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II - ciando.com · Vorwort der Herausgeberinnen der physiolehrbücher Praxis In der Physiotherapie ist einiges in Bewegung gera-ten – mehr, als es bei diesem Bewegungsberuf

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physiolehrbuch Praxis

Physiotherapie in der Neurologie

Herausgegeben von Antje Hüter-Becker und Mechthild Dölken

Autoren:Karin BrüggemannSebastian LaschkeAnne PapeKlaus ScheidtmannSabine StörmerChristl WittmannDorothe Wulf

3., unveränderte Auflage

423 Abbildungen36 Tabellen

PhysiotherapeutenWolfgang Harms

Georg Thieme VerlagStuttgart · New York

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte biblio-graphische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dbd.de abrufbar

1. Auflage 20042. Auflage 2007

© 2010 Georg Thieme VerlagRüdigerstraße 14D-70469 StuttgartUnsere Homepage: http://www.thieme.de

Printed in Germany

Zeichnungen: Barbara Gay, StuttgartMartin Hoffmann, ThalfingenUmschlaggestaltung: Thieme VerlagsgruppeUmschlagfoto: Studio Nordbahnhof,StuttgartSatz: Hagedorn Kommunikation, ViernheimDruck: Grafisches Centrum Cuno, Calbe

ISBN 978-313-129483-8 1 2 3 4 5 6

Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizinständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung undklinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbe-sondere was Behandlung und medikamentöse Therapie an-belangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eineApplikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf ver-trauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorg-falt darauf verwandt haben, dass diese Angabe demWissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht.Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika-tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über-nommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durchsorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendetenPräparate und gegebenenfalls nach Konsultation einesSpezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlungfür Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikatio-nen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Einesolche Prüfung ist besonders wichtig bei seltenverwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf denMarkt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applika-tion erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren undVerlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallendeUngenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht be-sonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchenHinweises kann also nicht geschlossen werden, dass essich um einen freien Warennamen handele.Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheber-rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engenGrenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmungdes Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen.

IV

Vorwort der Herausgeberinnender physiolehrbücher Praxis

In der Physiotherapie ist einiges in Bewegung gera-ten – mehr, als es bei diesem Bewegungsberufohnehin der Fall ist: Die Tür zu einer akademischenAusbildung der Physiotherapeutinnen und Physio-therapeuten hat sich einen Spalt breit geöffnet;die ersten Absolventen eines Fachhochstudiumssind als Bachelor of Science oder als Bachelor ofArts ins Berufsfeld ausgeschwärmt. DerProfessionalisierungsprozess schreitet voran. Undwas bedeutet das alles für die Ausbildung von Phy-siotherapeuten?

In erster Linie bedeutet es, sich auf die Stärkendes Berufs zu besinnen, auf das Charakteristischeder deutschen Physiotherapie: die ausgezeichnetepraktische Fachkompetenz, die uns auch im welt-weiten Vergleich immer wieder bestätigt wird.Nach wie vor gilt, dass das beobachtende Auge –

die haltende, aber auch sich wieder lösende Hand– das achtsame Herz zeitlos gültige Merkmaleeines Physiotherapeuten, einer Physiotherapeutinsind. Mit dem „Bachelor sc. Physiotherapie“, der in-ternational als „reflektierender Praktiker“ definiertwird, können wir einerseits diese praktische Kom-petenz bewahren und andererseits den Anschlussfinden an die weltweite Akademisierung der Phy-siotherapie, die notwendig ist, um das wissen-schaftliche Fundament zu festigen.

Die Lehrbuchreihe Physiotherapie begleitet unddokumentiert seit Jahrzehnten die stetige Weiter-entwicklung des Berufs. In dieser jüngsten Neukon-zeption haben wir der Praxis des Untersuchens undBehandelns in allen Fachgebieten der klinischenMedizin ein noch deutlicheres Gewicht gegebenals vorher; die Gründe sind oben genannt. Die In-halte repräsentieren klinische Inhalte, die vonpraktischer Bedeutung sind in der Ausbildung –

vor allem aber auch später im Beruf. Auf drei Ver-tiefungsebenen werden die Kenntnisse angeboten:Stets gewinnen Sie zunächst einen Überblick überein bestimmtes Thema, gehen dann in die Tiefeund einem Thema auf den Grund, um schließlichin Fallbeispielen konkrete Untersuchungs- und Be-handlungssituationen kennen- und verstehen zulernen. Zusammenfassungen und Hinweise sollenhelfen, das Wissen zu strukturieren und in derWiederholung sich anzueignen.

Leserinnen und Leser, die mit kritischen Fragenoder Anmerkungen dazu beitragen möchten, dieLehrbuchreihe zu optimieren, sind den Autorin-nen/Autoren und den Herausgeberinnen herzlichwillkommen. Dem Thieme Verlag, und hier in ers-ter Linie Rosi Haarer-Becker, sei gedankt für einewiederum höchst engagierte und ergebnisreicheZusammenarbeit bei Neukonzeption und Herstel-lung der physiolehrbücher.

Mechthild Dölken, Antje Hüter-Becker

Vorwort V

Anschriften

Herausgeberinnen:Antje Hüter-BeckerHollmuthstraße 2069151 Neckargemünd

Mechthild DölkenSchule für PhysiotherapeutenKäfertaler Straße 16268167 Mannheim

Autoren:Karin BrüggemannHaupstraße 4269181 Gauangeloch

Dr. med. Sebastian LaschkeIm Rebstall 1179825 Ebringen

Anne PapeKarl-Christ-Straße 1769118 Heidelberg

Dr. med. Klaus ScheidtmannPfaffensteinstraße 4c83115 Neubeuern

Dr. med. Sabine StörmerDeutschhausstraße 1935037 Marburg

Christl WittmannKleingemünderstraße 8369118 Heidelberg

Dorothe WulfChlodwigstraße 6141812 Erkelenzwww.motorik-online.de

VI Anschriften

Inhaltsverzeichnis1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten . 3

Dorothe Wulf

1.1 Multiple Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.2 Progredienz/Chronifizierung. . . . . . . . . 5

1.3 Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Förderndes motorischen Lernens zur Verbes-serung der motorischen Kontrolle . . . 6

1.4.1 Nutzen der neuronalen Plastizität . . . . . 7Klaus Scheidtmann

1.5 Spezifische Arbeitsfelder entsprechenddem Rehabilitationsfortschritt . . . . . . . 8Dorothe Wulf

1.6 Krankheitsverarbeitung und Copingbei neurologisch Kranken . . . . . . . . . . . 10

1.7 Pharmakologische Einflüsse . . . . . . . . . 10Klaus Scheidtmann

2 Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Klaus Scheidtmann

3 Peripheres Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Klaus Scheidtmann

4 Vegetatives Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Klaus Scheidtmann

5 Motorische Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Dorothe Wulf

5.1 Motorische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . 35

5.1.1 Theorien Motorischer Kontrolle . . . . . . . 38

6 Motorisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Dorothe Wulf

6.1 Theorien zum Motorischen Lernen . . . 41

6.2 Motor Relearning. . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Dorothe Wulf, Klaus Scheidtmann

6.3 Prinzipien Motorischen (Wiederer-)Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Dorothe Wulf

6.4 Hemmende und fördernde Faktorenbeim motorischen Wiedererlernen . . . 64

6.5 Mechanismen derFunktionsrestitution . . . . . . . . . . . . . . . 68

Inhaltsverzeichnis VII

7 Ärztliche Untersuchung und Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . . 75

Klaus Scheidtmann

7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

7.2 Klinische neurologische Untersuchung 757.2.1 Erstkontakt mit dem Patienten . . . . . . . 757.2.2 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757.2.3 Funktions- und Leistungszustand des

Nervensystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

7.3 Apparative Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . 80

7.3.1 Elektroenzephalographie (EEG) . . . . . . . 807.3.2 Elektromyographie/Nervenleit-

geschwindigkeit (EMG/NLG). . . . . . . . . . 817.3.3 SEP/VEG/AEP/MEP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817.3.4 Liquoruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 827.3.5 Ultraschalluntersuchung . . . . . . . . . . . . . 827.3.6 Zerebrale Bildgebung. . . . . . . . . . . . . . . . 83

8 Physiotherapeutische Untersuchung,Behandlungsprinzipien und Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Dorothe Wulf8.1 Prinzipien physiotherapeutischer

Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

8.2 Inhalte der physiotherapeutischenUntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

8.2.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928.2.2 Funktionsuntersuchung, Bewegungs-

und Verhaltensbeobachtung . . . . . . . . . . 95

8.3 Zieldefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

8.4 Behandlungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . 125

8.5 Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

8.6 Berichtformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

9 Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131Dorothe Wulf

9.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131Klaus Scheidtmann

9.1.1 Physiotherapeutische Untersuchung . . . 133Dorothe Wulf

9.1.2 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 133

9.2 Locked-in-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 1349.2.1 Physiotherapeutische Untersuchung und

Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

9.3 Apallisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . 135Klaus Scheidtmann

9.3.1 Physiotherapeutische Untersuchung . . . 136Dorothe Wulf

9.3.2 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 138

9.4 Akinetischer Mutismus . . . . . . . . . . . . . 143Klaus Scheidtmann

10 Psychiatrische Syndrome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147Klaus Scheidtmann

11 Neuropsychologische Syndrome und Störungen . . . . . . . . . . . . . .151

11.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Klaus Scheidtmann

11.1.1 Grundsätzliche physiotherapeutischeUntersuchung bei neuropsychologischenStörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Dorothe Wulf

