrik-tionen und -Regulierungen gekennzeichnet. Umgekehrt lässtsich eine Zunahme des Anteils von Maßnahmen zur Investi-tionsförderung und -liberalisierung auf nunmehr 78% erken-nen. Da das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends jedochnoch durch zunehmende Restriktionen von Auslandsinves-titionen gekennzeichnet war, wäre es verfrüht, diese Entwick-lung bereits als allgemeine Trendwende zu interpretieren.

Die Anteile von liberalisierenden und restriktiven Investitions-politiken waren in Industriestaaten sowie in Entwicklungs-und Transformationsländern annähernd gleich. Liberalisie-rungsmaßnahmen betrafen vor allem einige Dienstleistungs-bereiche, wie zum Beispiel die Versorgung mit Elektrizität,Gas und Wasser, Transport und Kommunikation. Verschärftwurde die Zulassung von Direktinvestitionen hingegen in ein-zelnen nationalen Schlüsselsektoren, wie der Erschließungvon Rohstoffen, Landwirtschaft und Finanzdienstleistungen.

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1 000

1 500

2 000

2 500

3 000

3 500regionale IFVsbilaterale IFVs

jährliche Anzahl an IFVs

Trends bei bilateralen und anderen IFVskumulierte Anzahl aller IFVs

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

2011

Abb. 8

0

20

40

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100

120

140

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180

200

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 20110.0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.7

0.8

0.9

1.0

neutral/unbestimmtRegulierung/RestriktionLiberalisierung/Förderung

Anzahl an Maßnahmen

Nationale Investitionspolitik

Anteil Liberalisierung an gesamtin %

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

Abb. 7

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Daten und Prognosen

Vor allem in einzelnen großen Ländern in Lateinamerika undAfrika wuchsen Bedenken vor den Folgen des Verkaufs vonLand an ausländische Investoren, sowie damit einhergehen-den Umweltproblemen und Schwierigkeiten für die wirt-schaftliche Entwicklung lokaler Kleinunternehmer im ländli-chen Raum. Die Angst vor einer Verlagerung von Arbeits-plätzen ins Ausland führte zudem in einigen Ländern zur Ein-führung von restriktiven Maßnahmen gegenüber Direktin-vestitionen im Ausland und verstärkten Anreizen zur Repa-triierung von FDI.

Die Entwicklung der internationalen Investitionsförderungs-abkommen (IFVs) verliert weiter an Schwung und zeigt ei-ne langsame Sättigung (vgl. Abb. 8). Ende 2011 gab es ins-gesamt 3 164 solche Abkommen, wovon 2 833 bilateralerNatur waren und die restlichen 331 Abkommen zu den »an-deren IFVs« (z.B. regionale Verträge oder Freihandelsab-kommen mit Investitionsbestimmungen) gezählt werden.Mit 47 neuen Verträgen war der Zuwachs an neuen IFVsim Jahr 2011 so gering wie zuletzt im Jahr 1989.

Die ständig fallende Anzahl neu abgeschlossener Verträgekann zu einem Teil auch damit erklärt werden, dass regio-nale Abkommen zwischen Ländergruppen zunehmen, dieentsprechend mehrere bilaterale Abkommen ersetzen kön-nen. Beispiele für die wachsende ökonomische Bedeutungsolcher regionaler Verträge sind die Verhandlungen über ei-ne Transpazifische Strategische Partnerschaft (Trans-Pa-cific Partnership Agreement); der Abschluss des Investiti-onsabkommens zwischen Chile, Japan und der RepublikKorea; das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko undden USA, welches ein Kapitel zu Investitionen enthält; unddie Tatsache, dass die Europäische Union nunmehr Inves-titionsförderungsabkommen für alle EU-Mitgliedstaaten ver-handelt. Die umfassende Einbindung von Handels- undInvestitionselementen in einen einzigen Vertrag ermöglichtden teilnehmenden Ländern, besser auf die Anforderungender ökonomische Integration einzugehen,da internationaler Handel und Investitionenvermehrt miteinander verbunden sind.

Wachstumsprognosen

Nach der Konjunkturabschwächung 2011bleiben die Aussichten für globales Wirt-schaftswachstum 2012 verhalten. Es ist zuerwarten, dass die meisten Regionen, spe-ziell Industriestaaten, deutlich unter ihremPotenzial expandieren. Die Schuldenkrise inder Eurozone bleibt weiterhin die größte Ge-fahr für die Weltwirtschaft, zudem könnenauch steigende Energiepreise das Wachs-tum dämpfen. Der globale wirtschaftlicheAusblick hat direkten Einfluss auf die Inves-

titionsentscheidungen von multinationalen Unternehmen.Nach Gewinneinbrüchen 2008 und 2009 haben die Ge-winne in den Jahren 2010 und 2011 wieder zugenommen.Trotz enormer Bargeldreserven zögern multinationale Unter-nehmen wegen der bestehenden Risiken im globalen Inves-titionsklima bei größeren Kapitalausgaben.

Eine Umfrage im Rahmen des World Investment ProspectSurvey 2012 zeigt, dass Firmen in ihrer Einschätzung desInvestitionsklimas sehr vorsichtig sind. Die Mehrheit der Be-fragten ist für das Jahr 2012 neutral oder unentschlossen,was auf große Unsicherheit bei den Investoren hinweist.Die Anzahl der pessimistischen Investoren überwiegt zudemdie der Optimisten. Für die mittlere Frist nach 2012 hellensich die Erwartungen jedoch auf (vgl. Abb. 9).

UNCTAD prognostiziert einen moderaten Anstieg ausländi-scher Direktinvestitionen im Jahr 2012 (vgl. Tab. 4). Für2012–2014 wird ein weiterer Anstieg von FDI in allen dreiLändergruppen (Industriestaaten, Entwicklungs- und Trans-formationsländer) prognostiziert. Allerdings sind diese Vor -aussagen wegen der aktuellen Wirtschafts- und Schulden-krisen mit erheblicher Unsicherheit behaftet.

