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Im Netz des Quidor

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Nr. 1652

Im Netz des Quidor

Reginald Bull im Wettkampf derGeister - er spielt das Spiel der

Vollendung

von Susan Schwartz

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Die Hautpersonen des Romans:Reginald Bull - Der Aktivatorträger erkundet das Lakoor-System.Joara Clayton - Die Kommandantin der KAHALO sucht die geistige Einheit.Malassir - Der Spielleiter bekommt Probleme mit Terranern.Norman Fallar und Enzio Ribera - Besatzungsmitglieder der KAHALO.

1.

18. Januar 1206 NGZ Einen Momentlang fragst du dich, ob der Alptraum niemehr aufhört, doch dann bist du plötzlichwach, siehst die vertrauten Wände einesRaumschiffs um dich und bist beruhigt. Esist alles in Ordnung.

Mit diesem Gefühl stehst du auf und un-terziehst dich der geliebten Reinigungspro-zedur, wie du es immer getan hast. Du han-delst ganz automatisch, dein Bewußtseinschlummert noch halb, die abwechselndeKälte und Wärme des Wassers auf deinerHaut erzeugen ein angenehmes, prickelndesWohlbefinden und vertreiben die letztenNacht schatten.

Doch als du dann in den Spiegel schaust,stockst du, und ein seltsamer Gedanke ver-unsichert dich.

Wie oft hast du dieses Ritual nun schonvollzogen? Wer sieht dir dort aus dem Spie-gel entgegen? Ein Mann von höchstens 37Jahren, mit Kummer- und Lachfalten imgroßflächigen, sommersprossigen Gesicht.Aber es gibt keine Alterslinien. Das kurzge-schorene Haar ist rot, keine Spur von Grau.Dein Aussehen gibt keine Auskunft darüber,wie alt du in Wirklichkeit bist …

*

»Reginald Bull, jetzt drehst du langsamdurch«, sagte der Mann vor dem Spiegellaut, und er schüttelte über sich selbst denKopf. »Den Morgen wollen wir doch nichtschon mit Rechenaufgaben beginnen, diewir wahrscheinlich ohnehin nicht mehr rich-tig zusammenbringen. Die letzte Nacht warsaumäßig, aber das ist vorbei. Wahrschein-lich sind wir schon am Zielort angekommen,

und du verpaßt noch alles, nur weil du plötz-liche senile Anfälle bekommst.«

Als er die Kommandozentrale betrat, wur-de er fröhlich begrüßt, und seine Stimmungbesserte sich augenblicklich. In der kurzenZeit, die er auf dem Kreuzer KAHALO mitder terranischen Kommandantin Joara Clay-ton und ihrer dreißigköpfigen Besatzungverbracht hatte, hatte sich zwischen ihnenschnell ein freundschaftliches Verhältnisentwickelt, und ihm kam es fast so vor, alswären sie schon seit langer Zeit zusammen.

Sie fieberten alle der Erforschung des vorihnen liegenden unbekannten Systems ent-gegen; nachdem die BASIS nach nunmehrdreieinhalb Jahren endlich die Große Leereerreicht hatte, war der Tatendrang der Besat-zung nicht mehr zurückzuhalten.

Mehr als 225 Millionen Lichtjahre warensie von der Heimat entfernt, hier wartetenvöllig unbekannte Welten und Völker aufsie, und nicht nur die Neugier der Wissen-schaftler war kaum mehr zu bremsen.

Gelegenheiten für erste Forschungsarbei-ten im Raumsektor des Pulsars Borgia botensich genug, und viele Einheiten schwärmtenin alle Richtungen aus. Reginald Bull ließ essich dabei nicht nehmen, sich mit einer eige-nen Einheit auf den Weg zu machen. Erwählte den 100-Meter-Kreuzer BAS-KR-27mit Eigennamen KAHALO aus, dessenKommandantin die zweiundvierzigjährigeJoara Clayton war, eine ausgeglichene, en-gagierte junge Frau und ausgezeichnete Psy-chologin, die während der langen, manch-mal unweigerlich langweiligen Reise derBASIS eine verschworene Gemeinschaft ausihrer Besatzung gebildet hatte.

Reginald Bull hatte einmal zufällig ihreBekanntschaft gemacht und sich dann öftermit ihr zum Essen getroffen; sie hatten sichgegenseitig sympathisch gefunden und viel

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Gesprächsstoff gehabt. Bull gefiel ihre Art,die Dinge nüchtern zu betrachten und sichdennoch einen Hang zur romantischen Ver-träumtheit zu bewahren; sie konnte sehr gutauf andere Menschen eingehen, deren jewei-lige Stimmungen erkennen und sich entspre-chend danach verhalten. Ihre Mannschaftbestand nur aus Terranern, die meisten rechtjung, berstend vor Energie und Abenteuer-lust, und sie standen absolut loyal zu ihrerKommandantin. Dieses Team war genau dasrichtige, fand Bull und leitete alles Notwen-dige für einen raschen Aufbruch in die We-ge. Nach einer kurzen Auseinandersetzungmit Arlo Rutan, dem ertrusischen Chef derLandetruppe, wurde der Starttermin schließ-lich auf den 17. Januar festgelegt.

Joara Claytons Erleichterung fand keineGrenzen, als sie erfuhr, daß keine Schutz-truppe von Rutan mit an Bord sein würde.»Das ist mein Schiff, und wir brauchen kei-ne Kindermädchen«, freute sie sich.

»Der Ansicht bin ich auch«, stimmte Bullzu, »aber es war nicht ganz einfach, auchArlo Rutan davon zu überzeugen.«

»Letztlich ist es dir gelungen, und dafürhast du etwas gut bei mir«, versprach sie.

»Darauf werde ich zu gegebener Zeit zu-rückkommen«, erwiderte er verschmitztgrinsend.

*

Als Zielpunkt wurde eine kleine Sternen-ballung in rund 350.000 Lichtjahren Entfer-nung gewählt; der Nonstopflug dorthin soll-te knapp zwei Tage in Anspruch nehmen,genug Zeit also, um die Mannschaft kennen-zulernen und zu sehen, wo die erkennbarenSchwächen und Stärken jedes einzelnen la-gen. Reginald Bull fühlte sich bald hei-misch, die – für ihn – jungen Männer undFrauen waren fröhlich und unkompliziert,und er lachte so viel wie seit langer Zeitnicht mehr.

Joara Clayton lächelte ihm freundlich ent-gegen, als er sich neben sie setzte. »GutenMorgen«, sagte sie.

»Gleichfalls«, gab er zurück. »Habe ichviel versäumt?«

»Nichts Wesentliches. Wir erreichen ge-gen Nachmittag das Zielgebiet, dann sehenwir weiter.« Sie musterte ihn prüfend. »Dusiehst aus, als seist du einem Monster begeg-net.«

»Haarscharf erraten.« Er rieb sich denNacken; für einen Moment drohten die dü-steren Gedanken wieder die Oberhand zugewinnen, doch er drängte sie zurück.

»Schlimm?«»Nichts von Bedeutung. Eine … seelische

Migräne.«Die Kommandantin lachte. Sie hatte ein

herzliches, ansteckendes Lachen, und in ih-ren braungrünen Augen tanzten dabei oftgoldene Lichter. Sie war eine hochgewach-sene, schlanke Frau mit einem durchtrainier-ten, geschmeidigen Körper und einem eben-mäßigen Gesicht, das von den großen, strah-lenden Augen beherrscht wurde. Ihre kasta-nienbraunen Haare waren pflegeleicht kurzgeschnitten, wobei stets ein paar widerspen-stige Strähnen abstanden, was ihr manchmalein spitzbübisches Aussehen verlieh. Bullhatte schon ein paarmal darüber gespöttelt,daß sie biologisch gesehen fünf Jahre älterwar als er. »Vielleicht solltest du dich beimArzt melden«, schlug sie vor.

»Sehe ich wirklich so schlimm aus?«Sie lachte erneut. »Ich wollte kein Kom-

pliment machen, sondern nur hilfsbereitsein.«

»Na schön, vielen Dank. Aber du hastmeine Frage nicht beantwortet.«

»Das war auch nicht meine Absicht.«

*

Einige Stunden später meldete der Syn-tron: »Wir nähern uns dem Zielgebiet.«

Das »Zielgebiet« war eine kugelförmigeSternenballung aus 100 Sonnen, die sich et-wa über 80 Lichtjahre verteilten.