VIII Inhaltsverzeichnis

11.1.2 Prinzipien der Physiotherapiebei Patienten mit neuropsychologischenStörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

11.2 Neuropsychologische Störungen imEinzelnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154Klaus Scheidtmann

11.2.1 Agnosie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

11.2.2 Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15411.2.3 Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15411.2.4 Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Dorothe Wulf11.2.5 Neglekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Dorothe Wulf, Klaus Scheidtmann11.2.6 Räumliche Verarbeitungsstörungen . . . . 160

Dorothe Wulf

12 Motorische Symptome bei neurologischen Erkrankungen . . . .167Dorothe Wulf, Klaus Scheidtmann

12.1 Periphere Nervenläsionen. . . . . . . . . . . 16812.1.1 Physiotherapeutische Untersuchung von

Patienten mit peripheren Paresen . . . . . 16912.1.2 Physiotherapeutische Behandlung von

Patienten mit peripheren Paresen . . . . . 17112.1.3 Fazialisparese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

12.2 Zentrale Paresen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18712.2.1 Physiotherapeutische Untersuchung von

Patienten mit zentralen Paresen . . . . . . 18812.2.2 Physiotherapeutische Behandlung von

Patienten mit zentralen Paresen . . . . . . 192

12.3 Spastik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20412.3.1 Physiotherapeutische Untersuchung von

Patienten mit einer Spastik . . . . . . . . . . 205

12.3.2 Physiotherapeutische Behandlung vonPatienten mit einer Spastik . . . . . . . . . . 208

12.4 Ataxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21512.4.1 Physiotherapeutische Untersuchung von

Patienten mit einer Ataxie . . . . . . . . . . . 21712.4.2 Physiotherapeutische Behandlung von

Patienten mit einer Ataxie . . . . . . . . . . . 217

12.5 Extrapyramidalmotorische Syndrome(„Basalganglien-Erkrankungen“) . . . . . 220

12.5.1 Physiotherapeutische Untersuchung vonPatienten mit einer Dystonie . . . . . . . . . 223

12.5.2 Physiotherapeutische Behandlung vonPatienten mit einer Dystonie . . . . . . . . . 223

12.5.3 Weitere Bewegungsstörungen: Tremorund Akinese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

13 Schmerzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .237

13.1 Was ist Schmerz? . . . . . . . . . . . . . . . . . 237Klaus Scheidtmann

13.2 Komplexes regionales Schmerz-syndrom Complex regional painsyndrome (CRPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239Dorothe Wulf

13.2.1 Physiotherapeutische Untersuchung . . . 239Dorothe Wulf

13.2.2 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 240

13.3 Thalamusschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . 241Dorothe Wulf

13.3.1 Physiotherapeutische Untersuchung undBehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

13.4 Radikuläre Schmerzen. . . . . . . . . . . . . . 242Klaus Scheidtmann

Inhaltsverzeichnis IX

14 Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .247Klaus Scheidtmann

14.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

14.2 Benigner paroxysmaler Lagerungs-schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

14.2.1 Ursache und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . 24714.2.2 Physiotherapeutische Untersuchung . . . 248

Dorothe Wulf

14.2.3 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 248

14.3 Akuter Vestibularisausfall . . . . . . . . . . . 251Klaus Scheidtmann

14.3.1 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 251Dorothe Wulf

15 Multifokale neurologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .255

15.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255Klaus Scheidtmann

15.2 Krankheitsbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25515.2.1 Gedecktes Schädel-Hirn-Trauma (SHT) . 25515.2.2 Offenes Schädel-Hirn-Trauma. . . . . . . . . 25515.2.3 Commotio cerebri (Gehirnerschütterung)25515.2.4 Contusio cerebri. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

15.2.5 Diffuse axonale Schädigung . . . . . . . . . . 25515.2.6 Epidurales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . . . 25615.2.7 Subdurales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . . 25615.2.8 Subarachnoidalblutung (SAB) . . . . . . . . . 256

15.3 Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25615.3.1 Physiotherapeutische Untersuchung . . . 258

Dorothe Wulf15.3.2 Physiotherapeutische Behandlung . . . . . 259

16 Querschnittlähmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263

16.1 Charakteristika der Physiotherapiebei Querschnittgelähmten . . . . . . . . . . 263Anne Pape

16.3 Grundlegende Kenntnisse zur Quer-schnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

16.2.1 Ärztliche Therapie und Diagnostik . . . . 266Sabine StörmerNeurogene Störungen desUrogenitalsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287Sebastian Laschke

16.2.2 Überblick über die physiotherapeutischeUntersuchung bei Querschnittlähmung. 296Anne Pape

16.3 Prinzipien der Physiotherapie beiQuerschnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . 311

16.3.1 Physiotherapie bei kompletterQuerschnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . . 322

16.3.2 Physiotherapie bei inkompletterQuerschnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . . 343

17 Sporttherapie bei Querschnittlähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353Karin Brüggemann, Christl Wittmann

17.1 Charakteristika der Sporttherapie . . . . 353

17.2 Grundlegende Kenntnisse zur Sport-therapie bei Querschnittlähmung . . . . 353

17.2.1 Grundlegende Kenntnissezur Rollstuhlversorgung . . . . . . . . . . . . . 353

17.2.2 Grundlegende Kenntnisse zuden Fertigkeiten in und mit demRollstuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

17.2.3 Sportarten im Rollstuhl. . . . . . . . . . . . . . 355

17.3 Spezielle Kenntnisse zur Sporttherapiebei Querschnittlähmung . . . . . . . . . . . . 357

X Inhaltsverzeichnis

17.3.1 Spezielle Kenntnissezur Rollstuhlversorgung . . . . . . . . . . . . . 357

17.3.2 Spezielle Kenntnisse zu den Fertigkeitenin und mit dem Rollstuhl (Rollstuhl-Training für Patienten mit Paraplegie/Paraparese) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

17.3.3 Rollstuhl-Training für Patienten mit Tet-raplegie/Tetraparese . . . . . . . . . . . . . . . . 375

17.3.4 Spielformen und Spielideen . . . . . . . . . . 38017.3.5 Spezielle Kenntnisse zur Ausführung der

Basissportarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

17.4 Praktische Anwendung der Sport-therapie bei Querschnittlähmung . . . . 390

17.4.1 Rollstuhlversorgung in der Praxis . . . . . 39017.4.2 Fertigkeiten in und mit dem Rollstuhl

(Rollstuhl-Training) in der Praxis . . . . . . 39217.4.3 Von der Sporttherapie in der Rehabilita-

tion zum Leistungssport . . . . . . . . . . . . . 395

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Inhaltsverzeichnis XI

XII Inhaltsverzeichnis

AufgabenorientiertesLernen fördert neuronalePlastizität!

Das Wiedererlernen motorischer Funktionennach Hirnläsionen ist das Ergebnis ausSpontanremission und sorgfältig geplanterund angewandter Lernprogramme

Coping = Strategien

und Mechanismen

zur Bewältigung

von Krankheit und

Krankheitsfolgen

Klinische Wirksamkeit der Forced-use-

und Laufbandtherapie ist belegt!

1 Charakteristika der praktischen Ausbildungam Patienten in der Neurologie

1.1 Multiple Störungen • 3

1.2 Progredienz / Chronifizierung • 5

1.3 Teamarbeit • 5

1.4 Schwerpunkte der Physiotherapie • 6

1.5 Spezifische Arbeitsfelder entsprechenddem Rehabilitationsfortschritt • 8

1.6 Krankheitsverarbeitung und Coping bei neurologisch Kranken • 10

1.7 Pharmakologische Einflüsse • 10

1 2

1 Charakteristika in der praktischenAusbildung am PatientenDorothe Wulf

1.1 Multiple Störungen

Patienten mit neurologischen Erkrankungen leidenunter vielen Symptomen. Sie haben motorische,sensorische, perzeptive, kognitive und viele andereStörungen, häufig in Kombination. Diese Problemewirken sich auf der Körperstruktur- und Funktions-ebene aus, im täglichen Leben und im psychosozia-len Bereich. Es hängt von den individuellen Lebens-bedingungen ab, wie schwerwiegend die Störungenfür den Einzelnen sind.

Für Physiotherapeuten, die in der Neurologiearbeiten, stellen die multiplen Störungen ihrerPatienten eine große Herausforderung dar. EineHemiplegie hat viele Gesichter! Behandlungennach Schema F sind nutzlos.

Gefordert sind Objektivität bei der Untersu-chung, die Fähigkeit, individuelle Ziele zu be-nennen und patientenbezogen zu behandeln. Die2 folgenden Beispiele verdeutlichen das.

Patienten mit einer zentralen oder peripherenneurologischen Läsion zeigen ganz unterschied-liche Symptome.

