Illich, Ivan - Im Weinberg des Textes

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Ich richte mein Augenmerk auf einen wichtigen Moment in der Geschichte des Alphabets: den Moment, als - nach Jahrhunderten des christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende. Ich erzähle die Geschichte, wie in einem fernen Jahrhundert der Umbruch der Lesekultur stattfand und eine Epoche begann, die jetzt zu Ende geht.Das Augenmerk wird auf einen wichtigen Moment in der Geschichte des Alphabets gerichtet: den Moment, als - nach Jahrhunderten des christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende. Es wird die Geschichte erzählt, wie in einem fernen Jahrhundert der Umbruch der Lesekultur stattfand und eine Epoche begann, die jetzt zu Ende geht.

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Ivan Illich

Im Weinberg des TextesAls das Schriftbild der Moderne entstand

Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main 1991. Copyright 1991 by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten. L'Ere du livre 1990 by Les Editions du Cerf, Paris, und Valentina Borremans, Cuernavaca. Umschlagentwurf: Max Bartholl. Umschlagfoto: Ingo Bulla. Satz: Uhl + Massopust, Aalen. Druck und Bindung: Ebner Ulm, Printed in Germany ISBN 3-630-87105-4

InhaltEinleitung 7 1 Weisheit - Ziel des Lesens 15 2 Ordnung, Gedchtnis und Geschichte 33 3 Monastisches Lesen 55 4 Lectio auf Latein 67 5 Scholastisches Lesen 77 6 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens 99 7 Vom Buch zum Text 121 Anmerkungen 135 Bibliographie 183

EinleitungDieses Buch erinnert an die Aufkunft des scholastischen Lesens. Es erzhlt, wie ein Kulturverhalten entstanden ist: George Steiner nennt es bookish, ans Buch gefesselt. Achthundert Jahre lang hat dieses Verhalten die Einrichtung westlicher Bildungsinstitutionen gerechtfertigt. Die universale Liebe zum Buch wurde zum Kern der westlichen skularen Religion, Unterricht wurde zu ihrer Kirche. Heute ist die westliche Gesellschaft diesem Glauben an das Buch entwachsen, vielleicht so, wie sie auch dem Christentum entwachsen ist. Inzwischen ist das Buch lngst nicht mehr die wichtigste Grundlage des Bildungswesens. Wir haben die Kontrolle ber sein Wachstum verloren. Medien und Kommunikation, der Bildschirm haben die Buchstaben, die Buchseite und das Buchlesen verdrngt. Darum beschftige ich mich hier mit dem Beginn der Bibliophilie, denn diese Epoche geht jetzt zu Ende. In der Kulturgeschichte des Buches gab es zu den Buchseiten viele Grundeinstellungen ihrer Benutzer. Mir scheint heute der Moment gekommen, den Frhformen dieses vom Buch bestimmten Lesens nachzuspren. Denn sie sind in Vergessenheit geraten. Je suis un peu lune, et un peu commis voyageur Ma spcialit sont les heures qui ont perdu leur montre [...] Ich bin ein wenig Mond, und ein wenig reisender Hndler; meine Spezialitt sind jene Stunden, die ihre Uhr verloren haben; manche sind ertrunken, manche sind in einem Karneval verloren gegangen, und ich kenne sogar einen Vogel, der sie schluckt [...] Diese Zeilen deuten den Weg zu meinem Thema. Sie stammen aus einem Gedicht von Vicente Huidobro, dem chilenischen Gefhrten von Apollinaire, der verletzt wurde, als er Prsidentschaftskandidat seines Landes war; spter war er Kriegskorrespondent in Spanien und Frankreich. Ich richte mein Augenmerk auf einen flchtigen, aber dennoch sehr wichtigen Moment in der Geschichte des Alphabets: den Moment, als - nach Jahrhunderten des christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur fr fromme Murmler wurde der optisch planmig gebaute Text fr logisch Denkende. Nach dieser Umwandlung wurde die neue Form des buchgebundenen Lesens zur vorherrschenden Metapher fr die hchste Form sozialen Handelns. Erst in unserer jngeren Vergangenheit wurde das Grundmuster des Lesens erschttert: das Bild und die Bildunterschrift, der Comic, die Tabelle, der Kasten und das Diagramm, die Photographie, die Skizze und deren Zusammenwirken mit anderen Medien zwingen den Benutzer zu einem neuen Umgang mit Lehrbchern. Er steht im Gegensatz zu dem, den das scholastische Lesen verlangt hatte. Dieses Buch versteht sich nicht als Kritik am neuen Umgang mit den Medien oder an den Lehrmethoden, durch die diese neuen Verhaltensweisen vermittelt werden. Es will auch niemandem die Freude an Bedeutung und Schnheit, am Genu des Bcherlesens in all seinen Mglichkeiten nehmen. Indem ich zu den Ursprngen der Buchherrschaft zurckgehe, hoffe ich, die Distanz zwischen meinem Leser - von dem ich erwarte, da er Bcher liebt - und dem, was er tut, wenn er meinen Text liest, zu vergrern. Moderne Theorien zur Entstehung des Universums besagen, da sie auf einer uerst feinen Ausgewogenheit bestimmter Faktoren beruhte. Wren gewisse entscheidende Temperaturen und Dimensionen auch nur geringfgig anders gewesen, htte 8 der Urknall [...] nicht Zustandekommen knnen. Die Entwicklung des modernen Buchs

und der Buchkultur, wie wir sie kennen, scheint von einer vergleichbaren Fragilitt ausschlaggebender und ineinandergreifender Faktoren abhngig gewesen zu sein.1 So ist die klassische Buchkultur eine vorbergehende Erscheinung. Laut Steiner bedeutete das Zeitalter des Buches, da ber die Mittel zum Lesen verfgt werden konnte. Das Buch war zu einem huslichen Gegenstand geworden. Seine Besitzer konnten es immer wieder lesen. Das Zeitalter des Buches hat den privaten Raum ebenso gebraucht wie Zeiten des Schweigens, die von anderen respektiert wurden. Zu dieser Buch- und Lesekultur gehrten auch die Flstergalerien, die Journale, die Akademien und spter die Kaffeehauszirkel. Zur Kultur des Buches gehrte die Kultur des Lesenlassens. Sie hat einen mehr oder weniger einverstndigen Kanon ber Wert und Form des Textes gebraucht. Dabei war sie weit mehr als nur das Mittel, dem Buchspezialisten Aufstiegschancen und soziale Privilegien zu verschaffen. Die Lesekundigen hatten einen eigenen sozialen Status. Das bibliophile Lesen brachte Katholiken, Protestanten und assimilierten Juden, Klerikern und aufgeklrten Antiklerikern, ebenso wie Humanisten und Naturwissenschaftlern ein allen gemeinsames Grundverhalten. Ihre gesellschaftliche Rolle wurde durch die Anforderungen an diese Art des Lesens bestimmt, nicht nur widergespiegelt. Heute ist das Buch nicht mehr die Grundmetapher unseres Zeitalters; es mute dem Bildschirm weichen. Der alphabetische Text ist inzwischen nur noch eine unter mehreren Arten des Kodierens von Botschaften. Im Rckblick erscheint die Verbindung jener Elemente, die von Gutenberg bis zum Transistor das Verhltnis zum Buch geprgt haben, als Besonderheit dieser einen langen Epoche. Sie kennzeichnet aber nur eine, die westliche Gesellschaft. Das gilt trotz der Taschenbuchrevolution, der feierlichen Wiederbelebung ffentlicher Dichterlesungen und der manchmal groartigen Blte alternativer Kleindruckereien. Bibliophiles Lesen kann heute deutlich als epochale Erscheinung eingeordnet werden. Damit war es nicht etwa der logisch notwendige Schritt in der Entwicklung zum rationalen Gebrauch des Alphabets. Nein, es war eine von vielen Mglichkeiten, mit dem beschriebenen Blatt umzugehen; eine unter vielen besonderen Berufungen, die einige auch in Zukunft weiter pflegen werden. Andere benutzen das Buch auf andere Weise. Dieses Nebeneinander verschiedener Lesearten ist nichts Neues. Um das deutlich zu machen, mchte ich die Geschichte erzhlen, wie in einem fernen Jahrhundert der Umbruch der Lesekultur stattfand. Mit George Steiner wnsche ich mir, da es neben unserem Bildungssystem, das inzwischen ganz andere Funktionen angenommen hat, so etwas wie Lesehuser geben mge, nicht unhnlich der jdischen Shul, der islamischen Medersa oder dem Kloster, wo die wenigen, die ihre Leidenschaft fr ein Leben entdecken, in dessen Mittelpunkt das Lesen steht, die notwendige Anleitung, Ruhe und Anteilnahme finden knnten, die fr die lange Initiation in die eine oder andere von vielen Geisteshaltungen oder Arten der Buchzelebrierung erforderlich sind. Damit eine neue Askese des Lesens entstehen kann, mssen wir erkennen, da das klassische Lesen der letzten 450 Jahre nur eine von vielen Mglichkeiten ist, alphabetische Techniken zu verwenden. Aus diesem Grunde beschreibe und deute ich in den ersten sechs Kapiteln meines Essays einen technischen Durchbruch, der um 1150 stattfand, 300 Jahre, bevor man anfing, bewegliche Lettern zu benutzen. Dieser Durchbruch basierte auf der Kombination von mehr als einem Dutzend technischer Erfindungen und Einrichtungen, mittels derer die Buchseite von einer Partitur zum Texttrger umgestaltet wurde. Nicht

die Druckkunst bildet - wie hufig angenommen - die notwendige Grundlage fr all die Etappen, die die Buchkultur seitdem durchlaufen hat, son10 dem dieses Bndel von Neuerungen, das zwlf Generationen frher Anwendung fand. Durch diese Ansammlung von Techniken und Gewohnheiten wurde es mglich, sich den Text als etwas von der physischen Realitt der Buchseite Losgelstes vorzustellen. Sie reflektierte und revolutionierte zugleich, was gebildete Menschen taten, wenn sie lasen und als was sie das Lesen erlebten Mit meinen Kommentaren zu Hugos Didascalicon beabsichtige ich, eine historische Ethologie mittelalterlicher Lesegewohnheiten zu schreiben, und gleichzeitig zu einer historischen Phnomenologie des Lesens als Symbol im 12. Jahrhundert beizutragen. Ich hoffe, da der von mir gesehene bergang uns den Umbruch, dessen Zeugen wir heute sind, noch deutlicher sehen lt. Vorlufer dieses Buches waren sieben Vortrge, zu denen ich eingeladen wurde: von Rustam Roy - er bat mich, ein Seminar im Rahmen seines Science, Technology and Society-Programms an der Pennsylvania State University abzuhalten; von Soedjatmoko - er forderte mich auf, ber die Symbolik der westlichen Technologie zu schreiben. Er wollte, da ich mich selbst in groe Distanz zu ihr versetze und als sein Gast an der Universitt der Vereinten Nationen in Japan lebe; und schlielich die Einladung von David Ramage, am Theologischen Seminar der Universitt von Chicago ein Seminar ber die Geschichte des Lesens im Verhltnis zur Weisheit abzuhalten. Ich widme dieses Buch Ludolf Kuchenbuch und diesen drei Freunden aus Anla ihres glcklichen Entkommens von weiteren akademischen Verwaltungsaufgaben. Meine Vorlesungsnotizen wren nie zu einem Buch geworden, htte mich Ludolf Kuchenbuch nicht eingeladen, an einem akademischen Abenteuer teilzunehmen, dessen deutsches Motto Schriftlichkeitsgeschichte ist. Die neue europische Geschichtsforschung versucht, sich auf die wechselseitige Bestimmung einer Gesellschaft und ihres Schriftsystems zu konzentrieren. In dieser Forschung geht es nicht um die Geschichte der Literalitt oder der 11 Schriftkundigen, nicht um die Geschichte der Schreibtechniken oder des Gebrauchs, den Kaufleute, Hfe oder Dichter vom Schreiben gemacht haben. Es geht um etwas anderes. Die Buchstaben wurden zum wichtigsten Mittler zwischen der Welt der Begriffe und der sozialen Wirklichkeit. Auf die Geschichte der Rolle, die die damals neue Anwendung der Buchstaben dabei gespielt hat, mchte ich aufmerksam machen. Diese Forschung konzentriert sich direkt auf den Gegenstand, der mit Hilfe der Buchstaben geschaffen wurde, nmlich das Schriftstck. Sie beobachtet das Verhalten, das durch diesen Gegenstand definiert wird, und die Bedeutungen, die - klassenspezifisch diesem Gegenstand und diesem Verhalten zugeordnet werden. Wir untersuchen jenes Ding, das mehr und mehr die Vorstellung der Menschen von der Welt, von der Gesellschaft und vom Ich der jeweiligen Epoche bestimmt, und zwar die Art, den Ursprung und die Grenzen der jeweiligen Weltvorstellungen, die an die Buchstaben gefesselt waren. In unserem Projekt beschftigen wir uns mit dem Alphabet und mit dem Gebilde, das mit Hilfe des Alphabets entsteht, und nicht mit der Geschichte von Aufzeichnung und Notation, von Sprache und Struktur, von Kommunikation und Medien. Aus unserer historischen Untersuchungsperspektive des Geschriebenen erscheinen die meisten Konzepte, die in der heute modernen Mediengeschichte naiv verwendet werden, als Geschpfe einer alphabetischen Epistemologie, deren Geschichte gerade das Thema

