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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte III. Mittelalter 1 III. Die Wirtschaft im Mittelalter (500 1500) (Cameron 1989, Kapitel 3, mit zahlreichen Ergänzungen) 1. Die mittelalterliche Landwirtschaft .................................................................................... 4 1.1. Charakteristika der mittelalterlichen Landwirtschaft ...................................................... 4 1.2. Gesellschaftliche und politische Implikationen der mittelalterlichen landwirtschaftlichen Organisation.................................................................................. 8 1.3. Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom Mittelmehrraums nach Nordwesteuropa (und nach Zentral- und Osteuropa) ................................................... 12 2. Wiederaufkommen der Städte und dessen Auswirkungen ............................................ 14 2.1. Neuentstehung von Städten ........................................................................................... 14 2.2. Handelsströme im Mittelalter (Fernhandel) .................................................................. 15 2.3. „Industrie“: Handwerk und Manufaktur........................................................................ 17 2.4. Die Zünfte...................................................................................................................... 21 3. Krise des Mittelalters Übergang zur Neuzeit................................................................ 22 3.1. Einleitung der Krise....................................................................................................... 22 3.2. Tiefergehende Krisenursachen ...................................................................................... 23 4. Fazit: Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa (Mitterauer) ...................... 26 4.1. Eine neue Sicht der Entstehung Europas ....................................................................... 26 4.2. Der Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’ Europa (Mitterauer, mit Erweiterungen) .................................................................................. 27

III. Die Wirtschaft im Mittelalter (500 1500)...Das Wiederaufkommen der Städte und 3. Krise des Mittelalters und Übergang zur Neuzeit. Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie

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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte III. Mittelalter

1

III. Die Wirtschaft im Mittelalter (500 –

1500)

(Cameron 1989, Kapitel 3, mit zahlreichen Ergänzungen)

1. Die mittelalterliche Landwirtschaft .................................................................................... 4

1.1. Charakteristika der mittelalterlichen Landwirtschaft ...................................................... 4

1.2. Gesellschaftliche und politische Implikationen der mittelalterlichen

landwirtschaftlichen Organisation .................................................................................. 8

1.3. Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom Mittelmehrraums nach

Nordwesteuropa (und nach Zentral- und Osteuropa) ................................................... 12

2. Wiederaufkommen der Städte und dessen Auswirkungen ............................................ 14

2.1. Neuentstehung von Städten ........................................................................................... 14

2.2. Handelsströme im Mittelalter (Fernhandel) .................................................................. 15

2.3. „Industrie“: Handwerk und Manufaktur ........................................................................ 17

2.4. Die Zünfte...................................................................................................................... 21

3. Krise des Mittelalters – Übergang zur Neuzeit................................................................ 22

3.1. Einleitung der Krise....................................................................................................... 22

3.2. Tiefergehende Krisenursachen ...................................................................................... 23

4. Fazit: Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa (Mitterauer)...................... 26

4.1. Eine neue Sicht der Entstehung Europas ....................................................................... 26

4.2. Der Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’ Europa

(Mitterauer, mit Erweiterungen) .................................................................................. 27

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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte III. Mittelalter

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Das Mittelalter kann grob strukturiert werden durch die Einteilung in

* Frühmittelalter, 500-1000, geprägt durch die Dominanz der Landwirtschaft,

* Hochmittelalter (1000-1300); hier werden Städte neu gegründet; es bildet sich

langsam eine Städtezivilisation aus – bei Dominanz des Landes! - und

* Spätmittelalter, 1300-1500, Krise ab etwa 1300 und Wiederaufschwung ab

ungefähr1450.

Den Jahreszahlen darf natürlich keine genaue Bedeutung beigemessen werden – es sind

grobe Marksteine. Auch die allgemeine Einteilung kann diskutiert werden. So wurde gesagt,

das Mittelalter sei im Westen geprägt durch die Katholische Christenheit; es beginne im Jahre

313, in dem der römische Kaiser Konstantin das Christentum tolerierte (380 wurde es

Staatsreligion), und ende 1517 mit dem Thesenanschlag von Luther zu Wittenberg, mit dem

der Protestantismus entsteht und das Zeitalter der Glaubensspaltung beginnt.

Lange wurde das Mittelalter als eine Zeit des Obskurantismus und der wirtschaftlichen

Stagnation betrachtet. Diese Auffassung setzte mit den geistigen Strömungen von

Humanismus und Renaissance ein; beide implizieren eine freie Auseinandersetzung mit der

griechisch-römischen Antike. Der Humanismus (Erasmus von Rotterdam) beschäftigt sich mit

antiker Dichtung und Philosophie. Die Renaissance umfasst alle Lebensbereiche:

Naturwissenschaften, Medizin, Technik; (römisches) Recht, Wirtschaft (Produktion und

Handel); die Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur).

Die Vorstellung vom Mittelalter als einer dunklen Zeit erreichte mit der Aufklärung im

18. Jahrhundert ihren Höhepunkt und dauert über das 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jh

hinein (bis um 1970 herum). Der Glaube an die Wissenschaft und der Fortschrittsglaube

dominieren; dabei stand die Idee des absoluten Fortschritts im Zusammenhang mit der

Evolutionstheorie im Vordergrund. Das MA wird als Zeitalter des Aberglaubens und des

religiösen Fanatismus bezeichnet. Das ausgezeichnete kleine Buch der französischen

Kunsthistorikerin Régine Pernoud: Pour en finir avec le Moyen Age (Paris, Editions du Seuil

1977) räumt mit dieser Vorstellung auf. Grob gesprochen hat seit den 1970er Jahren ein

Gesinnungswandel in der Haltung zum Mittelalter eingesetzt.

Diese Vorstellung vom dunklen Mittelalter trifft tatsächlich überhaupt nicht zu. Wenn

man nur das Wirtschaftliche und Soziale betrachtet, war das MA in dreifacher Hinsicht

Grundlage für die modernen Entwicklungen, die mit der industriellen Revolution (1770-80)

einsetzten:

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1) Das MA wies eine überraschend starke ökonomische und technische Dynamik auf

(Mühle als Energiequelle; eine Maschinenbautradition, die schon im Frühmittelalter

einsetzte).

2) Die mittelalterlichen Institutionen regeln das Wirtschaftsleben bis zur industriellen

Revolution (z.B. die Zünfte; das Handwerk ist Ausgangspunkt für die Entwicklung

über die Manufaktur zur Fabrik).

3) Im MA entstehen auch die sozialen Voraussetzungen für den Handelskapitalismus

(etwa 1500-1750) und das Industriezeitalter (ab 1770-80): in den west- und

zentraleuropäischen Städten entsteht nämlich das europäische Wirtschaftsbürgertum.

Der österreichische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer geht noch

weiter. Nach ihm hat bereits das frühe Mittelalter die allgemeinen Grundlagen für die

moderne europäische Entwicklung gelegt; im Hochmittelalter haben dann die

Versammlungen der Stände – Adel, Geistlichkeit und später das Bürgertum – die Grundlagen

zur Herausbildung des europäischen Parlamentarismus und der Demokratie gelegt. Darauf

kommen wir im Abschnitt 4 kurz zurück. Doch vorerst: 1. Die mittelalterliche

Landwirtschaft; 2. Das Wiederaufkommen der Städte und 3. Krise des Mittelalters und

Übergang zur Neuzeit.

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1. Die mittelalterliche Landwirtschaft

1.1. Charakteristika der mittelalterlichen Landwirtschaft

a) Es besteht ein Gegensatz zwischen Altertum und Mittelalter:

In den Hochkulturen des Altertums (von Sumer bis Rom) dominierten die Städte, obwohl

die grosse Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande lebte.

Im MA dominieren dagegen die ländlichen Institutionen, obwohl die städtische

Bevölkerung in Italien und in Flandern z.B. zunimmt. Landbesitz war untrennbar verbunden

mit politischer Macht und mit sozialem Prestige. Wiederum sieht man, dass es so etwas wie

absoluten Fortschritt nicht gibt.

b) Von zentraler Bedeutung ist die im Frühmittelalter, geschaffene Grundherrschaft:

Der adelige Oberherr gibt seinen Gefolgsleuten (Vasallen) Land zum Lehen. Die

untersten dieser Vasallen werden zu Grundherren.

Auf dem Grund und Boden (Gebiet) des Lehens übt der Grundherr nicht nur weitgehend

die politische und richterliche Gewalt aus, sondern er bestimmt auch die wirtschaftliche

Nutzung des Bodens.

Vereinfachend gesagt, ist die Grundherrschaft auf zwei unterschiedliche Arten realisiert

worden, die mit der politischen Lage zusammenhangen, die – mehr oder weniger - instabil

oder stabil sein konnte.

Die Instabilität hat im Frühmittelalter dominiert. Die Grundherrschaft stellte dann eine

Partikulargewalt dar, die zustande kam, weil die Staatsgewalt weitgehend schwach oder sogar

nichtexistent war.

Die politische Instabilität entstand nach dem Untergang des (west-)römischen Reiches

(um 500). Es entstehen in Westeuropa sukzessive instabile Nachfolgestaaten im Zuge der

germanischen Völkerwanderung.

Die Instabilität wird noch gefördert durch verschiedene Invasionen:

- Araber (Mauren): besetzen 711 Spanien, 732 bei Poitiers geschlagen (von Karl

Martell, dem Grossvater Karls des Grossen)

- Die Magyaren (Ungarn) verwüsten Süddeutschland, Italien und Ostfrankreich.