Schädigungen des peripherenNervensystems

Je nach Läsionsort kommt es bei Schädigungen desperipheren Nervensystems zu motorischen, sensib-len und/oder vegetativen Ausfällen. Symptome wieParesen, Parästhesien, Schmerzen, veränderteSchweißsekretion, Hautverfärbungen, etc. könneneinzeln oder in Kombination auftreten.

Fallbeispiel: Hr. Lang kommt in die Praxis. Er gibtan, dass seine Schulter beim Schwimmen ausgeku-gelt sei. Beim Einrenken wurde mehrfach kräftigan seinem Arm gezogen. Am Tag danach kann erden Arm kaum noch anheben, er gibt Parästhesienüber den lateralen Bereich des M. deltoideus ansowie Schmerzen in der Schulter. Bei der Prüfungder Kraft zeigt Hr. Lang einen Kraftgrad von 1–2(MRC) bei der Flexion der Schulter. Die Schwächedes M. deltoideus pars clavicularis und die beschrie-benen sensiblen Störungen deuten auf eine Schä-digung des Nervus axillaris, aus der Wurzel C5/C6hin.

Periphere Nervenverletzungen können u. a. durchRepositionsmanöver nach Schulterluxationen,durch Kompressionssyndrome (Bandscheibenvor-fall, Karpaltunnel-Syndrom, Thoracic-outlet-Syn-drom, etc.) nach Frakturen, nach Schädigungendurch Bestrahlungen oder geburtstraumatischenVerletzungen auftreten. Die Anamnese und das kli-nische Bild geben in der Regel eindeutige Hinweiseauf den verletzten peripheren Nerv. Die physio-therapeutische Behandlung peripherer Nervenlä-sionen ist in den meisten Fällen eine Kombinationaus symptomatisch und präventiv orientierten The-rapieverfahren. Das Ziel ist die komplette Funk-tionsrestitution und das Vermeiden von Sekundär-schäden. Bei dauerhaft geschädigten peripherenNerven kommen neben symptomatisch und sekun-därpräventiv auch kompensatorisch orientierteTherapieverfahren zum Einsatz. Physiotherapeutenbenötigen vom Arzt genaue Angaben über denBefund und die Prognose, die sich in der Regelaus EMG-Messungen und anderen neurologischenUntersuchungsmethoden ergeben.

Fallbeispiel (Fortsetzung): Hr. Lang: Die konserva-tive Behandlung einer durch Kompression und/oder Zug ausgelösten N.-axillaris-Läsion zeigt fol-gende Symptome:Parese des M. deltoideus, pars clavicularis. Sympto-matische Therapieverfahren: Techniken zur Kräfti-gung des M. deltoideus, selektive Muskelkräftigung,z. B. mittels kräftigender Bewegungsübungen imWasser, PNF und Trainingstherapie, Trainieren vonAlltagsfunktionen mit unterschiedlichem Schwere-grad, z. B. Tisch abwischen, Gegenstände auseinem Schrank ein-/ausräumen, Haare kämmen,Glühbirne ein-, ausdrehen. Später kann auch dieindividuelle sportliche Aktivität, z. B. Schwimmen,trainiert werden.Symptom: Schulterschmerzen. SymptomatischeTherapieverfahren: Physikalische Maßnahmen undTechniken zur Schmerzreduktion, z. B.: Eisappli-kation, Vibrationen im Segment, Bewegen imschmerzfreien Bereich. Bis zur vollständigen Funk-tionsrestitution der Schulter können Wochen verge-hen.

11.1 Multiple Störungen 3

Achtung: Solange der Patient seine Schulter nichtselbstständig über das gesamte Bewegungsaus-maß bewegen kann, besteht die Gefahr einerVerkürzung und/oder einer Verklebung der dasSchultergelenk umgebenden Strukturen (Kapsel,neurale Anteile, Muskulatur). Um dem vorzubeu-gen, sind präventive Therapieverfahren anzu-wenden. Z. B.: passives/assistives/aktives Bewe-gen der Schulter mehrfach täglich (Hausaufga-ben). Apparativ kann das Gelenk in einer Motor-schiene passiv im erlaubten Bewegungsausmaßbewegt werden.Achtung: Das Schultergelenk ist ein überwiegendmuskulär gesichertes Gelenk und nach einer Lu-xationsverletzung sehr schmerzempfindlich. Esbesteht die Gefahr einer Re-Luxation. Ist der Pa-tient nicht in der Lage, selbstständig den Armzu beüben, empfiehlt es sich, einige Stunden täg-lich eine Abduktionsschiene für das Schulterge-lenk zu tragen. Sollte sich im Verlauf zeigen,dass der Nerv nicht (re-) innerviert und aucheine operative Versorgung keinen Erfolg bringt,dann können Therapiemethoden die der Funk-tionskompensation dienen, eingesetzt werden:Aneignen von „Trickbewegungen“, Einsatz vonHilfsmitteln. Fehlende Funktionen können soteilweise oder komplett ersetzt werden. Z. B. beieiner peripheren Peronaeusparese kann der he-rabhängende Fuß mit einer Peronaeusschieneversorgt werden.

Schädigungen des zentralen Nervensystems

Krankheitsbilder bei Läsionen des zentralen Ner-vensystems sind meistens noch komplexer. Hiertreten neben motorischen, sensiblen und vegeta-tiven Symptomen häufig noch weitere Störungenauf, Z. B. Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen,neuropsychologische Störungen, visuelle Störun-gen, neuropsychiatrische Störungen. Um diese mul-tiplen Störungen zu behandeln, stehen unter-schiedliche Berufsgruppen zur Verfügung. AberStörungen im sprachlichen, kognitiven, visuellenund psychischen Bereich haben auch einen mehroder weniger starken Einfluss auf die physiothera-peutische Behandlung des Patienten. Beispiels-weise wird der Umgang mit dem Patienten, dieAuswahl der therapeutischen Maßnahmen sowiedie Dauer der Therapie von den oben genanntenStörungen entscheidend beeinflusst.

Fallbeispiel: Hr. Au, Z. n. ausgedehntem Mediain-fakt links, mit einer sensomotorischen Hemiparese

rechts, einer Broca-Aphasie, ideatorischen Apraxieund einer Hemianopsie. Neben den Symptomen,die in der Physiotherapie behandelt werden, zeigtHr. Au weitere Symptome, die Einfluss auf dieBehandlung haben. Kenntnisse über den Umgangmit diesen Symptomen im therapeutischen Alltagsind elementar wichtig für eine erfolgreicheTherapie.Symptom: Aphasie. Hr. Au spricht sehr langsam undangestrengt. Die Äußerungen bestehen aus einzel-nen aneinandergereihten Wörtern. Er spricht wieim Telegrammstil. Seine Sprachproduktion ist starkund das Sprachverständnis leicht beeinträchtigt.Die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit lässtHr. Au oft verzweifeln. In diesem Fall bedeutet esfür den behandelnden Physiotherapeuten: Zuhörenund warten! Es ist wichtig, Hr. Au aussprechen zulassen und bei unverständlichen Äußerungen nichtzu unterbrechen, sondern warten, ob sich der Sinnnachträglich ergibt. Nicht nur die Sprache dient alsKommunikationsmittel. Auch nonverbale Signalewie Gestik, Mimik oder das Zeigen von Bildern kön-nen Aufschluss geben. Hintergrundgeräusche er-schweren Hr. Au das Sprechen und Verstehen. DieUmgebung, in der er behandelt wird, sollte deshalbruhig sein. In Bezug auf das Sprachverständnis stößtHr. Au bei komplexen Sätzen oder offenen Fragen anseine Grenzen. Er schaut den Therapeuten ange-strengt und fragend an. Eine langsame und deutli-che Sprache des Therapeuten, bei normalem Tonfallund normaler Lautstärke sind hier hilfreich. Wenndie Aussage nicht vom Patienten verstanden wird,dann sollten andere Formulierungen oder alterna-tive Kommunikationsmöglichkeiten wie Gestik oderder Einsatz einer Bildertafel, verwandt werden.

Patienten mit Aphasie haben eine verändertesprachliche Kommunikationsfähigkeit, ihre Denkfä-higkeit ist nicht beeinträchtigt!

Überfürsorge ist ebenso kontraproduktiv wie igno-rieren. Zuhören, warten, beobachten und mitden-ken das sind die Eigenschaften, die für einenerfolgreichen Umgang mit einem aphasischenPatienten wichtig sind!

Ob Sprachstörung oder irgendwelche anderenStörungen, sie werden mehr oder weniger dieKommunikation und den Lehr-Lern-Prozess beein-flussen. Der Therapeut muss für gleiche motorischeZiele andere Strategien entwickeln, als bei einemPatient ohne diese Störungen.