ist, das wir fr unsere Untersuchung whlen. Wir stellen in unserer Analyse den Gegenstand, der mit Hilfe der Buchstaben entsteht, sowie die Gewohnheiten und Vorstellungen, die mit dessen Gebrauch verbunden sind, in den Mittelpunkt. So wird dieser Gegenstand, das Schriftstck, zu einem Spiegel, der bedeutende Vernderungen in der geistigen Verfassung westlicher Gesellschaften reflektiert. Da ich das frhe 12. Jahrhundert gewhlt habe, um die 12 Wirkung des Alphabets whrend seiner langen Geschichte zu illustrieren, hat mir mein eigenes Leben vorgegeben. Vierzig Jahre lang habe ich immer wieder Freude daran gehabt, die Autoren dieser einen Generation zu lesen und nach ihren Quellen zu suchen. Seit Jahrzehnten fhle ich mich Hugo von St. Viktor durch eine ganz besondere Zuneigung verbunden, einem Autor, dem ich genauso dankbar bin, wie den allerbesten meiner noch lebenden Lehrer, unter denen Gerhart Ladner in diesem Zusammenhang einen besonderen Platz einnimmt. Als Professor Kuchenbuch von der Fernuniversitt Hagen seinen Einfhrungskurs ber die Einwirkung des alphabetischen Gegenstands auf die westliche Kultur begann, schien es mir logisch und passend, mich mit einem Kommentar zu Hugos Didascalicon zu beteiligen. Denn das Didascalicon ist das erste Buch, das ber die Kunst des Lesens geschrieben wurde. Ich habe meinen Essay nicht geschrieben, um einen gelehrten Beitrag zu leisten. Ich habe ihn geschrieben, um einen Weg zu einem Ausgangspunkt in der Vergangenheit zu weisen, von dem aus ich neue Einblicke in die Gegenwart gewonnen habe. Niemand sollte sich verleitet fhlen, meine Kommentare als einen Beweis fr Gelehrsamkeit oder als Aufforderung dazu zu betrachten. Sie sind dazu da, dem Leser die reiche Ernte von Erinnerungsstcken zu zeigen - Steine, Tiere und Pflanzen -, die ein Mann bei wiederholten Spaziergngen durch ein bestimmtes Gebiet gesammelt hat, und die er nun mit anderen teilen mchte. Sie sind vor allem dazu da, den Leser zu ermutigen, sich an die Regale der Bibliothek zu wagen und mit verschiedenen Lesearten zu experimentieren. Das Schreiben dieses Buchs war eine geteilte Freude, da jeder Satz seine Form dadurch bekam, da er zwischen Lee Hoinacki und mir hin- und herflog. Was als Studie einer Technologie begonnen hatte, endete schlielich als neuer Einblick in die Geschichte des Herzens. Wir kamen dahin, Hugos ars legendi als asketische Disziplin zu verstehen, die einem technischen Objekt galt Und unser Nachdenken ber das berleben dieser Form des Lesens unter der gide des ans Buch gebundenen Textes brachte uns darauf, eine Studie der Askese zu beginnen, die der Bedrohung durch die Computer-Literalitt ins Auge schaut Ein weiterer Freund mu erwhnt werden Manfred Werner Ohne seine unermdliche Ermutigung waren diese Kapitel im Stadium des Manuskripts verblieben Ich bedaure, da Homakkis Rotstiftkorrekturen mit allen anderen Merkmalen eines manuscriptum verlorengingen, als Manfred den Text m einen Composer eingab Im Grunde genommen haben sich unsere Gesprche ja um die corruptto optimi, quae est pessima gedreht

1 Weisheit - Ziel des LesensIncipit Auctoritas Studium Disciplina Sapientia Lumen Die Seite als Spiegel Das neue Selbst Amicitia Omnium expetendorum prima est sapient la Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste So bersetzt Jerome Taylor den Schlsselsatz des Didascalicon von Hugo von St Viktor, das um 1128 geschrieben wurde Taylors* Einleitung, bersetzung und Kommentare sind Meisterwerke Mit seiner vorsichtigen Wortwahl und seinen feinsinnigen Metaphern bietet er den besten laufenden Kommentar zu dieser bersetzung eines Texts des frhen 12 Jahrhunderts In seinen zahlreichen Anmerkungen geht es ihm meist um Hugos Quellen Auch noch nach fnfundzwanzig Jahren, in denen man sich m der Forschung intensiv mit Hugo beschftigt hat, sind sie kaum veraltet 2 Incipit Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Anfangs- und zugleich die Schlsselwendung m Hugos Buch ber die Kunst des Lesens. Mittelalterliche Manuskripte hatten meist keinen Titel. Sie wurden nach ihren Erffnungsworten, dem incipit, benannt. Die Ppste verwenden noch immer das incipit statt eines Titels, * Anm. d. bers.: Da es eine entsprechende moderne bersetzung ins Deutsche nicht gibt verwende ich bei Zitaten aus dem Didascalicon die bersetzung von Joseph Freundgen, Paderborn 1896, hier zitiert als DF. 15 wenn sie eine Enzyklika schreiben, zum Beispiel Rerum novarum (15. Mai 1931), Quadragesimo anno (15. Mai 1931), Sollicitudo rei socialis (18. Februar 1988). Beim Zitieren eines mittelalterlichen Manuskripts gibt man dessen incipit und explicit, die letzten Worte, an. Diese Art des Verweises auf eine Schrift durch die erste und letzte Zeile lt sie wie ein Musikstck erscheinen, dessen erste und letzte Tne es dem Musiker kenntlich machen. In Hugos Fall haben wir das Glck, einen zuverlssigen berblick ber seine Schriften zu besitzen.3 In diesem frhen Katalog wird omnium expetendorum als incipit angegeben. Weiter unten werde ich erklren, wie das Buch zu dem Vorwort kam, mit dem Taylor es verffentlicht. Auctoritas Titel sind wie Etiketten. Ein incipit aber ist wie ein Akkord. Mit der Wahl eines bestimmten incipit kann der Autor darstellen, in welche Tradition er sein Werk einordnen mchte. Durch die feinsinnige Abwandlung eines hufig wiederholten Satzes kann er darlegen, was ihn zum Schreiben bewegt. Hugos incipit lt keinen Zweifel daran, da er sein Buch in eine lange didaskalische4 Tradition stellen mchte, deren Wurzeln zurckgehen auf die griechischen Reflexionen ber die paideia, oder die Formung junger Menschen zu Vollbrgern. Diese Tradition wurde von Varro, einem Mann, den Cicero den Gelehrtesten der Rmer nannte, ins Lateinische bernommen. Varro, Bibliothekar von Csar und Augustus, schrieb unter anderem die erste normative lateinische Grammatik. Obwohl er selbst ein Stdter war, verfate er vier Bcher ber den Landbau oder den Gartenbau, die Vergil als Quellen fr die bucolica (wrtlich: Kuhhirtenlieder) benutzte, einer Sammlung (Ekloge) 16

von Gedichten, die den Topos des Zurck-aufs-Land und die Suche nach inneren Landschaften in der Literatur der westlichen Welt etablierte. Varro war der erste, der das Lernen als Suche nach Weisheit darstellte, eine Aussage, die von spteren Verfassern von Schriften ber gelehrte Erziehung wieder aufgegriffen worden ist. Das Buch, in dem Varro diese Definition gibt, ist verloren gegangen; seine Aussage hat nur durch Erwhnungen anderer klassischer Autoren berlebt. Hugos incipit ist ganz eindeutig das Erbe Varros, das von dessen Schlern Cicero und Quintillian weitergegeben worden ist; der Letztgenannte war der erste gebildete Lehrer, der ber die Kunst schrieb, Buchstaben nachzuziehen.5 In dieser Tradition betrachtet man es als hchste Aufgabe des Pdagogen, den Schler bei der Suche nach dem Guten, bonum, anzuleiten, das ihn dann zur Weisheit, sapientia, fhren wird. Beide Wrter kommen in Hugos incipit vor: Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste, die in der Gestalt des vollkommenen Guten besteht, sapientia, in qua perfecti boni forma consistit. Wie viele seiner Zeitgenossen ist sich Hugo dessen bewut, da seine Quellen von den groen Literaten Roms, die noch keine Christen waren, stammen. Es ist klar, da sich Hugo nicht mit irgendeinem Guten zufriedengegeben htte. Seine Wortwahl ist przise. Indem er Weisheit mit der Gestalt des vollkommenen Guten verbindet, gibt er zu verstehen, da er Varros Definition gelten lt, aber nur wie diese von Augustinus aufgenommen, verndert und weitergegeben worden ist.6 Hugos Schriften sind von Augustinus durchtrnkt. Er lebte in einer Gemeinschaft, die die Regel des Augustinus befolgte. Hugo las immer wieder die Schriften seines Meisters und schrieb sie ab. Lesen und Schreiben waren fr ihn kaum unterscheidbare Seiten desselben Studium. Da Hugos Texte fast gnzlich Kompilationen, Deutungen und Umformu-lierungen von denen des Augustinus sind, sieht man am besten an seinem Werk ber die Sakramente, das ein Torso geblieben ist. Hugos schwere Krankheit und sein Tod machten es ihm unmglich, die letzten Kapitel fertigzustellen; nur ein frher Entwurf ist geblieben.7 Dieser Entwurf besteht groenteils aus Exzerpten von Augustinus, die Hugo seiner eigenen Diktion und seinem eigenen Stil noch nicht vollstndig einverleibt hatte.8 Fr Hugo wie fr Augustinus war die Weisheit nicht ein Etwas, sondern eine Person.9 In der augustinischen Tradition ist die Weisheit die zweite Gestalt der Dreieinigkeit, Christus. Er ist die Weisheit, durch die (Gott) alle Dinge geschaffen hat [...] Er ist die Gestalt, Er ist der Retter, Er ist das Beispiel, Er ist dein Heilmittel.10 Die Weisheit, die Hugo sucht, ist Christus selbst. Lernen und ganz besonders Lesen sind zwei Formen der Suche nach Christus, dem Heil, Christus, dem Beispiel und der Gestalt, den der gefallene Mensch, der ihn verloren hat, wiederzufinden hofft. Das Verlangen des gefallenen Menschen nach der Wiedervereinigung mit der Weisheit ist einer der Hauptgedanken Hugos. Daher ist der Begriff remedium, Heilmittel oder Arznei, entscheidend, wenn man Hugos Werke verstehen will. Gott wurde Mensch, um die Krankheit - meist als Finsternis dargestellt - zu heilen, die den Menschen wegen seiner Snden befallen hat. Das hchste Heilmittel ist Gott als Weisheit. Knste und Wissenschaft leiten ihre Wrde aus der Tatsache ab, da sie sich darin teilen, Heilmittel fr denselben Zweck zu sein.11 Hugo hat mit seiner Weiterentwicklung des Begriffs remedium dem denkenden Menschen des 20. Jahrhunderts einen ungewhnlichen Weg gezeigt, Fragen der Technik und Technologie anzugehen. Das Lesen, wie Hugo es wahrnimmt und deutet, ist eine ontologisch heilende Technik. Ich habe vor, es als solche zu untersuchen. Ich