Abbildung 10 zeigt das wahrscheinliche Szenario sowie einpessimistisches Szenario der UNCTAD für die Entwicklungglobaler FDI-Flüsse. In dem pessimistischen Szenario wer-den negative Schocks in Bezug auf die weltweite Konjunk-tur, Volatilität der Finanzmärkte, und die Unsicherheit überdie Schuldenkrise in Europa berücksichtigt. Unter Berück-sichtigung dieser Einflüsse ergeben die Berechnungen ei-nen zu prognostizierenden Rückgang des globalen FDI-Vo-lumens bis 2014.

In den ersten Monaten des Jahres 2012 gingen sowohlgrenzübergreifende Fusionen und Übernahmen als auchGreenfield-Investitionen zurück. Dies ist ein Indikator dafür,

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2012 2013 2014

pessimistisch und sehr pessimistisch

neutral

optimistisch und sehr optimistisch

Einschätzung des globalen Investitionsklimas durch multinationale Unternehmen

Quelle: UNCTAD Umfrage. Basierend auf 174 validierten Unternehmensantworten.

% der Befragten

Abb. 9

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Daten und Prognosen

dass die Vorhersage einer positiven Wachs-tumsrate von Direktinvestitionen im Jahr2012 stark risikobehaftet ist. Auch die An-zahl an Fusions- und Übernahmeankündi-gungen blieb schwach, was vor allem dieFDI-Wachstumsaussichten für Industriestaa-ten beeinträchtigt. Allerdings unterstützengroße liquide Bestände von multinationalenUnternehmen und hohe Auslandseinkom-men positive Wachstumsaussichten von FDI.

Investitionspolitik als Instrument fürnachhaltige Entwicklung

Der von der UNCTAD entwickelte und imWIR 2012 vorgestellte Leitrahmen für In-vestitionspolitik und nachhaltige Entwick-lung (»Investment Policy Framework forSustainable Development – IPFSD« – sie-he www.unctad.org/ipfsd) soll dazu beitra-gen, FDI verstärkt zu einem Instrument fürnachhaltiges, qualitatives Wachstum zu ma-chen. Unterschiedliche Herangehenswei-sen vieler Länder zeigen die gemeinsameHerausforderung, den »richtigen« Politikan-satz in Bezug auf nachhaltige FDI zu finden.Der von der UNCTAD entwickelte Leitrah-men für nationale und internationale Inves-titionspolitik soll Ländern dabei helfen, in-ternationale Kapitalflüsse für die nachhalti-ge Entwicklung ihres Landes zu nutzen.

Die größten Herausforderungen auf nationa-ler Ebene sind hierbei die Integration der In-vestitionspolitik in die jeweilige Entwicklungs-

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Tab. 4 Zusammenfassung der ökonometrischen Ergebnisse des mittelfristigen Baseline-Szenariosa) für FDI-Flüsse, nach Regionen (in Mrd. US-Dollar)

Empfängerregion

Durchschnitte Projektionen

2005–2007 2009–2011 2009 2010 2011 2011b) 2012 2013 2014 Globale FDI-Flüsse 1 473 1 344 1 198 1 309 1 524 1 524 1 495–1 695 1 630–1 925 1 700–2 110 Industriestaaten 972 658 606 619 748 790 735–825 810–940 840–1 020 Europäische Union 646 365 357 318 421 410–450 430–510 440–550 Nordamerika 253 218 165 221 268 255–285 280–310 290–340

Entwicklungsländer 443 607 519 617 684 656 670–760 720–855 755–930 Afrika 40 46 53 43 43 55–65 70–85 75–100 Lateinamerika und die Karibik 116 185 149 187 217 195–225 215–265 200–250 Asien 286 374 315 384 423 420–520 440–520 460–570

Transformationsländer 59 79 72 74 92 78 90–110 100–130 110–150a) Die Variablen in diesem Modell beinhalten: Marktwachstum der G-20-Länder (G-20-Wachstumsrate), Marktgröße (BIP jedes einzelnen Landes), Ölpreis und Offenheit gegenüber Handel (Anteil an Exporten und Importen am BIP). Das folgende Modell FDIjt = o+ 1*G20t +

2*GDPjt–1 + 3*Openessjt + 4*Oil_pricejt–1 + 5*FDIjt–1 + jt ist geschätzt mit Panel-Daten, Regression mit Fixed-Effekten unter Verwendung von geschätzten generalisierten kleinsten Quadraten mit Cross-Section-Gewichtung. – b) Projektion für das Jahr 2011 im WIR 2011.

Quelle: UNCTAD-Schätzungen, basierend auf UNCTAD (für FDI-Zuflüsse), IWF (G-20-Wachstum, BIP und Offenheit), Vereinte Nationen (Ölpreis) aus dem Link-Projekt.

(A) Folgende Entwicklungsländer werden hier abgebildet: Argentinien, Brasilien, Chile, China,Indien, Indonesien, Iran, Kolumbien, Republik Korea, Malaysia, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafri-ka, Taiwan, Thailand, Türkei, Vereinigte Arabische Emirate, Bolivarische Republik Venezuela.(B) Folgende Industriestaaten werden hier abgebildet: Australien, Bulgarien, Dänemark, Deutsch-land, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Lett-land, Litauen, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien,Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes König-reich, Vereinigte Staaten von Amerika.

Quelle: UNCTAD, WIR 2012.

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2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Industriestaaten

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Scenario based onmacroeconomic shocks

2014201320122011201020092008200720062005200420032002

Basisszenario

PessimistischesSzenario

(A)

Abb. 10Globale FDI-Flüsse, 2002–2011, und Projektion für 2012–2014 (in Mrd. US-Dollar)

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Daten und Prognosen

strategie, die Verankerung nachhaltiger Entwicklungsziele inder Investitionspolitik und die Sicherstellung von deren Ef-fektivität und Relevanz. Zu den wichtigsten Herausforderun-gen der internationalen Investitionspolitik zählen die Stär-kung der Entwicklungsaspekte in IFVs, die Ausbalancierungder Rechte und Pflichten von Staaten und Investoren in sol-chen Verträgen sowie die Bewältigung der systemischenKomplexität des globalen IFV-Netzwerks.