- Die Normannen (Vikinger) plündern in England und Nordfrankreich

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[Einschub aus Internet: Während des 9. Jh. zogen die Normannen-Wikinger

(überwiegend Dänen, aber auch Norweger) durch Nord- und Mittelfrankreich. Entlang der

Flüsse plünderten sie Dörfer, Städte und Klöster.

Die westfränkischen Könige hatten ihnen kaum etwas entgegenzusetzen.

Am Ende dieser Kämpfe stand der Vertrag von St. Clair-sur-Epte von 911 zwischen dem

Normannenführer Rollo und dem französischen König Karl dem Einfältigen: In diesem

Vertrag wurde festgehalten, daß die Normannen Christen werden, Karl den Lehnseid leisten

und die Küsten vor anderen Normannen schützen sollten. Als Gegenleistung erhielten sie die

Normandie als Lehen und Siedlungsgebiet.

Aufbau eines neuen Herzogtums: Was den Normannen im 10. und 11. Jh. gelang, war der

Aufbau eines fast selbständigen Herzogtums von hoher kultureller Qualität. Sie bauten sehr

viele Kirchen und Klöster und beschenkten sie reich. So wurde die Abtei Mont St. Michel

restauriert und ausgebaut. Schon bald blühte in der Normandie eine reichhaltige

Klosterkultur: Die normannischen Klöster waren ein Ort der Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und

Gottesfurcht, aber auch der Reform. Sie wurden Vorbild für viele Klöster in Frankreich.]

In diesem Klima der Unsicherheit konnten keine stabilen Staatswesen zustande kommen;

deshalb wird die politische Gewalt auf den grundherrschaftlichen Territorien ausgeübt: die

Herrschaftsgewalt wird mit Bann bezeichnet.

In dieser Zeit hat auch die Kirche als relativ gut organisierte Kraft zur politischen

Stabilisierung beigetragen und konnte so das Leiden der ursprünglich ansässigen römischen

Bevölkerung lindern (vor allem in Frankreich und Italien). Es gab Fürstbischöfe, z.B. der

Bischof von Sitten (im Jahre 999 überliess der letzte Burgunderkönig Rudolf III. die

Grafschaft Wallis dem Bischof Hugo von Sitten als Lehen).

Eine bedeutsame politische Stabilität kam im karolingischen Reich um etwa 800

zustande, vor allem unter Karl dem Grossen (von 768-800 fränkischer König, dann Kaiser bis

zu seinem Tode 814; Dreiteilung des Reiches 843). Hier war die Grundherrschaft Grundlage

des Herrschaftssystems, das den Ausgangspunkt bildete für die neuzeitlichen und modernen

europäischen Entwicklungen (Teil 4). In karolingischer Zeit galt das Lehen nur für eine

beschränkte Zeit – maximal für die Lebenszeit des untersten Lehensnehmers, des Grafen. Die

Grundherren (Grafen) übten die politische und richterliche Gewalt im Namen des Kaisers aus.

Neben den weltlichen Grundherren gab es auch geistliche Grundherren (Bischöfe) sowie die

Klöster. Verteidigung und Kriegsführung waren zentral vom Kaiser geregelt. Die

wirtschaftliche Nutzung des Landes wurde vom Grundherren aufgrund von kaiserlichen

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Direktiven geregelt. Die Art und Weise, wie das Land genutzt wurde ist nun von

ausserordentlicher Bedeutung, wie der nächste Abschnitt zeigt.

c) Wirtschaftliche Organisation der Grundherrschaft (im karolingischen Reich)

Diese beruht auf der Zweiteilung des Bodens (domaine bipartite) (nicht zu verwechseln

mit der Zweifelderwirtschaft, die eine agrartechnische Einrichtung ist). Die Zweiteilung des

Bodens ist eine soziale und politische Institution:

* ein Teil des Bodens wird direkt vom Grundherrn bebaut (Herrengut), der zur

Verwaltung einen Verwalter (Meier) einsetzt.

Auf dem Herrengut setzt technische Dynamik ein: Über die Mühle wird die

Wasserkraft genutzt: Einfache Anlagen werden betrieben, z.B. um Getreide zu

mahlen und Holz und Steine zuzusägen.

* der andere Teil wird an die Bauern zur Nutzung übergeben (‚Verpachtung’ ist in

diesem Zusammenhang nicht ganz richtig) und von diesen bebaut, um sich und ihre

Familien zu ernähren.

Das den Bauern zur Nutzung übergebene Land wird in Höfe (Hufen oder Mansen)

aufgeteilt; auf den Höfen sind die Bauern selbständig. Dies fördert die Eigeninitiative.

Obwohl die Bauern Leibeigene sind, ist ihr gesellschaftlicher Status im karolingischen Reich

viel besser als die soziale Position der römischen Sklaven.

Allerdings müssen die Bauern Abgaben leisten und auf dem Boden des Grundherrn

Dienstleistungen (Fronarbeit) erbringen. Die Fronarbeit beträgt in der Regel sechs Monate

pro Jahr. Freie Bauern müssen vier bis sechs Wochen Fronarbeit leisten.

Der Lehensboden war ursprünglich ‚Gemeineigentum’: Sowohl der Grundherr wie die

Bauern hatten bestimmte Nutzungsrechte, die mit Pflichten verbunden waren.

Jedenfalls kann als vorläufige Schlussfolgerung festgehalten werden, dass die

Zweiteilung des Bodens für die weitere europäische Entwicklung von entscheidender

Bedeutung war. Auf dem Herrengut wurde über die Mühle, d.h. die mit Wasserkraft

angetriebenen Anlagen (Weizenmühlen, Holz- und Steinsägen), eine technische Dynamik

ausgelöst, die einen zentralen Faktor für in der Industriellen Revolution darstellte, die den

Durchbruch zur Moderne brachte. Die West- und Zentraleuropäer bekamen mit der Zeit

Freude am Maschinenbau!

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Auf den Höfen (Hufen, Mansen) entstanden die Eigeninitiative und die

Eigenverantwortung, die in der antiken Wirtschaft, in der die Sklavenarbeit dominierte, nicht

vorhanden waren.

Die Nutzung des Bodens über die Zweiteilung des Bodens ist beruht auf dem

Christentum, vor allem dem Gedanken von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen (z.B.

vor dem Gesetz), die aber mit Ungleichheit in den Anlagen und Fähigkeiten einhergeht. Wie

Aristoteles und Plato bereits festgestellt haben, sind solche Ungleichheiten unbedingt

erforderlich, weil in einer Gesellschaft gleichzeitig sehr unterschiedliche Aufgaben

wahrgenommen werden müssen: Güterproduktion, Leitung und Verwaltung der politischen

Gemeinschaft, Lehre und Forschung, sowie - im Mittelalter, und darüber hinaus – die

geistliche Betreuung der Menschen.

Mit der Nutzungsform der Hufe oder Manse (Hof), die vor allem vor dem Jahre 1000

bestand, waren bestimmte Rechte und Pflichten verbunden:

Die Rechte bestanden in materiellen Gütern und Nutzungsrechten, die der Grundherr den

Bauern zur Verfügung zu stellen hatte:

- Behausung des Pächters

- den zu bebauenden Boden

- Nutzungsrechte an herrschaftlichen Wäldern und an Rodungen (Neuland)

Diesen Rechten standen Pflichten gegenüber:

FRONARBEIT auf dem Boden des Grundherrn

- Leibeigene Bauern (Hälfte der Zeit – 6 Monate)

- Freie Bauern (freie Mansen oder Hufen): drei bis sechs Wochen im Jahr

d) Nach dem Jahr 1000 (in etwa) treten in der Landwirtschaft Veränderungen ein,

hervorgerufen durch:

- Bevölkerungsdruck, verbunden mit der vermehrten Erschliessung von neuem Land

(Rodungen)

- Aufkommen der Geldwirtschaft

- Neue landwirtschaftliche Produktionstechniken (Zugtiere, Pflug)

Neue Pachtformen entwickeln sich parallel im Rahmen der Lehen, die nun erblich

werden; der Grundherr betrachtet den Boden als seinen Boden; es setzt allmählich ein

Übergang vom Gemeineigentum zum Privateigentum ein:

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* Kleinpacht (métayage, métayer) – aus Höfen: Der Grundherr stellt alles zur

Verfügung: Gebäude, Werkzeuge, Vieh, sogar Geld.

Es gibt zwei Varianten der Kleinpacht:

** Teilpacht: der Pächter gibt einen bestimmten Teil des Ernteertrages an den

Grundbesitzer ab (z.B. der Zehnte); dazu kommen verschiedene

Dienstleistungen (Fronarbeit)

** Pacht gegen Geld (Kauf der Abgaben und der Fronarbeit durch die Pächter)

* Aus der Geldpacht entwickelt sich gegen Ende des MA, ab etwa 1300 die Pacht im

eigentlichen Sinne (Grosspacht, fermage, fermier); der Grundherr verpachtet sein

Herrengut:

Der Grundherr verpachtet sein ganzes Land gegen Geld. Der Pächter erbringt in der

Regel die Werkzeuge, das Vieh und das Geld.

1.2. Gesellschaftliche und politische Implikationen der

mittelalterlichen landwirtschaftlichen Organisation

a) Politische Doktrin des Feudalismus

* Es gibt drei gesellschaftliche Stände, die bestimmte Funktionen ausüben:

[Stände und Klassen sind gesellschaftliche Gruppierungen: Stände ergänzen sich

gegenseitig in ihren Funktionen. Klassen betreiben Interessenvertretung und stehen sich

gegensätzlich gegenüber, z. B. nach der Industriellen Revolution: bürgerlich Klasse gegen

Arbeiterklasse.]