werde analysieren, was Hugo ber Lesetechniken zu sagen hat, um die Rolle, die das Alphabet um 18 1130 bei der Erschaffung eben dieser Techniken gespielt hat, erforschen zu knnen.12 Eine nhere Betrachtung zeigt, da Hugos incipit nicht unmittelbar dem Werk des Augustinus entnommen ist. Seine Formulierung stammt aus dem Werk De consolatione philosophiae von Boethius, der Augustinus feinfhlig, aber bedeutsam abgewandelt hat.13 Von allen erstrebenswerten Dingen ist das erste und der Grund, weshalb alle anderen Dinge begehrt werden, das Gute [...] in dem die Substanz Gottes liegt.14 Der Philosoph, der von Gott spricht, dmpft die christozentrische Leidenschaft des Neubekehrten, Augustinus.15 Augustinus schreibt als ehemaliger Heide, der nicht vergessen kann, da er Christus erst vor kurzer Zeit als Person entdeckt hat. Boethius wurde im Jahre 480 geboren, genau fnfzig Jahre nach dem Tod des Augustinus. Er steht als Christ in einer Tradition von mehreren Generationen. Als rmischer Konsul ist er in den Dienst Knig Theoderichs, des ostgotischen Eindringlings, getreten. Des Hochverrats angeklagt, schreibt er sein Werk De consolatione, whrend er auf seine Hinrichtung wartet.16 Anders als der leidenschaftliche Neubekehrte Augustinus, der versucht, sich von der weltlichen Weisheit zu lsen, wendet sich Boethius ihr zu. In Platon, Aristoteles, Plotinus und Vergil sieht er Wegbereiter fr das Kommen Christi. Daher wurde er zu einer der wichtigsten Quellen der Antike fr jene mittelalterlichen Gelehrten, die in der klassischen Philosophie, und zwar besonders im Stoizismus, eine praeparatio evangelii, eine Vorbereitung auf das Evangelium, sahen.17 Die Philosophen lehrten, da das Ziel des Lernens die Weisheit als das vollkommene Gute war, und die Christen glauben an die Offenbarung, da dieses vollkommene Gute das fleischgewordene Wort Gottes ist.18 Der zeitgenssische Leser erkannte im incipit gleich eine Auctoritas, einen Satz, der es wert war, wiederholt zu werden. Wenn Cerimon, der Herr von Ephesus in Shakespeares Frst von 19 Tyrus sagt, da er by turning o'er authorities* so groen Ruhm erworben (hat), da nie die Zeit ihn auslscht (Perikles, Frst von Tyrus, III, II), dann will er damit nicht ausdrcken, da er etablierte Macht umgestrzt hat und auch nicht, da er gewichtige Autoren befragt hat, sondern da er sich einen Ruf als Mann von groer Weisheit geschaffen hat, indem er ber autoritative Stze nachgedacht hat. In dieser heute veralteten Bedeutung sind auctoritates Stze, die beispielhaft sind und Wirklichkeit definieren. Wenn Hugo Boethius' auctoritas als Schlsselsatz whlt, tut er das nicht, weil Boethius angesehen ist. Der Satz drckt eine offensichtliche Wahrheit aus, gerade weil er aus den Darlegungen dieses oder jenes bestimmten Autors herausgenommen ist; er ist zu einer frei treibenden Aussage geworden. Als solche in Worte gefate Institution wurde die von Hugo zitierte auctoritas zu einem mustergltigen Zeugnis einer unantastbaren berlieferung. Studium Wenn wir das incipit mit von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste, bersetzen, wird uns jeder Lateinanfnger zustimmen. Primum ist das erste. Aber in eben dieser scheinbaren Transparenz des lateinischen Worts liegt auch die Schwierigkeit, die jedem, der einen solchen Text zu bersetzen versucht, begegnen wird. Zweifellos bedeutet omnium expetendorum prima auch von allen erreichbaren Dingen das (aller)erste. Und doch wird es nur zu Miverstndnissen fhren, wenn ich

primum mit das erste bersetze. Fr uns heutige Menschen ist das erste das, was zuerst kommt oder am nchsten liegt. Wir machen den * Anm. d. bers.: by turning o'er authorities, deutsch etwa: indem (er) ber Autoritten nachdachte; to turn over kann blttern, ber etwas nachdenken, aber auch etwas oder jemanden umstrzen bedeuten. 2O ersten von vielen Schritten, wenn wir mit einem Buch oder einem Forschungsauftrag beginnen, und wir gehen davon aus, da uns unsere Bemhungen weiterbringen werden, vielleicht sogar jenseits unseres gegenwrtigen Horizonts. Aber die Vorstellung eines endgltigen Ziels allen Lesens ist uns fremd. Und noch weniger knnen wir uns vorstellen, da ein solches Ziel unser Tun jedesmal motivieren sollte, wenn wir ein Buch aufschlagen. Uns beherrscht der Geist technischer Kausalitt, und fr uns ist der Auslser Ursache eines Vorgangs. Fr uns ist das Herz nicht Ursache fr die Flugbahn der Kugel. Wir leben nach Newton. Wenn wir einen fallenden Stein sehen, ist er nach unserer Wahrnehmung im Griff der Schwerkraft. Wir knnen die Wahrnehmung eines mittelalterlichen Gelehrten schwer nachvollziehen, der die Ursache fr das gleiche Phnomen darin sieht, da der Stein den Wunsch hat, sich der Erde zu nhern, die die causa finalis, die endgltige Ursache dieser Bewegung ist. Wir stellen uns eine Kraft vor, die einen schweren Krper schiebt. Das antike desiderium naturae, der natrliche Wunsch des Steins, so nah wie nur mglich am Busen der Erde zur Ruhe zu kommen, ist fr uns zum Mythos geworden. Und die Vorstellung von einer endgltigen Ursache, eines letzten Urgrunds allen Verlangens, der im Wesen des Steins oder der Pflanze oder des Lesers verborgen ist, ist unserem Jahrhundert erst recht fremd geworden.19 Im geistigen Universum des 20. Jahrhunderts ist das Endstadium gleichbedeutend mit dem Tod. Die Entropie ist unser endgltiges Schicksal. Wir erleben die Wirklichkeit als monokausal. Wir kennen nur wirkende Ursachen. Deshalb wre die bersetzung von primum mit das erste sowohl eine perfekte bersetzung als auch eine irrefhrende Interpretation. Wenn man im modernen Sprachgebrauch auf das Gute, Schne oder Wahre hinweisen mchte, das alles Dasein motiviert, mu man vom endgltigen Grund sprechen, der alles durch Zerren und nicht durch Schieben entstehen lt. 21 Es ist eine genauso groe Herausforderung, de studio legendi, den Untertitel des Buches, zu bersetzen. Was legere und lectio fr Hugo bedeuteten, ist Thema des ganzen Buches. Das lt sich hier nicht in wenigen Worten darlegen. Das Wort Studium wird in jedem Wrterbuch des klassischen Latein wiedergegeben als innerer Trieb, Drang, Eifer, Neigung, Beflissenheit, Lust, Liebhaberei. Es kann auch Ernst bedeuten. Es wre daher verkehrt zu behaupten, das Buch sei eine Einfhrung zu dem, was man heute Studium nennt. Es ist eine Anleitung zu einer Ttigkeit, die kulturell heute ebenso veraltet ist wie die causa finalis .20 Nur mit dieser Einschrnkung knnen wir das Buch eine Anleitung zu hheren Studien nennen. Das Lernen in einem Kloster des 12. Jahrhunderts forderte Herz und Sinne des Schlers mehr noch als seine Ausdauer und seinen Verstand heraus. Das Studieren sah man nicht als zeitlich begrenzt an, wie wir das meist tun, wenn wir sagen, da jemand noch studiert. Es gehrte mit zu den tglichen und lebenslangen Aufgaben eines Menschen und bestimmte seine gesellschaftliche Stellung und seine symbolische Funktion mit.

Man kann Hugos Buch ohne Zweifel als mittelalterlichen Vorboten der propdeutischen Literatur betrachten, die in spteren Jahrhunderten Lehrplne fr Erstsemester an den Universitten lieferte. Hugo behandelt in seinem Buch die zu seiner Zeit bliche Aufteilung der Lehrgebiete und ihre jeweiligen Lehrmethoden. Und er spricht ausfhrlich ber die Aufteilung der Wissensgebiete. Er listet den Kanon der Klassiker auf, die dem Schler bekannt sein sollten. Dennoch stehen fr Hugo im Mittelpunkt die Tugenden, die man fr das Lesen braucht, und die durch dieses entwickelt werden. 22 Disciplina21 Das studium legendi formt den Mnch insgesamt, und sein Lesen wird in gleichem Mae wie er selbst Vollkommenheit erreichen22 - Der Beginn der Disziplin ist Demut. . . und der Leser lernt durch die Demut dreierlei: Erstens, da er kein Wissen und keine Schrift je verachten sollte.23 Zweitens, da er sich nicht schmen sollte, von jedermann etwas zu lernen.24 Drittens, da er, wenn er selbst Gelehrtheit erreicht hat, niemals auf einen anderen herabschauen sollte.25 - Ein ruhiges Leben ist ebenso wichtig fr die Disziplin, sei es innerlich, so da der Geist nicht durch verbotene Wnsche abgelenkt ist, oder uerlich, so da Mue und Mglichkeiten zu einem lobenswerten und ntzlichen Lernen gegeben sind.26 - ... Nicht nach berflssigem zu streben, ist besonders wichtig fr die Disziplin. Ein fetter Bauch kann, wie das Sprichwort sagt, keinen Scharfsinn hervorbringen.27 - Und endlich mu die ganze Welt zur Fremde werden fr die, welche vollendet lesen wollen.28 Wie der Dichter sagt29: Heimischer Boden zieht mit besonderem, sem Gefhl an / Und lt eingedenk seiner bestndig uns sein. . . Der Philosoph mu lernen, ihn zu verlassen.30 Das sind einige von einem Dutzend Regeln allgemeinen Charakters, die der Formung jener Gewohnheiten dienen, die der Leser annehmen mu, damit ihn sein Streben zur Weisheit fhrt und nicht zum Ansammeln von Wissen, mit dem er sich brsten kann.31 Der Leser soll sich ins Exil begeben, um seine ganze Aufmerksamkeit und all sein Verlangen auf die Weisheit richten zu knnen, die dann zum ersehnten Zuhause wird.32 23 Sapientia Im zweiten Satz dieses ersten Kapitels beginnt Hugo damit, zu erklren, was die Weisheit tut. Am Anfang des Satzes steht: sapientia illuminat bominem, die Weisheit erleuchtet den Menschen . . . lit seipsum agnoscat, damit er sich selbst erkenne. Wieder einmal stehen, in dieser Version, bersetzung und Exegese im Widerspruch, und die deutschen Wrter knnten leicht den Sinn verschleiern, den eine Interpretation zu enthllen vermag. Erleuchtung in der Welt Hugos und das, was wir darunter verstehen, sind vollkommen verschiedene Dinge. Und der Unterschied liegt nicht nur darin, da wir einen Lichtschalter bettigen und Hugo Wachskerzen benutzte. Das Licht, das - in Hugos metaphorischem Wortgebrauch - den Menschen erleuchtet, bildet den absoluten Kontrast zum Licht der Vernunft des 18. Jahrhunderts. Das Licht, von dem Hugo hier spricht, bringt den Menschen zum Glhen. Mit der Annherung an die Weisheit fngt er an zu strahlen. Das emsige Streben, das Hugo lehrt, ist die Verpflichtung zu einer Ttigkeit, bei der das eigene Selbst des Lesers erglhen und zum Funkeln gebracht werden wird.33 Das Buch, das Hugo kennenlernte, als ihm in seiner Kindheit in Flandern oder als Knabe in Sachsen beigebracht wurde, ein Schreibrohr oder eine Feder zu halten, war mit dem gedruckten Gegenstand in unseren Regalen kaum zu vergleichen. Es hatte nichts von der Aura, die jenes uns wohlbekannte

Bndel von Blttern, die mit gedruckten Zeichen bedeckt und am Rcken zusammengeleimt sind, charakterisiert. Die Bltter waren noch immer aus Pergament und nicht aus Papier. Die lichtdurchlssige Schaf- oder Ziegenhaut war mit Manuskript beschrieben und bekam Leben durch Miniaturen, die mit feinen Pinseln gemalt waren. Die Gestalt der vollkommenen Weisheit konnte durch diese Hute scheinen, Buchstaben und Symbole zum Leuchten bringen und das Auge des Lesers erglhen lassen.34 Ein Buch anzuschauen war ein Erlebnis hnlich dem, das man am frhen Morgen in gotischen Kirchen haben kann, in denen die Originalfenster erhalten sind. Wenn die Sonne aufgeht, bringt sie Leben in die Farben des Glases, das vor Sonnenaufgang wie eine schwarze Fllung in den Steinbgen ausgesehen hatte. Lumen Wenn man besser verstehen mchte, wie das Wesen des Lichts im 12. Jahrhundert wahrgenommen wurde, ist es hilfreich, eine Miniatur aus einem zeitgenssischen codex neben ein nahezu beliebiges Gemlde einer spteren Periode zu legen. Wenn man die beiden Kunstwerke vergleicht, fllt sofort auf, da die Gestalten auf dem Pergament von selbst leuchten. Natrlich sind sie nicht mit Leuchtfarben gemalt, und sie bleiben in vlliger Dunkelheit unsichtbar. Aber wenn man sie in den Schein einer Kerze rckt, beginnen die Gesichter und Kleider und Symbole, Licht auszustrahlen. Dies steht in starkem Kontrast zur Kunst der Renaissance, deren Schpfer sich an Schatten erfreuen und am Malen von Dingen, die in der Dunkelheit versteckt sind. Die Welt wird so dargestellt, als besen alle Kreaturen ihre eigene Lichtquelle. Licht wohnt dieser Welt mittelalterlicher Dinge inne, und das Auge des Betrachters nimmt diese als Quellen ihrer eigenen Leuchtkraft wahr. Man hat das Gefhl, da das Bild nicht nur unsichtbar wre, sondern ganz aufhren wrde zu existieren, wenn diese Leuchtkraft erlschen wrde. Das Licht hat hier nicht einfach eine Funktion, sondern es ist eins mit der Bildwelt, der gemalten Wirklichkeit.35 Die Miniaturen des frhen 12. Jahrhunderts stehen hierin in der Tradition der Ikone der ostrmischen Kirche.36 Dieser Tradition nach malt der Maler kein Licht, das den Gegenstand trifft und dann von diesem reflektiert wird, und er deutet solches Licht auch nicht an. Signorelli - und noch mehr Caravaggio - ist stolz darauf, da er opake Gegenstnde malen und sogar das Licht darstellen kann, das diese zum Leuchten bringt. Wenn man eines seiner Gemlde anschaut, sprt man, da dessen Licht von einer anderen Ebene als der des Gemldes selbst ausgeht, und da es dazu da ist, die abgebildete Welt sichtbar zu machen. Diese Maler vermitteln den Eindruck, eine dunkle Welt von Dingen geschaffen zu haben, die auch dann noch da wren, wenn das Licht, das sie beleuchtet, ausgelscht wrde. Im Gegensatz zu den leuchtenden Wesen der mittelalterlichen Welt, die in ihrem Eigenlicht glnzen und Licht aussenden (Sendelicht), malen die spteren Knstler Licht, das zeigt, was da ist (Zeigelicht), das Licht, das von einer gemalten Sonne oder Kerze ausgeht und die Gegenstnde beleuchtet (Beleuchtungslicht). Wenn Hugo vom Licht spricht, das den Leser erleuchtet, spricht er ganz eindeutig vom ersteren.37 Fr Hugo strahlt die Seite, aber nicht nur die Seite, auch das Auge strahlt.38 Noch heute sagt man in der Umgangssprache, da die Augen leuchten. Wenn man das sagt, wei man jedoch, da man metaphorisch spricht. Das war fr Hugo nicht so. Er fate geistige Vorgnge analog zur Wahrnehmung seines Krpers.39 Nach der spirituellen Optik der Frhscholastik bentigte man das lumen oculorum, das Licht, das vom Auge