»Es geht los«, sagte Joara und wandtesich ihrer Aufgabe zu; ihr Gesicht zeigtejetzt höchste Konzentration.

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Die ersten Ortungen ergaben, daß im Zen-trum der Sternenballung mindestens einSonnensystem von raumfahrenden Wesenmit hochstehender Technik bewohnt wurde;es wurden gesteuerte Strukturerschütterun-gen und Funksignale im Hyperspektrum ge-messen, aber auch mehrere fünfdimensiona-le Verfremdungen, die den Galaktikern un-bekannt waren und nicht sofort ausgewertetwerden konnten.

»Interessant«, bemerkte Bull.»Dorthin?« erkundigte sich Joara knapp,

und er nickte.Während die KAHALO Kurs auf das

Zentrum nahm, lehnte Bull sich zurück. Dieunterschiedlichsten Gedanken zogen durchseinen Verstand, und eine schon wohlver-traute Erregung erfaßte ihn. Welche Völkerwürden sie dort finden? Waren sie friedlichoder aggressiv? Welche Sozialgemeinschaf-ten bildeten sie? Welche technischen Mög-lichkeiten nutzten sie? Würde es schwierigsein, Kontakt aufzunehmen? Wir werden eshoffentlich bald wissen.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wiederauf die Informationen des Syntrons. Das Sy-stem mit den hyperenergetischen Aktivitätenbestand aus einer heißen weißen Sonne mitneun Planeten. Die Planeten Nummer dreiund vier waren Sauerstoffwelten und botengute Voraussetzungen zur Besiedelung, aberauch Nummer fünf und sechs wiesen Zivili-sationsspuren auf.

Bis jetzt allerdings waren die Funkrufeder KAHALO unbeantwortet geblieben, wasnicht unbedingt bedenklich war, aber zumin-dest Anlaß zur Vorsicht bot.

»Sollen wir warten?« fragte die Komman-dantin.

»Nein, wir fliegen weiter. Sie werden si-cher bald reagieren«, antwortete Bull.

Sie kamen langsam weiter in das Systemhinein; die Ortungen überschlugen sich in-zwischen fast an Meldungen. Innerhalb desSystems mußte sich eine Unzahl von Raum-schiffen und anderen Objekten befinden, diedort in einem heillos wirkenden Durcheinan-der kreuzten.

»Sehr merkwürdig«, sagte Bull. »Siemüssen uns bemerkt haben. Weshalb ant-wortet keiner? Gibt es irgendwelche Infor-mationen über die Objekte?«

»Kaum eines gleicht dem anderen«, ant-wortete der Orter Norman Fallar, ein spin-deldürrer, lebhafter Mann von 35 Jahren;sein Hauptmerkmal waren ungekämmte,wirr abstehende pechschwarze Haare mit ei-ner in phosphoreszierendem Grün eingefärb-ten Strähne. »Die Signale stören sich gegen-seitig so sehr, daß wir nichts Genaueres fest-stellen können. Es kümmert sich jedenfallskeiner um uns.«

Bull schüttelte den Kopf. »So etwas habeich noch nie erlebt. Machen wir trotzdemweiter.«

Die KAHALO setzte den Flug fort undsendete weiterhin ununterbrochen Funksi-gnale; doch erst als sie die Bahn des siebtenPlaneten kreuzte, kam eine Antwort. DerBildschirm zeigte plötzlich ein insektoidesWesen, ähnlich einer Gottesanbeterin, das influoreszierende, seidig wirkende wallendeGewänder gehüllt war.

Der Kopf war im Verhältnis zum Körpergroß und wurde beherrscht von metallischblau und rot schillernden Facettenaugen, un-ter denen der Kiefer mit kräftigen Kneifzan-gen lag. Das Wesen wiegte sich graziös undbewegte anmutig aufeinander abgestimmtseine beiden langen Greifarme und die vierBeine zu seinem eigenen Gesang, den zweiFühlerpaare erzeugten. Das erste, oben amKopf entspringende lange Fühlerpaar besaßgrünglitzernde Antennen am Ende, mit de-nen es sanft über das darunterliegende kur-ze, borstige Fühlerpaar strich. Dabei entstan-den melodiöse, zirpende Töne, begleitet voneinem taktmäßigen Klicken der Kneifzan-gen, die den Lauschenden verführerisch um-schmeichelten und in ihren Bann zogen; un-willkürlich fühlte sich Bull an den mytholo-gischen Gesang der Sirenen erinnert, aller-dings ohne dessen verderbliche hypnotischeWirkung.

Das majestätische Schauspiel von Gesangund Tanz dauerte einige Minuten und ende-

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te, als die Gottesanbeterin die Greifarme wiezum Gruß hob und den Kopf leicht neigte.Eine Sekunde darauf erlosch der Bildschirm.

Joara Claytons Gesicht nahm einen leichtverdutzten Ausdruck an. »War das alles? Ei-ne Aufzeichnung?«

»Es klang zumindest nicht unfreundlich«,bemerkte Enzio Ribera, der Pilot und ihrStellvertreter, neben ihr. Er war ein Jahr äl-ter als Norman Fallar und nicht weniger leb-haft; er bot keine besonders auffällige Er-scheinung, abgesehen von einem sorgfältiggeübten Blick seiner großen dunkelbraunenAugen mit den langen seidigen Wimpern,dem kaum eine Frau widerstehen konnte.

»Ich finde, es klang wie ein Herzlich will-kommen!« meinte der Orter. »Jedenfalls sindunsere Signale angekommen, Wenn auchwahrscheinlich nicht verstanden worden.«

»Vielleicht ist das hier ein Vergnügungs-park«, fügte der Pilot hinzu. »Das würde er-klären, weshalb sich hier so viele verschie-dene Raumschiffe aufhalten und sich keinerum uns kümmert.«

»Hm«, machte Bull zögernd.»Gibt es irgendwelche militärischen Akti-

vitäten?« fragte Joara.»Keine Anzeichen«, antwortete der Syn-

troh. »Analyse jedoch nicht hundertprozen-tig aufgrund der Störfelder.«

Die Kommandantin überlegte kurz. »Wirfliegen weiter«, ordnete sie dann an.»Vielleicht wird doch mal jemand aufmerk-sam auf uns, und bisher sieht es nicht nacheiner Gefahr aus. Besetzt trotzdem die Ge-schützleitstände, und haltet euch bereit!«

Sie flogen weiter ins Zentrum des Son-nensystems; ab dem sechsten Planeten wim-melte es von allen möglichen Raumschiffenund stationären Objekten. Kaum ein Schiffglich dem anderen; vorausgesetzt, bei denmobilen Objekten handelte es sich um sol-che. Manche von ihnen sahen wie asymme-trische Felsbrocken aus, anderen wie leuch-tende Kristalle; der Vielfalt an bizarren undskurrilen Formen schienen keine Grenzengesetzt. Auch die im Orbit kreisenden Sta-tionen zeigten sich merkwürdig verdreht und

verschlungen. Die Schiffe flogen anschei-nend ziellos umher, ohne einen Planetenoder eine Raumstation anzusteuern; trotz-dem blieben sie untereinander in einem ge-wissen Sicherheitsabstand. Abgesehen da-von kümmerte sich keiner um den anderen;es war unmöglich, Signale aufzufangen, diein eine verständliche Form gebracht werdenkonnten.

Die KAHALO funkte weiterhin ununter-brochen, aber niemand reagierte auf sie; sieschien nicht einmal bemerkt worden zu sein.Als einzige Antwort wiederholte sich in re-gelmäßigen Abständen das aufgezeichneteBegrüßungsritual der Gottesanbeterin.

»Das kommt mir hier schon vor wie dieHauptverkehrszeit nach Geschäftsschluß«,lästerte Enzio Ribera. »Alles irrt umher, aufder Suche nach einem Parkplatz, um dieletzten Einkäufe zu tätigen, oder auf demHeimweg.«

Bull beugte sich nach vorn, sein Gesichtwirkte sehr ernst. »Das gefällt mir nicht«,murmelte er. »Das gefällt mir ganz und garnicht.«

»Bisher gibt es aber keine …«, begannJoara, doch er unterbrach sie.