1 4 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

1.2 Progredienz/Chronifizierung

Krankheitsverläufe können in der Neurologie ganzunterschiedlich sein. Symptome, wie sie z. B. beieiner TIA (transitorische ischämische Attacke) auf-treten, verschwinden wieder vollständig. Andersjedoch bei einem Insult. Je nach Lokalisation undUmfang entstehen Störungen, die ganz unter-schiedliche Verläufe haben. Von der komplettenFunktionsrestitution, über einen Funktionswieder-erwerb in Teilbereichen, bis hin zu großen Defek-ten und Ausfällen. Kenntnisse über den Verlaufund die Prognose einer Erkrankung sind für Phy-siotherapeuten wichtig, weil sie entscheidendsind für die Zielsetzung, die therapeutische Maß-nahme, einschließlich der Hilfsmittelversorgung.Multiple Sklerose, Morbus Parkinson oder dieAmyothrophe Lateralsklerose sind Erkrankungen,die einen progredienten Verlauf haben. Das bedeu-tet, dass das Ziel nicht die komplette Funktionsres-titution sein kann. Während bei einer peripherenUlnarisläsion, als Folge einer Druckläsion durchein Ganglion im Handwurzelbereich, durchauseine komplette Funktionsrestitution zu erwartenist. Krankheiten wie die Multiple Sklerose sind pro-gredient und verlaufen schubförmig. Für die Phy-siotherapie ist es wichtig, in welchem Stadiumsich der Patient gerade befindet, weil sich darausIndikation und Kontraindikation für einige Maß-nahmen ergeben.

Manche Symptome können im Verlauf auchchronisch werden. Beispielsweise der Schmerz.Der Prozess der Chronifizierung ist begleitet vonEnttäuschungen und Rückschlägen, fehlgeschlage-

nen Behandlungen und falschen Hoffnungen. DieChronifizierung ist ein Entwicklungsprozess. Esgibt Phasen, in denen der betroffene Menschseine Schmerzen bagatellisiert oder sich über dieSituation ärgert. Später kann es zur Resignationmit sozialem Rückzug und Selbstmordgedankenkommen. Einige wenige Menschen integrierenihre Krankheit in ihre Zukunftspläne.

Für Physiotherapeuten ist es wichtig zu erken-nen, in welcher Phase sich der Patient gerade befin-det, um entsprechend zu unterstützen. Ein über-motivierter Patient, für den nur das Motto gilt:„Viel hilft viel“, ist über die Folgen einer Überbelas-tung aufzuklären. Besonders auf der Stufe der Re-signation ist es wichtig, den Patienten zu motivie-ren, mitzuarbeiten, selbst aktiv zu werden undEigeninitiative zu entwickeln.

Informationen über die Erkrankung und den Ver-lauf sowie die Möglichkeiten der Therapie verbes-sern den Kenntnisstand des Patienten und helfenihm im Prozess seiner Krankheitsbewältigung. Phy-siotherapeuten können mit Fachkompetenz undSensibilität im Gespräch den Patienten über seineSituation aufklären und ihn somit unterstützen.Welche Therapiemöglichkeiten gibt es und welcheMethoden und Maßnahmen werden eingesetzt,um das Therapieziel zu erreichen? Diese Fragensollten im Gespräch mit Patient und Angehörigenbeantwortet werden. Das grundlegendste thera-peutische Mittel ist dabei der Aufbau einer ver-trauensvollen Beziehung zwischen Patient, Ange-hörigen und Physiotherapeut.

1.3 Teamarbeit

Multiple Störungen auf verschiedenen Ebenen er-fordern eine umfangreiche Therapie, die von unter-schiedlichen Berufsgruppen durchgeführt wird.Aber was nützen viele fachliche Disziplinen, wenndiese aneinander und somit am Patienten vorbeiarbeiten? Teamarbeit ist hier das Mittel derWahl! „Fachübergreifende, ganzheitliche Rehabili-tationsziele setzen eine geeignete Teamorganisa-tion und eine aufeinander abgestimmte Arbeits-weise voraus“ (Drechsler 1999:54).

Fallbeispiel: Hr. Au: Der Physiotherapeut erfährtvon dem behandelnden Neuropsychologen, dassder Patient an Aufmerksamkeitsstörungen leidet.Geräusche und bewegter Hintergrund, z. B. das Vor-

beigehen Anderer, lenkt den Patienten ab. Das be-deutet für den Physiotherapeuten, zunächst einmalin einem ruhigen Einzelbehandlungsraum die motor-ischen Funktionen zu üben. Ist der Patient bereitsmotorisch so weit fortgeschritten, dass außerhalbder Therapieräume geübt werden kann, wird auchhier mittels systematischer Belastungssteigerung aufdie Aufmerksamkeitsstörung eingegangen. Z. B.beim außerhäuslichen Gehtraining: Das Gehtrainingwird erst einmal in einem Bereich vor der Klinik/Praxisgeübt, der nicht so belebt und unruhig ist. Währendder Patient geht, spricht der Therapeut ihn nicht an.Im weiteren Verlauf werden die Anforderungen ge-steigert: Gespräche während dem Gehen, Aufmerk-samkeitsänderungen durch ein Training in einer

11.3 Teamarbeit 5

neuen und abwechslungsreicheren Umgebung. DerPhysiotherapeut geht so während der Behandlungder sensomotorischen Störungen auch auf die neu-ropsychologischen Störungen ein. Wichtig: Patien-ten überschätzen sich leicht. Motorisch sind siedurchaus in der Lage, im Behandlungsraum sicherzu gehen. Aber gerade bei Aufmerksamkeitsstörun-gen wird der Patient in einer neuen Umgebung un-erwartet gangunsicher und stürzt leichter.

Ähnliches erfolgt auf dem Gebiet des Neuropsycho-logen. In der interdisziplinären Teambesprechunginformiert der Physiotherapeut alle Therapeutenüber die Problematik der subluxierten, schmerz-haften Schulter eines Patienten. Ein korrektesHandling sowie eine adäquate Sitzhaltung und La-gerung der Extremität im Rollstuhl sind Faktoren,welche die Problematik lindern. Der Neuropsycho-loge sowie alle am Behandlungsprozess Beteiligtenberücksichtigen diese Kenntnis im Umgang mitdem Patienten.

Diese Form der Zusammenarbeit wird inter-disziplinäre Teamarbeit genannt. Das Team setztsich aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusam-men: Pflegekräfte, Neuropsychologen, klinische

Linguisten, Logopäden, Musiktherapeuten, Ärzten,Masseuren, Kunsttherapeuten, Motopäden, Sport-therapeuten, Sozialarbeitern, Orthopädiemecha-niker, Physiotherapeuten. Kenntnisse aus anderenFachdisziplinen werden dabei vorausgesetzt,ebenso wie der gleichberechtigte und respektvolleUmgang innerhalb der eigenen und zwischen denBerufsgruppen. Sie arbeiten alle an einem gemein-sam mit Patient und Angehörigen festgelegten Re-habilitationsziel, welches in dem Behandlungsplander einzelnen Fachbereiche berücksichtigt wird.

Fallbeispiel (Fortsetzung): Das im interdisziplinärenTeam festgelegte Rehabilitationsziel von Hr. Au lau-tet: Innerhäusliche Selbstständigkeit mit leichter Un-terstützung durch die Ehefrau. Ein daraus abgeleite-tes physiotherapeutisches Ziel: Angehörigenanlei-tung zur Hilfestellung beim Gehen mit Hr. Au.

„Ein reflektiertes, gemeinsames therapeutischesHandeln ermöglicht es, von starren Programmenabzuweichen, auf die individuellen Bedürfnisseder Patienten einzugehen und damit langfristigdie Effizienz von Rehabilitation zu erhöhen(Drechsler 1999:63).

1.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Fördern des motorischenLernens zur Verbesserung der motorischen Kontrolle

Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte noch diepessimistische Annahme, dass das Gehirn ein stati-sches Konstrukt sei mit rigide festgelegten neuro-nalen Strukturen, ohne die Möglichkeit zur Rege-neration nach einer Läsion (Ramon y Cajals 1928).Kaum 10 Jahre später änderte sich die Betrach-tungsweise. Foerster (1936) berichtete von derPlastizität des Gehirns und beschrieb aufgrund des-sen Behandlungsmaßnahmen für die neurologischeRehabilitation. Besonders die Weiterentwicklungbildgebender Verfahren, wie z. B. der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), und elektrisch-mag-netischer Verfahren, wie z. B. der funktionellenKernspintomographie (fMRT), ermöglichte es, Hirn-funktionen zu lokalisieren und die Reorganisationnach Hirnläsionen zu untersuchen. Viele Untersu-chungen folgten und ihre Ergebnisse unterstrichendeutlich, dass das zentrale Nervensystem einesausgewachsenen menschlichen Gehirns ein plasti-sches System ist, welches die Fähigkeit zur Adap-tion und Reorganisation besitzt. Ganz gleich, obdie Läsion zentral oder peripher ist, ob sie plötzlicheintritt, wie bei einem Schlaganfall oder sich lang-

sam entwickelt, wie bei einer progressiven Muskel-erkrankung, in all diesen Fällen muss sich das neu-ronale System reorganisieren, es muss sich verän-dern und es muss wieder lernen (Mulder 2001).Aber wie lernt das geschädigte Gehirn motorischeFähigkeiten? Und kann es dabei beeinflusst wer-den? Das Wiedererlernen motorischer Funktionen,nach einer Gehirnläsion, so Mulder, ist das Ergebniseiner Kombination zwischen den spontan auftre-tenden Mechanismen (Spontanremission) undeinem sorgfältig geplanten und angewandten Lern-programm. Das bedeutet, dass Physiotherapeutenin den Prozess der Funktionsrestitution eingreifenkönnen. Die Integration der Kenntnisse über dieneuronale Plastizität und über das motorische(Wiederer-) Lernen in die Methoden der motor-ischen Rehabilitation steigert die Effektivität phy-siotherapeutischer Intervention.