ausgeht, um die leuchtenden Gegenstnde der Welt sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das leuchtende Auge war Voraussetzung fr das Sehen. Hugos incipit deutete an, da das Lesen Schatten und Finsternis von den Augen der gefallenen Menschen nahm. Das Lesen ist fr Hugo ein Heilmittel, weil es Licht in eine Welt zurckbringt, aus der es wegen der Snde verbannt worden war. Laut Hugo wurden Adam und Eva mit Augen erschaffen, die so strahlend waren, da sie immerwhrend betrachteten, wonach der Mensch jetzt mhsam Ausschau halten mu. 26 Wegen ihrer Snden wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Aus einer strahlenden Welt wurden sie in eine Welt des Nebels verbannt, und ihre Augen verloren die Leuchtkraft, mit der sie erschaffen worden waren und die dem Wesen und Verlangen des Menschen noch immer ansteht. Hugo bietet das Buch als Arznei fr das Auge an. Er bedeutet, da die Buchseite ein vortreffliches Heilmittel ist; sie erlaubt es dem Leser, durch Studium einen Teil dessen zurckzuerhalten, wonach es ihm wesensgem verlangt, was ihm aber seine sndige innere Finsternis verweigert. Die Seite als Spiegel Hugo fordert seinen Leser auf, sich dem Licht, das von der Seite ausgeht, auszusetzen, ut agnoscat seipsum, damit er sich selbst erkenne, sein Selbst anerkenne. Im Licht der Weisheit, das die Seite zum Glhen bringt, wird das Selbst des Lesers Feuer fangen und im Feuerschein wird er sich selbst erkennen.40 Auch hier zitiert Hugo eine auctoritas, das gnoti seauton, die Maxime erkenne dich selbst, deren frheste Quelle Xenophon ist, und die whrend der Antike ein stehendes Epigramm bleibt und im 12. Jahrhundert hufig zitiert wird.41 Die Tatsache allein, da ein autoritativer Schlsselsatz ein Jahrtausend oder lnger immer wieder in unvernderter Form zitiert wird, ist jedoch keineswegs eine Garantie dafr, da auch seine Bedeutung unverndert geblieben ist. Deshalb bin ich versucht, Hugos seipsum mit dein Selbst und nicht mit dich selbst zu bersetzen. Das, was wir heute meinen, wenn wir in einem normalen Gesprch vom Selbst oder vom Individuum reden, ist eine der groen Entdeckungen des 12. Jahrhunderts. Es gab weder in der griechischen noch in der rmischen Begriffswelt einen passenden Platz dafr. Wer die griechischen Vter oder die hellenistische Philosophie studiert, wird sich wahrscheinlich des Unterschieds zwischen ihrem Ausgangspunkt und unserem schmerzlich bewut werden. Unsere Schwierigkeit, sie zu verstehen, liegt hauptschlich in der Tatsache begrndet, da sie keine Entsprechung zu unserer Person besaen.42 Eine soziale Wirklichkeit, in der unsere Form des Selbst vorausgesetzt wird, stellt eine kulturelle Exzentrizitt dar.43 Diese Exzentrizitt kommt whrend des 12. Jahrhunderts auf. Hugos Werk bezeugt das erste Auftauchen dieser neuen Daseinsweise. Als Mensch, der in aller Literatur, die es gibt, belesen ist, findet er Wege, die berlieferten auctoritates und Mentalitten so zu interpretieren, da dieses neue Selbst in ihnen zum Ausdruck kommen kann. Er mchte, da der Leser die Seite so betrachtet, da er mit Hilfe des Lichts der Weisheit sein Selbst im Spiegel des Pergaments entdeckt.44 In der Seite wird der Leser sich selbst erkennen; nicht so, wie andere ihn sehen oder durch die Titel oder Spitznamen, die sie ihm geben, sondern indem er sich selbst sieht. Das neue Selbst Mit dem Geist der Selbstdefinition bekommt das Fremdsein einen neuen, positiven Sinn. Hugos Aufforderung, die Se des heimatlichen Bodens zu verlassen und sich auf eine Reise der Selbstentdeckung zu begeben, ist nur ein Beispiel fr das neue Ethos.

Bernhard von Clairvaux ruft zu den Kreuzzgen auf, die in anderer Form die gleiche Aufforderung ausdrcken: Menschen auf allen Ebenen der feudalen Hierarchie sollen die gemeinsame Gedankenwelt ihrer Umgebung verlassen, in der Identitt dadurch entsteht, wie andere mich benennen und behandeln, und ihr Selbst in der Einsamkeit der langen Reise entdecken. Bernhards Aufruf veranlat Zehntausende dazu, ihre Dorfgemein28 schaft zu verlassen, und sie entdecken, da sie, auf sich allein gestellt, berleben knnen, ohne die Bindungen, die sie innerhalb des festgefgten feudalen ordo sowohl versorgt als auch gefesselt hatten. Als Pilger und Kreuzritter, als reisende Steinmetze und Mhlenbauer, als Bettler und Reliquiendiebe, als fahrende Spielleute und Scholaren gehen sie am Ende des 12. Jahrhunderts auf Wanderschaft.45 Hugos Forderung, da der Gelehrte ein Heimatloser im Geiste zu sein habe, spiegelt diese Stimmung wider. Er ist nicht der einzige seiner Generation, der das Klosterleben in eine peregrinatio in stabilitate umgedeutet hat, also in eine geistige Pilgerschaft derer, die sich zum Verbleiben an einem Ort innerhalb einer religisen Gemeinschaft verpflichtet haben.46 Ich behaupte nicht, da das moderne Selbst im 12. Jahrhundert geboren wurde und auch nicht, da das Selbst, das in dieser Zeit zutage tritt, nicht eine lange Reihe von Ahnen gehabt htte.47 Heute betrachten wir uns gegenseitig als Menschen mit Grenzen. Unsere Persnlichkeiten sind genauso voneinander getrennt wie unsere Krper. Ein Dasein in innerer Distanz zur Gemeinschaft, das der Pilger, der sich nach Santiago aufmachte und der Schler, der das Didascalicon las, allein entdecken mute, ist fr uns eine soziale Realitt; etwas so Selbstverstndliches, da wir gar nicht auf den Gedanken kmen, es wegzuwnschen. Wir werden in eine Welt von Fremden hineingeboren. Winston Auden drckt das deutlich aus: Some thirty inches from my nose The Frontier of my Person goes And all the untilled air between Is untilled pagus and demesne. Stranger, unless with bedroom eyes I beckon you to fraternize 29 Beware of rudely crossing it I have no gun, but I can spit.48 Diese existentielle Grenze ist unbedingt notwendig fr jeden, der in unsere Welt hineinpassen mchte. Und wenn sie erst einmal die geistige Topologie eines Kindes geprgt hat, wird dieses Wesen immer ein Fremdling sein in allen Welten auer denen, in welchen ebensolche Fremde wohnen.49 Es wird hufig behauptet, da diese Grenze zur Zeit Hugos entsteht, und zwar als ein Aspekt der neuen Bedeutung des Wortes Person, persona, und deren gesellschaftlicher Anerkennung.50 Fr Menschen des frheren Mittelalters bedeutete persona Amt, Funktion oder Rolle; diese Bedeutungen waren auf verschiedene Weise vom lateinischen Wort persona, Maske, abgeleitet. Fr uns bedeutet es das Individuum im eigentlichen Sinne, das eine einzigartige Persnlichkeit, Physis und Psyche hat. In der Person von bewahrt, zur Formel versteinert, die ltere Bedeutung, wie auch der englische parson - Pastor, Pfarrer - lange als die juristische persona betrachtet, die als Klger oder Beklagter in Gemeindefragen auftrat.51 Was ich hier betonen mchte, ist die besondere bereinstimmung zwischen der Entstehung des Selbst als Person und dem Abheben des Textes von der Seite. Hugo weist seinem Leser den Weg in ein fremdes Land. Er verlangt aber nicht von ihm, da er seine Familie und seine gewohnte Umgebung verlt, um von Ort zu Ort in Richtung Jerusalem oder Santiago zu wandern. Er erwartet vielmehr, da sich der Leser ins Exil

begibt, um eine Pilgerreise durch die Seiten eines Buchs anzutreten.52 Er spricht vom Hchsten, zu dem sich der Pilger hingezogen fhlen sollte, und fr die Pilger der Feder ist das nicht, wie fr die Pilger des Stabs, die himmlische Stadt, sondern die Gestalt der vollendeten Gte. Und er macht darauf aufmerksam, da der Leser auf dieser Strae zum Licht unterwegs ist, das ihm sein eigenes Selbst 30 enthllen wird. Hugo drngt seine Leser, nicht zu lesen, um gelehrt zu erscheinen, sondern (die Seite) immer vor das Auge des Geistes zu halten, als wre sie ein Spiegel fr das eigene Antlitz. In lumine tuo videbimus lumen. (Psalm 36,9) Immer spricht Hugo aus nachhaltig visueller Perspektive. Bei der Suche nach Weisheit gibt er stets dem Auge Vorrang. Mit dem Auge nimmt er die Se der Schnheit wahr. Er spricht vom Schatten, aus dem der Philosoph treten mu, um sich dem Licht zu nhern, und von der Snde spricht er meist als Finsternis. Die Erleuchtung berhrt fr Hugo drei Augenpaare: die Augen des Fleisches, die die materiellen Dinge entdecken, die in der irdischen Sphre der greifbaren Gegenstnde enthalten sind, die Augen des Verstandes, die das Selbst betrachten sowie die Welt, die es widerspiegelt, und schlielich die Augen des Herzens, die im Licht der Weisheit ins Innere Gottes vordringen, zu Gottes Sohn, der als hchstes Buch im Scho des Vaters verborgen ist.53 Amicitia Wenn Hugo liest, erlebt er die Rckkehr des Lichts, das uns unserer Snden wegen genommen worden ist. Seine frhmorgendliche Pilgerschaft durch den Weinberg der Seite fhrt ins Paradies, das er sich als Garten vorstellt. Die Worte, die er vom Spalier der Zeilen pflckt, sind Vorgeschmack und Versprechen der Se, die noch kommen wird. Freundschaft ist Hugos bedeutsamste Metapher fr die erhoffte Erfllung und fr den Weg dorthin. Est philosophia amor et studium et amicitia quodammodo sapientiae , Liebe, Suche und gewissermaen Freundschaft der Weisheit motivieren ihn zu seiner Pilgerschaft.55 Paradoxerweise klingt es fr Leser des spten 20. Jahrhunderts schamlos, wie Mnche des 12. Jahrhunderts von Freundschaft sprechen. Die zarte Freundschaft, die diese Mnche in leibhaftiger Erregung freinander und ihre Schwestern, die Nonnen waren, empfanden, bezeugt einen Erfahrungsraum, der auch der edelsten persnlichen Beziehung diametral entgegengesetzt ist, die seit dem Verbot von >Lady Chatterley< und der ersten LP der Beatles56 bestanden hat. Bei Hugo ist Freundschaft das Wort fr jene Liebe zur Weisheit, die sapientia oder geschmackvolles57 Wissen ist.58 Der Freund ist paradisus homo, allein seine Gegenwart macht selig; Freundschaft ist ein Garten, ein Lebensbaum, Schwingen fr den Flug zu Gott. . . Se, Licht, Feuer, Schmerz [...] die Rckkehr ins Paradies.59 Wenn Hugo im Didascalicon den Reiz der Weisheit erklrt, mu er einfach die Metapher der Freundschaft whlen, die letztlich das Studium motiviert.60 Einige Jahrzehnte lang haben Hugos Zeitgenossen die platonische Doktrin wiederentdeckt und christianisiert, die besagt, da Wissen ohne Freundschaft, die sich am Wissen des Freundes erfreut, unzureichend ist. Hugo selbst konnte nicht anders, als das hchste Ziel des Studium anhand dieser Erfahrung zu interpretieren. Das Licht der Weisheit, das den Geist des Schlers umgibt, ruft ihn und zieht ihn so zu sich selbst zurck, da er den anderen immer als Freund berhrt. Durch die unsichtbaren Dinge der Welt gelangt der wahre Leser zu den unsichtbaren [...], indem er in seinem Herzen eine Leiter hinaufsteigt zu einer Vereinigung in den Armen eines wunderbaren Gottes.61 32