Die Stände haben Rechte und Pflichten:

Pflichten: Der Adel ist zuständig für Justiz und Verteidigung (Recht und Schutz) und

allgemeine Verwaltung, vor allem Organisation der Bodennutzung.

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Rechte: Anrecht auf den ganzen oder eines Teils des landwirtschaftlichen Überschusses;

Erteilen von Privilegien für Stadtbürger betreffend Produktion und Handel mit Gütern.

Pflichten: Der Geistlichkeit kommt die geistliche Betreuung der Bevölkerung zu; dazu

kommen Forschung und Lehre (Theologie und Philosophie) sowie Unterricht

(Klosterschulen); die Kirche übt auch Rechtsfunktionen aus (kanonisches Recht).

Rechte: Anrecht auf den landwirtschaftlichen Überschuss, vor allem über die Klöster.

Die Geistlichkeit kann auch Funktionen (mit Rechten und Pflichten) übernehmen, die

dem Adel zukommen (Fürstbischöfe).

Bauern und ländliche Handwerker produzieren den gesellschaftlichen Überschuss, der in

erster Linie landwirtschaftlicher Überschuss ist (Pflicht); für die Bauern besteht, wenigstens

ursprünglich, das Recht, ein Stück Boden nutzen zu können (Hof – Hufe, Manse). [Die

einzigen Bauern, die selber über den Überschuss verfügen konnten waren von

mittelalterlicher Zeit an, die Zentralschweizer Bauern, in der Neuzeit gefolgt von

holländischen und englischen Bauern.]

Die städtischen Handwerker bezahlen für das Privileg, bestimmte Güter produzieren zu

können; die Kleinkaufleute bezahlen für das Privileg mit bestimmten Gütern Handel zu

treiben, ebenso (zum Teil später) Manufakturbesitzer, Fernkaufleute – Grosskaufleute – und

Bankiers (Pflichten). Rechte: für die Handwerker und Kleinkaufleute (Kleinbürger) und

Manufakturbesitzer, Fernkaufleute – Grosskaufleute – und Bankiers (Grossbürger) das Recht,

in einer Stadt Bürger zu sein; vor allem die Grossbürger wurden dann zum Teil in der

Stadtregierung politisch tätig; eventuell wurden Grossbürger auch in den Adelsstand erhoben.

(In bürgerlichen Ländern, z.B. Schweiz, Holland und in den italienischen Stadtstaaten

mussten natürlich die Bürger keine Privilegien für ihre Tätigkeiten als Produzenten, Kaufleute

und Bankiers bezahlen; diese wurden durch Steuern ersetzt.)

[Die Bürger sind dann im Spätmittelalter und bei Beginn der Neuzeit neben dem Adel

und der Geistlichkeit ein eigener Stand geworden, der dritte Stand. Im Zuge der

Französischen Revolution hat der Bürgerstand - Tiers-Etat - in Frankreich die absolute

politische Macht übernommen. Damit war der Weg für die politische Moderne geebnet.

Feudale Institutionen wie das Recht des Adels auf Teile des landwirtschaftlichen

Überschusses, Privilegienzahlungen durch Bürger sowie Zünfte wurden durch die

Französische Revolution zuerst in Frankreich, dann weltweit regelrecht weggefegt.]

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Der gesellschaftliche, vor allem landwirtschaftliche Überschuss wird im Mittelalter durch

technischen Fortschritt gesteigert (in Mühlen werden über die Wasserkraft einfache

mechanische Anlagen betrieben). Dazu kommen die Fortschritte in der landwirtschaftlichen

Produktionstechnik im Hochmittelalter (11. - 13. Jh.), die vor allem dem Adel und der

(hohen) Geistlichkeit zugute kommen, teilweise auch den Grosspächtern.

Eine schwache oder nicht existierende Zentralgewalt charakterisiert weite Teile des MA.

Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches (um 500), bildeten sich instabile

Königreiche. Das Reich Karl des Grossen um 800 war stabil, wurde aber seinerseits 843

(Vertrag von Verdun) aufgeteilt in Frankreich, Lothringen und Deutschland. Diese lösten sich

ebenfalls weitgehend auf. Feudale Zersplitterung setzt ein. Im Hoch- und Spätmittelalter

festigt sich die Zentralgewalt (des Königs) allmählich, vor allem in Frankreich und England.

Im Zuge dieses Auflösungsprozesses ging die politische und richterliche Gewalt (Bann)

an die lokalen Vertreter der Könige über: Grafen, Barone und andere Grundherren. Diese

nehmen nun die königliche Banngewalt für sich in Anspruch:

- Dies geschah einmal durch militärische Leistungen, die den Bauern auferlegt

wurden; die betroffenen Bauern mussten aus dem Überschuss Pferd und Rüstung

finanzieren, was voraussetzte, dass der Hof eine beträchtliche Grösse aufweisen

musste; aus diesen „Wehrbauern“ entstand mit der Zeit der Ritterstand, der einen

Kleinadel bildete.

- Dann setzten die Grundherren Abgaben und indirekte Steuern, inklusive Zölle, fest.

- Sie übernahmen auch die Organisation der Justiz (Rechtssprechung).

Im Allgemeinen verschlechterte sich nach der Teilung des karolingischen Reiches der

rechtliche Status der Bauern.

- Bis ins 10. und 11. Jahrhundert hinein gab es Sklaven, die auf dem grundherrlichen

Boden arbeiteten.

- Die meisten Bauern waren Leibeigene (gebunden an eine bestimmte

Grundherrschaft); die Leibeigenen bearbeiten Boden für sich (Höfe: Hufen, Mansen)

und leisten Fronarbeit auf dem Boden des Grundherrn.

- Schliesslich gab es auch relativ wenige freie Bauern.

Faktisch verschlechterte sich die Lage der Bauern im Zeitablauf - ihre Rechte vermindern

sich. Tatsächlich werden sie immer mehr zu Sklaven:

- sie dürfen nicht über ihren Boden verfügen, diesen auch nicht vererben.

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- auch dürfen sie sich nicht ausserhalb des herrschaftlichen Besitzes verheiraten.

- die Belastung durch Abgaben verstärkt sich: z.B. in Frankreich wird die taille

eingeführt, eine ausserordentliche (zusätzliche) Steuer, die vom König oder vom

Grundherrn nach eigenem Gutdünken festgelegt wurde.

b) Die [früh-]mittelalterlichen Eigentumsverhältnisse sind politischer, nicht wirtschaftlicher

Natur:

- Der Boden ist [im Prinzip] Gemeineigentum.

- Der Boden wird vom König oder Kaiser dem Adel und z.T. der Geistlichkeit

(Fürstbischöfe) zum Lehen gegeben, was, wie bereits angedeutet, mit Rechten und

Pflichten verbunden ist.

- Das Lehen impliziert, dass Adel und Geistlichkeit, aber auch die Bauern am

gemeinsamen Boden Nutzungsrechte haben:

- Adel und Geistlichkeit erhalten den gesellschaftlichen Überschuss, damit sie ihren

Pflichten nachkommen können, ohne produzieren (arbeiten) zu müssen.

- die Bauern haben ein Recht auf "eigenen" Boden, der ihren Lebensunterhalt sichern

soll (Nutzungsrechte an einem Teil des Bodens).

Diesen Rechten stehen Pflichten gegenüber:

Adel: Verteidigung, Verwaltung (Organisation der Bodennutzung vor allem) und Justiz

Geistlichkeit (Kirche): Lehre und Forschung; Unterricht und Justiz

Bauern: Produktion des gesellschaftlichen Überschusses durch Abgaben und Fronarbeit.

c) Eine entscheidende Veränderung der Eigentumsordnung trat mit der Einführung der

Geldpacht ein (etwa ab dem Jahre 1000). Zwei Punkte sind dabei bedeutsam:

1) Der landwirtschaftliche Überschuss wird immer mehr für den Markt produziert, d.h.

für den städtischen Markt, wo er vor allem von den Handwerkern gegen Geld

gekauft wird; der andere Teil des Überschusses geht immer noch an Adel und

Geistlichkeit, immer mehr in Geldform.

2) Das Lehen wird erblich. Einige Grundherren werden zu Territorialfürsten auf ihrem

Land. Faktisch wird Boden allmählich und immer mehr als Privateigentum

betrachtet: Grundbesitz entsteht. Kauf und Verkauf von Boden wird möglich. Auch

reiche Bürger beginnen Boden zu erwerben.

Beide Elemente prägen sich immer mehr aus. Damit löst der Markt das Feudalsystem

zunehmend ab. Die Französische Revolution fegt dann endgültig die feudalen

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(mittelalterlichen) Privilegien hinweg. Gleichzeitig löst auch das Bürgertum (der dritte Stand)

den Adel und die Geistlichkeit als dominierende Schicht ab.

d) Mit der Erblichkeit der Lehen setzt ab dem 10. Jh. Immer mehr die feudale Zersplitterung

ein. Aber es ergeben sich unterschiedliche Entwicklungen in Frankreich, England und

Deutschland. In Frankreich bricht der König allmählich die Macht der Feudalherren und ein

zentralisierter Staat entsteht. Höhepunkt dieser Entwicklung: der absolutistische Staat

Ludwigs XIV (1643-1715).

England: Magna Charta (1215): Machtbalance zwischen dem König und den grossen

Feudalherren. Später gewinnt das Bürgertum, verbunden mit dem niedrigen Adel, immer

mehr an Macht. Resultat glorreiche Revolution von 1688; der König wird faktisch entmachtet;

die Monarchie wird repräsentativ. Das Parlament und die aus ihm hervorgehende Regierung

üben die Macht aus.