»Selbst die friedlichste Zivilisation möch-te wissen, wer da an ihre Haustür klopft. Duläßt bei dir auch nicht alles offenstehen, sodaß jeder herein- und hinauskann, wie esihm beliebt.«

»Vielleicht ist heute der Tag der offenenTür«, warf Norman Fallar ein. Er war be-kannt für falsche Bemerkungen am falschenPlatz.

Bull ging nicht einmal darauf ein. »Es istfür mich absolut unvorstellbar, daß sich nie-mand für uns interessiert. Es gibt hier keinSchiff, das annähernd wie unser Kugelrau-mer aussieht, und ich kann mir auch nichtvorstellen, daß ein anderer dieselben Hyper-funksignale wie wir aussendet. Weshalbwerden wir also ignoriert, zum Teufel? Ir-gend etwas stimmt hier doch nicht!«

»Nun, es ist schon seltsam …«, gab Joarazögernd zu. »Aber es gibt auch keine Anzei-chen aggressiver Handlungen. Wir stecken

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bereits mitten im Zentrum und sind bishernicht angegriffen worden. Ich denke, es wirddas beste sein, zum dritten oder vierten Pla-neten zu fliegen. Spätestens dort werden wirsicherlich einen Kontakt bekommen.«

»Dann kann es zu spät sein«, erwiderteBull düster. »Ich kann mir nicht helfen, dasalles erscheint mir wie eine Mausefalle. Esist einfach zu verlockend, zu friedlich, zu of-fen. Keine hochentwickelte Zivilisation wür-de sich so verhalten.«

»Du darfst nicht vergessen, daß wir im-merhin über 200 Millionen Lichtjahre vondaheim weg sind«, hakte Enzio nach. »Wirhaben doch nicht die geringste Vorstellung,wie sich hier das Leben entwickelt hat …und was sich für ein Leben entwickelt hat.«

»Das stimmt«, sagte die Kommandantinnachdenklich. »Enzio, das ist auch genau derspringende Punkt. Möglicherweise habenwir uns bereits völlig falsch verhalten undprovozieren einen plötzlichen Angriff, wennwir weiterfliegen.«

»Das ist eine Möglichkeit. Die andereMöglichkeit bedeutet eine Falle, das heißt,wir werden wie Mäuse zu irgendwelchenZwecken gefangen. Beispielsweise zur Er-forschung, da sie festgestellt haben, daß wirvon weit her kommen«, führte Reginald Bullihren Gedanken fort.

»Und die dritte Möglichkeit bedeutet, daßgar nichts passieren wird, es ist einfach einefreundliche, offene Zivilisation, und wirwerden auf einem der Planeten willkommengeheißen«, beharrte Enzio.

»Das denke ich auch«, stimmte Normanzu. »Der Tanz und der Gesang dieses Insek-toiden machten auf mich einen sehr freundli-chen Eindruck, ganz ohne Hintergedanken.«

»Vielleicht sollte uns das auch suggeriertwerden.« Joara stützte den Kopf auf dieHand und runzelte die Stirn.

»Aber wie erklärst du dir dann, daß dieseUnmengen von Raumschiffen und Stationensich nicht um uns kümmern?«

»Ich weiß es nicht.« Sie tippte mit denFingern der freien Hand auf die Lehne.

»Joara, ich fahre vielleicht schon zu lange

kreuz und quer durchs All und bin zu miß-trauisch, aber mir wird es hier immer un-heimlicher«, sagte Bull. »Mir ist so etwasnoch nie passiert, und ich bin der Ansicht,wir sollten nicht gleich das ganze Schiff ei-ner Gefahr aussetzen. Es muß eine andereMöglichkeit geben.«

»Du siehst alles viel zu schwarz, wahr-scheinlich kommt das von der letztenNacht«, meinte Enzio.

»Du Grünschnabel«, brummte Bull. »Seinicht so vorlaut.«

»Na schön.« Joara beugte sich nach vorn,ihr Gesicht zeigte ruhige Entschlossenheit.»Unser weiser alter Mann hat recht. Wirkehren um.«

»Weise kann stehenbleiben, aber alt habeich überhört«, knurrte Bull.

»Muß ja wohl was dran sein, wenn sichunsere hochgeschätzte Kommandantin vondieser Schwarzseherei anstecken läßt«,maulte Enzio, während er die Kurskorrektu-ren vornahm.

Gleich darauf wurden ihre Gesichter sehrernst. Enzio hatte kaum die Kurskorrekturenbestätigt, als ein Unbekannter auf ihre An-wesenheit reagierte: Die KAHALO hattezwar ungehindert in das System einfliegenkönnen, aber sie durfte nicht mehr hinaus.Noch während sie auf Gegenkurs ging, wur-de sie von einem Energiestrahl erfaßt, der al-le Antriebssysteme, auch die Notreserven,lahmlegte und den Kreuzer zu einer Platt-form auf einer der Stationen in der Umlauf-bahn des vierten Planeten hinzog.

»Der Tag der offenen Tür scheint beendetzu sein«, sagte Norman Fallar trocken. »Wirhaben wohl den Hinweis auf die Schlie-ßungszeit bei der Aufzeichnung verpaßt.«

Joara warf einen Seitenblick zu Bull, derverbissen auf den Ortungsschirm starrte,sagte jedoch nichts.

»Was sollen wir tun?« kam die Meldungvon den Geschützleitständen.

»Nichts«, erwiderte die Kommandantinknapp.

»Die Frage sollte eher lauten: Was könnenwir tun?« sagte Enzio Ribera.

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Diesmal antwortete Bull anstelle derKommandantin: »Nichts.«

Die Plattform besaß eine Gesamtlängevon rund drei Kilometern und bestand ausasymmetrischen, bizarren, stachligen Auf-bauten, an denen einige kleinere quadrat-und zylinderförmige Raumschiffe angedocktwaren. Die KAHALO wurde ebenfalls mitHilfe des Traktorstrahls an der Plattform an-gedockt; nach einem kurzen Ruck stand dasSchiff still, die Systeme wurden durch eineSteuerung von außen heruntergefahren.

»Hyperfunk ist nicht mehr«, meldete Nor-man Fallar lakonisch.

»Kontrolle über das Schiff nicht mög-lich«, gab der Syntron von sich.

»Was jetzt?« rief einer durch den Inter-kom.

Joara Clayton ließ sich ihre Ratlosigkeitnicht anmerken. »Ruhe bewahren, aber inAlarmbereitschaft bleiben!« befahl sie. »Wirwerden nichts tun, was als aggressive Hand-lung aufgefaßt werden könnte. Bald wissenwir mehr.«

Bull wies auf den Außenschirm bei derHangarschleuse. »Wir bekommen bereitsBesuch.«

Ein leuchtender Energieschlauch griff vonder Plattform zur Schleuse des Kreuzers,und kurz darauf erschienen etwa zwanziggroße, zweibeinige Wesen in mächtigenschwarzen Raumanzügen, die widerstands-fähigen Kampfrüstungen glichen. Die We-sen marschierten im Gleichschritt und inZweierformation, in den »Händen« trugensie klobige Stäbe, und die Art, wie sie diesehielten, ließ keinen Zweifel mehr offen, daßes Waffen waren.

Die Menschen in der KAHALO sprachenkein Wort, während die fremden Wesendraußen der Hangarschleuse immer näherkamen. Bull überdachte einen kurzen Mo-ment die verschiedenen Verteidigungsmög-lichkeiten. Die einzige Möglichkeit war derKampf Mann gegen Mann, da es keine Kon-trolle über das Schiff mehr gab. Dieser Ge-danke gefiel ihm nicht. Die Wesen sahenzwar zu allem entschlossen aus, aber bisher

waren die Terraner nicht angegriffen wor-den. Vermutlich war dieser Aufmarsch nurdazu gedacht, darauf hinzuweisen, daß mangegen Angriffe gewappnet war.

Nur paßte das alles irgendwie nicht zudem vorherigen Verhalten: Weshalb durfteman jederzeit in das System hinein, abernicht wieder hinaus?

Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf zuzerbrechen. Die Antworten fanden sich nur,wenn sie Kontakt aufnahmen – auf friedli-che Art. Als er Joaras Blick spürte, wandteer den Kopf zu ihr; er las die unausgespro-chene Frage in ihren Augen und nickteleicht. Sie hatte die Entscheidung bereits ge-fällt, wollte jedoch seine Meinung wissen,bevor sie handelte. Die Konnmandantin at-mete tief ein und öffnete dann die Schleuse.