Ein Beispiel für die Fähigkeit des ZNS, motori-sche Fähigkeiten nach einer zentralen Läsion wie-der zu erlernen: Untersuchungen weisen daraufhin, dass „Input“ die notwendige Bedingung fürdas Lernen im Allgemeinen ist. Ohne irgendeine

1 6 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

Form von „Input“ verfallen die zentralen Netz-werke. Grillner (1981), beispielsweise, zeigte imTierexperiment, dass die Schrittbewegungen beispinalisierten Katzen nur erfolgten, wenn ein affe-renter Input gegeben wurde. Durch die Bewegungder Beine auf dem Laufband werden propriozeptiveund kutane Afferenzen erregt, diese regen spinaleLokomotionszentren an, die sogenannten „zentra-len Mustergeneratoren“ oder „Central Pattern Ge-nerator“ auf Rückenmarksebene, welche die Fähig-keit in sich besitzen, sich rhythmisch zu entladen.Wernig (1992) und Dietz (1995) wandten diese Er-kenntnisse erfolgreich in der Behandlung von para-plegischen Patienten an. Durch intensives Lauf-bandtraining konnten koordinierte Beinbewegun-gen wieder erreicht werden. Im Verlauf des Trai-nings waren Lerneffekte erkennbar. Besonders diePatienten mit inkompletter Paraplegie zeigten inden meisten Fällen eine deutliche Verbesserungihrer Gehleistung auf normalem Untergrund.

1.4.1 Nutzen der neuronalen PlastizitätKlaus Scheidtmann

„Die Regeneration durchtrennter Neurone im ZNSdes Menschen ist nie überzeugend demonstriertworden. In den meisten Fällen bleibt nur die An-nahme, dass intakte Nervenfasernverbindungendie Funktion des geschädigten Gewebes überneh-men“. Diese ernüchternden und zugleich ermu-tigenden Worte stammen aus einem Erfahrungsbe-richt des norwegischen Neuroanatomen Alf Brodal,der selbst von einem Schlaganfall betroffen war.Die Behauptung hat z. T. heute noch Gültigkeitund kann aufgrund neuer physiologischer Erkennt-nisse entsprechend unterstützt werden.

Neuronale Plastizität

Neuronale Netzwerke können durch Lernen undErfahrung beeinflusst und verändert werden.Diese Veränderungen sind sowohl auf molekularer(chemische Plastizität) als auch auf strukturellerEbene (anatomische Plastizität) gut beschrieben.Basierend auf tierexperimentellen Untersuchungenkonnte gezeigt werden, dass sich bei jungen Ver-suchstieren, die in ihrer Umgebung Zugang zu ver-schiedenen Aktivitäten und Spielzeug haben undzusätzlich interagieren können, mehr dendritischeVerzweigungen (neuronale Verknüpfungspunkte)und mehr Synapsen/Neuronen entwickeln. Sie zei-gen auch eine höhere Genexpression als Versuchs-tiere, die in einfachen Käfigen aufwachsen.

Ein anderer, sehr wesentlicher Aspekt der neuro-nalen Plastizität ist die Modifikation der kortikalenRepräsentation von Bewegungen durch Afferenzen(Lernen z. B. mittels Feedback und Erfahren). Tran-siente (vorübergehende, einer „Zwischenspeiche-rung“ entsprechende) Veränderungen der kortika-len Repräsentation lassen sich durch das Erlernenvon Bewegungsaufgaben induzieren. Bekannt istdie Größenzunahme des kortikalen Repräsen-tationsgebietes der Finger der linken Hand nachbesonders intensiv geübten Bewegungen.

Mittels bildgebenden Verfahren konnte gezeigt wer-den, dass häufiges Üben ähnlicher Fingersequenzen(z. B. beim Violinenspiel) das kortikale Repräsenta-tionsareal der Finger vergrößern kann. Diese Ergeb-nisse sprechen für eine ausgeprägte neuronale Plas-tizität des gesunden Erwachsenen.

Spontane Rückbildung und neuronalePlastizität nach Schlaganfall

Auch die Befunde zur Plastizität nach einer Schädi-gung des Gehirns sind bemerkenswert. Verände-rung der neuronalen Aktivität werden sowohl inder Umgebung der Hirnschädigung als auch in ent-fernt gelegenen Regionen beobachtet. Intrazel-luläre Ableitungen im fokal geschädigten motor-ischen Kortex von Primaten haben gezeigt, dassdie Zahl von intakten Neuronenverbänden in derunmittelbaren Umgebung der Läsion mit der Zeitweiter abnimmt – möglicherweise als Folge eineseingeschränkten Gebrauches der gelähmten Extre-mität oder durch Unterbrechung intrakortikalerVerbindungen. Dieser Verlust an intaktem Gewebekann durch ein intensives rehabilitatives Trainingverhindert werden. Gleichzeitig kommt es durchdas Training zu einer Größenzunahme jener Korte-xareale, in denen die trainierten Extremitätenrepräsentiert sind.

Die Funktionsübernahme einzelner kortikaler Arealeim Falle einer Schädigung eines einzelnen nenntman neuronale Plastizität.

Sie ist letztendlich eine Substitution auf paralleler(Hirn-)Ebene und entspricht nicht der hierarchi-schen Ordnung, wie sie z. B. noch von Sherrington1969 angenommen wurde. Mithilfe von funktio-nell-bildgebenden Verfahren, wie dem PET(Positronenemissionstomogramm) oder der funk-tionellen Kernspintomographie, lassen sich beiSchlaganfall-Patienten mit guter funktionellerRückbildung ebenfalls kortikale Reorganisations-

11.4 Schwerpunkt Physiotherapie: Fördern des motorischen Lernens zur Verbesserung der motorischen Kontrolle 7

phänomene des motorischen und sensorischenSystems nachweisen. Hinweise für eine funktio-nelle Reorganisation sind schon früh nach einemischämischen Insult erkennbar.

Möglicherweise geht die Neuroplastizität der kli-nischen Funktionserholung voraus und sie ist dieneuroanatomische Grundlage für die später fol-gende klinische Rückbildung. Zusätzlich interagie-ren in diesem Prozess auch neuropharmakologi-sche Mechanismen zur Funktionsrestitution. DerSchwerpunkt liegt jedoch auf der Physiotherapienach zentraler Schädigung.

Trainingsinduzierte Plastizitätnach Schlaganfall

Die Einflüsse von rehabilitativen Interventionenauf die Reorganisationsprozesse des Gehirns sindbisher noch wenig untersucht. Kürzlich wurde beichronischen Schlaganfallpatienten der Effekt derForced-Use-Therapie (erzwungener Gebrauch desparetischen Arms durch Immobilisation des gesun-den Arms) auf die kortikale Plastizität mit transkra-nieller Magnetstimulation untersucht. Dabei zeigtesich, ähnlich wie bei den Versuchen an Affen, eineGrößenzunahme des betroffenen motorischen Kor-tex. Die trainingsinduzierte Plastizität der Forced-Use-Therapie wurde auch in einer Studie mit funk-tioneller Kernspintomographie demonstriert (Dett-mers 2002). Nach 2-wöchiger Behandlung wurde

bei diesen Patienten eine stärkere Aktivität des mo-torischen Kortex in der Umgebung des Infarktes,aber auch kontralateral in der nicht betroffenenHemisphäre beobachtet.

Solche Erkenntnisse aus neurophysiologischenUntersuchungen haben für die Etablierung wirksa-mer Therapieverfahren wesentliche Bedeutung. Be-handlungstechniken, die über aufgabenorientiertesLernen die Neuroplastizität in besonderem Maßefördern, gehören zu den wenigen Behandlungsme-thoden in der motorischen Rehabilitation, derenklinische Wirksamkeit in kontrollierten Studien be-legt werden konnte (Forced-Use-Therapie, Lauf-bandtherapie).

Alf Brodals Beobachtungen vor 30 Jahren (s. o.) sinddemnach auch heute hochaktuell. Die von ihm pos-tulierte neuronale Plastizität ist möglicherweise inerheblichem Umfang therapeutisch beeinflussbar.Hierin liegt die große Chance für die Weiterentwick-lung der neurologischen Rehabilitation nach zent-ralnervösen Schädigungen, insbesondere derPhysiotherapie.

In Kapitel 6 (siehe S. 41) lernen Sie die Prinzipiendes motorischen Lernens kennen und erfahren,welche Faktoren physiotherapeutischer Interven-tionen die motorische Funktionsrestitution fördernoder hemmen.

1.5 Spezifische Arbeitsfelder entsprechend demRehabilitationsfortschrittDorothe Wulf

Physiotherapeuten kommen in allen Phasen derneurologischen Rehabilitation zum Einsatz: inder Frühphase auf der Intensivstation oder ineiner Stroke Unit, in der weiterführenden Reha-bilitation innerhalb verschiedener Rehabilitations-kliniken, in ambulanten und teilstationären Reha-bilitationseinrichtungen, in Behindertenstätten,in der ambulanten Praxis bis hin zum Einsatzin Institutionen zur beruflichen Wiedereingliede-rung.