Die elf Grundprinzipien der UNCTAD zur Stärkung der nach-haltigen Entwicklung in den nationalen und internationalenInvestitionspolitiken umfassen die folgenden Themenbereiche:

1. Investitionen für nachhaltige Entwicklung als übergrei-fender Grundsatz,

2. Politikkohärenz,3. öffentliche Verwaltungspraxis und Institutionen,4. dynamische Politikgestaltung,5. ausbalancierte Rechte und Pflichten von Investoren,6. Recht zur Rechtsetzung (»right to regulate«),7. Offenheit für Investitionen,8. Investitionsschutz,9. Investitionsförderung,10. Unternehmensführung und -verantwortung sowie11. internationale Zusammenarbeit.

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2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Zentrales Afrika

Südliches Afrika

Westafrika

Ostafrika

Nordafrika

b) FDI-Zuflüsse

Quelle: UNCTAD, FDI/TNC-Datenbank.

Mrd. US-Dollar

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2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Zentrales Afrika

Südliches Afrika

Westafrika

Ostafrika

Nordafrika

c) FDI-Abflüsse

Quelle: UNCTAD, FDI/TNC-Datenbank.

Mrd. US-Dollar

Abb. 11 FDI-Flüsse in Afrika, 2011

a) Verteilung der FDI-Flüsse zwischen Länderna), 2011 (in Mrd. US-Dollar) Bereich Zuflüsse Abflüsse

Über 3,0 Mrd. US-Dollar Nigeria, Südafrika und Ghana ..

2,0–2,9 Mrd. US-Dollar Kongo, Algerien, Marokko, Mosambik und Sambia ..

1,0–1,9 Mrd. US-Dollar

Sudan, Tschad, Demokratische Republik Kongo, Guinea, Tunesien, Vereinigte Republik Tansania und Niger

Angola und Sambia

0,5–0,9 Mrd. US-Dollar

Madagaskar, Namibia, Uganda, Äquatorialguinea, Gabun, Botswana und Liberia Ägypten und Algerien

0,1–0,4 Mrd. US-Dollar

Simbabwe, Kamerun, Elfenbeinküste, Kenia, Senegal, Mauritius, Äthiopien, Mali, Seychellen, Benin, Zentralafrikanische Republik, Ruanda und Somalia

Liberia, Marokko und Libyen

Unter 0,1 Mrd. US-Dollar

Swasiland, Kapverdische Inseln, Djibouti, Malawi, Togo, Lesotho, Sierra Leone, Mauretanien, Gambia, Guinea-Bissau, Eritrea, São Tomé und Principe, Burkina Faso, Komoren, Burundi, Ägypten und Angola

Demokratische Republik Kongo, Mauritius, Gabun, Sudan, Senegal, Niger, Tunesien, Togo, Zimbabwe, Kenia, Elfenbeinküste, Seychellen, Ghana, Guinea, Swasiland, Mauretanien, Burkina Faso, Botswana, Benin, Mali, Guinea-Bissau, São Tomé und Principe, Cape Verde, Namibia, Mosambik, Kamerun, Südafrika und Nigeria

a) Länder sind geordnet nach der Größe ihrer FDI-Flüsse.

Quelle: UNCTAD, FDI/TNC-Datenbank.

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Daten und Prognosen

Auf der Grundlage dieser elf Prinzipien hat die UNCTAD um-fangreiche, detaillierte und praxisorientierte Richtlinien für dieAusgestaltung der nationalen Investitionspolitiken entwickelt.Sie befassen sich mit den Themen Entwicklungsstrategie,Investitionsregulierung und -förderung, andere investitions-relevante Politikbereiche sowie Effektivität der Investitions-politik. Im Hinblick auf die internationale Investitionspolitikenthält der IPFSD eine Vielzahl von Optionen zur inhaltlichenAusgestaltung von IFVs. Der IPFSD kann damit auch als Ori-entierungsrahmen für künftige Diskussionen zur Investitions-politik auf regionaler und multilateraler Ebene dienen.

Im Fokus: Afrika

FDI-Zuflüsse nach Afrika sind 2011 im dritten aufeinander-folgenden Jahr gesunken, wenngleich der Rückgang nursehr gering war (vgl. Abb. 11). Sie erreichten einen Wertvon 42,7 Mrd. US-Dollar. Industriestaaten haben als Inves-toren in Afrika an Bedeutung verloren, während Transforma-tions- und Schwellenländer dort verstärkt aktiv werden. DieEntwicklung innerhalb Afrikas ist sehr heterogen: starkeRückgänge von ausländischen Direktinvestitionen in Nord-afrika stehen einem Aufschwung von FDI-Zuflüssen im süd-lichen Afrika gegenüber. Ohne die politischen Krisen in Nord-afrika im Jahr 2011 hätte der Gesamtzufluss an Direktin-vestitionen möglicherweise ansteigen können.

Das südliche Afrika ist nicht nur aufgrund seiner natürlichenRessourcen, sondern auch wegen wachsender Märkte at-traktiv für Investoren und erreichte mit Zuflüssen in Höhe von37 Mrd. US-Dollar fast seinen historischen Spitzenwert ausdem Jahr 2008. Nach dem starken Einbruch im vergange-nen Jahr haben sich die FDI-Zuflüsse im Jahr 2011 folglichwieder erholt und im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdop-pelt. Dies war hauptsächlich getrieben durch Zuflüsse nachSüdafrika. Aber auch Länder wie Ghana, Uganda und Äqua-torialguinea zeichnen sich als große Empfängerländer vonDirektinvestitionen aus. Hohe Investitionen fließen vor allemin den Rohstoffsektor durch Investoren aus den USA (Noble Energy) und dem Vereinigten Königreich (Tullow Oil).