Deutschland: Kaiser verliert immer mehr an Macht. Feudale Zersplitterung kommt

zustande. Diese resultiert in politischer Zersplitterung: Fürstentümer von sehr

unterschiedlicher Grösse entstehen; einige davon werden zu Königreichen, z.B. Österreich,

Bayern, Sachsen und Preussen.

1.3. Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom

Mittelmehrraums nach Nordwesteuropa (und nach Zentral- und

Osteuropa)

a) Hauptgrund: Fortschritte in der Landwirtschaft

Zwischen Seine und Rhein werden den natürlichen Bedingungen angepasste

Getreidesorten eingeführt, Roggen und Hafer (Mitterauer). Dadurch steigt der

landwirtschaftliche Überschuss. Dieser wird weiter gesteigert durch die Ablösung der

Zweifelderwirtschaft (die Hälfte des Bodens wird bebaut, die andere Hälfte wird brach

gelassen, damit der Boden sich erholen kann) durch die Dreifelderwirtschaft (der Boden wird

zwei Jahre hintereinander angebaut und im dritten Jahr brach gelassen). Diese Umstellung

erbringt einen Produktionsanstieg von 33% (von 50 auf 67, auf eine maximale (kurzfristige)

Produktion von 100). Diese Steigerung des landwirtschaftlichen Überschusses ermöglichte

den Aufbau des karolingischen Reiches (768-843), aus dem Europa herausgewachsen ist.

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Damit verschob sich der politische Schwerpunkt im Westen vom Mittelmeerraum (römisches

Reich) zuerst nach Nordwesteuropa (karolingisches Reich), dann auch nach Zentraleuropa

(römisch-deutsches Reich). (Diese Entwicklung fand statt, obwohl im Mittelmeerraum z.T.

jährliche Ernten eingebracht wurden.)

Die Rodungen (Wald wird in Ackerland verwandelt) brachten einen weiteren Zuwachs an

landwirtschaftlich nutzbarem Land und damit eine weitere Steigerung des

landwirtschaftlichen Überschusses, auch wieder im Nordwest- und Zentraleuropa (im

Mittelrraum hatten die Römer die Wälder weitgehend abgeholzt!). Rodungen wurden

veranlasst von Grundherren und von Klöstern (z.B. Klöster des Zisterzienser-Ordens, von

Bernard de Clairvaux Ende des 11. Jh. gegründet).

b) Die Klöster spielten im MA eine wichtige Rolle (Bp. St.Gallen). Sie waren:

- Kulturträger durch Lehre (Philosophie und Theologie) und Forschung (z.B.

Aristoteles vom Arabischen in Lateinische übersetzt; aber auch schon Ansätze zur

Erforschung der Natur im Rahmen der Naturphilosophie).

- Unterrichtsstätten (Klosterschulen für Adelige, aber auch für Bauernkinder: soziale

Mobilität!).

- landwirtschaftliche "Versuchsanstalten" (bessere landwirtschaftliche

Produktionstechniken und neue Produkte wurden entwickelt: Käsesorten, Weine,

Liqueure). Ernst Tremp: Mönche als Pioniere (im Literaturverzeichnis).

c) Die eben genannten Fortschritte in der Landwirtschaft ermöglichten ein beträchtliches

Bevölkerungswachstum:

um 1000 um 1300

Westeuropa 12 -15 Mio. 45 – 50 Mio.

Europa 18 – 29 Mio. 60 – 70 Mio.

d) Der Bevölkerungsdruck war ein wichtiger Grund (neben religiösen, politischen -

Machtsteigerung – und wirtschaftlichen Gründen) für westeuropäische

Expansionsbewegungen, von denen zwei von besonderer Bedeutung sind:

- die deutsche Ostkolonisation (Brandenburg, Schlesien, Pommern, Preussen)

- die Kreuzzüge: Papst Urban II. lancierte 1095 den ersten Kreuzzug (1096

begonnen). Hauptargument war die Wiedergewinnung des heiligen Landes für die

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Christenheit. Jedoch spielte der Bevölkerungsdruck im Hintergrund eine wichtige

Rolle. Dazu kam das Gewinnmotiv (Handelsgewinne durch den Orienthandel): Fritz

Rörig: Verfälschung der Kreuzzugsidee durch Venedig, mit dem Ziel, sich das

Monopol für den Orienthandel zu sichern (in: Die mittelalterliche Stadt). Die

Kreuzzüge und der damit einsetzende Handel mit dem mittleren Osten (und sogar

mit China – Seidenstrasse – Marco Polo war um 1260 in China) waren wichtig für

das wieder Aufkommen der Geldwirtschaft in Europa. (Steven Runciman: The First

Cruisade. Cambridge University Press 1992; first published 1980.)

2. Wiederaufkommen der Städte und dessen Auswirkungen

2.1. Neuentstehung von Städten

Mit dem Untergang des römischen Reiches, verschwindet auch dessen Städtekultur

weitgehend, vorwiegend verursacht durch die römische Grundherrschaft (Latifundien). Im

Zuge der Völkerwanderung werden die römischen Latifundienbesitzer wurden durch

germanische Grundherren abgelöst! Nur in Italien überleben die alten Städte. Diese dienen als

wirtschaftliches Bindeglied zwischen dem armen Westen und dem reicheren Osten: sie

vermitteln den Handel zwischen Westeuropa und dem östlichen Mittelmeerraum; wichtige

Handelsstädte sind Amalfi, Neapel, Venedig, Pisa und Genua; schlussendlich wird Venedig

den Orienthandel fast vollständig dominieren.

Von den Hafenstädten ausgehend, entwickelt sich die Städtekultur im Landesinnern:

Mailand, Florenz und andere; Florenz wird nicht nur ein Zentrum der Textilproduktion

sondern auch Finanzzentrum (die Banken der Familie Medici); in Flandern entsteht das erste

europäische Industriezentrum durch die Textilmanufakturen von Brügge und Gent.

Eine ungeheure Dynamik setzt ein (wo ist da das dunkle Mittelalter?). Neben dem

Fernhandel, der Textilproduktion und den Banken von Florenz setzt der Austausch zwischen

Stadt und Land voll ein. Die Grundherren verpachten Land gegen Geld. Pächter suchen ihre

Gewinne zu steigern, was zu einem Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität führt.

Gründe für die Entstehung von Städten:

- Sitze von Adeligen mit Burgen und Stadtmauern) (Schutzfunktion)

- Bischöfe (mit Kirchen und eventuell einer Kathedrale)

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- Vermittlung des lokalen Handels zwischen Stadt und Land (günstige Lage, eventuell

an einem Fluss, um die Warentransporte zu erleichtern)

- Fernhandelsstädte (auch hier ist die geographische Lage wichtig, z.B. ist Venedig

ideal gelegen, um den Handel mit dem Mittleren und dem Fernen Osten (China-

Seidenstrasse) zu vermitteln.

Die Stadtbevölkerung nimmt rasch zu: Am Ende des 13. Jh. (um 1300) zählt Mailand um

die 200‘000 Einwohner; Venedig, Genua, Florenz haben etwa 100‘000 Einwohner; andere

italienische Städte zwischen 20-50'000. Paris: 80‘000 Einwohner (heute leben in der région

métropolitaine etwa 12 Millionen Einwohner); London: um die 40'000 (heute hat die

Metropolitan Area um die 14 Millionen Einwohner!). Gent in Flandern: um die 50'000

Einwohner.

2.2. Handelsströme im Mittelalter (Fernhandel)

a) Etwa ab dem Jahr 1000 gab es jahrhundertelang intensive Handelsbeziehungen zwischen

Italien (und Europa) und dem Orient:

Einfuhr: Seide und Porzellan aus China, vor allem durch Venedig (um soll sich 1260

Marco Polo in China aufgehalten haben); Luxustextilien, z.B. Brokate: Seidentücher mit

Gold- und Silberfäden durchwirkt, wurden aus Byzanz eingeführt, Edelsteine aus Kleinasien,

Baumwolle aus Syrien.

[Seide und Porzellan aus China wurden über die Seidenstrasse in den mittleren Osten und

nach Europa gebracht. Die südliche Seidenstrasse verlief entlang der chinesisch-russischen

Grenze über Zentralasien, dem heutigen Usbekistan (Samarkand, Buchara), nach Persien

(Iran), mittlerer Osten, Venedig. Die nördliche Seidenstrasse ging von China durch

Südrussland nach Zentraleuropa, vor allem Deutschland. Die (absolute) Sicherheit der

Seidenstrasse wurde durch die Mongolen garantiert, die damals Zentralasien und Randgebiete

dominierten. Über die Seidenstrasse kamen wichtige technische Information aus China nach

Europa, vermutlich Kompass und Standuhr über die südliche Seidenstrasse,

Porzellanherstellung (Meissen!) und Buchdruckskunst (Gutenberg in Mainz).]

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Ausfuhr: Textilien (Leintücher) aus Flandern (Westbelgien), dem ersten europäischen

Industriezentrum; Pelze aus Nordeuropa; Metallprodukte (Werkzeuge) aus Zentraleuropa und

der Lombardei; Glaswaren aus Venedig (Murano!); Weizen aus Sizilien.

Venedig dominiert den Ost-West-Handel immer mehr; schaltet unter anderen auch

Genua als Konkurrenten aus; genuesische Seefahrer werden arbeitslos und begeben sich in

den Dienst, zuerst der Könige von Portugal, dann in den Dienst der spanischen Krone

(Christoph Columbus war ein Genuese). Im Zuge der grossen Entdeckungen wird dies

Venedig zum Verhängnis; Venedig wird isoliert und die Ecke gedrängt: der Mittelmeerhandel

verliert an Bedeutung, der Atlantik und der Indische Ozean werden die grossen

Handelsmeere.

b) Ostseehandel: Die Hanse (ein Verein deutscher Handelsstädte Köln, Rostock u.a.,

angeführt von Lübeck) betreibt Handel mit Nordeuropa und vor allem mit Russland.