2 Ordnung, Gedchtnis und GeschichteSchaue niemals auf etwas herab Ordo Artes Die Schatztruhe im Herzen des Lesers Die Geschichte des Gedchtnisses Rmische Juristenkunst im Dienste mnchischen Gebets Die Arche ist die Kirche Historia als Fundament Alle Schpfung ist sinntrchtig Schaue niemals auf etwas herab Wenn du dich an kleinen Dingen getrnkt hast, kannst du dich gefahrlos an die Groen wagen62 zitiert Hugo Marbodus63, um einen der beiden Abschnitte in seinem gesamten Werk einzuleiten, in denen er etwas aus seiner eigenen Jugend erzhlt.64 In diesem Bruchstck einer Autobiographie verfllt er gelegentlich in die direkte Rede. Ich wage es zu behaupten, da ich nichts von dem, was fr meine Ausbildung Wert hatte, verachtet habe; da ich vielmehr oftmals manches gelernt habe, was andere fr Tndelei oder Thorheit hielten. Ich entsinne mich, da ich zur Zeit, wo ich noch Schler war, mich abgemht habe, die Namen aller Dinge, die uns in die Augen fallen oder uns unter die Hnde kommen, zu lernen, indem ich dabei der Erwgung Raum gab, da einer die Wesenheit der Dinge nicht ohne Hemmnis erforschen knne, wofern er die Namen derselben nicht kenne. Wie oft habe ich meine Schlureihen, die ich der Krze wegen mit einem oder zwei Ausdrcken auf einem Blatte angedeutet hatte, in der von mir selbst fr den einzelnen Tag festgelegten Anzahl hin und her berlegt, so da ich fast von allen Behauptungen, Fragen und 33 Einwendungen, wie ich sie gelernt hatte, Erklrung und Regel gedchtnismig mir einprgte. Oftmals habe ich Rechtshndel erdichtet und dann die Rollen, die dabei nach Art gerichtlicher Streitigkeiten von einem Lehrer der Beredsamkeit, von einem geschulten Redner, von einem spitzfindigen Wortklauber bernommen werden wrden. Steinchen stellte ich zu Reihen zusammen und mit schwarzer Kohle entwarf ich Zeichnungen auf dem Fuboden, und an solchen in die Augen fallenden Darstellungen machte ich dann den Unterschied zwischen einem stumpfen, einem rechten und einem spitzen Winkel offenkundig. Und da bei einem gleichseitigen rechtwinkeligen Viereck sich durch die Vervielfltigung zweier Seiten miteinander der Flcheninhalt ergiebt, habe ich dadurch in Erfahrung gebracht, da ich fuweise die Seiten abschritt. Hufig habe ich die Winternchte hindurch im Freien zugebracht, um astronomische Beobachtungen65 anzustellen (excubavi). Oft spannte ich die Saiten in gewisser Zahl ber ein Stck Holz, auf da ich den Unterschied der Tne mit meinem Ohr vernahm und zugleich mein Gemt an der lieblichen Weise des Liedes ergtzte. Dies war ein kindisches Verfahren, gleichwohl aber kein nutzloses. Das Wissen um diese Dinge verspre ich auch heute nicht als eine Last. Dies enthlle ich dir aber nicht, um mich mit meinem Wissen, welches gar nichts oder doch nur sehr wenig auf sich hat, zu brsten, sondern um dir zu zeigen, da derjenige am zweckmigsten weiter schreitet, welcher nach einem wohlberlegten Plane (ordinate) einhergeht und nicht in der Weise anderer, die da, whrend sie einen weiten Sprung thun wollen, in den Abgrund strzen.66 Ordo Der bergang vom kindlichen Suchen zum erwachsenen Lesen wird von etwas bestimmt, das Hugo ordo nennt. Hugo betont an 34 mehreren Stellen, da der Leser geordnet vorangehen msse, ordinate procedere

debet, oder da er in ausgeglichener Gangart voranschreiten solle. Hugo schafft nicht die Ordnung der Dinge, sondern er folgt ihr, hlt sich an sie, sucht sie. Das Ordnen ist die Verinnerlichung jener kosmisch-symbolischen67 Harmonie, die Gott mit dem Akt der Schpfung entstehen lie. Ordnen bedeutet nicht, Wissen nach vorgegebenen Themen zu organisieren und zu systematisieren und auch nicht, es zu verwalten. Die Geschichte wird nicht der Ordnung des Lesers unterworfen, sondern er mu sich in ihre Ordnung fgen. Die Suche nach Weisheit ist eine Suche nach den Symbolen der Ordnung, denen wir auf der Seite begegnen. Dichter und Mystiker verwenden das Motiv der Jagd68, der Pilger steht immer wieder vor einer Weggabelung.69 Er ist auf der Suche nach Symbolen, die er erkennen und finden mu, indem er seinen Platz innerhalb ihres ordo findet. Gerhart Ladner, dessen dankbarer Schler ich bin, hat uns darauf aufmerksam gemacht, da es in der Bedeutung des Symbols im 12. Jahrhundert sowohl eine Kontinuitt als auch einen Bruch gibt. Es war einer der grundlegenden Charakterzge der frhen christlichen und mittelalterlichen Mentalitten, da die zeichenhafte, symbolisierende und allegorisierende Funktion alles andere als arbitrr oder subjektiv war; man glaubte, da Symbole verschiedene Aspekte eines Universums objektiv wiedergeben und getreulich ausdrcken konnten, das als zutiefst bedeutungsvoll wahrgenommen wurde.70 Fr unsere Generation, die mit Freud und Jung grogeworden ist, ist es fast unmglich, zu begreifen, was das Symbol bedeutet hat. Das griechische Verb symbalein bedeutet zusammenbringen, -werfen oder -setzen. Es kann die Nahrung meinen, die die Teilnehmer zum Mahl am festlichen Tisch mitbringen. Es ist etwas Zusammengefates, dinglich Bedeutsames, das erst in der Sptantike zum semeion, Zeichen, wird. Bezeich35 nenderweise nahm symbolon in den Schriften der spten griechischen Kirchenvter die Bedeutung signum an, besonders in denen des Pseudo-Dionysius, des Areopagiten, der alle Schpfung, uns und die Engel eingeschlossen, als Symbole oder Zeichen behandelt, die Gott schuf, damit ihn die Menschen durch diese erkennen lernen. Aber Gott steht so hoch ber der menschlichen Vorstellungskraft (da) es mehr offenbart, wenn man das Gttliche und Himmlische mit Erscheinungen ausdrckt, die aus den niederen Bereichen des erschaffenen Kosmos stammen, als wenn man Symbole whlt, die Ihm oberflchlich nher zu sein scheinen. So kann, wenn man biblische Symbolik verwendet, [...] nicht nur das Licht der Sonne oder der Sterne, sondern auch ein wildes Tier, wie ein Lwe, oder auch ein Stein, der von einem Bauarbeiter aussortiert worden ist, Christus symbolisieren.72 Hugos Denken war durch sein Lesen und Kommentieren von Dionysius fast ebenso stark geprgt wie durch seine Bekanntschaft mit Augustinus. Er bersetzt Dionysius vollendet, wenn er sagt: Ein Symbol ist das Zusammentragen sichtbarer Formen, um das Unsichtbare zu zeigen. 73 Das Zusammentragen gibt die klassische griechische Bedeutung des Worts symbolon wieder und lt Rckschlsse darauf zu, was man zu Hugos Zeit unter Symbol verstand: Brcken zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem, was jenseits davon liegt.74 Im Gegensatz zu modernen Deutungen von Symbolik, die Symbole als gleichrangig mit Mythen einschtzen oder beide sogar als identisch betrachten, sind sie fr Hugo Tatsachen und Ereignisse, Erscheinungen in Natur und Geschichte und jenseits davon, so, da sie zu den meta-physischen und meta-historischen Bereichen fuhren, die von Glauben und Theologie umfat sind.75 Nur wenn man das Gegebene der kosmischen Ordnung voraussetzt, klingen Hugos

Schwierigkeiten, methodologische Ordnung zu erklren, nicht mehr kindisch. Der Leser mu lernen, eine Ordnung von der anderen zu unterscheiden. Die 36 chronologische Reihenfolge, in der Cicero seine Bcher schrieb, ist eine andere Form der Ordnung als die Folge, in der sie der Archivar zufllig zwischen zwei Buchdeckel gebunden hat. Die historische Ordnung mu von der Ordnung, in der wir zufllig lernen, unterschieden werden; darauf besteht Hugo seinen Schlern gegenber. Beim sorgfltigen Lesen pickt man immer Hppchen heraus, die anschlieend gebndelt, gesichtet und gruppiert werden mssen. Aber dieser Vorgang des Ordnens wird nur eine Wirkung haben, wenn sich der Leser an ein Grundlegendes erinnert: Alle Dinge und Ereignisse dieser Welt beziehen ihre Bedeutung von dem Ort, an dem sie in der Geschichte von Schpfung und Heil eingefgt sind. Es ist die Aufgabe des Lesers, alles, was er liest, an der entsprechenden Stelle in der historia zwischen Genesis und Apokalypse einzuordnen.76 Nur wenn er das tut, wird ihn das Lesen der Weisheit nher brin-gen.77 Artes78 Das Didascalicon ist fr Anfnger geschrieben. Es versieht sie mit Regeln, die ihnen ein geordnetes Vorankommen ermglichen sollen. In der ersten Hlfte (Kapitel 1-3) werden die sieben freien Knste79 behandelt, in der zweiten (Kapitel 4-6) das Lesen der Heiligen Schrift.80 Im ersten Teil nimmt Hugo ein Konzept auf, das erstmalig von reisenden sophistischen Lehrern formuliert worden war. Diese boten Unterricht in den Freien Knsten an - Seneca unterschied sie von jenen anderen Knsten, die manuelle Fhigkeiten verlangten - und bereiteten ihre Schler auf die Philosophie vor.81 Die Teilung dieser Knste durch die heilige Zahl sieben kommt in der Sptantike auf, und Hugo bernimmt sie von Isidor von Sevilla, ber Beda und Alkuin.82 Hugo uert seine Unzufriedenheit mit den Schlern seiner 37 Zeit, die ob sie nicht knnen oder nicht wollen, die dem Studium entsprechende Ordnung nicht einhalten, und so finden wir viele, die studieren, aber wenige, die weise sind. Aber von den Alten sagt er: Zu damaliger Zeit erschien niemand des Namens eines Lehrers wrdig, welcher nicht im stnde war, die Kenntnis dieser sieben Wissenschaften durch seine Lehre kund zu thun. Pythagoras soll bei seinen Lehrunterweisungen die Gepflogenheit beobachtet haben, da keiner seiner Schler ber das, was von Pythagoras gelehrt wurde, eine Erklrung zu fordern sich erkhnte, bevor er die Siebenzahl, d. i. die sieben freien Knste, beherrschte, sondern da er den Worten des Lehrers Vertrauen schenkte, bis er alles gehrt hatte und damit die Begrndung fr diese Lehren aus sich selbst ausfindig machen konnte. Es sollen einige seiner Schler diese sieben freien Knste mit solchem Eifer gelernt haben, da sie dieselben vollstndig ihrem Gedchtnisse einprgten, so da sie - welche Schriften sie auch zur Hand nahmen und welche Fragen sie auch zur Lsung oder zur Begrndung sich vorlegten - die Lehrstze und Vernunftgrnde zur Erluterung des strittigen Punktes nicht in Bchern aufsuchten, sondern das einzelne ohne weiteres in ihrem Gedchtnisse zurecht liegen hatten.83 Hugo mchte Schler84, die so gut lesen, da sie, ohne zu blttern, sofort Einzelheiten in ihrem Herzen bereit haben.85 Die Gedchtnisbung ist fr Hugo eine Voraussetzung fr das Lesen, etwas, was er in einem Handbuch darstellt, das er bei den Lesern des Didascalicon als bekannt voraussetzt.86 Die Schatztruhe im Herzen des Lesers