In Westafrika flossen die meisten Kapitalströme nach Nige-ria und Ghana, während Guinea eine der höchsten Wachs-tumsraten bei FDI-Zuflüssen aufweisen konnte. Mit Blick aufgroße geplante Investitionsprojekte im Bereich Bauxit undAluminium durch die staatliche China Power Investment Cor-poration wird erwartet, dass sich dieser Trend fortsetzt. DerGroßteil an FDI-Zuflüssen nach Zentralafrika betrifft die roh-stoffreichen Länder Kongo, Äquatorialguinea und die De-mokratische Republik Kongo.

Das bisher als rohstoffarm geltende Ostafrika erhält tradi-tionell die geringsten FDI-Zuflüsse aller afrikanischen Re-gionen. Im Jahr 2011 gelang es jedoch, den Abwärtstrend

der letzten beiden Jahre umzukehren und mit 3,96 Mrd.US-Dollar fast den Spitzenwert aus 2008 zu erreichen. DieEntdeckung von Gasfeldern vor den Küsten von Mosam-bik und Tansania hat wesentlich zu dieser Entwicklungbeige tragen.

Insgesamt zeigt sich in Afrika ein Anstieg von Direktinvesti-tionen im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungs-sektor. Diese Verschiebung deutet jedoch eher auf eine Di-versifikation von wirtschaftlichen Tätigkeiten im Zusammen-hang mit der Nutzung natürlicher Ressourcen hin, als aufeinen Rückgang der Wichtigkeit der Rohstoffindustrie. Vie-le Projekte im Verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleis-tungssektor entstehen im Zusammenhang mit dem Abbauvon Rohstoffen. Eine ausbalancierte internationale Investiti-onspolitik, die diese Diversifikation fördert, kann dazu bei-tragen, den Einfluss von FDI auf die nachhaltige wirtschaft-liche Entwicklung in Afrika zu stärken.

Fazit

Der UNCTAD’s World Investment Report 2012 mit seinerglobalen Darstellung und Analyse der jüngsten FDI-Strö-me und -Politik zeigt wichtige Entwicklungen und Umbrü-che in diesem Bereich auf. Dazu gehören die ständig wach-sende Bedeutung von Entwicklungs- und Transformations-ländern als Empfänger und Ursprung von FDI, eine größe-re Rolle von Staatsunternehmen und »sovereign wealthfunds« sowie ein stärkeres Eingreifen der Politik – sei es imRahmen von industriepolitischen Erwägungen, zur Krisen-bekämpfung oder zur Förderung einer nachhaltigen wirt-schaftlichen Entwicklung. Die Mobilisierung von FDI zurnachhaltigen Entwicklung ist von elementarer Bedeutungin Zeiten von anhaltenden Krisen und enormen sozialen undumweltpolitischen Herausforderungen. Vor diesem Hinter-grund ist es sehr zu begrüßen, dass sich der diesjährigeWIR speziell diesem Thema annimmt.

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Im Rahmen des Klimawandels wird der globale, durchschnitt-liche Temperaturanstieg der Erdoberfläche zumeist relativzur vorindustriellen Zeit angegeben. Diese Formulierung be-tont implizit die Kausalität des Temperaturanstiegs, näm-lich die während der Industriellen Revolution beginnendeFörderung von Kohle und die damit verbundene, exponen-tiell ansteigende Emission von Treibhausgasen. Konkret be-trägt die globale Erwärmung der Atmosphäre seit 1850 nachdem Fourth Assessment Report der IPCC (2007) circa 1°C.Hinzu kommt, dass die Temperaturen immer schneller zusteigen scheinen. Zwischen 1901 und 2005 haben sich dieTemperaturen in Europa um 0,9°C erhöht,während sie zwischen 1979 und 2005 ver-gleichsweise stärker, nämlich um 0,41°C, ge-stiegen sind (vgl. Alamo et al. 2007). Ähn-lich exponentielle Zusammenhänge konntenebenfalls für das Wirtschaftswachstum undden Abbau von Braunkohle und Steinkohlein Europa beobachtet werden. Es stellt sichalso die Frage nach dem Zusammenhangvon Ressourcenabbau, ökonomischemWachstum und Klimawandel. Wie haben sichdiese drei Faktoren in der Vergangenheit be-dingt, und wäre eine Entkoppelung in Zukunftmöglich?

So wie die Dampfmaschine der Motor der In-dustrialisierung in Großbritannien und baldauch in Kontinentaleuropa war, so war Koh-le ihr Treibstoff. Nur die massenhafte Förde-rung von Kohle ermöglichte eine Energieer-zeugung in solchem Ausmaß, dass die Me-chanisierung der bis dahin üblichen Handar-beit realisierbar wurde. Zudem war es dieKohle, die die Voraussetzungen für die Ge-winnung und Verarbeitung von Eisen schaff-te, welches wiederum zum Bau von Maschi-nen benötigt wurde. Nicht zuletzt erfuhr dasTransportwesen mit der Dampfmaschine unddamit verbunden mit dem Einsatz von Koh-le eine bedeutende Innovation in Form derEisenbahn. Ein Blick in die Statistiken zeigt,dass zu der Zeit, als die Förderung von Koh-le in Europa rapide anstieg, auch die Wert-schöpfung in ähnlichem Ausmaß stieg undnicht zuletzt auch die Bevölkerung wuchs.Wirtschaftliches Wachstum ist offensichtlicheng verbunden mit dem Abbau und dem Ge-brauch von natürlichen Ressourcen. Beson-ders deutlich wird dieser Zusammenhang inAbbildung 1a und 1b. Im 19. Jahrhundertnimmt Großbritannien nicht nur im europäi-schen Kohleabbau die Vorreiterrolle ein, auchin Bezug auf das BIP pro Kopf liegt es vorDeutschland und Russland – den beiden