Drehscheiben des Handels sind Novgorod (leicht südöstlich von Sank Petersburg), Riga und

Danzig.

Landwirtschaftliche- und Naturprodukte (Pelze, Honig) aus dem Osten, vor allem

Russland, werden gegen Handwerksprodukte aus deutschen und nordischen Städten

getauscht. (Die Bürger von Novgorod neigten sich so dem Westen zu; nach Siegen über die

Mongolen übernahm um 1450 der Grossfürst von Moskau, Ivan III (der Grosse), die

Kontrolle über Novgorod und liess westlich gesinnte Bürger zu Tode foltern. Moskau erlangte

so die Herrschaft über riesige Gebiete im Norden des heutigen Russland; damit beginnt der

Aufstieg Moskaus und Russlands zur europäischen Grossmacht.

c) Wichtig sind auch die mittelalterlichen Handelsmessen, vor allem die der Champagne,

südöstlich von Paris mit der Stadt Reims im Mittelpunkt. Die Champagner-Messen verbinden

die beiden wichtigsten europäischen Wirtschaftszentren des Mittelalters: Norditalien und die

Niederlande, vor allem Flandern. Aus Flandern gelangen über die Champagner-Messen

Textilien nach Norditalien; von dort aus werden sie vor allem von Venedig in den Orient

exportiert. Umgekehrt gelangen aus Venedig-Norditalien orientalische Waren nach Flandern

und nach Nordwest- und Zentraleuropa.

Auf den Champagner-Messen entstehen neue Kreditinstrumente; z.B. wird der Wechsel

erfunden (vielleicht neu erfunden); Techniken des internationalen Zahlungsverkehrs

entstehen; es wird über ein Jahr hinweg verrechnet und nur noch Saldi führen am Jahresende

zu Edelmetalltransporten, von Norditalien nach Flandern oder umgekehrt.

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In Norditalien entstehen Handelsgesellschaften um den Handels-Verkehr zwischen

Orient und Okzident abzuwickeln, die grösste Handelsgesellschaft ist la vera società. Ihr

Hauptsitze sind in Florenz, Venedig und Mailand; es gibt Zweigstellen in Brügge, London,

Paris, Genf, und anderen Städten. Diese Gesellschaften üben auch bankenähnliche Funktionen

aus. Um den Handel weiter zu erleichtern, wird international anerkanntes Geld geprägt; am

berühmtesten waren der Florin, ab 1252 in Florenz geprägt sowie die Dukaten, in Venedig ab

1284 geprägt.

Aber diese Gelder werden schon bald durch Kreditgeschäfte, vor allem Wechsel,

teilweise ersetzt (Erhöhung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes!).

Die zunehmende Komplexität der Geschäfte erforderte Fortschritte in der Buchführung.

Wiederum zeichnen sich hier die Italiener aus. 1494 legt der italienische Franziskanermönch

Luca Pacioli in der Form eines Lehrbuches ein ausgebautes System der Doppelten

Buchhaltung vor. Es handelt sich hier um das erste betriebswirtschaftliche Lehrbuch! Max

Weber, der deutsche Ökonom und Soziologe, hat einmal gesagt, ohne doppelte Buchführung

hätte sich der moderne Kapitalismus mit seinen komplexen Geschäften nicht entwickeln

können. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber sicher nicht ganz falsch.

d) Man darf aber nicht übersehen, dass trotz dieses beträchtlichen Fernhandels der

Lokalhandel, d.h. der Handel zwischen Stadt und Land von überragender Bedeutung blieb.

2.3. „Industrie“: Handwerk und Manufaktur

Die „Industrie“ spielt im MA (ab 1000) keine unwesentliche Rolle, obwohl die Anzahl der

Beschäftigten sehr gering ist. Nach dem Untergang Roms (um 500) gehen die technischen

Kenntnisse ein wenig zurück – vor allem in Architektur und Bautechnik. Um das Jahr 1000

werden aber die Kenntnisse der Antike wieder erreicht und dann schrittweise übertroffen. Die

beiden wichtigsten industriellen Tätigkeiten sind das Weben von Tüchern und das Bauen (von

Burgen und Kathedralen).

Kathedralen werden vor allem in Nordfrankreich gebaut. Neben Notre Dame de Paris ist

die Kathedrale von Chartres, vollendet 1194, wahrscheinlich die berühmteste. Ein arabischer

Einfluss ist festzustellen – ohne arabische Architekturtechnik hätten die Kathedralen nicht in

dieser Form gebaut werden können. Die Araber sind hervorragende Architekten. Die

Moscheen sind volumenmässig gross, scheinen aber wie Zelte in der Luft zu schweben! Die

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Kathedrale von Poitiers (weitestes Vordringen der Araber nach Norden, 732) weist eindeutig

arabische Einflüsse auf.

Das Weben von Tüchern findet in fast allen Haushalten Europas statt. Jedoch bilden sich

etwa ab dem Jahr 1000 regionale Spezialisierungen bei der Tuchherstellung heraus;

Textilzentren entstehen: Flandern, Norditalien (z.B. waren im Textilzentrum Florenz im 14.

Jahrhundert tausende von Arbeitern tätig, Spinner und Weber), Süd-Ost-England (Lavenham:

vollständig erhaltenes Weberdorf im Südosten von Cambridge), Südfrankreich, auch Lyon. In

diesen Textilzentren sind Wolle und Leinen ist Basismaterial. Dazu kommen etwas Seide und

Baumwolle (Italien, Spanien).

Die Kleinbürger, d.h. die Arbeiter (Weber, Spinner, Färber, …) sind in Zünften

organisiert, ebenso die Grosshändler, die Grossbürger, die Rohmaterialien kaufen (z.B.

Schafwolle) und die Endprodukte verkaufen: Verlagssystem.

Um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen werden Manufakturen eingerichtet. Hier werden

wichtige Erfindungen gemacht:

- der Tretwebstuhl wird eingesetzt, was das Weben viel schneller gestaltet.

- Spinnanlagen, die mehrere Fäden auf einmal spinnen, werden eingerichtet.

- mit Wasserkraft (Mühlen) werden Webstühle und Spinnräder angetrieben (im Zuge

der industriellen Revolution wird die Dampfkraft die Wasserkraft ersetzen).

Flandern wird erstes Industriezentrum Europas. Hier bestehen die fortschrittlichsten

Techniken; mit dem technischen Fortschritt gehen auch soziale Veränderungen einher: die in

den Manufakturen tätigen Handwerker werden zu Proletariern; ein Manufakturproletariat

entsteht. [Aufgrund dieser historischen Erfahrungen kann Belgien anlässlich der Industriellen

Revolution im 18./anfangs des 19. Jh. am besten mit England mithalten. Für Flandern und

Belgien ist die „Fabrikrevolution“ sozusagen eine Wiederholung auf höherer Stufe;

wiederholt wird nämlich die mittelalterliche „Manufakturrevolution“ in Flandern.]

Die Herstellung von Eisen macht im Mittelalter erhebliche Fortschritte. Gemessen an der

Anzahl Beschäftigter ist die Eisenproduktion viel weniger bedeutend als Tuchherstellung, ist

aber für die langfristige Entwicklung von zentraler Bedeutung (aus Eisen und Stahl werden

Werkzeuge und im Zuge und nach der Industriellen Revolution vor allem Maschinen

hergestellt, die in den Fabriken stehen).

Die Herstellung von Eisen wird in Europa durch verschiedene Umstände erleichtert:

Eisenerz relativ leicht zugänglich (auffindbar).

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Die Beschaffung von Brennmaterial, das benötigt wird, um das Eisen aus dem Eisenerz

heraus zu schmelzen, ist vor allem nördlich der Alpen kein Problem: Holz, aus dem

Holzkohle hergestellt wird, ist hier reichlich vorhanden.

Hydraulische (mit Wasserkraft betriebene) Gebläse kommen auf (Vorläufer des

modernen Hochofens). (Um die Holzkohle zum Glühen zu bringen, ist eine Luftzufuhr

erforderlich.)

Aus Eisen werden Waffen hergestellt (Schwerter, Ritterrüstungen). Das wahrscheinlich

von China nach Europa gekommene Schwarzpulver (Seidenstrasse!) ermöglicht gegen Ende

des Mittelalters / Beginn der Neuzeit (um 1500) die Entwicklung von Feuerwaffen: Gewehre

und Kanonen.

Natürlich werden aus Eisen Werkzeuge verschiedenster Art hergestellt, auch Eisenpflüge

für gut gestellte Pächter, was die landwirtschaftliche Produktivität steigert.

[Der Schmied ist bis zur Industriellen Revolution der wichtigste Handwerker: Er stellt

die Waffen her, aber auch die Werkzeuge, die unentbehrlich für die Produktion sind. Nach der

Industriellen Revolution wird der Schmied abgelöst von der Werkzeugmaschinen-Industrie.]

Die Holzverarbeitung ist im Mittelalter sehr wichtig, auch die Verarbeitung von Leder.

Fernrohr und Kompass werden in Europa gebräuchlich (der Kompass stammt aus China

und kam über die Seidenstrasse nach Europa), was die Fortschritte im Schiffbau und in der

Schiffahrtstechnik erklärt. Diese sind wichtig für den Übergang von Mittelalter zur Neuzeit,

der materiell durch die grossen Entdeckungen (um 1500) markiert ist.