Die Arbeitsgruppe „Neurologische Rehabilita-tion“ des Verbandes Deutscher Rentenversiche-rungsträger (VDR) entwickelte ein Phasenmodellzur Einteilung neurologisch Erkrankter (Abb. 1.1).Nicht jeder Patient durchläuft alle Stufen. In Ab-hängigkeit vom Erholungsverlauf kann es sein,dass ein Patient von der Phase der Frührehabilita-

tion direkt in die Phase der ambulanten Versorgungwechselt.

Patienten mit neurologischen Krankheitsbildernbefinden sich in den oben genannten Einrichtun-gen jeweils in einem anderen Krankheitsstadium:Akutstadium, Remissionsstadium oder dem Sta-dium des Dauerschadens. In jedem Stadium stehenunterschiedliche Symptome im Vordergrund. Dieseerfordern spezifische, physiotherapeutische Maß-nahmen. Hierzu jeweils ein Beispiel aus demAkut- und aus dem Remissionsstadium:

Unter der Phase A versteht man die Akutbehand-lung, auf einer Intensivstation in einem Akutkran-kenhaus oder, speziell für die Akutversorgung vonSchlaganfallpatienten, in einer sogenannten StrokeUnit. Patienten auf der Intensivstation haben in derRegel lebensgefährliche Organfunktionsstörungen.

1 8 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

Sie benötigen zur Überwachung und Behandlungu. a. technische Therapieverfahren, wie z. B. dasMonitoring des Herz-Kreislauf-Systems oder diekünstliche Beatmung. Im Vordergrund der Behand-lung stehen Maßnahmen zur Lebenserhaltung undzur Vermeidung von Folgeschäden. Aufgrund derhohen Pflege- und Therapiebedürftigkeit ist eineIntensivstation personell höher besetzt als Normal-stationen. Spezifisch qualifizierte Pflegekräfte undÄrzte sind rund um die Uhr im Einsatz. Die Aufga-ben der Physiotherapie auf der Intensivstation sindim Schwerpunkt die prophylaktischen Maßnahmenzur Aufrechterhaltung und Förderungder Vitalfunktionen. Besonders bei Patientennach einem schweren Schädelhirntrauma kommendie sinnesspezifischen Stimulationen (Freivogel1997:80) hinzu sowie spezifische Lagerungen z. B.als tonusregulierende Maßnahme. Der Patient istgewöhnlich nur mit einem Hemdchen bekleidetund das Nachbarbett schließt mit geringem Ab-stand an. Bei allen Maßnahmen ist auf die Wahrung

der Privatsphäre zu achten. Patienten sollten wäh-rend der Therapie von Nachbarn und Besuchernbestmöglich abgeschirmt und nicht unbekleidettherapiert oder liegen gelassen werden. Physiothe-rapeuten sind durch ihre Arbeit auf der Intensivsta-tion besonderen körperlichen und seelischen Belas-tungen ausgesetzt. Der Umgang mit Sterbendenfordert vom Therapeuten eine hohe psychische Sta-bilität. Auch ein hohes Maß an Ein-fühlungsvermögen und die Fähigkeit zur engenTeamarbeit mit Ärzten und Pflegekräften sind An-forderungen, die an den Physiotherapeuten gestelltwerden.

Patienten in der weiterführenden oder postpri-mären Rehabilitation, der sogenannten Phase C,sind bewusstseinsklar und kooperativ. Sie sind inder Lage, aktiv am Rehabilitationsprozess teilzu-nehmen. Sie benötigen in vielen Alltagsaktivitätennoch Hilfe. Deshalb ist das Ziel der Rehabilitation,die Hilfsbedürftigkeit abzubauen und somit dieSelbstständigkeit des Patienten in seinen Alltags-

11.5 Spezifische Arbeitsfelder entsprechend dem Rehabilitationsfortschritt 9

Akutbehandlungeinschließlich Intensivmedizin,Diagnostik, Therapie

Phase A

Patient schwer bewusstseins-gestört, keine Kooperations-fähigkeit.Rehabilitative Einzelförderung

Patient bewusstseinsklarund kooperativ, kann anRehabilitationsmaßnahmenteilnehmen. In ADL noch starkeingeschränkt.Postprimäre Rehabilitation

gegebenenfallsberuflicheRehabilitation

Phase B

Phase C

Patient ist frühmobilisiert.Umfassende, stationäre medizi-nische Rehabilitation

bei alten Patienten und beiSelbstständigkeit in ADLambulante medizinische Rehaoder Nachsorge

Phase D

Phase E

Dauerpflege, ambulantoder stationär, rehabilitativeZustandserhaltung

Phase F

bei Besserung

ambulante medizinische Reha-bilitation zur Verkürzung derstationären medizinischen Reha-bilitation als Intervallbehandlung

Abb. 1.1 Übersicht der Behandlungs- und Rehabilitationsphasen und ihrer Verknüpfungen (Hummelsheim 1998).

aktivitäten, wie z. B. beim An- und Ausziehen oderTransfer, zu steigern. Je nach Art und Umfang derfunktionellen Defizite werden die therapeutischenMaßnahmen ausgewählt. Einzel- und Gruppenthe-rapieformen kommen hier zum Einsatz. Jetzt stehtnicht mehr die Prävention im Vordergrund, son-dern die Unterstützung der Funktionsrestitution

als Voraussetzung für die gesellschaftliche Reinteg-ration. Grundlage für die Therapie ist es zu ergrün-den, welche Faktoren die Funktionen hemmen.Zielfestlegung und Auswahl der geeigneten Maß-nahmen zur Zielerreichung sind die nächstenSchritte.

1.6 Krankheitsverarbeitung und Copingbei neurologisch Kranken

Ereignisse wie der Schlaganfall oder ein Schädel-hirntrauma reißen den Betroffenen plötzlich ausseinem gewohnten Lebensalltag. Von heute aufmorgen ein meistens offensichtlich behinderterMensch zu sein, ist ein schockierendes Erlebnis.Ohne dass sich der Betroffene mit der Erkrankungje genauer beschäftigt hätte, werden er und auchseine Angehörigen und Freunde überrascht. Nachder Schreckensbotschaft müssen sich alle an mehroder weniger veränderte Lebensumstände anpas-sen. Solche massiven Einschnitte ins Leben einesMenschen müssen verarbeitet werden. Dieser Pro-zess wird Krankheitsverarbeitung genannt Die Ver-arbeitung ist ein dynamischer Prozess, der von un-terschiedlichen Faktoren, wie z. B. den Therapie-fortschritten oder den Reaktionen im persönlichenUmfeld, beeinflusst wird.

Dabei muss sich der Patient mit dem Verlust anKörperfunktionen und den daraus resultierendenFolgen auseinandersetzen, wie z. B. der Tatsache,nie wieder Tennisspielen zu können. Häufig ist die-ser Prozess mit starken Gefühlen, wie Zorn, Wutoder Trauer über den Verlust, verbunden undwird von subjektiven Vorstellungen des Patientengeleitet. Der Prozess betrifft nicht nur den Patien-ten selbst, sondern auch sein soziales Umfeld.

Die Strategien und Mechanismen zur Bewältigungder Krankheit und der Krankheitsfolgen werden Co-ping genannt.

Es gibt verschiedene Bewältigungsstrategien, dieein Patient anwendet, z. B. Vertrauen in Ärzte undTherapeuten, Kampfgeist, Selbstermutigung, Ablen-kung etc. Therapeutisch ist professionelle Hilfe mit-tels Psychotherapie das Mittel der Wahl. Hier kön-nen individuelle Bewältigungsstrategien mit demPatienten erarbeitet werden.

Aber auch Physiotherapeuten können ihren Bei-trag leisten und den Patienten bei der Krankheits-verarbeitung unterstützen. Entscheidend ist hier,sich Zeit zu nehmen für Gespräche: Dem Patientenzuhören und ihn ernst nehmen, schafft Vertrauen,die Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenar-beit; auf Ziele und Wünsche des Patienten einge-hen, ihn informieren und aufklären über seinemotorischen Störungen und deren Entwicklungs-potential; erläutern, welche Maßnahmen durchge-führt werden und wie der Patient aktiv mitmachenkann, um die Erfolge zu maximieren. Machen Siedem Patienten Mut. Zeigen sie ihm auf, was erkann und wo seine Ressourcen stecken. Gehen siedabei sensibel vor. Machen sie keine unrealisti-schen Versprechungen. Zeigen Sie ihm, wie er sichtrotz Handicap im Alltag zurecht finden kann undbeziehen sie Angehörige in den Therapieprozessmit ein. Informieren sie ihn über Möglichkeitendes Austauschs mit anderen Betroffenen, wie z. B.in einer Schlaganfall-Selbsthilfegruppe. All dieseAspekte helfen ihm beim Aufbau einer neuen Le-bensperspektive und unterstützen den Prozess derKrankheitsbewältigung.