Ländern, die im Laufe des 20. Jahrhunderts die Spitzenpo-sition im Kohleabbau übernehmen werden. Auch bei diesenbeiden Ländern ist ein deutlicher Zusammenhang zwischenKohleabbau und wirtschaftlicher Entwicklung zu erkennen.Während in Deutschland ein deutlicher Anstieg der Kohle-förderung und des BIP pro Kopf bereits Mitte des 19. Jahr-hunderts zu erkennen ist, beginnt eine vergleichbare Ent-wicklung für Russland erst in der ersten Hälfte des 20. Jahr-hunderts. Noch ein weiterer wesentlicher Umstand wird deut-lich: Im Laufe der Zeit ist eine Entkopplung der Wertschöp-fung von der Kohleproduktion zu beobachten. In Großbri-

in Europa – eine historische Betrachtung

Anna Ciesielski und Jana Lippelt

Kurz zum Klima: Kohleabbau, Wachstum und Klimawandel

Abb. 1BIP und Kohleabbau

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1952

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1968

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1984

Deutschland Großbritannien UdSSR

in 1990-Geary-Khamis-Dollar

Quelle: Maddison (2010).

a) BIP pro Kopf

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500

600

700

800

1800

1808

1816

1824

1832

1840

1848

1856

1864

1872

1880

1888

1896

1904

1912

1920

1928

1936

1944

1952

1960

1968

1976

1984

Deutschland Großbritannien UdSSR

b) Kohleabbau (Stein- und Braunkohle)

in Mill. t

Anmerkung: Die Zeitreihen zur Kohleförderung reichen lediglich bis 1985, um größere territoriale Um-

wälzungen zu Beginn der 1990er Jahre vor allem in Osteuropa zu umgehen. Der Abbau in Deutsch-

land bezieht sich zu allen Zeiten auf das gesamte Territorium. Die Kohleförderung in der damaligen

BRD und DDR wurde addiert.

Quelle: Etemad et al. (1991).

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Im Blickpunkt

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tannien ist diese bereits kurz nach der Jahrhundertwende zu sehen, gefolgt vonDeutschland Mitte des 20. Jahrhunderts.Ein Blick auf weitere Statistiken zeigt, dasssich der Energiemix verändert hat. War Koh-le lange Zeit die mit Abstand bedeutend-ste Energiequelle Ende des 19. und Anfangdes 20. Jahrhunderts, so ist sie im Laufeder Zeit sukzessive ersetzt worden durchÖl, Gas und nicht zuletzt durch Atomener-gie sowie – in zunehmendem Umfang –durch erneuerbare Energieträger.

Abbildung 2 zeigt den Abbau von Steinkoh-le und Braunkohle getrennt für die jeweilsfünf größten Produzenten in Europa. Es wirddeutlich, dass der Abbau von Steinkohle er-heblich früher begann und schneller wuchsals der von Braunkohle. In der Förderungvon Steinkohle nahm Deutschland im 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahr-hunderts den zweiten Platz hinter Großbri-tannien ein. Erst dann wurde es von derUdSSR mit großer Geschwindigkeit über-holt. Braunkohle hingegen hat Deutschlanddurch beide Jahrhunderte hinweg mehr alsalle anderen Länder in Europa abgebaut.

Auch die Karten (vgl. Abb. 3 und 4) zeigen,wie sich der Bergbau in den verschiede-nen europäischen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt hat. Bis 1950nimmt die Aktivität im Bergbau kontinuier-lich zu. Erst in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts beginnt in Teilen desKontinents eine Entkoppelung des wirt-schaftlichen Wachstums von der Nutzungvon Steinkohle und Braunkohle. Dies be-trifft insbesondere Zentral- und Westeuro-pa. Im Südosten des Kontinents wächstder Abbau weiterhin. (Wegen der teilweise bedeutendenpolitischen und territorialen Umwälzungen, vor allem inMittel- und Osteuropa zu Beginn der 1990er Jahre, undum die Konsistenz einer vorhandenen Datenquelle zuwahren, wurde die letzte Karte für das Jahr 1985 ange-fertigt.)

Dass wirtschaftliches Wachstum in Europa lange Zeit miteinem steigenden Abbau von Braun- und Steinkohle Handin Hand ging, wurde bereits in Abbildung 1 deutlich. Daüber lange Zeit keine alternativen Energiequellen zur Ver-fügung standen, die Energie in dem Umfang hätten liefernkönnen, in welchem sie im Industriezeitalter benötigt wur-den, war Wachstum entsprechend abhängig von der Ver-fügbarkeit von Kohle.

Ihre Verbrennung steht in unausweichlichem Zusammen-hang mit der Emission von CO2 und anderen Treibhaus-gasen, welche zu einem wesentlichen Teil Mitverursacherdes Klimawandels sind. In diesem Zusammenhang führtTabelle 1 den Brennwert, Kohlenstoffgehalt und die Emis-sion von CO2 je TJ verbrannter Steinkohle und Braun-kohle in kg auf. Es wird deutlich, dass für die Erzeugungderselben Energiemenge mit Hilfe von Braunkohle mehrCO2 emittiert wird als durch die Verwendung von Stein-kohle. Zudem zeigt Tabelle 1 den akkumulierten Abbauvon Steinkohle und Braunkohle in Deutschland und Europazwischen 1800 und 1985, sowie die daraus entstande-nen CO2-Emissionen. Es handelt sich um eine grobe Bier-deckelrechnung, bei der außer Acht gelassen wurde, dassder Kohlenstoffgehalt je nach Region des Abbaus vari-

Abb. 2Steinkohle- und Braunkohleabbau

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1842

1849

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1877

1884

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1898

1905

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1919

1926

1933

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1947

1954

1961

1968

1975

1982

Frankreich Deutschland Polen

Großbritannien UdSSR

in Mill. t

a) Steinkohleabbau

Quelle: Etemad et al. (1991).