Die Buchdruckerkunst (Gutenberg druckt 1453 in Mainz die erste Bibel) und

Papierherstellung haben ungeheure wirtschaftliche und kulturelle Auswirkungen. Zum

Beispiel wird die rasche Verbreitung von wissenschaftlichen Informationen möglich. (Die

technischen Informationen über die Buchdruckerkunst kamen wahrscheinlich über die

nördliche Seidenstrasse von China nach Zentraleuropa.)

Aber die Erfindung der Mühle und damit die Nutzung der Wasserkraft ist vielleicht das

beste Beispiel für die technische Schöpfungskraft des Mittelalters (sehr wichtig).

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Horizontale Mühlräder gab es schon lange, mindestens seit dem 1. Jh. v.Chr. sowohl in

Nordeuropa als auch in China; im europäischen Mittelalter wurde das vertikale Mühlrad

eingesetzt. Dieses dient dazu, immer komplexere Mechanismen anzutreiben und damit

verschiedene Arbeiten auszuführen: Mahlen von Getreide und anderen Stoffen; Papier

herstellen, Tuch und Leder bearbeiten; Holz und Steine zusägen (für den Bau von Städten,

Kirchen und Kathedralen sowie von Burgen), Gebläse für die Eisenherstellung antreiben.

Durch die Mühle wird die Wasserkraft die wichtigste Energiequelle des Mittelalters, die dann

im Zuge der Industriellen Revolution von der Dampfkraft abgelöst wird; am Ende des 19. Jh.

kommen Verbrennungs- und Elektromotoren auf!

In den Ebenen Nordeuropas werden Windmühlen eingesetzt.

Die von Wasserkraft angetriebenen Maschinen (Arbeitsmühlen!) erfordern eine präzise

und subtile Mechanik. Man bekommt in Europa Freude an der Mechanik und beginnt, sich

‚hobbymässig’ damit zu beschäftigen. Das führt zu einem neuen Anwendungsgebiet, nämlich

der Herstellung von Standuhren, die bereits ab dem 13. Jh. in grösseren Mengen hergestellt

werden.

[Einschub: J.M. Hobson (2004, Lit.verz., pp. 130-32) sagt, dass die Erfindung der

Standuhr eine der grössten angewandten Leistungen des Menschen sei. Entscheidend war die

Erfindung der Hemmung, die in regelmässigen Zeitabständen (in der Regel alle 15 Minuten,

um das Läuten festzulegen) das Räderwerk anhält, um eine richtige Zeitmessung zu

ermöglichen (alle 60 Minuten Übergang auf eine neue Stunde und Wiederbeginn der

Minutenzählung). Die ersten Zeitmessungsanlagen tauchen in der zweiten Hälfte des 13. Jh.

(ab 1250) im arabischen Südspanien auf. Aber niemand weiss, wer diese Anlagen erfunden

hat. Hobson sagt nun, dass die Hemmung und damit die Möglichkeit, Uhren herzustellen, im

Jahre 725 in China erfunden wurde. Über arabische Texte sei die Beschreibung dieser

Erfindung schliesslich nach dem damals arabischen Südspanien gekommen und dann von dort

nach Norditalien gelangt, zuerst Venedig und Mailand.]

Die Standuhr weist den Menschen auf die verfliessende Zeit hin. Man beginnt über den

Sinn des menschlichen Daseins auf Erden nachzudenken. Geschichtsphilosophien entstehen

vor allem in der Neuzeit (was ist der Sinn und Zweck der Geschichte?).

Auch erscheint das Universum allmählich nicht mehr als etwas Mysteriöses

Geheimnisvolles).

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Das Universum wird schon vom französischen Bischof Nikolaus Oresmius (~ 1325 – 82)

als ein Uhrwerk betrachtet, das vom Schöpfer geregelt wird. Dieser Vergleich wird von

Kepler und Newton aufgenommen. Newton sagt, dass das Universum durch die

Gravitationskraft im Gleichgewicht gehalten werde.

[Für uns Ökonomen und Sozialwissenschafter ist nun von zentraler Bedeutung, dass

Adam Smith (1723-90), der Begründer der Wirtschaftstheorie die Mechanismus-Analogie

auch auf Wirtschaft und Gesellschaft übertragen hat. Die wirtschaftlich-gesellschaftliche

Gravitationskraft ist für Adam Smith die propriety (Angemessenheit), eine Mischung von self

interest (Eigeninteresse) und fellow feeling (soziales Mitgefühl). Wenn die Menschen

überwiegend angemessen handeln, dann kommt wirtschaftliche und gesellschaftliche

Harmonie zustande. Dieser Harmoniebegriff von Adam Smith ist dann gegen Ende des 19. Jh.

zum Gleichgewichtsbegriff geworden (Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf

den verschiedenen Märkten). Und nun entscheidend: Man beginnt vom Marktmechanismus

zu sprechen. Man glaubt diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden erklären zu können;

wirtschaftliche Phänomene werden auf das Verhalten von Individuen reduziert

(Konsumenten, die den Nutzen maximieren und profitmaximierende Produzenten). Weiter

wird postuliert, dass unter Konkurrenzbedingungen das Verhalten der Individuen von den

Marktkräften (Angebot und Nachfrage) so reguliert wird, dass ein soziales Optimum zustande

kommt (das allgemeine Gleichgewicht von Léon Walras ist auch ein Pareto-Optimum).]

Schlussfolgerung: Die Mühle, Nutzung der Wasserkraft, um einfache mechanische

Anlagen anzutreiben, führt in West- und Zentraleuropa zu einer Maschinenbau-Tradition.

Diese hat dann die technischen Grundlagen für die Industrielle Revolution geliefert.

Der amerikanische Wirtschafts- und Kulturhistoriker John Nef spricht im

Zusammenhang mit der Mühle von einer mittelalterlichen industriellen Revolution, die

allerdings keine grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen mit sich brachte.

2.4. Die Zünfte

a) Definition

Zünfte sind Handwerksverbände, die im Mittelalter und teilweise bis zur Französischen

Revolution die handwerkliche Produktion regelte. Es bestand also keine Gewerbefreiheit.

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b) Die Bereiche der Reglementierung waren

- Preise, Qualität, Menge

- Absatzgebiete; [heutige Kartelle als eine Art „Teilzünfte“ (Bierkartell von 1935 bis

1991 diktierte Preise und legte Absatzgebiete fest)]

- Ausbildung der Gesellen (Lehrlinge) und Meister war strikt geregelt. Die Prüfung

bestand aus dem Gesellenstück (dadurch wurde man vom Lehrling zum

Handwerker) und dem Meisterstück (dadurch wurde ein Handwerker zum Meister,

der das Handwerk ‚unterrichten’ durfte).

c) Zwei Prinzipien der Zunftverfassung

1. Gleichheit und Solidarität der Mitglieder untereinander (soziale

Versicherungsfunktion: alle Zunftmitglieder bezahlen Beiträge in eine gemeinsame

Kasse; wird beispielsweise ein Zunftmitglied krank, unterstützt ihn die Zunft).

2. Grundsatz der gesellschaftlichen Abschliessung (stark beschränkte Kontakte zu

anderen Zünften und der übrigen Gesellschaft): Das ist Ausdruck der bestehenden

gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer schroffen Absonderung der verschiedenen

Stände und Berufe.

Zunftzwang: Handwerker mussten einer Zunft angehören, um Benachteiligungen von

Zunftmitgliedern und Bevorteilungen von Handwerkern, die nicht einer Zunft angehören zu

vermeiden.

3. Krise des Mittelalters – Übergang zur Neuzeit

3.1. Einleitung der Krise

Im Jahre 1348 erreicht (aus Asien kommend – über die Seidenstrasse?) die Schwarze Pest

Europa. Sie verbreitet sich rasch entlang der Handelswege und wütet vor allem in den

Städten. Innerhalb von zwei Jahren erreicht sie ganz Europa, von Portugal bis Russland und

von Sizilien bis Island. In einigen städtischen Regionen vermindert sich die Bevölkerung um

mehr als 50% in ganz Europa um mehr als einen Drittel. In absoluten Zahlen wird die

europäische Bevölkerung von (etwa) 100 Mio auf 50 Mio reduziert. Besonders betroffen

werden Orte an feuchten Lagen, vor allem an Flüssen; in der Schweiz wird Basel besonders

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stark von der Pest heimgesucht. Die Pest dauert bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, also etwa

50 Jahre lang.

3.2. Tiefergehende Krisenursachen

a) Rückgang der Wirtschaftstätigkeit

Einige Gründe:

* Der hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England (1338-1453) verwüstet

Westeuropa. (Seit der Normannischen Invasion Englands (1066) hat die englische

Krone immer wieder Ansprüche auf Teile Frankreichs angemeldet.) Die

Wirtschaftstätigkeit geht stark zurück.

* Einnahme von Konstantinopel durch die Türken (1453) – Konstantinopel wird

Istanbul. Ausgezeichnete Beschreibung dieses äusserst wichtigen Ereignisses durch

Steven Runciman: The Fall of Constantinople. Cambridge University Press 1990;

orig. 1965.

Die Expansion der Türken ist verbunden mit einem Rückgang des Handels, vor

allem des Orient-Handel. Venedig wird dadurch schwer getroffen (die Venezianer

haben übrigens heroische Anstrengungen unternommen um Konstantinopel zu

halten), zusammen mit klimatischen Veränderungen.

* Die landwirtschaftliche Produktion geht zurück (folgender Abschnitt b) und damit

auch der landwirtschaftliche Überschuss, was wiederum einen Rückgang der

Wirtschaftstätigkeit und des Handels auslöst.