1.7 Pharmakologische EinflüsseKlaus Scheidtmann

In der Rehabilitation spielt die pharmakologischeBehandlung eine wichtige Rolle. Dem Patient wer-den beispielsweise in der akuten Phase z. T. hoch-dosiert Analgetika, Sedativa und Narkosemittel ver-abreicht. In der Remissionsphase werden u. a. Me-

dikamente gegeben, welche für die funktionelle Er-holung der neuronalen Strukturen hilfreich sind.Viele Patienten leiden nach einer Hirnläsion unterDepressionen und werden entsprechend medika-mentös antidepressiv behandelt. Auch andere

1 10 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

Symptome wie Spastik, Tremor, Antriebsstörungenusw. werden medikamentös behandelt. Physiothe-rapeuten sollten wissen, unter welchem Medika-menteneinfluss ihr Patient steht und sollten beiAuffälligkeiten, die z. B. durch einen Medikamen-tenwechsel positive oder negative Auswirkungenauf die Therapie haben, in engem Austausch mitdem behandelnden Arzt stehen. Hier ein Beispielzum medikamentösen Einfluss von Dopamin beiMorbus Parkinson:

Kernproblem bei der Parkinson-Krankheit ist derMangel an Dopamin. Dopamin ist ein Neurotrans-mitter (Botenstoff), der für den Körper in vielen un-terschiedlichen Bereichen eine natürliche Rollespielt. Er übermittelt Befehle des Nervensystemsan die Muskulatur. Das größte Vorkommen diesesStoffes findet sich in der Substantia nigra im Hirn-stamm. Bei Parkinsonerkrankten ist die Dopamin-konzentration stark gesunken. Medikamente, dieden Dopaminmangel ausgleichen, wirken in derRegel gut. Dopamin wirkt aber außer im Gehirnauch in einigen Bereichen des Sympathikus, demanregend wirkenden nervalen System. Dopaminfördert also die Sympathikusaktivität. Deshalbleidet der Patient bei der Einnahme von Dopaminhäufig an Kreislaufbeschwerden, es wird ihmschwindlig oder schwarz vor Augen. Besonders inder Phase der medikamentösen Einstellung hatder Patient mit diesen Nebenwirkungen zu kämp-fen.

Vorsicht während der Physiotherapie: Kreislaufbe-schwerden führen zu einem erhöhten Sturzrisikobeim Patienten. Der Physiotherapeut sollte Verän-derungen, die er während der Therapie feststellt,dokumentieren und an den Arzt weiterleiten,damit die Medikation ggf. optimiert werden kann.

Kenntnisse über die Wirkung und möglichen Ne-benwirkungen von Medikamenten sind wichtig,um motorische Reaktionen in der Therapie objek-tiver interpretieren zu können. Medikamente kön-nen sich nicht nur auf die Motorik, sondern auchauf andere Bereich auswirken, z. B. auf die Psyche.

Um auch hier Verhaltensreaktionen des Patien-ten, wie z. B. Affektlabilität oder Aggressivität be-werten und interpretieren zu können, sind Grund-kenntnisse über die Pharmakologische Wirkweiseentscheidend.

Die Tabellen 1.1 und 1.2 zeigen die Wirkungenpharmazeutischer Stoffe.

11.7 Pharmakologische Einflüsse 11

Tabelle 1.1 Medikamentöser Einfluss auf dieReorganisation

Positiver Einfluss Negativer Einfluss

BlutdrucksenkendeMedikamente aus der Stoff-gruppe der Ca-Antagonisten

Neuroleptika aus der Stoff-gruppe der Butyrophenone

Antidementiva aus der Stoff-gruppe der Cholinesterase-hemmstoffe

GABA-agonistische Sub-stanzen wie Benzodiazepine

Dopamin undDopaminagonisten

Antikonvulsiva, z. B. Pheny-toin, Barbiturate

Amphetamine Blutdrucksenkende Medi-kamente mit zentralerWirkung aus der Stoff-gruppe der α1-Rezeptor-blocker, α2-Agonisten

Antidepressiva mitErhöhung der Noradrenalin-Konzentration

Äthylalkohol

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Dettmers C, Rintjes M, Weiler C. Funktionelle Bildgebungin der Physiotherapie. Bad Honnef: Hippocampus; 1998.

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1 12 1 Charakteristika in der praktischen Ausbildung am Patienten

Tabelle 1.2 Spezifische Substanzen zur Behandlung depressiver Symptome in der Rehabilitation (Scheidtmann 2003)

Substanz Stoffgruppe Besonderheiten für den Therapeuten

CitalopramSertralinParoxetinFluoxetin

Serotoninreuptakehemmer Kann bei alten moribunden Patienten wegen der geringen Nebenwirkungeingesetzt werden, Wirkungseintritt ca. nach 2 Wochen, auch in der Behand-lung des pathologischen Weinen/Lachen einsetzbar

NortriptylinDesipramin

trizyklischesAntidepressivum

Antriebssteigernde Eigenschaft, Vorsicht bei Herz-Vorerkrankung

Doxepin trizyklischesAntidepressivum

Hat einen positiven Einfluss auf die ReorganisationAuf Grund seiner sedierenden Eigenschaft insbesondere bei Depressionen mitSuizidalität indiziert

Venlavaxin Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Sehr potentes Antidepressivum, Wirkeintritt bereits nach wenigen Tagen, auchhier muss auf die kardiale Verträglichkeit geachtet werden

Reboxetin selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

theoretisch positiven Einfluss auf die Reorganisation bisher keine Studiendatendazu, insbesondere antriebssteigernder Effekt

Mirtazapin tetrazyklischesAntidepressivum

Antidepressivum der neuen Generation mit schlafanstoßender Komponente,Vorsicht bei der gleichzeitigen Gabe von Alkohol und Benzodiazepinen (Wir-kungsverstärkung), nicht bei Diabetes melllitus geeignet

ClozapinOlanzapinQuetiapin

Neuroleptika vomatypischen Charakter

Indikation bei Verwirrtheit und produktiv psychotischer Symptomatik, die so-wohl bei Depressionen, hypoxischen Hirnschädigungen, SHT, aber auch in derBehandlung des Parkinson-Syndroms auftreten können; Atypische Neurolep-tika haben einen geringeren negativen Einfluss auf die Reorganisation als ty-pische Neuroleptika

Noch ein Wort in eigener Sache:Herzlichen Dank an die Therapeuten und Patientender Neurologischen Klinik Bad Aibling und des Ma-rienhospitals Wattenscheid, die sich für die Fotoszur Verfügung stellten. Dorothe Wulf

Sympathikus und Parasympathikus wirken antagonistisch

Die gemeinsame Endstrecke

des sensomotorischen und

vegetativen Nervensystems

ist der periphere Nerv

Die Schädigung des 1. Motoneurons kann eineSpastik verursachen

Nerven leiten mit einer Geschwindigkeit

von ca. 40 - 60 m / sec

2 Zentrales Nervensystem

3 Peripheres Nervensystem

4 Vegetatives Nervensystem

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2 Zentrales NervensystemKlaus Scheidtmann

Wissen Sie, wie viele Neurone zwischen Großhirnund Muskel hintereinander verschaltet sind? Essind zwei. Das 1. und 2. Motoneuron. Die Verschal-tung der beiden findet am Alpha-Motoneuron inder Vorderhornzelle des Rückenmarks statt.

Und wissen Sie, mit welcher GeschwindigkeitNerven dem Gehirn Nachrichten übermittelnkönnen? Mit der eines Formel-1-Autos. Mit 360km/h, oder anders ausgedrückt: Nerven leiten miteiner Geschwindigkeit von ca. 40–60 m/s.

Der menschliche Körper setzt sich aus Millionenvon Zellen zusammen, von denen jede eine be-stimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Zellen mit glei-chen Aufgaben können sich zusammenschließenund so ein Gewebe oder ein Organ bilden. Sie erfül-len so unterschiedliche Funktionen wie dieAtmung, Verdauung oder auch die Bewegung.Damit dies nicht alles durcheinander gerät, mussein Nachrichtensystem bestehen, das die einzelnenFunktionen aufeinander abstimmt. Dieses Nach-richtensystem ist das Nervensystem. Und wie Siean den beiden Eingangsfragen erkennen, ein sehreffektives Nachrichtensystem.

Das Nervensystem versetzt den Menschen in dieLage, Umweltinformationen, die in Form von physi-kalischen Reizen (z. B. Licht, Schall, Wärme, chemi-sche Reize) auf ihn einwirken, aufzunehmen, zuverarbeiten und entsprechend darauf zu reagieren.

Das Nervensystem besteht aus einem Geflecht vonNervenzellen, den Neuronen, die untereinanderdurch „Verlängerungen“, Axonen und Dendriden,verbunden sein können. Dieses komplexe Geflechtist so eingerichtet, dass es die Befehle des Gehirns(zentrales Nervensystem) an die Muskulatur (peri-pheres Nervensystem) weiterleitet und automa-tisch die Funktionen des Körpers steuert, dienicht dem Willen unterworfen sind (vegetativesbzw. autonomes Nervensystem).