In diesem speziellen Lehrbuch87 richtet sich Hugo an ganz junge Schler, die er auffordert, ihre Merkfhigkeit zu erweitern und zu verfeinern. 38 Mein Kind. Die Weisheit ist ein Schatz, und dein Herz ist Her Platz, ihn zu verwahren. Wenn du die Weisheit lernst, sammelst du wertvolle Schtze; Sie sind unsterbliche Schtze, die ihren Glanz nie verlieren. Es gibt viele Arten der Weisheit, und in der Truhe deines Herzens gibt es viele Verstecke; solche fr Gold, fr Silber und fr Edelsteine... du mut lernen, diese Pltze zu unterscheiden, zu wissen, welche Dinge hier liegen und welche dort. . . Mach es wie der Geldwechsler auf dem Markt, dessen Hand ohne Zgern in den richtigen Sack taucht und sofort die richtige Mnze herausfischt.8S Damit sie diese Form der Kontrolle ber ihren eigenen Gedchtnispalast entwickeln knnen, leitet Hugo seine Schler dazu an, sich einen Raum im eigenen Inneren vorzustellen, modum imaginandi domesticum, und sagt ihnen, wie sie bei seinem Aufbau vorgehen sollen. Er fordert den Schler auf, sich eine Reihe ganzer Zahlen vorzustellen, seinen Fu auf deren Anfangspunkt zu setzen und die Reihe dann bis zum Horizont laufen zu lassen. Wenn sich solche Straen dann der Phantasie des Kindes eingeprgt haben, besteht die bung darin, die Zahlen stichprobenartig zu besuchen. In seiner Phantasie soll der Schler zwischen den einzelnen Punkten, die er mit rmischen Zahlen markiert hat, hin und her flitzen. Wenn er das hufig genug getan hat, werden diese Besuche so zur Gewohnheit werden, wie die Handbewegungen des Geldwechslers. Wenn der Schler in diesem Grund fest verankert ist, kann er alle Ereignisse der biblischen Geschichte in den richtigen Rahmen bringen; alle bekommen eine Zeit und einen Platz innerhalb einer Serie: Patriarchen, Opfer, Siege.89 Die siebzig Tafeln, die dieser Einfhrung folgen, enthalten mehrere tausend Posten, die in der Bibel vorkommen. Hugo erwartet von seinem Schler, da er jeden Apostel in die Reihe der Apostel, jeden Patriarchen in die Reihe der Patriarchen einordnen kann und lehrt ihn, zwischen den verschiedenen Kolumnen hin und her zu rasen.90 Bestimmte 39 Stze, mnemotechnische Wendungen, werden fr das Gedchtnistraining verwendet. Ein Beispiel ist: In sechs Tagen wurde die Welt vollendet erschaffen, und in sechs Zeitaltern wurde der Mensch erlst. So bildete man, ein Jahrhundert vor der Grndung der Universitt und ein Jahr vor der Zusammenstellung des ersten erhaltenen rudimentren Sachverzeichnisses, in Paris die Novizen zum Nachschlagen aus. Das Kind wurde dazu geschult, Gedchtnislabyrinthe zu erbauen und die Gewohnheit zu entwickeln, sich in ihnen zu bewegen und etwas wiederzufinden. Erinnerung betrachtete man nicht als Kartierung, sondern als psychomotorischen, moralisch motivierten Akt. Als modernem jungen Menschen war mir der Baedeker von Kindheit an vertraut. Als Bergfhrer habe ich gelernt, da man Karten und Photographien deuten knnen mu, bevor man sich ins Gebirge wagt. Als ich Jahrzehnte spter zum ersten Mal nach Japan kam, kaufte ich einen Stadtplan von Tokio. Ich durfte ihn aber nicht benutzen. Die Frau meines Gastgebers lie es einfach nicht zu, da ich mir einen Weg durch die Labyrinthe der Stadt suchte, indem ich sie im Geiste von oben betrachtete. Tag fr Tag fhrte sie mich bald um diese, bald um jene Ecke, bis ich mich im Labyrinth zurechtfand und meine Ziele erreichen konnte, ohne jemals abstrakt zu wissen, wo ich mich befand. Das Nachschlagen mu vor der Zeit der Inhaltsangabe und des Index dieser kartenlosen Orientierung, zu der wir infolge unserer Schulbildung unfhig sind, sehr hnlich gewesen sein. Fortgeschritteneren Schlern empfahl Hugo eine viel komplexere, dreidimensionale

Arche - eine rumlich-zeitliche Matrix, die sich der Schler nach dem Muster der Arche Noah im Geiste aufbauen sollte. Nur jemand, der schon in seiner frhen Jugend gelernt hat, sich in den eher einfachen Kolumnen von De tribus circumstantiis zu bewegen, und der historiam sacram, die Heilsgeschichte (die die Geschichte der eigenen Erlsung ist), innerhalb dieses zweidimensionalen Rahmens untergebracht hat, kann 40 Hugo beim Aufbau dieses anspruchsvollen, dreidimensionalen, vielfarbigen Mammutgedchtnisplans folgen. Der Mann, der Hugos Schriften ber die moralische und mystische Arche am eingehendsten studiert hat, ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Etwa 200 Quadratmeter Papier wrde man bentigen, um einen noch lesbaren Plan von Hugos Archenmodell historischer Zusammenhnge herzustellen. Medivisten des 20. Jahrhunderts, von denen die meisten keinerlei mnemotechnische Ausbildung erhalten haben, knnen sich einen Plan von Hugos Arche vielleicht vorstellen, aber sie werden die Erfahrung einer solchen Arche im eigenen Geist, in der ihr Denken vollkommen zu Hause ist91, nie herbeifhren knnen. Die Geschichte des Gedchtnisses Da Hugo die Kunst des Gedchtnistrainings, die nach der Antike in Vergessenheit geraten war, wiederentdeckt hat, ist erkannt worden.92 Man hat auch wahrgenommen, da das gebte Gedchtnis fr ihn eine Grundvoraussetzung fr das Lesen ist. Da Hugo aber die Gedchtnismatrix von einem architektonisch-statischen zu einem historisch-wandelbaren Modell tiefgreifend weiterentwickelte, hat wenig Beachtung gefunden.93 Die vorschriftliche griechische Redekunst und der epische Gesang bauten nicht auf dem visuellen Gedchtnis auf, sondern auf dem Erinnern von Formeln, die zum Rhythmus der Lyra geuert wurden.94 Bevor die Praxis bewiesen hatte, da das Alphabet flchtige Wrter in Schriftreihen festhalten konnte, htte sich niemand eine Vorratskammer oder eine Wachstafel im Verstand vorstellen knnen. Diese Form des Gedchtnisses und dessen knstliche Verbesserung entstehen whrend des bergangs vom archaischen zum klassischen Griechenland.95 Wir mssen uns auf einige Rudimente der Geschichte des Gedchtnisses besinnen, um Hugos einzigartige Stellung begreifen zu knnen. Was Anthropologen als Kulturen unterscheiden, knnte der Historiker geistiger Rume als verschiedene Gedchtnisse unterscheiden. Wie man sich etwas ins Gedchtnis zurckruft, sich erinnert, hat eine Geschichte, die sich zu einem gewissen Grad von der Geschichte dessen, woran man sich erinnert, unterscheidet. Whrend des 12. Jahrhunderts machte die Kunst der disziplinierten und kultivierten Erinnerung eine Metamorphose durch, die man nur mit dem vergleichen kann, was whrend des bergangs vom prliteraten zum literaten Griechenland vor sich ging. Es besteht eine offensichtliche Analogie zwischen der Entdeckung des Wortes und der Syntax an der Wende des 5. Jahrhunderts vor Christus und der Erschaffung von Layout und Index kurz vor der Entstehung der Universitt in Europa. Wir vergessen manchmal, da Wrter Kreaturen des Alphabets sind. Die griechische Sprache hatte ursprnglich kein Wort fr ein Wort, als einzelnes betrachtet.96 Das Griechische besa nur verschiedene Termini, die sich auf Laute und andere Signale oder Ausdrucksweisen bezogen: uerungen konnten mit den Lippen, der Zunge oder dem Mund artikuliert werden, aber auch mit dem Herzen, wenn es zum Freund sprach, oder mit dem thymos, der in Achilles hochstieg und ihn in die Schlacht trieb, oder durch das Aufwallen des Bluts. Unsere Art Wrter nahmen, wie die anderen syntaktischen Bestandteile des Sprechens, erst Bedeutung an, nachdem sie whrend der ersten

Jahrhunderte der Alphabetbenutzung mit dessen Hilfe ausgebrtet worden waren. Das ist offensichtlich ein Grund dafr, da man vor dem 5. Jahrhundert keine Wort-Ketten auswendig lernen oder behalten konnte. Wir sind in unserem Denken auf solche Einheiten eingestellt und knnen sie aus unserem geistigen Wrterbuch heraussuchen, weil wir wissen, wie man sie schreibt. Das Alphabet ist schon eine ausgezeichnete Technik zur Sichtbarmachung von Lautuerungen. Seine zwei Dutzend Zeichen knnen die Erinnerung an uerungen auslsen, die mit dem Mund, der Zunge oder den Lippen artikuliert worden sind, und das herausfiltern, was durch Gestik, Mimik oder Gefhle gesagt worden ist. Anders als andere Schriftsysteme zeichnet es Laute auf und nicht Gedanken. Und hierin ist es absolut narrensicher: Einem Leser kann beigebracht werden, Dinge zu uern, die er niemals vorher gehrt hat. Das hat das Alphabet whrend der letzten zweitausend Jahre immerhin geleistet, und zwar mit unvergleichlicher Effizienz. Neben diesem technischen und zweckdienlichen Gebrauch des Alphabets als Werkzeug sagt dessen bloe Existenz in einer Gesellschaft deren Mitgliedern etwas, was selten, wenn berhaupt, niedergeschrieben worden ist. Als es deutlich wurde, da das Sprechen mit Hilfe des Alphabets festgelegt und in sichtbare Einheiten eingeteilt werden kann, wurde es gleichzeitig zu einem neuen Mittel, die Welt zu betrachten. Platon stellte schon im Cratylus (424d) fest, da die Buchstaben inzwischen als Elemente des Sprechens angesehen wurden. So wurden Wrter zu den kleinsten Einheiten von Aussagen, und den Akt des Sprechens konnte man sich als Herstellung von Sprache vorstellen, die wiederum in ihren einzelnen Einheiten analysiert werden konnte. Einige Griechen machten aus dieser symbolischen Alphabetisierung des Sprechens ein Paradigma der metaphysischen Zusammensetzung des Universums. So drckt Aristoteles das aus : Leukippos und sein Gefhrte Demokritos lehren, Elemente seien das Volle und das Leere, und sie nennen das eine >seiendnicht seiendFlu< der Teilchen und in ihrem Zusammenhalt und ihrer Richtung; hier bedeutet der >Flu< die Gestalt, der Zusammenhalt die Anordnung, die Richtung die Lage: es unterscheidet sich ein A und ein N durch seine Gestalt, AN und NA durch seine Anordnung, Z und N durch seine Lage. Platon und Aristoteles berichten hier beide davon, was sie bei ihren Zeitgenossen beobachten; sie stellen nicht ihre eigene Meinung dar. Beide aber deuten auf die Analogie zwischen der alphabetischen Analyse des Sprechens und die philosophische Analyse des Seins, die gleichzeitig aufkamen. Und Platon betont, besonders im Phaedrus und im Symposium, die berlegenheit des lebendigen Gedchtnisses ber das Gedchtnis, das auf trockenen Buchstaben basiert, die nicht protestieren knnen, wenn ihr Sinn vom Leser verdreht wird. Das Symbol der vor-schriftlichen Erinnerung war der Barde, der die Lumpen der Vergangenheit zusammenflickte. Deshalb hie er rhapsode: Nher oder Flicker. Laut Platon versprte er einfach die Inspiration, das zu uern, was ihm die Muse eingab;