Die Fremden, die die Schleuse inzwischenerreicht hatten, verloren keine Sekunde. Oh-ne einen Laut von sich zu geben, rannten sielos, verteilten sich in Windeseile im ganzenSchiff und enterten die KAHALO im Sturm-lauf; die überraschte Besatzung wurde kurz-erhand paralysiert, ehe sie irgendeine Mög-lichkeit zur Gegenwehr hatte und noch ehesie überhaupt begriff, was mit ihr geschah.

2.

Es ist ein Alptraum, denkst du, alles ein-fach nur ein Alptraum, aus dem du jederzeiterwachen kannst. Es gibt nichts, was dichbedroht, nichts, wovor du weglaufen mußt.Du hast den Traum in der Hand, laß dichnicht von ihm beherrschen. Alles ist gut.

Nichts war gut. Jeder Muskel schmerzte,der Magen zog sich in wütenden Krämpfenzusammen, ihm war übel, er hatte einentrockenen Mund, und sein Kopf schien voneinem Hammer bearbeitet zu werden.

Schlagartig wurde Reginald Bull wach. Eswar unmöglich, sich so schlecht zu fühlen.Der implantierte Zellaktivator sorgte dafür,daß er niemals krank wurde, nur wenigSchlaf brauchte und nicht alterte. Was warmit ihm geschehen? Wo war er? Oder sch-lief er noch, gefangen in dem schrecklichen

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Alptraum, der ihn schon seit Tagen quälte?Vorsichtig bewegte Bull seine Arme,

stöhnte vor Schmerz und stieß einen hefti-gen Fluch aus. Was war denn nur gesche-hen? Er öffnete die Augen, für einen kurzenAugenblick sah er nichts als Dunkelheit, bisseine Sicht sich allmählich klärte.

Vertraute Wände. Er war immer noch anBord der KAHALO, in einer Kabine. Aberwo waren die anderen? Wie mochte es ihnengehen?

Langsam kehrten die Erinnerungen zu-rück, und er fluchte erneut, diesmal leise.Die KAHALO war geentert und die gesamteMannschaft paralysiert worden; vermutlichfühlte er sich deswegen so schlecht … Nein,das war einfach unmöglich, er war ein Un-sterblicher. Er konnte nicht krank werden.Vielleicht wurde ihm dieser Zustand nursuggeriert, aus welchen Gründen auch im-mer. Doch darum konnte er sich jetzt nichtkümmern. Erst mußte er wissen, wie es derMannschaft ging.

Ächzend richtete er sich auf und erkannteverdutzt, daß er einen schwarzen, klobigenAnzug der Art trug wie die Fremden, die dasSchiff erstürmt hatten. Der Anzug umschloßihn wie ein undurchdringlicher Panzer, botaber trotz seines unförmigen Aussehens er-staunlich viel Elastizität und Beweglichkeit.Im Gesichtsvisier schien es Sensoren zu ge-ben, mit denen die Empfindlichkeit seinerAugen auf die Helligkeit abgestimmt wurde,da er direkt ins Licht schauen konnte, ohnedaß es blendete. Deshalb hatte er wohl an-fangs für Sekunden nichts sehen können, dasich das unbekannte Sensorsystem erst aufihn einstellen mußte.

Als Bull aufsah, bemerkte er den Frem-den. Er saß auf einem Stuhl vor seinem Bettund beobachtete ihn; er trug keinen Raum-anzug, sondern formlose, weite Gewänderüber einem unförmigen, sackähnlichen Kör-per mit fast schwarzer, poröser Lederhautund acht Extremitäten, die noch am ehestenmit Käferbeinen verglichen und sowohl alsLauf- als auch als Greifwerkzeug benutztwerden konnten. Das haarlose, warzige Ge-

sicht des Fremden erinnerte entfernt aneinen Hund mit großen runden, völligschwarzen Augen, kleinen Schweinsohrenund einem breiten, grünlippigenFroschmaul.

Als der Fremde sah, daß Bull erwachtwar, gab er mit quietschender Stimme einenRedeschwall von sich, der keinen Zweifeldarüber offenließ, daß er außerordentlichwütend war. Bull versuchte freundlich dar-auf hinzuweisen, daß er fremd war und keinWort verstand, aber das Wesen schiengleichzeitig reden und atmen zu können. DerTerraner konnte sich nicht durchsetzen.

Nach ein paar Augenblicken konnte erplötzlich verstehen, was der Fremde vonsich gab. Offensichtlich war in den Anzugeine Art Translator eingebaut, der sich eben-so wie die Gesichtssensoren justieren mußte.Das wiederum bedeutete, daß dieses Son-nensystem ständig von vielen Fremdvölkernfrequentiert wurde, die mit diesem Anzug andie hiesigen Verhältnisse angepaßt wurden.

»… völlig unmöglich«, keifte der Fremdeinzwischen weiter, »zuerst alles zu akzeptie-ren und dann einen Rückzieher machen zuwollen. Wo kämen wir da hin, wenn das allemachen würden? Es ist so schwierig genug,hier die Organisation aufrechtzuerhalten,weil jeder von euch Spinnern irgendeine an-dere Sucht hat, aber das ist doch tatsächlichder Gipfel! Was habt ihr euch eigentlich da-bei gedacht? Die Regeln sind nicht nur be-kannt, sie wurden euch sogar ein paarmalübermittelt, und wenn ihr plötzlich einenkalten Hintern bekommt, hättet ihr euch dasrechtzeitig überlegen müssen! Und bilde dirnur nicht ein, daß es möglich ist, die Regelnzu brechen. Ihr habt schon genug Ärger ver-ursacht, der ganze Ablauf des Spiels wurdeempfindlich gestört!«

»Was für ein Spiel?« warf Bull ein undschaffte es dadurch tatsächlich, das Wesenzum Verstummen zu bringen.

Einen Moment saß der Fremde völlig stillund schnappte nach Luft. Dann stieß er einkollerndes Geräusch aus, das möglicherwei-se ein abfälliges Lachen darstellte.

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»O nein, mein Lieber, nicht mit mir. MitKendor machst du solche Spielchen nicht.Das kannst du sonstwem erzählen, aber icharbeite hier schon zu lange, ich kenne alleTricks. Ich bin hier im Lakoor-System gebo-ren, nicht irgendwo draußen, ich bin mitdem Spiel aufgewachsen.«

»Nun, ich kenne das Spiel trotzdemnicht.«

»Freundchen, das nehme ich dir nicht ab.Wahrscheinlich stehst du unter Schock, eineNachwirkung der Paralyse, wenngleich mirauch das noch nicht untergekommen ist.«Das Wesen, das sich Kendor nannte, stießeinen wimmernden Seufzer aus. »Aber wirSiilyrer sind ja nett und geduldig, also fangeich von vorn an. Hierher kommt jeder nuraus einem Grund: um am Quidor-Spiel, demWettkampf des Geistes, teilzunehmen. Werhierherkommt und nach der Begrüßungdurch Malassir, unseren Spielleiter, weiter-fliegt, hat automatisch die Regeln akzeptiertund nimmt am Spiel teil, ein Zurück gibt'snicht mehr. Na, kommt's jetzt wieder?«

Bull nickte. »Tut mir leid, Kendor, aberwir haben die fremde Sprache nicht verstan-den. Wir kommen von sehr weit her und …«

»Jedenfalls blieb uns keine andere Wahl,als euch gewaltsam hierherzuholen, das ver-stehst du nun sicher«, unterbrach Kendor.Bulls Erklärungen schienen ihn nicht zu in-teressieren. »Sollte uns nur ein einziger Feh-ler unterlaufen, würde ein unvorstellbaresChaos ausbrechen, und das ist schließlichnicht Sinn der Sache. Das Spiel darf unterkeinen Umständen gefährdet werden; abge-sehen davon, daß ihr das halbe Universumauf dem Hals habt, wenn ihr den Ablaufstört. Die Teilnehmer sind bedeutend weni-ger rücksichtsvoll als wir, schließlich geht eshier ums Ganze.«

»Gibt es denn keine Möglichkeit, uns ge-hen zu lassen?« fragte Bull. »Wir wollen andem Spiel wirklich nicht teilnehmen, es warein Versehen von uns.«

»Das hättet ihr euch früher überlegenmüssen.«

»Wir haben doch gar nicht …« Bull un-

terbrach sich. Es hatte keinen Sinn. »Wiegeht es meiner Crew?« erkundigte er sichstatt dessen.