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1800

1807

1814

1821

1828

1835

1842

1849

1856

1863

1870

1877

1884

1891

1898

1905

1912

1919

1926

1933

1940

1947

1954

1961

1968

1975

1982

Tschechoslowakei Deutschland Polen

UdSSR Jugoslawien

b) Braunkohleabbauin Mill. t

Quelle: Etemad et al. (1991).

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Im Blickpunkt

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Abb. 3Kohleförderung (1850 bis 1950)

1850 (1 000 t) 0

1 – 100

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1 000 – 5 000

5 001 – 10 000

10 000 – 50 000

50 001 – 100 000

1900 (1 000 t)

1950 (1 000 t)

0

1 – 100

101 – 1 000

1 000 – 5 000

5 001 – 10 000

10 000 – 50 000

50 001 – 250 000

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1 – 100

101 – 1 000

1 000 – 5 000

5 001 – 10 000

10 000 – 50 000

50 001 – 350 000

Steinkohle Braunkohle Beides

Steinkohle Braunkohle Beides

Steinkohle Braunkohle Beides

Anmerkung: Die Färbung der Länder korrespondiert mit dem absoluten Abbau von Steinkohle und Braunkohle. Der Abbau ist nicht relativ zur Bevölkerungsgröße oder der Fläche des Landes zu verstehen.

Quelle: Etemad (1991).

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Im Blickpunkt

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iert. Trotzdem geben diese Berechnungen eine ungefäh-re Vorstellung davon, wie viel CO2 seit der Industrialisie-rung in Europa durch die Verwendung von Kohle emit-tiert wurde: 242 Mrd. Tonnen. In Deutschland waren esimmerhin 57 Mrd. Tonnen. Damit haben wir Deutschen ei-nen erheblichen Anteil an denjenigen historischen Emis-

sionen in Europa, die durch die Verbrennung von Kohleverursacht wurden.

Hinzu kommt, dass aller Voraussicht nach die Bedeutungvon Kohle für die Versorgungssicherheit in Deutschland imZuge des Atomausstiegs wieder zunehmen wird. Auch

Abb. 4Kohleförderung (1985)

1985 (1 000 t) 0

1 – 100

101 – 1 000

1 001 – 5 000

5 001 – 10 000

10 001 – 50 000

50 001 – 400 645

Steinkohle Braunkohle Beides

Anmerkung: Die Färbung der Länder korrespondiert mit dem absoluten Abbau von Steinkohle und Braunkohle. Der Abbau ist nicht relativ zur Bevölkerungsgröße oder der Fläche des Landes zu verstehen.

Quelle: Etemad (1991).

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Im Blickpunkt

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wenn es gelingt, ein paar wenige Prozent der Stromnach-frage durch erneuerbare Energien zu decken, so erschei-nen doch zumindest in der kurzen Frist der vermehrte Ein-satz von Kohle und die damit verbundenen zusätzlichenEmissionen kaum vermeidbar zu sein, sobald weitere Atom-kraftwerke vom Netz gehen.

Langfristig hingegen kann der scheinbar bestehende Ziel-konflikt zwischen einer Reduktion der CO2-Emissionen aufder einen Seite und dem Wunsch weiterhin zu wachsen aufder andere Seite nur durch den Einsatz sauberer Technolo-gien verwirklicht werden. In vielen entwickelten Ländern wirddieser Erkenntnis durch eine verstärkte Fokussierung auf dieEntwicklung alternativer Energiequellen und -technologienRechnung getragen. Betrachtet man allerdings inwieweit derEinsatz kohlenstoffhaltiger Energieträger das Wachstum inden heute reichen Industriestaaten befördert hat, so ist esschwer, weniger entwickelten Ländern die Nutzung der heu-te häufig noch günstigeren fossilen Energieträger zu versa-gen. Sollen auch diese Länder zu einer Einschränkung ih-rer Emissionen bewegt werden, spielt Technologietransfereine entsprechend wichtige Rolle.

Literatur

Alcamo, J., J.M. Moreno, B. Nováky, M. Bindi, R. Corobov, R.J.N. Devoy, C. Giannakopoulos, E. Martin, J.E. Olesen und A. Shvidenko (2007), »Europe.Climate Change 2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contributionof Working Group II to the Fourth Assessment Report of the Intergovern-mental Panel on Climate Change«, in: M.L. Parry, O.F. Canziani, J.P. Paluti-kof, P.J. van der Linden und C.E. Hanson, (Hrsg.), IPCC Fourth AssessmentReport of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Cambridge Uni-versity Press, Cambridge, UK, 541–580.

Etemad, B. J. Liciani, P. Bairoch und J.-C. Toutain (1991), World EnergyProduction 1800–1985, Genève Librairie Droz.

IPCC (2006), 2006 IPCC Guidelines for National Greenhouse Gas Invento-ries, Volume 2 Energy, Chapter 1 Introduction, online verfügbar unter:http://www.ipcc-nggip.iges.or.jp/public/2006gl/index.html.

IPCC (2007), Climate Change 2007: Synthesis Report. Contribution of Wor-king Groups I, II and III to the Fourth Assessment Report of the Intergovern-mental Panel on Climate Change, IPCC, Genf.

Maddison, A. (2010), »Statistics on World Population, GDP and GDP perCapita«, online verfügbar unter: http://www.ggdc.net/MADDISON/oriindex.htm.

Tab. 1 Brennwert, Kohlenstoffgehalt und Emission von CO2 je TJ verbrannter Steinkohle und Braunkohle

Brennwerta) Kohlenstoff-

gehalt CO2-

Emissionen Deutschland Europa

TJ/Gg kg/GJ kg/TJ 106 t Kohleb) 109 t CO2c) 106 t Kohleb) 109 t CO2

c)

Steinkohle 28,20 25,80 94 000 13 116 34,77 75 045 198,93

Braunkohle 11,90 27,60 101 000 19 118 22,98 35 553 42,73 a) Net Calorific Value. – b) Menge an Kohle, die von 1800 bis 1985 in Deutschland bzw. Europa abgebaut wurde. – c) Menge an CO2, das durch die Verbrennung der in Deutschland bzw. Europa abgebauten Kohle zwischen 1800 und 1985 freigesetzt wurde.