nicht Regeln der Kunst trieben ihn zum Singen, sondern gttliche Kraft (Ion, 533). Der Gott nahm ihm seinen Geist und setzte ihn als seinen Diener ein. Durch den Rhapsoden hngt ein Mann vom anderen herunter, wie die Ringe der Eisenkette, die vom herakleiischen Steine, wie man ihn gewhnlich nennt, whrend Euripides ihn den Magneten nannte, herunterhngen (Ion 535). Wie eine magnetische Kraft bindet die Muse den Hrer an die Kette der Snger. Der Barde dachte nicht ber Worte nach, sondern er lie sich durch den Schlag seiner Lyra treiben. Homer war ein solcher Snger. Aber er sang whrend 44 einer einzigartigen Epoche: in einer Welt, in der es schon Buchstaben gab, auch wenn sie meist nur Geritze von Tpfern auf Weihgefen waren. Aber das gengte, um die uerung vor den Augen der Griechen aufdmmern zu lassen. Einige Generationen lang wurden die Ohren prliterater Griechen stndig zur Zusammenarbeit mit den Augen verfhrt. Die Erinnerung, die bis dahin nach Echo-Prinzipien akustisch gehandhabt worden war, bekam Konkurrenz von der Sprache, die auf architektonischer Grundlage visuell gehandhabt wurde.98 Das Ergebnis dieser noch immer unbeabsichtigten Synergie zwischen dem Laut und dem Gewahrsein seiner Form war ein ganz spezieller Typ der schpferischen Komposition, die die reine Schriftlichkeit nicht einmal in Griechenland jemals wieder zustande gebracht hat. Der Terminus Rhetorik wurde fr die neue, nicht-mndliche Kunst geprgt, durch die ein Redner im Kopf Stze vorbereiten kann, die er zu einem spteren Zeitpunkt in der ffentlichkeit vortragen wird. Platon macht einen klaren Unterschied zwischen der esoterischen Kraft schpferischer Erinnerung und der exoterischen, schriftgebundenen Fhigkeit, einen geschriebenen Text auswendig zu lernen." Als das ffentliche Reden zu einer hohen Kunst wurde, wollte der Redner nicht allein Stze, sondern auch die Argumentationsstruktur und die Metaphern memorieren, die er verwenden wrde, um seinen Ansichten Nachdruck zu verleihen. Die bei den Griechen gebruchlichste Methode, das zu erreichen, war die geistige Errichtung eines Gedchtnispalastes. 100 Hugos Zahlenreihen, die sich bis zum Horizont erstrecken, sind eine schiere Nachbildung dieses Hilfsmittels. Wer Schler eines angesehenen Lehrers werden wollte, mute beweisen, da er sich in einer gewaltigen Architektur heimisch fhlte, die nur in seinem Kopf existierte, und in der er sich blitzschnell zu einem Punkt seiner Wahl begeben konnte. Jede Schule hatte eigene Regeln fr den Aufbau eines solchen Gebudes. Es mute viele 45 sichtlich voneinander unterscheidbare Merkposten wie Sulen, Winkel, Dachsparren, Zimmer, Torbgen, Nischen und Schwellen enthalten. Man fand frh heraus, da die wirksamste Methode, Erinnerungen zu orten und abzurufen, darin bestand, jede einzelne im Geiste mit einem Etikett zu versehen, das man einem groen Bestand von Dingen entnahm, die dem Schler vertraut waren. So wurde zum Beispiel einer Ziege oder der Sonne, einem Zweig oder einem Messer ein Satz zum Auswendiglernen zugeordnet. Der Autor, der seinen Palast auf solche Weise fr eine Rede oder einen Disput eingerichtet hatte, begab sich einfach zum passenden vorgestellten Raum, warf einen Blick auf den Gegenstand auf den Etiketten und hatte sofort die auswendig gelernten Formulierungen parat, die er - zu diesem speziellen Anla mit diesen Etiketten verbunden hatte. Hugos Forderung, junge Anfnger sollten sich mit Leichtigkeit von einem numerierten Punkt zu einem anderen auf der gleichen geistigen Strae bewegen und von einer

Station auf der einen zu irgendeiner Station auf einer anderen springen knnen, um auf diese Weise Querverbindungen zu schaffen, fhrt sie auf die einfachste mgliche Weise an diese traditionelle Kunst heran. Die Technik, die Hugo sich zu eigen machte, um das meditative Lesen zu intensivieren, war jedoch ursprnglich als Hilfsmittel fr etwas anderes, nmlich fr das ffentliche Reden, entwickelt worden. Rmische Juristenkunst im Dienste mnchischen Gebets Die Gedchtniskunst als symbolische Etikettierung von memorierten Sprechakten wurde im 4. Jahrhundert erschaffen, von Sophisten gelehrt und in der Politik verwendet. In Rom vernderten sich - etwa seit Quintillian (35 - 100 n. Chr.) - Zweck und Technik der Gedchtniskunst. Sie wurde hauptschlich von 46 Juristen verwendet. Diese legten Wert auf das verinnerlichte Lesen. Der ffentliche Redner lernte in der rmischen Sptantike sich im Geiste Notizen zu machen und diese bei der richtigen Gelegenheit abzulesen. Rhetorischer Virtuose war fortan der, der im Geiste jeden Satz den er zu verwenden gedachte, erfassen und etikettieren und unverzglich dem passenden architektonischen Merkmal in seiner inneren Topologie entnehmen konnte. Heute, in einer Zeit, in der wir von den Meisterleistungen der Computer geblendet sind, kommt uns eine solche Fertigkeit wie eine unmgliche Unternehmung oder wie die groteske Akrobatik irgendeines akademischen Zirkus vor. Aber dieses Gedchtnistraining war Teil der Grundausstattung, die Hugo bei einem Anfnger sehen wollte. Die Gedchtniskunst ist eng mit der Lesekunst verknpft; man kann die eine ohne die andere nicht verstehen. Um zu begreifen, was Hugo tut, wenn er liest, mu man den Punkt erkennen, an dem er in der Geschichte beider Knste steht. Er entdeckt die antike Kunst der Rhetorik wieder und lehrt sie monastischen Murmlern als Lesekunst. Das griechische Gedchtnistraining stellte die visuelle Vorstellungskraft in den Dienst des mndlichen Vertrags. Rmer wie Quintillian lehrten die Kunst, geistige Etiketten mit geistigen Notizen zu assoziieren. Es wre aber ein Fehler, anzunehmen, da diese an einen gedachten Torbogen oder Dachsparren gehefteten Notizen dazu dagewesen wren, leise gelesen zu werden. So, wie man sich den Akt des Findens als leibliches Eilen zum passenden Teil der eigenen geistigen Architektur vorstellte, nahm der Akt des Abrufens die psychomotorische Innervation der Zunge in Anspruch. Ut duplici modo iuventur memoria dicendi et audiendi, um die Erinnerung des Sagens und des Hrens zu frdern mu der Schler immer wieder zum gleichen Punkt zurckkehren. Quin47 tillian betont, da das innere Lesen von Notizen von einem Murmeln begleitet werden sollte, das die Erinnerung frdert und die Zunge bt, und vom unermdlichen Lauschen des eigenen Gemurmels, das das Ohr schult: die Stimme sei gemigt, wie ein Flstern . . . vox sit modica, et quasi murmur. Plinius meint, da der Lernende durch diese begleitende Aktivitt weniger abgelenkt sein wird. Im 2. Jahrhundert waren im kaiserlichen Rom Vorfhrungen durch Gedchtnisknstler sehr verbreitet. Wie Cicero und Plinius berliefern, verurteilte man solche literarischen Kunststcke101, denn bei ihnen wurde zuviel Wert auf technische Fertigkeiten gelegt, und sie konnten die freie und kreative assoziative Erinnerung gefhrden, wenn man sie bei der Ausbildung junger Menschen einsetzte. Die Kirchenvter beschftigten sich kaum mit der Gedchtnisbung, was nur teilweise mit einer Anpassung an den Zeitgeist erklrt werden kann. Wir mssen den wichtigsten Grund fr die christliche

Vernachlssigung des knstlichen Memorierens woanders suchen. Fr die Christen war die memoria vor allem ein liturgisch zelebriertes Ritual, bei dem die wichtigsten Ereignisse des Alten und des Neuen Testaments dargestellt wurden. Und anders als andere Menschen - mit Ausnahme der Juden - hatten die Christen ein Buch, das ihnen als die Frohe Botschaft oder als Testament der Offenbarung gegeben worden war. Diese kanonischen Schriften machen die neue gemeinschaftliche Substanz der christlichen Erinnerung aus. Lectio, Lesen, wird in diesem Rahmen in erster Linie zu einem rituellen Gedenken an diese eine Geschichte. Der fromme Leser wnscht, vom Wort erfllt zu werden, und nicht, es umzugestalten. Er sucht in der Heiligen Schrift, um von Erlsung und Herrlichkeit berrascht zu werden. Er liest sich selbst vor oder hrt anderen zu, um die nchterne Trunkenheit (sobria ebrietas) seines Glaubens zu nhren. Lesen ist fr den frhen Christen vor allem die Deutung des einen Buches. 48 Christliche Predigten waren Kommentare zur Heiligen Schrift. Die meisten Kirchenvter wollten nicht wie rmische Redner auftreten. Die Mnemotechnik war ein Gebiet der Redekunst, die einem predigenden Bischof nur in begrenztem Mae vonnutzen sein konnte. Der Rahmen, in den er alles Wissen und Denken stellen wollte, war ihm als Bibel lngst gegeben. Augustinus bewunderte seinen Klassenkameraden Simplicius, der auf Verlangen irgendein Buch Vergils vorwrts oder rckwrts aufsagen konnte. Whrend er ber seinen Freund nachdenkt, berlegt er, wie sein eigenes lebendiges Gedchtnis arbeitet. In eben dem Augenblick, als er entscheidet, das nicht zu vergessen, was ihn am tiefsten berhrt, verbirgt sein Gedchtnis es vor ihm und gibt es ihm zu einer vollkommen unpassenden Zeit wieder. Er mchte in sich selbst nicht die Erinnerungskraft entwickeln, sondern ein Bewutsein, das es ihm ermglicht, sein liebevolles Verstndnis zum Ausdruck zu bringen, wenn er die Heilige Schrift kommentiert; er mchte jedes Zurschaustellen von Wissen vermeiden. Im christlichen Gebrauch ist memoria der Zweck, zu dem sich die Gemeinde versammelt; und sie steht fr das Bewutsein, Teil eines neuen Volkes zu sein. Mehr als ein halbes Jahrtausend lang wurde die Gedchtniskunst vernachlssigt. Alkuin, der Lehrer und Vertraute Karls des Groen, versetzt sich selbst unter dem Namen Albinus in einen imaginren Dialog mit dem Kaiser, der beabsichtigt, die antike Gelehrsamkeit wiederzubeleben. karl Und was kannst du uns vom Gedchtnis, diesem bedeutenden Teil der Rhetorik, sagen? albinus Was kann ich dir sagen, auer dem, was Cicero schon , gesagt hat: Das Gedchtnis ist eine Schatzkammer aller Dinge. Wenn diese nicht verwendet wird in allem, was wir gedacht und gefunden haben, seien diese nun Wrter oder 49 Sachen, haben sie keinen Nutzen, und wenn sie noch so bedeutend wren. karl Gibt es denn Regeln, wie man es (das Gedchtnis) erwerben oder vergrern kann? albinus Wir haben keine Regeln auer diesen: bung im Sprechen, Gewohnheit des Schreibens, eifriges Nachdenken und Vermeiden des Saufens, das dem Krper die Gesundheit und dem Geist die Unversehrtheit nimmt. Der Dialog ist als Antwort des Lehrers an den kniglichen Herrscher gedacht. Karl der

Groe mchte die Mnemotechnik aus einem weltlichen Grund wiederbeleben: Er hlt sie fr ntzlich bei der Ausbildung klassischer Juristen, die den Glanz rmischer Gerichte wiederherstellen knnten. Alkuin, der grte Gelehrte der Zeit, beteuert, da er wenig zu bieten habe.102 Die Arche ist die Kirche 103 Kennzeichnend fr die Gelehrten des frhen 12. Jahrhunderts ist ihr Bestreben, das Erbe der christlichen Vergangenheit zu sammeln, zu ordnen und dessen Teile aufeinander abzustimmen, soweit dieses Erbe auf die Jurisprudenz, die theologische Doktrin und die Heilige Schrift bezogen ist.104 Das Decretum Gratiani, die Sententiae von Petrus Lombardus und die Glossa Ordinaria sind bemerkenswerte Ergebnisse dieses Bestrebens. Sie sind alle bis 1150 fertiggestellt und bleiben bis weit ins Zeitalter der Reformation hinein fr diese drei Gebiete die wichtigsten Lehrbcher zur Grundausbildung von Klerikern. Hugo von St. Viktor scheint die letzte wichtige Gestalt zu sein, die das Gedchtnis als einziges oder wichtigstes Mittel betrachtet, Wissen zu bewahren. Aber man hrt nicht auf, das Gedchtnis zu schulen.105 Von 1150 an stellen neue technische Suchmittel einige der neuen Schlsselmetaphern, mit Hilfe derer man das Arbeiten des Gedchtnisses untersucht und Methoden, es zu ben, ersinnt. Dann, frhen 15. Jahrhundert, hat die ehemalige Disziplin der Gedchtniskunst ihr ungewhnliches Comeback. All das macht Hugos zwei Abhandlungen zur Mnemotechnik, die einfhrende De tribus und die ungeheuer umfangreiche, zweiteilige De arca Noe, so auerordentlich wichtig. Wie im archaischen Griechenland das Auge zur Zusammenarbeit mit dem Ohr verfhrt worden war, um die Inspiration der Muse festzuhalten und damit die einmalige Ilias, die auf Homer zurckgefhrt wurde, zu erhalten, so lehrte Hugo vor der Scholastik die Praxis monastischen, kommemorativen Murmelns in einem sorgfltig aufgebauten inneren Raum - einem claustrum animae (Kloster der Seele) - der nach seiner Anlage jedoch kein willkrlich erfundener Gedchtnispalast war, sondern die offenbarte Struktur des Zeitenraums, die er historia nennt. Mit seiner Wiederbelebung der antiken architektonischen Gedchtnisbung hofft Hugo, Knaben, die um 1120 geboren wurden, dabei helfen zu knnen, einen Weg zu finden, sich die Weisheit zu erlesen in einem Zeitalter, in dem die neuen juristischen und theologischen Sammlungen nur zu leicht Verwirrung stiften und berwltigend wirken konnten. Er bietet ihnen eine radikal verinnerte Technik, dieses riesige Erbe mit Hilfe eines persnlich erschaffenen inneren Zeitenraumgebudes zu ordnen.106 107 Historia als Fundament Hugo sorgt nicht nur fr die Wiederbelebung der alten Kunst des Memorierens, sondern gestaltet sie auch um, indem er sie in den Dienst der historia stellt. Das Lesen ist fr ihn gleichbedeutend mit der Nachbildung der Struktur der historia in der Arche im Herzen des Lesers.108 Seine Vorstellung von Wissenschaft basiert eindeutig auf der Annahme, da die Zeit einer Ordnung unterworfen ist, die an Hand des wrtlichen Studiums der Heiligen Schrift untersucht werden kann109. Alles kann einen Sinn ergeben, wenn es mit diesem ordo der Zeit in Verbindung gebracht wird; und nichts hat eine Bedeutung, das nicht vom Leser in diesen ordo gefgt wird. Hugos moralische und geistige Arche Noah ist mehr als ein mnemotechnischer Palast mit biblischen Zgen Die Arche steht fr eine gesellschaftliche Einrichtung, fr einen Vorgang, der mit der Schpfung beginnt und der