»Ausgezeichnet. Sie dürften inzwischenalle wach sein. Meine Kollegen sind bei ih-nen, damit wir schnellstmöglich weiterma-chen können. Ihr seid jetzt Spieler, und ichwerde dir den weiteren Ablauf erklären.«Der Siilyre schien sich beruhigt zu haben, erbrachte sogar eine Art freundliches Grinsenzustande. »Wir haben euer Schiff beschlag-nahmt, dafür habt ihr den Callon bekom-men.«

»Was ist das?«Kendor deutete auf den Anzug. »Eine Ak-

tionsrüstung. Du bist an die Lebenserhal-tungssysteme des Callons angeschlossen undbildest eine Einheit mit ihm. Das bedeutet:Wenn du ihn ablegst, stirbst du.«

»Wie bin ich an die Systeme angeschlos-sen?« erkundigte Bull sich entgeistert. DerGedanke, auf Leben und Tod mit dieser Rü-stung verbunden zu sein, gefiel ihm garnicht. Sicherlich hatte er gute Bewegungs-möglichkeiten, aber Tag und Nacht in einenPanzer eingeschlossen zu sein, ohne frischeLuft an die Haut lassen zu können, sichnicht zu duschen oder einfach nur an einerjuckenden Stelle kratzen zu können war al-les andere als eine angenehme Vorstellung.Abhängig von einer Maschine zu sein, in ei-ner Symbiose mit ihr zu leben … Der Alp-traum, der ihn schon so lange quälte, schienRealität geworden zu sein.

»Es wird von Mikrochips gesteuert, diewir selbstverständlich in deinen Körper im-plantieren mußten«, erläuterte Kendor. »Ansich keine problematische Aufgabe bei eurerAnatomie. Ihr seid eine recht einfache Le-bensform, und es wundert mich, ehrlich ge-sagt, schon ein wenig, wie ihr überhaupt dieEntwicklung bis zum Raumflug geschaffthabt.« Er stieß ein weiteres kollerndes La-chen aus, und sein ganzer Körper wackelte.

»Vielen Dank«, brummte Bull.»Tatsächlich aber kommen wir von ziemlichweit her.«

»Wie dem auch sei, der Anschluß des

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Callons ging bei allen weitgehend problem-los vonstatten, abgesehen von dir. Eigentlichmüßten wir dir dafür noch eine Gebühr be-rechnen.«

»Was meinst du damit?«»Nun, dieses merkwürdige Implantat, das

du trägst«, sagte Kendor. »Wirklich, die an-deren haben sich ziemlich beschwert. Es wargar nicht einfach, das zu isolieren.«

Das merkwürdige Implantat, das duträgst. Bull wurde leichenblaß. »Ihr habt esisoliert?« fragte er heiser.

»Ja, aber laß mich fortfahren. Dieser An-zug wird dir helfen, dich überall im Lakoor-System zurechtzufinden und außerdem amSpiel teilnehmen zu können.«

Nur noch 62 Stunden.»Warum – warum mußtet ihr das Implan-

tat isolieren?« fragte Bull dazwischen. Ken-dors Gerede interessierte ihn nicht mehr. Erspürte, wie ihm kalter Schweiß den Nackenhinabrann; die Systeme des Anzugs tratendaraufhin umgehend in Aktion, trocknetenseine Haut, setzten die Temperatur etwasherab und fächelten ihm Luft ins Gesicht.

»Die Multimediasensoren würden davonbeeinflußt, und das könnte tödlich für dichenden«, antwortete Kendor.

»Könnte tödlich enden.« Bull lachtetrocken und bitter. »Die Isolation des Chipsbedeutet meinen sicheren Tod, Kendor.Nach meiner Zeit 62 Stunden seit der Isola-tion.«

Die breiten Froschlippen des Siilyren zo-gen sich nach unten und nahmen einen blaß-grünen Ton an. »Ist das dein Ernst, Freund-chen?«

»Mir war es nie ernster. Ihr habt mein To-desurteil unterzeichnet.«

»Aber deine Freunde – sie sind nicht inGefahr, oder?«

»Ich bin der einzige.«»Hm.« Kendor erhob sich schwerfällig

auf das hinterste Beinpaar und benutzte einzweites Paar als Stütze. »Das stellt uns vorProbleme. Wie arbeitet dieser Chip?«

»Er regeneriert meine Zellen. Ich bin da-mit unsterblich.«

»Aha. Und wenn er aufhört zu arbeiten,zerfallen deine Zellen wie bei jedem ande-ren?«

»Schlimmer. Ich lebe bereits weit überunsere natürliche Sterblichkeit hinaus. Dasheißt, mein Körper altert und stirbt in 62Stunden.« Bull stand gleichfalls auf undging einige Schritte auf und ab, um seinenrasenden Pulsschlag zu beruhigen. »Ihr müßtmir den Anzug umgehend wieder abnehmen,Kendor.«

»Das geht nicht, tut mir leid«, wider-sprach der Siilyre. »Wir müssen die Regelnstrikt einhalten. Aber ich werde mit den an-deren sprechen, ob wir eine Teilisolationdeines Chips einbauen können, damit erzwar wieder arbeiten kann, gleichzeitig aberdas Callon-System nicht behindert.«

Bull blieb stehen und schloß die Augen;für einen Moment drohte er die Fassung zuverlieren und der Panik nachzugeben. DieAlpträume der letzten Zeit, die seltsam me-lancholischen Gedanken, die ihn verfolgthatten, schienen jetzt ihren Sinn zu bekom-men. Hatte er das Ende seines Lebens er-reicht? Hatte sein Unterbewußtsein den na-henden Tod gespürt und sich darauf vorbe-reitet?

Sein Herz hämmerte, und ihm wurdeschwindlig. Deshalb hatte er sich nach demErwachen aus der Paralyse so schlecht ge-fühlt. Er hatte die Unsterblichkeit verloren…

Bull hörte ein leises Zischen, und ein an-genehm frischer, süßlicher Duft drang in sei-ne Nase. Nach wenigen Sekunden spürte er,wie sich sein Pulsschlag verringerte. DerHerzschlag normalisierte sich, und einWohlgefühl breitete sich in ihm aus, das sei-ne Gedanken wieder in geordnete Bahnenbrachte. Die Sensoren des Anzugs arbeitetentatsächlich perfekt.

Er öffnete die Augen und sah sich nachKendor um, der sich inzwischen über einKommunikationsgerät mit anderen aus sei-ner Truppe in Verbindung gesetzt hatte. »Siewollen es versuchen«, berichtete er. »Wirwollen dich auf keinen Fall einer Gefahr

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aussetzen. Sie kommen hierher und werdendich noch einmal betäuben. Dann werdenwir sehen, was sich machen läßt.«

»Gut«, sagte Bull ruhig. »Wir werden se-hen. Fahr inzwischen mit deinen Erklärun-gen fort.«

»Du und deine Mannschaft, ihr bildet einTeam, das gemeinsam das Spiel bestreitenwird. Das Quidor-Spiel zieht sich durch ver-schiedene Etappen. Jede bestandene Stufebringt euch IQ-Punkte ein, die ihr sammeltoder verliert, wenn ihr gegen die Regeln ver-stoßt. Durch besondere Leistungen erhaltetihr Bonuspunkte, die euch gleich um zweibis drei Stufen weiterbringen können. Ma-lassir ist der Spielleiter, und ihr werdet im-mer dann mit ihm zu tun haben, wenn ihreinen Verstoß gemacht habt oder einen Bo-nus erhalten könnt. Ich brauche wohl nichtzu betonen, daß Malassir absolut unbestech-lich ist und die Regelfolge äußerst streng be-achtet. Es gibt unzählige Spielergemein-schaften in diesem System, und es wäre völ-lig sinnlos, ein Spiel zu spielen, wenn mandem einen oder anderen Vorteile gewährt.Das Spiel an sich würde seinen Sinn verlie-ren, und es geht hier nicht um irgendwelchemateriellen Werte, sondern um die Erleuch-tung des Geistes.«