Einteilung des Nervensystems

Das Nervensystem des Menschen lässt sich ana-tomisch und/oder funktionell auf verschiedeneWeise unterteilen. Eine solche Einteilung ist will-kürlich und dient vor allem dem Verständnis vonTeilbereichen, da sich in Wirklichkeit meist Struk-turen und Funktionen überlappen. Anatomisch

(strukturell) sind Zentralnervensystem (ZNS) undperipheres Nervensystem (PNS) zu trennen. ZumZNS werden Gehirn und Rückenmark gerechnet,die verbleibenden, dem Gehirn und Rückenmarkentspringenden Nerven (-wurzeln) mit ihrer Fort-setzung in Form einzelner Nerven bilden das peri-phere Nervensystem. Physiologisch (funktionell)lassen sich die Nervensysteme nach einzelnen Auf-gaben unterscheiden in

sensomotorisches System;peripheres Nervensystem;vegetatives Nervensystem.

Das sensomotorische Nervensystem dient, verein-facht gesagt, der Auseinandersetzung des Organis-mus mit seiner Umgebung. Es empfängt Sinnes-eindrücke (Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen/Temperatur/Schmerz etc.), die zunächst spezielleOrgane, die sogenannten Rezeptoren anregen. An-schließend erfolgt die Weitervermittlung des Sin-neseindrucks über die Nervenfasern des periphe-ren Nervensystems, dann über die Bahn des Rü-ckenmarks bis in die speziellen Bereiche des Ge-hirns, wo sie wahrgenommen werden. Neben demEmpfang und der Wahrnehmung von Sinnesein-drücken ist die 2. Aufgabe des sensomotorischenNervensystems die Motorik, d. h. die Entstehungvon Bewegung.

Pyramidales System

Betrachtet man zunächst nur eine „einfache Bewe-gung“ wie z. B. das Beugen eines Fingers, so ergibtsich als Ereigniskette zunächst die Aktivierungeines sogenannten Bewegungsmusters („Beugeden rechten Zeigefinger“) in einem speziellen Hirn-areal. Von dort aus erfolgt die Aktivierung mehre-rer Nervenzellen, die für die einzelnen, bei demVorgang beteiligten Muskeln verantwortlich sind,in der Zentralregion des Gehirns. Von dort werdendie Befehle über spezielle Bahnen quer durch dasGehirn zu verschiedenen Bereichen des Rücken-marks geleitet, um dort liegende Nervenzellen zuerregen. Die Fortsätze dieser Nervenzellen verlas-sen das Rückenmark durch die Nervenwurzel, umin den peripheren Nerven an Fingermuskeln zuenden.

Von besonderer Bedeutung für den Physiotherapeu-ten ist das Verständnis des motorischen Systems.

22 Zentrales Nervensystem 15

Die Rinde der Präzentralregion (Area 4) gilt als derklassische Ursprungsort der sog. Motorik-Bahn, derPyramidenbahn und als Prototyp des motorischenKortex zu verstehen (Brodmann 1905). Abb. 2.1zeigt verschiedene Areale der Hirnrinde und bei-spielhaft die topografische Zuordnung von Störun-gen.

Entwicklungsgeschichtlich ist die Pyramiden-bahn die jüngste der absteigenden (deszendieren-den) Bahnen; sie ist bei Primaten und Menschendeutlich stärker ausgebildet als bei anderen Säu-gern. Aus elektrischen Reizversuchen an der frei-gelegten Kortexoberfläche des Menschen ist die so-matotope Gliederung auf der motorischen Rindegenau bekannt (Abb. 2.2).

Die Neuriten der Pyramidenzellen ziehen alssogenannte Pyramidenbahn durch das Marklager.Sie laufen dabei fächerförmig zusammen, um alshinterer Schenkel der sogenannten inneren Kapselzwischen Thalamus und Linsenkern nach unten zuziehen und anschließend als Hirnschenkel vor

dem Mittelhirn aufzuliegen. In Höhe dieses Be-reichs, der auch Brücke genannt wird, kreuzen einTeil dieser Fasern auf die Gegenseite, um in motor-ischen Kernen die einzelnen Hirnnerven zu bilden.Dieser Teil der Pyramidenbahn wird auch als Trac-tus corticopontinus bezeichnet (Abb. 2.3).

Die Fasern der verbleibenden Pyramidenbahn(Tractus corticospinalis) ziehen aufgefächert zwi-schen den querverlaufenden Fasern der Brücke hin-durch, um sich anschließend als Anschwellung (vonden Anatomen als Pyramiden bezeichnet) wiederzusammenzufinden. Unterhalb der Pyramidenkreuzen 80–85% der Fasern zur Gegenseite (Decus-satio pyramidum), um anschließend im seitlichenAnteil der weißen Substanz des Rückenmarks wei-ter nach unten zu ziehen (Tractus corticospinalis la-teralis). Die nicht kreuzenden Fasern gelangen imvorderen Bereich des Rückenmarks nach unten,um letztlich auf Segmenthöhe zu kreuzen (Tractuscorticospinalis anterior).

2 16 2 Zentrales Nervensystem

Syndrom der Präzentralregionz.B. kontralaterale schlaffe oder spastische Lähmung

Orbitalhirn-syndrom Verstimmbarkeit,Aggressivität,Enthemmung,Anosmie

Syndromder frontalenKonvexitätAntriebs- undAktivitäts-verlust,motorischeAphasie

kontralateraleParesen

motor.Broca-Aphasie

Okzipitalhirn-syndrom

Gesichtsfeld-ausfälle,

optische Agnosie

kontralateralesensible Störungen

Apraxie

AgraphieAlexie

Akalkulie

optischeAgnosie

sensor.Wernicke-

Aphasie

auf dominanterHemisphäre

Area 4

Parietalhirnsyndromz.B. kontralaterale sensible Ausfälle, Apraxie

Temporalhirnsyndromz.B. sensorische (amnestische) Aphasie,Hirnstörungen, komplexe fokale Ausfälle

Abb. 2.1 Hirnrinde und topografische Zuordnung der Störungen.

Etagenweise findet eine Verzweigung der Fasernstatt, die ihre Information auf die in der jeweiligenHöhe befindlichen motorischen Vorderhornzellen,z. T. auch über kleine zwischengeschaltete Inter-neurone, übertragen. Deren Fortsätze verlassenals motorische Vorderwurzeln das Rückenmark,vereinigen sich mit den Hinterwurzeln zum Spinal-nerv, um anschließend als motorischer Anteil einesperipheren Nervs zum jeweiligen Muskel zu ziehen.

Ursprünglich wurde das motorische System alseine hierarchisch organisierte Struktur aufgefasst,in dem der primäre Motorkortex die übergeordneteSchaltstelle repräsentiert, die verantwortlich fürdie Ausführung und Kontrolle der Extremi-tätenmotorik via Pyramidenbahn ist. Dabei wurdender prämotorische Kortex (dorsolaterale AnteileArea 6) und der supplementärmotorische (medialeAnteile Area 6) mitverantwortlich für die Planungund Vorbereitung der Willkürmotorik gemacht.Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass esmehrere parallel arbeitende, deszendierende mo-torische Bahnsysteme gibt, die jeweils eine somato-tope (homunculusartige) Gliederung aufweisen.Abb. 2.4 stellt die motorischen Leitungsbahnenschematisch dar. Im Detail ist die neuronale Organi-

sation von Willkürbewegung immer noch nichtrestlos verstanden. Selektive Läsionen dieser ein-zelnen motorischen Bahnsysteme unterbrechendaher die Impulsübermittlung einzelner motor-ischer Rindenfelder zum Rückenmark. In vielerleiphysiologischen Untersuchungen, auch mittelsfunktioneller Bildgebung und transkranieller Kor-texstimulation, konnte gezeigt werden, dass dieverbliebenen motorischen Bahnsysteme die Funk-tion der ausgefallenen Bahnsysteme übernehmenkönnen, und dass hierin ein wesentliches Prinzipmotorischer Funktionsrückbildung liegt (sieheKap. 1, Plastizität, S. 7).

Bei einer Schädigung der Pyramidenbahn findetman das Babinski-Zeichen, bei einer Schädigungdes 1. Motoneurons sind die Muskeleigenreflexegesteigert, bis hin zu verbreiterten Reflexzonenund kloniformen Reflexantworten. Hier kanndann von spastischer Tonuserhöhung gesprochenwerden.

Die Schädigung des 1. Motoneurons kann eineSpastik verursachen!

22 Zentrales Nervensystem 17

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ZehenGenitalien

KnöchelZehen

Kleiner FingerRingfingerMittelfingerZeigefingerDaumenAuge

NaseGesichtsausdruckOberlippeMundUnterlippeZähne, Zahnfleisch, KinnZungePharynxEingeweide

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Kleiner FingerRingfingerMittelfingerZeigefingerDaumen

HalsAugenbrauenAugenlid, AugapfelGesichtsausdruckMundKinnZungeSchlucken

sensible Rindenfelder motorische Rindenfelder

SpeichelsekretionK

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Stimm

bildung

Abb. 2.2 Somatotope Gliederung der motorischen Rinde in Form eines Homunculus (Penfield u. Rasmussen 1950).