* Zudem führt die Überbevölkerung in Europa 1315-17 zu einer grossen Hungersnot.

b) Wirtschaftlich und soziale Faktoren in der Landwirtschaft

* Wirtschaftliche Faktoren:

Gegen Ende des 13. Kommen die Rodungen zu einem allmählichen Stillstand. Die

massive Zerstörung der Wälder führt in Südeuropa zu Erosion; weiter im Norden widersetzen

sich die Grundbesitzer zusätzlichen Rodungen, um ihre Jagdprivilegien zu bewahren. Weil

durch Rodungen kein Neuland mehr gewonnen werden kann, werden Wiesen (Viehzucht) in

Ackerland (Roggen, Weizen) verwandelt. [Wichtig: Mit einer bestimmten Fläche Ackerland

(Roggen und Weizen zu Brot verarbeitet) kann viel mehr Menschen ernähren als mit einer

gleich grossen Fläche Weideland (Viehzucht und Fleischproduktion)]. Der Viehbestand

nimmt dadurch. Damit standen weniger natürliche Düngemittel zur Verfügung. Die

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Bodenproduktivität sinkt – das ist ein erster Grund für die grosse Hungersnot von 1315-17.

[Ackerland und Weideland mussten also im Mittelalter (bis weit in die Neuzeit hinein) in

bestimmten Proportionen stehen, um eine optimale Nahrungsmittelproduktion (Brot und

Getreidegerichte einerseits sowie Fleisch, Käse und Butter andererseits) zu gewährleisten; die

Proportionen sind nicht unabhängig von der Skala: Ausmass der Nahrungsmittelproduktion!]

Ein zweiter Grund für die grosse Hungersnot von 1315-17 waren klimatische

Veränderungen, die wahrscheinlich durch die ausgedehnten Rodungen von Wäldern ausgelöst

wurden.

* Soziale Faktoren:

Aber auch soziale Spannungen treten auf:

Einerseits haben in der mittelalterlichen Expansionsperiode (1000-1300) viele

Grundbesitzer die Fronarbeit durch (Geld-) Pachten ersetzt.

Anderseits führt das Bevölkerungswachstum zu hohen Nahrungsmittelpreisen und

niedrigen Lohnsätzen.

Deshalb wollen nun viele adelige Grundbesitzer das günstige Preis-Lohn-Verhältnis

wieder ausnützen und vermehrt selber (mit Loharbeit) den Boden bebauen. Sogar die

Fronarbeit sollte wieder ausgedehnt werden. Die Grundbesitzer sind in Westeuropa nicht sehr

erfolgreich: Die Territorialfürsten gewinnen an Macht und wollen die adeligen Grundbesitzer

nicht wirtschaftlich tätig werden lassen, sondern diese zu militärischen Zwecken und für

politische Dienstleistungen einsetzen (Administration, Rechtssprechung) einsetzen.

Dies steht im Gegensatz zu Osteuropa, wie die Grundbesitzer durch Verwalter ihre

Grundherrschaften selbst nutzten, die Bauern sind dabei Leibeigene (in Russland wurde die

Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft!).

Dazu kommt die Steuerbelastung. Die wirtschaftlich erfolgreichen Grundbesitzer (und

Grosspächter) bereichern sich, die Bauern verarmen, weil immer höhere Abgaben geleistet

werden müssen, in Frankreich z.B. für die Finanzierung des Hundertjährigen Krieges.

Deshalb gibt es schwere Bauernunruhen im 14. Jahrhundert. Bauernkriege in Frankreich

und Deutschland zu Beginn des 15. Jahrhunderts. [Einschub: Die Zentralschweizer Bauern

gelten damals in ganz Europa als Vorbild: Sie besitzen ihren eigenen Boden und verfügen

selber über ihren Überschuss. Wie auf religiöser Ebene der Protestantismus wandten sich die

Bauern auf sozialer und politischer Ebene gegen die bestehende Ordnung.]

c) Die Krise als Vorbedingung für den Wiederaufschwung

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Pest und Hungersnöte führen zu einem Bevölkerungsrückgang im Zeitraum von etwa

1350-1450. Die Geldlöhne steigen und die Nahrungsmittelpreise sinken. Die steigenden

Reallöhne bewirken, dass die Bevölkerung ab etwa 1450 wieder zunimmt.

Zudem ist wegen den Wüstungen (unbebautes Land) wiederum reichlich Land

vorhanden. Es kann vermehrt Viehzucht betrieben werden. Damit stehen zusätzliche

Düngemittel zur Verfügung. Die Bodenproduktivität steigt an.

So werden die Katastrophen des 14. Jh. zur Vorbedingung für einen wirtschaftlichen

Wiederaufschwung im 15. Jahrhundert, etwa ab 1450. Das betrifft auch die Städte, die von

der Pest dezimiert waren. Die städtische Gesellschaft reorganisiert sich:

- Die Zünfte reglementieren vermehrt, um das Angebot zu kontrollieren und damit die

Preise zu stützen.

- Die Kaufleute steigen ihre Effizienz durch genauere Erfassung der geschäftlichen

Vorgänge. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts (1494) wird das System der doppelten

Buchhaltung in der Form eines Lehrbuches (verfasst vom Franziskanermönch Luca

Pacioli) dargestellt und kann sich so rasch verbreiten.

- Das Bankwesen nimmt einen neuen Aufschwung. (Die Familie Medici in Florenz

organisiert ihre Bank in der Form einer Holding, damit der Konkurs einer

Gesellschaft nicht das Ganze gefährdet.) [Von den Medici könnten auch unsere

heutigen Grossbanken lernen!]

- die Verleger suchen wegen der höheren Lohnkosten nach rationelleren

Produktionsmethoden; es entstehen vermehrt Manufakturen, die mit niedrigeren

Kosten produzieren.

Schliesslich finden regionale Umschichtungen statt:

- Florenz und Venedig schalten mit Gewalt Konkurrenten aus [der Internationale

Wettbewerb kann zu Konflikten und Kriegen führen, weil die Märkte beschränkt

sind].

- Als internationaler Markplatz ersetzt Genf die Champagnermärkte und wird

seinerseits gegen Ende des 15. Jahrhunderts durch Lyon verdrängt.

- Die italienischen Häfen verlieren immer mehr Terrain gegenüber ihren nordischen

Rivalen (Antwerpen, Amsterdam). Das kündet eine neue Epoche an, die durch die

grossen Entdeckungen um 1500 eingeleitet werden: Der Mittelmeerhandel wird

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immer mehr durch den Atlantikhandel veredrängt (auch der indische Ozean gewinnt

an Bedeutung). [Heute wird immer mehr der Pazifik zum grossen Handelsmeer.]

4. Fazit: Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa (Mitterauer)

4.1. Eine neue Sicht der Entstehung Europas

In der bisher dominierenden Sichtweise wurden die Grundlagen des modernen Europa mit

Beginn der Neuzeit, d.h. im 16. Jahrhundert gelegt. Humanismus und Renaissance brachten

einen Aufschwung der Wissenschaften und einen Umbruch in den Künsten. Der

Protestantismus wurde als die treibende Kraft hinter dem Kapitalismus gesehen (Max Weber:

Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Die Aufklärung brachte vor allem

im 18. Jh. – in England schon früher - neues Denken auf dem Gebiete der politischen

Philosophie: die Idee der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Demokratie wurde im

Zusammenhang mit den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entwickelt. Aus

der Englischen Industriellen Revolution und der Französischen Politischen Revolution wuchs

das moderne Europa und die moderne Welt auf den Trümmern des Ancien Régime hervor.

Diese Sichtweise wird nun von Michael Mitterauer grundsätzlich in Frage gestellt.

„[Abweichend von den derzeit vorherrschenden Meinungen zur Genese des modernen

Europa, des europäischen Sonderweges] führt sein Weg zu Wurzeln, die weit ins Mittelalter

zurückreichen“(Mitterauer 2003, Umsschlagseite), nämlich in das Karolingische Reich, das

um 800 herum bestand. Die Wurzeln sind vielfältig: religiös-kulturell, wirtschaftlich und

gesellschaftlich-politisch.

Das westliche Christentum bildet die religiös-kulturelle Grundlage des Reiches

(Dezentrale Organisation des Reiches – Vorwegnahme des Subsidiaritätsprinzips; prinzipielle

Gleichheit aller Menschen – daraus sind die modernen Menschenrechte herausgewachsen

Recht auf Nutzungsrechte an Land – später Recht auf Privateigentum); die eigentliche

geistige Grundlegung Europas ist dargestellt an einem soeben (2010) erschienen Buch:

Monasterium Sancti Galli 5: Alkuin von York und die Geistige Grundlegung Europas,

herausgegeben von Ernst Tremp und Karl Schmuki, Verlag am Klosterhof St. Gallen 2010

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(Alkuin von York war einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit und Hauptberater

Karls des Grossen betreffend die geistige, rechtliche und politische Gestaltung des

Karolingischen Reiches.)

Die wirtschaftlichen Grundlagen haben wir bereits erwähnt: Auf den Höfen entstand über

die Nutzungsrechte auch bei den einfachen Bauern Eigeninitiative und Eigenverantwortung;

das Herrengut mit der Mühle war der Ausgangspunkt für die europäische Maschinenbau-

Tradition.