»Was bedeutet diese ›Erleuchtung‹ desGeistes?« fragte Bull. »Ist es das obersteZiel, und was erreichen wir damit?«

»Es ist das oberste Ziel«, bestätigte Ken-dor. »Doch was letztlich damit gemeint ist,werdet ihr zu gegebener Zeit erfahren. Ihrmüßt euch stets bewußt sein, daß die Teil-nahme am Quidor-Spiel eine hohe Ehre ist;es ist nicht einfach irgendein Wettkampf, beidem alle Regeln erlaubt sind. Fairneß, Part-nerschaft und eine hohe moralische Einstel-lung sind Grundvoraussetzungen dafür.Macht- oder Geldgier machen aus einemhoffnungsvollen Spieler schnell einen Ver-lierer. Es ist auch kein Spiel für Einzelkämp-fer, denn ihr arbeitet im Team, und nur alsTeam könnt ihr Punkte sammeln. Ihr seidmit dem Callon miteinander vernetzt, dasheißt, ihr bildet eine geistige und in gewis-

sem Rahmen auch eine körperliche Gemein-schaft miteinander. Jede törichte Handlungeines einzelnen kann das ganze Team ausdem Spiel werfen, deshalb muß jeder voneuch gut überlegen, was er tut. Keiner han-delt mehr allein, sondern in Bewußtsein undVerantwortung der anderen.«

»Und womit müssen wir uns auseinander-setzen?«

»Mit Labyrinthen verschiedener Art: rea-len und irrealen. Die irrealen Labyrinthe be-stehen aus eurer eigenen Geisteswelt und deranderer Wesen. Ihr müßt euch mit den gei-stigen Kräften anderer Teams messen. JederSieg, jede Überwindung bringt euch Punkteund einen höheren Level ein. Je höher ihrkommt, desto schwieriger wird es, denn dieTeams, die dort sind, werden zwar weniger,aber sie sind mindestens ebenso gut wieihr.«

»Und die realen Labyrinthe?«»Ihr werdet auf verschiedenen Planeten

dieses Systems ausgesetzt, deren Prüfungenihr euch stellen müßt. Ihr müßt also gleich-zeitig auf zwei Ebenen kämpfen.«

»Und wir – meine Mannschaft und ich –sind miteinander vernetzt, so daß wir jeder-zeit wissen, wer sich wo aufhält und in wel-chen Schwierigkeiten er möglicherweisesteckt?«

»Genau. Und ihr seid mit allen anderenTeams vernetzt.« Kendors Mund verzog sichzu einem breiten Grinsen, die Lippen warentiefgrün. »Ihr seid alle miteinander vernetzt.Jeder, der einen Callon trägt. Und das sindalle, die sich in diesem System aufhalten.«

»Und du?«»Ich bin ein Überwacher. Im Augenblick

trage ich keinen Callon, weil ich neue Spie-ler einweise, aber sobald ihr im Spiel seid,werde auch ich wieder einen Anzug tragen.Es gibt hier keine Ausnahme.«

»Der Spielleiter trug ebenfalls keinen An-zug.«

»Er sitzt im Leitzentrum des Netzes. Erbraucht keinen Anzug.« Der Siilyre schieneinen Moment ins Leere zu lauschen undwandte sich dann wieder an Bull. »Sie wer-

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den gleich dasein. Im Augenblick haben wirübrigens das Netzwerk unterbrochen, des-wegen kannst du die anderen noch nicht hö-ren. Wir geben die Verbindung erst frei,wenn ihr auf dem Spielfeld seid.« Er deuteteauf Bulls Kopf. »Zum Schluß noch eines:Du trägst ein Zeichen auf deinem Helm, dasdich als Plusträger ausweist. Jedes Team be-steht aus gegensätzlich gepolten Mitglie-dern. Die Minusträger erkennst du am spie-gelverkehrten Zeichen auf dem Helm. Daszusammengefügte Zeichen ergibt den Qui-dor, die in sich verdrehte Schleife. Ihr könntdas Ziel also erst dann wirklich erreichen,wenn ihr die letzte Stufe erreicht habt undgleichzeitig zum Quidor verschmelzt.«

»Das ist dann die ›Erleuchtung‹ des Gei-stes.«

»Ganz recht.«»Wir wirkt sich die gegensätzliche Polung

auf das Team selbst aus? Können wir unsdamit unter Umständen gegenseitig vernich-ten?«

»Nein, aber ihr müßt euer Handeln auf-einander abstimmen, damit es keine Absto-ßung ergibt. Nur gemeinsames Handelnkann zur Verschmelzung führen.«

Bull befühlte das Zeichen auf seinemHelm; die Handschuhe des Anzugs vermit-telten ihm mühelos die Sensibilität der Fin-gerspitzen, und er fuhr die erhabenen Liniennach. Eine Tilde, dachte er.

Bevor er weitere Fragen stellen konnte,kamen zwei weitere Siilyrer, um seinen An-zug neu zu justieren; er mußte sich auf dieLiege legen und wurde ein zweites Mal,diesmal nur für ein paar Minuten, betäubt.Als er wieder zu sich kam, zeigten sich kei-ne Nachwirkungen der Betäubung. Daskonnte aber auch an dem inzwischen auf ihnabgestimmten Anzug liegen.

»Nun?« fragte er so kühl und unbeteiligtwie möglich. »Was habt ihr erreicht?«

»Wir haben die Multimediasensoren neueingestimmt und die Impulse deines Frem-dimplantats berücksichtigt«, erklärte ein Sii-lyre mit derselben Stimme wie Kendor.»Trotzdem mußten wir es teilisolieren, sonst

wäre das System zusammengebrochen.«»Mein Chip arbeitet also?«»Wie man's nimmt.«Bull richtete sich langsam auf; er spürte

ein kurzes Stechen im Nacken, das sofortbeseitigt wurde, von welchem System auchimmer.

»Was soll das heißen, wie man's nimmt?«fragte er stirnrunzelnd.

Kendor verzog das Gesicht. »Das heißt,wir wissen es nicht genau«, antwortete er.»Ein Chip wie deiner ist uns noch nicht un-tergekommen. Wir haben keine Ahnung,wie er funktioniert. Er arbeitet, aber inwie-weit zufriedenstellend, können wir dir leidernicht sagen. Wir haben getan, was wir konn-ten. Der Rest ist – Spielerrisiko.«

3.

Du weißt nicht, was mit dir in wenigerals 60 Stunden passieren wird. Vielleichtwirst du innerhalb weniger Augenblicke ra-send schnell altern und sterben, vielleichtauch nicht.

Wer weiß das schon, würde ein andererMensch vielleicht sagen, wir alle müssendoch einmal sterben.

Aber das stimmt nicht, nicht für dich. Dubist unsterblich. Du brauchst nie irgendwel-che Gedanken an Alter und Tod zu ver-schwenden, solange du nicht gerade einetödliche Verletzung erleidest. Und jetzt lebstdu in derselben Unsicherheit wie alle ande-ren Menschen, weil du nicht weißt, ob deinZellaktivator voll funktionsfähig ist. Die an-deren haben allerdings den Vorteil, daß sieihre Todeszeit nicht wissen und daher kaumdaran denken. Du weißt dies nicht nur, dubist nicht mehr weit davon entfernt.

Was sollst du nun tun in der dir verblei-benden Zeit? Gibt es nicht andere Dinge, diewichtiger wären? Solltest du nicht etwastun, das dir viel bedeutet und das du schonimmer tun wolltest? Vielleicht löst sich ja al-les in Wohlgefallen auf, wenn die Zeit über-schritten ist, und du bist immer noch am Le-ben. Aber wenn es nicht so ist – gibt es dann

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nicht viel zu bedauern?»Zu bedauern ist nur die Tatsache, daß ich

ein alter Narr bin«, unterbrach Reginald Bulllaut seine Gedanken. »Ich wüßte nicht, wasich Besseres tun könnte, als an diesem Spielteilzunehmen. Wenn es eben so sein soll, istjeder Augenblick so gut wie der andere. Dasganze Leben ist ein Spiel, und es wäre nichtdas erste Mal, daß ich gewinne.«

Oder verliere, flüsterte noch einmal dieStimme des Alptraums in ihm, aber erbrachte sie zum Schweigen.