bis zum Ende der Zeit fortdauert, von Hugo die Kirche genannt.110 Die Ttigkeit, die Hugo Lesen nennt, vermittelt zwischen dieser makro-kosmischen Kirche und dem Mikrokosmos im Inneren des Lesers. 111 Jeder Mensch, jeder Ort, jeder Gegenstand innerhalb dieses rumlich-zeitlichen Kosmos mu zuallererst buchstblich verstanden werden. Erst dann wird er sich auch als etwas anderes offenbaren: als Zeichen fr etwas, das in der Zukunft kommen wird, und als Vollendung von etwas anderem, das durch Analogie sein Kommen angezeigt hat.112 Alle Schpfung ist sinntrchtig Die Exegese hat drei Stufen: Die erste ist das wrtliche Lesen, das den ersten, materiellen Sinn der Heiligen Schrift richtig in die Arche der Seele einbettet, die zweite ist die allegorische Deutung und die dritte die persnliche Erkenntnis des Lesers, da auch er seinen Platz innerhalb dieser Ordnung113 hat, und diese Ordnung ist vergnglich. Zunchst nun ist es von nten, da der Leser der heiligen Schrift die gebhrende Ordnung . . . bezglich der geschichtlichen, der allegorischen und der tropologischen Deutung beachte; diese Rcksichtnahme soll ihm wichtiger sein als jede andere Ordnung beim Lesen.114 Hier bezieht sich Hugo auf Papst Gregor den Groen, fr den das Lesen ein dreistufiger Bauplan ist; hier wird zuerst der (wrtliche) Unterbau gelegt; dann wird darber das (analoge) Gebude aufgesetzt; zuletzt wird nach Vollendung des Bauwerks das Haus mit einem Farbenanstrich bekleidet.115 Schon in seinen frhesten Schriften zeigt sich Hugo ber Leute verrgert, die die Brste der Heiligen Schrift pressen, um ihre allegorische Bedeutung herauszuholen, bevor sie smtliche historische Einzelheiten fest in ihr Gedchtnis eingebettet haben.116 Die Einsicht ins Geheimnis des Sinns der Heiligen Schrift kann nur aus dem gewonnen werden, was eben der Buchstabe vorgibt, und so wundere ich mich, wie frech sich gewisse Leute fr Lehrer ausgeben, die eben jenen ersten, buchstblichen Sinn vernachlssigt haben.117 Im Didascalicon sagt er voll Arger von solchen Mythomanen: Ihre Wissenschaft hat Eselsgestalt. Ahme ihnen nicht nach.118 Er spricht seinen Leser persnlich an: . . . da du ... zuerst die Geschichte kennen lernst und da du, die Wahrheit der Geschehnisse erwgend, sorgfltig vom Anfang bis zum Ende dem Gedchtnisse einprgst, was geschehen ist, unter wessen Einwirkung es geschehen ist, wo es geschehen ist... Und nach meinem Dafrhalten wirst du dich bei der allegorischen Deutung . . . nicht hinreichend scharfsinnig erweisen, wenn du nicht zuvor in der Geschichte eine gute Grundlage gewonnen hast.119 Hugo entwickelt die Doktrin ber die dreifache Bedeutung der Bibel so, da der Akt des Lesens zum Akt der Gottesverehrung wird, in deren Mittelpunkt die Inkarnation der Weisheit steht: Wenn Gottes Weisheit nicht erst in ihrer Fleischlichkeit (corporaliter) erkannt wurde . . . kannst du nicht zu ihrer geistigen Beschauung erleuchtet werden. Habe also keine Geringschtzung fr die Demut des Wortes Gottes, denn eben durch die demtige Haltung wirst du erleuchtet werden.120 Hugo wei, da corporaliter dem Lehm der Erde im Akt der Schpfung entnommen bedeutet. Deshalb erscheint ihm das Buch im nchsten Satz als einfache Tontafel, so wie Adams Krper aus Lehm war, bevor ihm der Schpfer Geist einhauchte. 53 Gottes Wort mag dir wie Lehm erscheinen, und vielleicht trittst du darauf und schaust auf das herab, was der Buchstabe auf sichtbare und krperliche Art erzhlt. Vergi

nicht, da dieser Lehm, auf den du trittst, jener ist, mit dem Jesus (in Joh. 9) die Augen des blinden Mannes geffnet hat. Lies die heilige Schrift und trachte, leibhaftig (corporaliter) zu erfahren, was sie sagt. Die harten Brocken knnen nur geschluckt werden, wenn sie gut gekaut worden sind. 121 Geschichte ist die Erzhlung der Dinge, die geschehen sind, und die finden wir im buchstblichen Sinn; durch die Allegorie wird anhand dessen, was geschehen ist, etwas anderes in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angedeutet; durch die Tropologie wird durch etwas, das geschehen ist, etwas, das geschehen sollte, angedeutet.122 Bei der Hochzeit von Kanaa werden die flieenden Wasser des buchstblichen Sinns dann in berauschenden Wein verwandelt werden.

3 Monastisches LesenMeditation Gemeinschaften von Murmlern Die Seite als Weinberg und Garten Lectio ah Lebensart Otia monastica Das Ableben der lectio divina Meditation Das Lesen, das Hugo lehrt, ist eine monastische Ttigkeit. Dreierlei ist fr diejenigen, die sich hiermit beschftigen, vonnten: Begabung, bung, Zucht.123 Hinsichtlich der Begabung (natura) achtet man darauf, da sie das Gehrte leicht auffasse und das Aufgefate treu behalte; hinsichtlich der bung darauf, da sie durch Ruhe und Flei die natrliche Begabung ausbilde; hinsichtlich der Zucht, da sie bei einem lblichen Leben (laudabiliter viventes) die Sitten124 mit der Erkenntnis in Einklang bringe.125 Das Studium legendi fordert den Leser heraus, beim Vorankommen auf dem steilen Weg zur Weisheit alles zu geben: zu Beginn beim Kinderspiel der Gedchtnisbung, dann weiter bei der historia, ihrer Interpretation durch analogia zwischen den Ereignissen der historia, weiter bei der anagogia, der Einverleibung des Lesers in die historia, die er nun kennt. Zum bergang von der cogitatio, die konzeptuelle Analyse ist, zur meditatio, der Inkorporation, sagt Hugo in Buch III, Kapitel 11: Die Meditation ist das anhaltende Nachdenken . . .126 Die Meditation nimmt ihren Anfang mit der Lesung; gleichwohl bindet sie sich an keinerlei Regeln und Vorschriften des Lesens; denn sie findet ihr Vergngen daran, einen passenden Abschnitt zu durcheilen, um dann nach freiem Entschlsse mit 55 der scharfsinnigen Betrachtung der Wahrheit einzusetzen und bald diese, bald jene Ursachen der Dinge zu erforschen, bald aber bis zu den tiefsten Tiefen vorzudringen und nichts unentschieden und nichts unklar zu lassen. In der Lesung besteht also der Anfang des Unterrichts (prinripium doctrinae), die Vollendung desselben in der Meditation.127 Doctrina bedeutet hier nicht Dogma oder Grundsatz. Mit dem Wort ist hier eine persnliche Verwirklichung gemeint, die darin besteht, gelehrt zu werden. Principium doctrinae ist der Anfangspunkt auf dem Weg des Lernens und nicht der erste Tag der Unterweisung auf dem Weg zu einer Ausbildung. Hugo spricht von der Lehrzeit, die beginnt, wenn jemand mit dem handwerklichen Rstzeug vertraut ist, und in der man es durch meditatives Lesen zur Meisterschaft bringt. Wenn einer dieselbe (die Meditation) durch vertraulichen Umgang lieben gelernt hat und derselben hufiger seine Mue gewidmet hat, so gestaltet sie das Leben gar angenehm und gewhrt in Trbsal reichen Trost.128 Das meditative Lesen kann zuweilen sehr schwer sein, es ist eine Aufgabe, der mit Mut, fortitude), ins Auge gesehen werden mu. Aber der Leser wird, gesttzt durch seinen Eifer beim Erkunden, an dieser Bettigung Freude gewinnen. Begeisterung kommt mit der bung.129 Um den Flei des Schlers zu frdern, mu man ihm eher ermutigende Beispiele als Anweisungen geben.130 Die Weisheit ist von groer Schnheit, wie die Jungfrau im Hohenlied. Dem Mdchen aus Sunem so nah zu sein, wie es Knig David war, bereitet groe Freude. Und die Weisheit wird ihren Geliebten nicht verlassen. Ist Abisag von Sunem nicht in Davids Bett gekrochen, um seinen alten, verfallenden Krper zu wrmen?131 Hugo ermutigt seine Leser, in allem, was sie lernen knnen, Freude zu suchen. Spter

wirst du einsehen, da nichts berflssig ist. Beschrnktes Wissen bringt keine Freude.132 Er macht 56 zu einer Einstellung Mut, bei der der Leser Fortschritte macht, weil er sich jener Meisterschaft sehnt, die dem Geist Ruhe gibt. Lesen ist ein Ikonogramm fr den Vorgeschmack der Weisheit. Um den Leser einzustimmen, zitiert Hugo Psalm 54,7 aus der Vulgata: Quis dabit mihi pinnas columbae, ut volem et requies. Gemeinschaften von Murmlern Hugos Meditation ist eine intensive Lesettigkeit und kein passives, quietistisches SichVersenken in Gefhle. Und diese Ttigkeit wird in Analogie zu den Krperbewegungen dargestellt: als Schreiten von Zeile zu Zeile, oder als Flgelschlagen, whrend man die schon bekannte Seite mustert. Hugo erlebt das Lesen als motorische Aktivitt des Krpers. In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen und die Zunge die klingenden Seiten134 als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mhen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund uert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Krperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser fr das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstblich einverleibt. Der moderne Leser nimmt die Seite als Platte wahr, die seinen Verstand mit Zeichen versieht, und er erlebt seinen Verstand als Bildschirm, auf den die Seite projiziert wird und von dem sie mit einem Knopfdruck wieder ausgeblendet werden kann.135 Fr den monastischen Leser, an den sich Hugo wendet, ist das Lesen keine derartige phantasmagorische, sondern eine eher leibliche Ttigkeit. Er nimmt die Zeilen auf, indem er sich nach ihrem Takt bewegt, und er erinnert sich an sie, indem er 57 ihren Rhythmus erneut heraufbeschwrt. So ist es nicht verwunderlich, da uns die voruniversitren Klster als Aufenthaltsort fr Murmler beschrieben werden.136 - Petrus Venerabilis (1092/94-1156), der gelehrte Abt, der Cluny vorsteht, sitzt meist des Nachts auf seinem Bett und kut die Schriften ohne Unterla wieder.137 - Whrend der dunklen Stunden zwischen Mitternachtsgebet und Morgendmmerung summt Johannes von Gorze (976 gest.) wie eine Biene die Psalmen, leise und ohne Unterbrechung138. - Gregor der Groe kaut die Schrift mit dem Mund seines Herzens und erfreut sich an der Labsal, die er aus ihr saugt. Bernhard von Clairvaux selbst mchte, da der Leser an der Schrift saugt, wie an einer Honigwabe139, und er erfreut sic