Michael Mitterauer wendet sich nun auch den gesellschaftlich-politischen Grundlagen

Europas zu, die im Reich Karls des Grossen entstanden sind. Für Mitterauer ist der

europäische Sonderweg nicht in erster Linie durch Kapitalismus und Industrialisierung und

deren Entwicklung, sondern durch Parlamentarismus und Demokratie gezeichnet, die sich aus

den mittelalterlichen Ständeverfassungen entwickelt haben. Letztere wiederum haben ihren

Ursprung in der karolingischen Grundherrschaft. [Aus den zwei ersten Ständen (Adel und

Geistlichkeit) gehen nach der französischen Revolution konservative Parteien hervor, aus dem

dritten – bürgerlichen – Stand liberale Parteien: Radikale, Freisinnige. Im 19. Jh. geht dann

aus dem vierten (Arbeiter-) Stand die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien

hervor.]

4.2. Der Durchbruch von der Tradition zur Moderne im

‚rückständigen’ Europa (Mitterauer, mit Erweiterungen)

a) in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sind in England eine Reihe von komplementären

Bedingungen zustande gekommen, die zur Industriellen Revolution geführt haben (Abschnitt

V.2. dieser Vorlesung). Die ganze europäische Entwicklung seit dem Karolingischen Reich

und der dauernde asiatische und nordafrikanische Einfluss sowie dessen schöpferische

Weiterentwicklung der Europäer haben den Zustand geschaffen, der in England die

industrielle Revolution auslöste.

b) Die ursprüngliche eurozentrische Sicht besagt, die Grundlagen für die moderne

Entwicklung seien durch Humanismus und Renaissance um 1500 herum geschaffen worden

(das 16. Jh. als Schlüssel-Jahrhundert): die wissenschaftliche und technische Revolution

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wurden eingeleitet, die grossen Entdeckungen erfolgten um diese Zeit. [In Wirklichkeit war

die technische und wissenschaftliche Revolution (Natur- und Sozialwissenschaften) die

Anwendung der scholastischen Methode auf Mensch, Gesellschaft und Natur; die

scholastische Methode war die Suche nach der plausibelsten Theorie, um irgendeinen

Sachverhalt zu erklären; im Mittelalter wurde die scholastische Methode auf die Theologie

und die Philosophie angewendet. Auch in den Wissenschaften zeigt sich also die

grundlegende Bedeutung des Mittelalters.]

c) Mitterauer legt nun stark modifizierte eurozentrische Betrachtungsweise vor:

Der Ausgangspunkt für die spezifische europäische Entwicklung, die zum Durchbruch

zur Moderne führten wurden im frühen Mittelalter gelegt, im Reich Karls des Grossen

(karolingisches Reich, um 800 (in diesem Jahre wurde Karl der Grosse in Rom zum Kaiser

gekrönt), genau von 768 (Karl der Grosse wird fränkischer König) bis 843 (das Karolingische

Reich wird dreigeteilt in Frankreich, Lothringen und Deutschland).

d) Wichtig waren im Karolingischen Reich:

*Einmal die dezentrale Organisation des Reiches durch das Lehenswesen. Die

Grundherrschaften auf den verschiedenen Stufen des ‚Lehensherr-Lehensnehmer-

Verhältnisses bilden eigenständige Selbstverwaltungseinheiten. Die Dezentralisierung beruht

(implizit) auf dem Subsidiaritätsprinzip (die obere staatliche Ebene übt nur Funktionen aus,

die von den unteren Ebenen nicht durchgeführt werden können. Zum Beispiel kommt die

Entscheidung über Krieg und Frieden dem Kaiser, dem obersten Lehensherrn zu). Dadurch

erhalten die staatlichen Funktionsträger bis hinunter auf die unterste Stufe, den Bauern,

Handlungsspielräume, die Eigeninitiative wird dadurch gefördert. Auf der untersten Stufe

wird diese konkretisiert durch die Zweiteilung des Bodens, die dem einzelnen Bauern auf

seiner Hufe (Hof) Nutzungsrechte an einer bestimmten Bodenfläche zukommen lässt.

*Die Zweiteilung des Bodens ist von zentraler Bedeutung. Die Bauern entwickelten auf

ihren Höfen (Mansen, Hufen) Eigeninitiative; dazu wurde die Eigenverantwortung gestärkt.

Auf dem Herrengut entstand die Mühle: mit Wasserkraft wurden einfache Anlagen

angetrieben. Dadurch entstand in Europa eine Maschinenbautradition, die für die Industrielle

Revolution von entscheidender Bedeutung war. Diese Elemente: Eigeninitiative,

Eigenverantwortung und Maschinenbautradition waren grundlegend für Mitterauers

Europäischen Sonderweg.

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*Im Hochmittelalter bildet sich allmählich ein Dualismus zwischen Adel und

Geistlichkeit einerseits und dem Fürsten (König, Kaiser, Herzog) heraus. Adel und

Geistlichkeit schliessen sich zu Ständen zusammen, die auf Ständeversammlungen über ihre

Rechte und Pflichten (auch dem Fürsten gegenüber beraten; die englische Magna Charta von

1215 regelt erstmals klar das Verhältnis von (Hoch-)Adel und König). Später kam vereinzelt

auch der bürgerliche Stand hinzu.

*Nach der französischen Revolution wurden die Stände zu Klassen, die ihre Interessen

vertraten. Dies führte schliesslich zur Bildung von politischen Parteien und zur

parlamentarischen Demokratie.

*Das Christentum propagiert die prinzipielle Gleichheit aller Menschen (in den Schulen,

die von Karl dem Grossen eingerichtet wurden, befanden sich adelige und Bauernkinder.) Die

natürlichen Gemeinschaften - Sippe, Stamm und Grossfamilie - treten in den Hintergrund, die

Kleinfamilie und die Individuen rücken in den Vordergrund. Im karolingischen Reich bestand

eine gewisse Unabhängigkeit zwischen Institutionen (Funktionen) und den Personen, die in

einer bestimmten Institution tätig waren (Lehen wurden maximal auf Lebenszeit. vergeben).

Im Hochmittel traten die Personen (und ihre Abstammung) wieder verstärkt in den

Vordergrund. Allmählich wurde aber im Verlaufe der Neuzeit das persönliche Element

wieder zurückgedrängt. Adelige und Geistliche wurden zu Regierungsmitgliedern, Beratern,

Administratoren und Offizieren. Die Funktionen (Institutionen) wurden nach der

Französischen Revolutionen immer mehr von den Personen unabhängig.

*In den westeuropäischen Städten ist allmählich ein Wirtschaftsbürgertum entstanden,

das sich allerdings im Zuge der Industriellen Revolution sozial gewandelt hat. Jean-François

Bergier sagt aber ausdrücklich, dass das Industrie-Bürgertum eine soziale Neuschöpfung ist

und sich nicht aus dem bestehenden Bürgertum heraus entwickelt hat.

e) Wichtig ist auch, dass Europa nie vom mächtigeren Asien dominiert wurde, dies

wegen seiner Randlage. Den Persern gelang um 500 v.Chr. nicht, Griechenland zu erobern.

Die Hunnen unter Attila wurden 451 n.Chr. auf den Katalaunischen Feldern

(Nordostfrankreich) von den Römern/Germanen (Aetius) geschlagen. Die Araber wurde 732

n.Chr. in Poitiers von den Franken (Karl Martell) gestoppt. Die Mongolen kamen um 1241

herum bis nach Schlesien, wo sie bei Liegnitz eine Schlacht gewannen, sich dann aber nach

dem Tode ihres Grosskhans Ögedei aus Deutschland und Polen zurückzogen; vielleicht hatten

sie auch kein Interesse, weiter nach Westen vorzustossen, weil hier nicht viel zu holen war

oder der Weg zu lang war.

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f) Damit um Zusammenhang steht, dass Europa war nie eine politische Einheit war. Vor

allem England hat dafür gesorgt, dass auf dem europäischen Kontinent nie dauernd eine

dominierende politische Macht entstehen konnte. Die Rivalität zwischen Staaten und

Regionen erforderte, den sozialen Überschuss zu steigern, auch um höhere Steuereinnahmen

sicherzustellen. Teilweise wurde dies durch Verbesserungen der Produktionstechnik zustande

gebracht (einfache Maschinen, die von Wasserkraft angetrieben waren; Manufakturen

entstehen). Vor allem führte die Rivalität zwischen den europäischen Mächten zu

Verbesserungen in der Waffentechnik. Die Artillerie wurde weiterentwickelt, was die

Kenntnisse im Maschinenbau förderte.

g) Zwei Neuanfänge haben die Entwicklung in Europa entscheidend bestimmt. Ein erster

Neuanfang fand in Griechenland nach dem plötzlichen Zusammenbruch der kretisch-

mykenischen Kultur um 1200 v.Chr. statt. Im klassischen Griechenland (800 – 200 v.Chr.)

erreichte im vierten Jh. v.Chr. das philosophische Denken mit Platon und Aristoteles einen

einzigartigen Höhepunkt. Das Denken wurde nicht mehr vom Mythos sondern von der

Vernunft getragen. Unterschiedliche, sogar widersprüchliche Denksysteme entstehen, Fragen

und Zweifel tauchen auf (Sophisten und Skeptiker); wissenschaftliche Theorien entstehen,

also Denkmodelle; dieser Vorgang wurde gefördert durch die Lautschrift (Buchstabenschrift),

die eine allgemein verständliche Bildung von Begriffen ermöglichte – die verfeinerte

chinesische Zeichenschrift war nur einer Elite zugänglich.)

Das Reich Karls des Grossen um 800 stellte – wie oben angedeutet – einen (zweiten)

staatlichen, aber auch gesellschaftlich-wirtschaftlichen Neuanfang auf christlicher Grundlage

dar, der einen spezifisch europäischen Entwicklungsweg einleitete (Mitterauer, 2003).