*

Kendor brachte Bull mit einer kleinenFähre auf den sechsten Planeten des Lakoor-Systems, den er Zadus nannte. Es war eineatmosphärelose Eiswelt, ein lebloser, eisigerBrocken, der mit mächtigen Kuppeln, diesich über die ganze Oberfläche verteilten,bewohnbar gemacht worden war. Die Fährewurde mit einem Leitstrahl in einen Hangargezogen, und Kendor deutete auf eineSchleuse. »Dort hindurch, Freundchen, dannbist du schon mitten im Geschehen. Ich ver-lasse dich jetzt. Sobald du die Kuppel betre-ten hast, geben wir die Verbindung zumNetzwerk frei, und du kannst Kontakt mitdeinen Leuten aufnehmen. Das Spiel be-ginnt. Alles Gute.«

Bull verließ die Fähre mit gemischten Ge-fühlen und ging langsam durch die Schleuse.Als sich das letzte Schott zur Kuppel hinterihm schloß, stieß er einen entsetzten Schreiaus und brach von Krämpfen geschüttelt zu-sammen; seine Hände krallten sich verzwei-felt an dem Helm fest und versuchten ihnherunterzureißen.

Sein Gehirn wurde schlagartig von Tau-senden verschiedener Gedanken und Gefüh-le überflutet, er hatte das Gefühl, sein Kopfwürde in Stücke gerissen. Halb wahnsinnigvor Schmerz und Grauen, schlug er gegenden Helm und schrie und schrie; sämtlicheSysteme des Anzugs arbeiteten auf Hoch-touren, konnten jedoch seinem gequältenVerstand zunächst nicht helfen. Schließlich

drückte sich ein Schlauch in seine Nase undsprühte mit Hochdruck ein betäubendes Mit-tel hinein, das die Nervenreaktionen starkverlangsamte, ihn aber bei Bewußtsein ließ.Sein Körper erschlaffte, und ein watteartigerNebel legte sich über seinen Verstand unddrängte die fremden Gedanken und Gefühlezurück. Halb benebelt spürte er Hände, dieihn packten und aufsetzten, und er versuchteeinen klaren Blick zu bekommen, um seineHelfer erkennen zu können.

Es waren zwei: der eine ein sehr langes,sehr dünnes, noch durch den Anzug weißleuchtendes Wesen mit jeweils zwei eben-falls sehr langen und dünnen Beinen und Ar-men mit dreigliedrigen Händen; sein Kopfbestand aus zwei großen, silbrig schimmern-den Fischaugen und einem langen, schmalenRüssel, aus dem eine dicke graue Zunge her-ausragte, die sich unglaublich schnell be-wegte und dabei feucht schmatzende Ge-räusche erzeugte. Das andere Wesen warklein und rund und sah aus wie eine Kröte,und es quakte auch so. Offensichtlich konntefür jedes Lebewesen problemlos ein passen-der Callon hergestellt und angepaßt werden,sogar die Helme, die bei ausreichender Be-leuchtung durchsichtig waren und den Kopfdes Wesens darin gut zeigten. Nachdem Bullein paar Worte zu seinen Helfern gespro-chen hatte, hatten sich die Translatoren ein-gestellt und ermöglichten problemlos eineVerständigung.

»Das geht jedem neuen Spieler so«, erläu-terte das dünne Wesen. »Sie warnen einennicht davor. Ich heiße übrigens Sch'mck,und der hier heißt Quonn.«

»Ich dachte, ich würde wahnsinnig«, sag-te Bull. Er konnte nur langsam sprechen,aber die Wirkung des Mittels ließ schon all-mählich nach. »Was kann ich dagegen tun?«

»Du wirst es ziemlich rasch lernen, dieanderen aus deinem Kopf herauszuhaltenund nur mit dem zu kommunizieren, den duauch willst«, antwortete Quonn. »Der Callonhat sich jetzt darauf eingestellt und wirddich dabei unterstützen. Wenn du dich ent-sprechend darauf konzentrierst, folgt der

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Anzug jedem deiner Befehle. Du bist nahezuunschlagbar damit.«

»Ich denke, so muß sich ein Mutant füh-len, der mit seinen Kräften nicht bewußt um-gehen kann«, murmelte Bull für sich.

»Dein Geist ist ziemlich beschränkt,wie?« meinte Sch'mck. »Deine Reaktion warungewöhnlich heftig. Manchen macht daskaum mehr als ein paar Kopfschmerzen.«

»Danke«, brummte Bull.»Sch'mck, sei nicht so taktlos!« tadelte

Quonn. »Du siehst doch, wie schlecht ersich fühlt.«

»Danke, es geht schon.« Bull stand lang-sam auf; er spürte die beruhigenden und zu-gleich stärkenden Impulse des Anzugs, under konnte sicher stehen. »Seid ihr Spieler?«

»Selbstverständlich.« Ernst nickteSch'mck. »Wir alle hier sind Spieler, Bull.Wir beide können dir gern helfen, wenn duwillst.«

Bull sah das lange, dünne Wesen mitplötzlich erwachtem Mißtrauen an. Weshalbbot es so großzügig seine Hilfe an, obwohlsie nicht im selben Team waren? Kendorhatte zwar von Fairneß gesprochen, aberdeshalb blieben die Teams doch Konkurren-ten. Ein Trick sicherlich, um Punkte zu sam-meln und potentielle Gegner von vornhereinauszuschalten.

»Ihr beide?« fragte er.Quonn nickte gleichfalls. »Ja, natürlich.

Du kennst dich doch hier gar nicht aus.Schließlich haben wir dir ja bereits geholfen,nicht wahr?«

»Ja, dafür bin ich euch auch sehr dank-bar.« Bull verstummte, als er spürte, daß dieWirkung des Mittels völlig verflogen warund seinen Verstand wieder den fremdenEinwirkungen preisgab. Er konzentriertesich und kämpfte einige Zeit mit sich, dochdann gelang es ihm tatsächlich, die fremdenGedanken und Gefühle so weit in Schach zuhalten, daß sie ihn nicht mehr beeinflußten.Er konnte sie nicht ganz ausschalten, aberdas wollte er auch nicht; schließlich konnteer dadurch die Absichten der anderen fest-stellen. Vermutlich würde er einige Zeit

brauchen, bis er richtig damit umgehen undseine eigenen Gedanken so manipulierenkonnte, daß seine Pläne verborgen blieben,aber mit Hilfe des Callons konnte er esschaffen.

Er tastete versuchsweise nach seinen bei-den Helfern, prallte jedoch auf Widerstand,was er halbwegs erwartet hatte.

Sch'mcks Zunge schnalzte laut, offen-sichtlich lachte er. »Du lernst schnell, trotzdeiner Beschränktheit.«

»Wir Menschen sind sehr anpassungsfä-hig«, lächelte Bull. Gleichzeitig baute ereinen Schirm um seine eigenen Gedankenauf und hoffte, daß er funktionierte. Die bei-den brauchten nichts von seinem Mißtrauenzu wissen.

»Und was wirst du jetzt tun?« erkundigtesich Quonn.

»Nun, ich werde nach den anderen Mit-gliedern meines Teams suchen und michdann ins Spiel stürzen«, antwortete Bull.

»Wir können dir gute Tips geben«, sagteSch'mck daraufhin eifrig.

»Hm«, machte Bull zögernd und ent-schloß sich zum Frontalangriff. »Und waserwartet ihr dafür von mir?«

»Wie meinst du das?« fragte Quonn.»Nun, wie ich es sage. Tut mir leid, aber

ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr einemeuch völlig unbekannten Fremdwesen abso-lut selbstlos helfen wollt, ohne eine Gegen-leistung zu erwarten«, sagte Bull freundlich.

»Willst du uns beleidigen?« gurgelteSch'mck.

»Ich kenne eure Sitten nicht, ich versuchenur, meine Gebräuche zu erklären. Wir sindein mißtrauisches und selbstsüchtigesVolk.«

»Ach was, vergiß ihn«, quakte Quonn undwinkte seinem Freund. »Ein undankbarerund ungehobelter Quarrl ist das, der ist unse-rer Hilfe ja gar nicht wert.« Sie drehten sichum und gingen eilig davon.