Quelle: IPCC (2006); Berechnungen des ifo Instituts.

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Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche WirtschaftDeutschlands hat im Juli nachgegeben. Die aktuelle Ge-schäftslage wird nach dem Anstieg im Vormonat nun wie-der zurückhaltender beurteilt. Auch die Erwartungen für denweiteren Geschäftsverlauf fallen pessimistischer aus. Die Eu-rokrise belastet zunehmend die Konjunktur in Deutschland.

Der ifo Geschäftsklimaindex ist im Baugewerbe, im Groß-handel und im Verarbeitenden Gewerbe gesunken. Im letz-teren fiel der Rückgang am stärksten aus. Die befragten In-dustrieunternehmen berichteten sowohl von einer schlech-teren Geschäftslage als auch trüberen Aussichten für diekommenden sechs Monate. Der Großhandel und das Bau-gewerbe bewerteten zwar ihre Lage etwas besser als imVormonat, jedoch sind sie für die Zukunft nicht mehr ganzso optimistisch. Dies führte in der Summe zu einem Rück-gang des Klimaindexes. Ein Lichtblick stellte der Einzelhan-del dar. Die befragten Unternehmen bewerteten ihre aktu-elle Geschäftssituation erneut deutlich positiver und sindauch weniger pessimistisch bezüglich ihrer weiteren Ge-schäftsentwicklung als im Vormonat.

Das ifo Beschäftigungsbarometer für die gewerbliche Wirt-schaft Deutschlands ist im Juli spürbar gesunken. Es warder stärkste Rückgang seit August 2011. Die gestiegeneUnsicherheit im Rahmen der Eurokrise schlägt sich nun ver-stärkt auch in den Personalplanungen der befragten Fir-men nieder. In nahezu allen Industriebranchen hat das Be-schäftigungsbarometer stark nachgegeben. Eine Ausnah-me bildet die chemische Industrie, die von ausreichendenPersonalkapazitäten berichtet. Auch im Baugewerbe ist dasBeschäftigungsbarometer nach einem Anstieg im Vormonatwieder gefallen. Im Groß- und Einzelhandel planen die Fir-men jedoch weiterhin, behutsam ihren Personalbestand aus-zuweiten.

Im Verarbeitenden Gewerbe hat sich das Geschäftsklimastark eingetrübt. Insbesondere die aktuelle Geschäftslagewird erheblich ungünstiger eingeschätzt als im Vormonat.Die Kapazitäten werden von den Unternehmen deutlich we-niger ausgelastet. Auch die Erwartungen an die weitere Ge-schäftsentwicklung sind kräftig gesunken. Der Lagerdruckhat sichtlich zugenommen. Auch die Verkaufspreise könnenin den kommenden Monaten kaum mehr erhöht werden.Der gegenwärtige Auftragsbestand hat deutlich nachgege-ben. Die Exporterwartungen haben sich jedoch nur leichtverschlechtert. Der Rückgang zieht sich durch nahezu alleTeilbereiche mit Ausnahme der Konsumgüterindustrie. Hierverbesserten sich nicht nur die Lageurteile. Die Befra-gungsteilnehmer blicken auch optimistischer auf das kom-

Klaus Wohlrabe

ifo Konjunkturtest Juli 2012 in Kürze1

1 Die ausführlichen Ergebnisse des ifo Konjunkturtests, Ergebnisse vonUnternehmensbefragungen in den anderen EU-Ländern sowie des Ifo World Economic Survey (WES) werden in den »ifo Konjunkturpers -pektiven« veröffentlicht. Die Zeitschrift kann zum Preis von 75,– EUR/Jahrabonniert werden.

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

Geschäftserwartungen

Gewerbliche Wirtschafta)

Geschäftslage Geschäftsklima

Indexwerte, 2005 = 100, saisonbereinigt

a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

Geschäftsentwicklung

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

a) Verarbeitendes Gewerbe, Bauhauptgewerbe, Groß- und Einzelhandel.

ifo Beschäftigungsbarometer Deutschland

Indexwerte, 2005 = 100, saisonbereinigt

Gewerbliche Wirtschafta)

im Juli 2012

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-30

-20

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0

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-20 -16 -12 -8 -4 0 4 8 12 16 20

Klima positivaber verschlechtert

Klima positivund verbessert

Klima negativaber verbessert

Klima negativund verschlechtert

Geschäftsklima nach Wirtschaftsbereichen

Salden, saisonbereinigte Werte

Veränderung in Prozentpunkten

Verarbeitendes Gewerbe

Einzelhandel Großhandel

im Juli 2012

Bauwirtschaft

Abb. 1

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 2

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 3

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Im Blickpunkt

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mende halbe Geschäftsjahr. Dies korrespondiert mit den gu-ten Ergebnissen im Einzelhandel. Die Nachfragesituation hatsich verbessert. Jedoch sank auch hier der Auslastungs-grad der Maschinen. Insgesamt ist die Kapazitätsauslastungmehrheitlich über die verschiedenen Branchen gesunken.Ein Anstieg wurde nur in wenigen Teilzweigen gemeldet, u.a.in der Metallerzeugung und -bearbeitung, der Mineralölver-arbeitung und der Papierindustrie.

Im Bauhauptgewerbe ist der Geschäftsklimaindex nach demAnstieg im Vormonat gesunken. Zwar schätzen die Bauun-ternehmer die aktuelle Geschäftslage etwas besser ein, be-züglich der weiteren Entwicklung sind sie aber deutlich skep-tischer. Der Auftragsbestand im Vormonat hat sich erheb-lich verbessert, wird aber immer noch verstärkt pessimis-tisch beurteilt. Die Bautätigkeit konnte im Vergleich zum Vor-monat erhöht werden. Der Auslastungsgrad der Maschi-nen und Geräte ist leicht zurückgegangen und liegt auch un-terhalb des Vorjahresmonats. Im Tiefbau hat sich das Ge-schäftsklima aufgeklart. Dies ist insbesondere einer deutlichbesseren Geschäftslage geschuldet, während bei den Er-wartungen die pessimistischen Stimmen wieder zugenom-men haben. Die Bautätigkeit ist deutlich gestiegen, und esist geplant, diese in naher Zukunft weiter zu erhöhen. DieGeräteauslastung ist jedoch um knapp 2 Prozentpunkte ge-sunken. Im Hochbau hat der Geschäftsklimaindex deutlichnachgegeben. Zwar blicken die befragten Bauunterneh-mer etwas optimistischer in die Zukunft, ihre aktuelle Ge-schäftslage stuften sie aber erheblich ungünstiger ein alsim Vormonat. So sank die Beurteilung des Auftragsbestandsdeutlich. Auch die Bautätigkeit ging leicht zurück.

Der Geschäftsklimaindex im Großhandel hat ein wenig nach-gegeben. Während die Firmen von einer leicht verbesser-ten Geschäftslage berichteten, sind sie pessimistischer fürden kommenden Geschäftsverlauf. Der Umsatz gegenüberdem Vorjahr konnte wieder gesteigert werden. Der Lager-druck hat etwas nachgelassen. Jedoch gab eine Mehrheitder Firmen an, die Verkaufspreise im Vergleich zum Vormo-nat gesenkt zu haben. Auch die Bestelltätigkeit wurde wei-ter eingeschränkt. Während im Großhandel mit Konsum-gütern das Geschäftsklima nachgab, stieg es im Ge-brauchsgüterbereich. Dies ist insbesondere auf deutlich we-niger pessimistische Erwartungen zurückzuführen. Im Pro-duktionsverbindungshandel zeigte sich, ebenso wie beimgesamten Großhandel, die konträre Entwicklung: Die Lagewurde im Vergleich zum Vormonat als besser eingeschätzt,jedoch berichteten die Befragungsteilnehmer von sich wei-ter eintrübenden Geschäftsaussichten.

Ein Lichtblick ist die Entwicklung im Einzelhandel. Hier istdas Geschäftsklima wie im Vormonat gestiegen. Die Ein-zelhändler beurteilen sowohl ihre aktuelle Geschäftslageals auch die Erwartungen für das kommende halbe Jahrgünstiger. Der Lagerdruck ist in etwa konstant geblieben,

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

saisonbereinigt

saisonbereinigt, geglättet

Einzelhandel

Salden

Salden aus den Prozentsätzen der Meldungen über zu große und zu kleine Lagerbestände.

Beurteilung der Lagerbestände

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

saisonbereinigt

saisonbereinigt, geglättet

Bauhauptgewerbe

Produktionsmonate

Auftragsbestand

Abb. 5

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Quelle: ifo Konjunkturtest.

Abb. 6

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

a) Ohne Ernährungsgewerbe und Tabakverarbeitung.

Verarbeitendes Gewerbea)

in Prozent, saisonbereinigt

Grad der Kapazitätsauslastung

Abb. 4

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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Im Blickpunkt

und die Umsätze liegen höher als im Vorjahresmonat. DerPreisauftrieb dürfte auch in den kommenden Monaten an-halten. Erneut erheblich verbessert hat sich die Situation imNahrungs- und Genussmittelbereich. Hier stiegen sowohlder Index der Geschäftslage als auch der der Erwartungendeutlich an. Darüber hinaus konnten verstärkt die Lagergeräumt werden. Die Entwicklung in der Unterhaltungs-elektronik ist weiter rückläufig. Nach dem Hoch im Mai, dasder Fußballeuropameisterschaft geschuldet war, sinkt derGeschäftsklimaindex stetig. Jedoch ist weiterhin eine Mehr-zahl der Firmen sowohl bezüglich ihrer aktuellen Ge-schäftslage als auch ihrer Erwartungen für den weiteren Ge-schäftsverlauf optimistisch gestimmt.

Der ifo Geschäftsklimaindikator für das Dienstleistungsge-werbe2 Deutschlands hat im Juli stark nachgegeben. Die-ser Rückgang ist insbesondere auf eine erhebliche Eintrü-bung der Erwartungen zurückzuführen. Auch die aktuelleGeschäftslage bewerten die befragten Dienstleister erneutzurückhaltender. Ursächlich dürften vor allem die deutlichschlechtere Entwicklung beim Umsatz und ein Rückgangbei den aktuellen Bestellungen gewesen sein. Die Perso-nalplanungen sehen jedoch weiterhin eine leichte Aufsto-ckung vor. Im Bereich Transport und Logistik stieg der Ge-schäftsklimaindex deutlich. Insbesondere berichteten dieBefragungsteilnehmer von einer erheblich verbesserten Ge-schäftslage. Aber auch bezüglich der weiteren Geschäfts-entwicklung sind sie leicht optimistischer. Die Reisebürosund Reiseveranstalter profitieren von den Ferien in den ein-zelnen Bundesländern. Der Geschäftsklimaindex ist auchin dieser Branche deutlich gestiegen. Der Umsatz gegen-über dem Vorjahr konnte nochmals gesteigert werden. ImBereich Datenverarbeitung (u.a. Software und Ähnliches)sank jedoch das Geschäftsklima. Die Befragungsteilnehmerberichteten sowohl von einer leicht schlechteren Ge-schäftslage als auch etwas weniger optimistischen Erwar-tungen. Im Vergleich mit der historischen Entwicklung ist dieSituation aber immer noch als sehr gut einzustufen.

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2 In den Ergebnissen für die »gewerbliche Wirtschaft« nicht enthalten.

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2007 2008 2009 2010 2011 2012

Geschäftserwartungen

Geschäftslage

Geschäftsklima

Dienstleistungen

Salden, nicht saisonbereinigt

Geschäftsentwicklung

Abb. 7

Quelle: ifo Konjunkturtest.

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im Internet: http://www.cesifo-group.de

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