Bull sah ihnen schmunzelnd nach undging dann ebenfalls los, um sich in der Kup-pel umzusehen.

Ein gigantisches Zentrum lag vor ihm, in

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dem es nur so von Lebewesen wimmelte.Alle trugen den Callon. Nicht zwei von ih-nen schienen zu derselben Art zu gehören,und jeder schien ganz genau zu wissen, wo-hin er wollte. Irgendwie erinnerte Bull die-ses Durcheinander an das Chaos der Raum-schiffe, als sie ins Lakoor-System eingeflo-gen waren. Keiner kümmerte sich um denanderen, alles lief herum, irgendeinem Zielentgegen. Die Einrichtung der Kuppeln be-stand nur aus verschiedenen Wandelgängenin verschiedenen Ebenen, zu denen manüber Treppen oder Gleitbahnen gelangte; da-zwischen lagen Erholungszentren, die alsParks angelegt waren, mit vielfarbigen Was-serfällen, kleinen Teichen und exotischenPflanzen. Hohe, mächtige Säulen ragten ausdiesen Zentren heraus, mit eiförmigen Ge-bäuden, die in unzählige Kabinen unterteiltwaren und wohl zur Erholung dienten. Vorden Parks gab es große Computerstände, da-vor standen Siilyrer und hantierten mit einerUnzahl Kabel, die sie an die Callons vonSpielern steckten.

Als Bull an einem solchen Stand vorbei-ging, rief ein Siilyre ihm zu: »Hast du kei-nen Hunger, Freundchen?«

Einen Moment glaubte er, Kendor wäredas, aber es war ein anderer Siilyre; offen-sichtlich sprachen sie alle Spieler mit»Freundchen« an. Er blieb bei dem Standstehen. »Ich habe keinen Hunger«, antworte-te er. »Aber kannst du mir erklären, was duhier machst?«

Der Siilyre lachte. »Bist noch nicht langehier, wie? Schau dir die anderen an und sagmir, was du denkst.«

Bull musterte der Reihe nach die Spieler,die an die Kabel angeschlossen waren; ob-wohl sie völlig fremdartig aussahen, drück-ten sie alle dieselbe Zufriedenheit aus, under spürte völlige Entspanntheit in ihren Ge-danken. Neben ihm stand ein schlankeszweibeiniges Wesen, etwa in seiner Größe,mit einem langen, zierlichen Schwanz undeinem flachen Kopf mit leuchtenden, sehrlang bewimperten Augen und einem kleinenRüssel, an dessen Ende zwei kirschrote Lip-

pen saßen.Das Wesen wiegte sich anmutig und zwit-

scherte ihm zu: »Solltest du auch versuchen,Bruder, es ist einfach wundervoll. Danachkannst du jeden besiegen.«

Bull wandte sich dem Siilyren zu. »Eshandelt sich um Nahrung, ja? Aber welcherArt?«

»Körperlicher und geistiger, Freundchen.Der Anzug ernährt dich, muß aber immermal aufgetankt werden. Der Vorteil bei die-sem Auftanken liegt darin, daß du selbstauch bestens versorgt wirst. Probier's aus,Freundchen.«

»Woran merke ich, daß ich auftankenmuß?«

»Du wirst hungrig, ganz einfach. Was istjetzt?«

»Muß ich dafür irgendwas bezahlen?«»Was für ein Zeug?«»Willst du dafür eine Gegenleistung?«Der Siilyre stellte seine Schweinsohren

steil auf. »Freundchen, du bist mir einer.Stell dich einfach hierher. An der Seite undam Brustteil des Anzugs findest du zwei An-schlüsse … genau. Da befestige ich die Ka-bel, der Rest geht von allein.«

Bull folgte der Anordnung und fühlte, wieihn elektrische Impulse sanft durchströmtenund entspannten. Nach einer Weile erhöhtesich seine Wahrnehmungsfähigkeit, und seinGeist begann sich automatisch auf die Infor-mationen des Netzwerks zu konzentrieren.Schließlich vergaß er seinen Körper ganz,sein Geist folgte dem weitverzweigten Netzund löste sich darin auf. Er teilte die Gedan-ken und Gefühle Hunderttausender andererLebewesen und fühlte sich eins mit ihnen, ersah die Wunder des elektronischen Mikro-kosmos und hörte die Lieder sich ständigweiterentwickelnder Programme.

Sein Ausflug endete abrupt, als der Siilyreden Kontakt mit dem Anzug unterbrach, under fand sich zu seinem Erstaunen in derKuppel wieder. Das Froschmaul des Siilyrenzeigte ein breites Grinsen, als er das verklär-te Gesicht des Terraners sah. »Willkommenim Quidor-Netz«, sagte er.

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»Danke«, lächelte Bull zurück. Er fühltesich gut erholt wie nach einem langenSchlaf. »Es ist keine schlechte Erfahrung.Kann es eigentlich passieren, daß man ausdem Netz nicht mehr zurückfindet?«

»Alles ist möglich, Freundchen. Aberziemlich unwahrscheinlich. Schließlich istes meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß dudich frisch gestärkt wieder ins Spiel stürzt.«

»Mir ist aufgefallen, daß ich hier nie einTeam gleichartiger Spieler sehe«, fuhr Bullfort. »Sind das Einzelspieler?«

»Nein, die Teams sind nur über das ge-samte System verteilt. Es ist durchaus sinn-voll, von verschiedenen Standorten aus zuoperieren. Bei Beginn des Spiels wird einTeam ohnehin getrennt, das ist sicher auchbei dir der Fall. Aber darüber hinaus gibt esnatürlich auch die Verlierer. Die will keinTeam mehr haben, weil sie zu viele Verstö-ße gemacht haben und dadurch den Punkte-stand drastisch verringern.«

Bull hob eine Braue. »Diese Spieler ver-suchen Anschluß zu anderen Teams zu be-kommen, nicht wahr?«

»Ganz genau. Sie beherrschen denSchwarzmarkt – sie bieten dir technischeZusatzgeräte, Spieletips und Informationenüber andere Teams gegen die Aufnahme.«

»Aha.« Sein Mißtrauen hatte ihn alsonicht getrogen. Die beiden hilfsbereitenSpieler Sch'mck und Quonn waren Verlierer,die einen neuen Anschluß suchten, weil siesonst nie mehr aus dem Netz herauskamen.»Ja, damit habe ich bereits Bekanntschaftgemacht.«

»Du wirst in dieser Kuppel fast mehr Ver-lierer als Spieler finden. Der Schwarzmarktblüht. Wir gehen nicht dagegen an, da er denQuidor selbst nicht beeinflussen oder ihmgar schaden könnte; die meisten Geräte tau-gen nichts, und die Tips und Informationensind ohnehin alle erfunden. Aber es gibt jedeMenge Spieler, die trotzdem darauf herein-fallen und unter Umständen dadurch eben-falls zu Verlierern werden. Das sind Erfah-rungen, die jeder selbst machen muß. Es gibtnun einmal keine Abkürzung zum Ziel.«

»Gut. Vielen Dank für die Informationen.Dann mache ich mich auf die Suche nachmeinem Team und fange an zu spielen – wieimmer das auch gehen mag.«

Der Siilyre stieß einen erheiterten Lautaus. »Freundchen, du bist doch bereits mit-tendrin!« Er winkte Bull nach, als er weiter-ging.

Eines gefällt mir dabei ganz und garnicht, dachte Bull unterwegs. Was geschiehtmit einem Team, das zwar gute Punkte ge-sammelt hat, die oberste Stufe aber nicht er-reicht? Bleibt man so wie die Verlierer ewi-ger Gefangener des Quidor-Netzes und hörtnie auf zu spielen? Er erinnerte sich an dengeistigen Ausflug ins Netz; er hatte sich sogelöst und zufrieden wie selten gefühlt undverspürte das Verlangen, sich wieder an-schließen zu lassen.

Er blieb abrupt stehen. Was mache ichda? Ich laufe schon so planlos wie alle an-deren hier herum und überlege mir, wannmein Anzug das nächstemal aufgetankt wer-den muß. So hat es keinen Sinn. Ich muß dieanderen suchen.

Er schloß die Augen und konzentriertesich vorsichtig. Zunächst stürmte wieder ei-ne Vielzahl an Gedanken auf ihn ein, abernun war er darauf vorbereitet, und er spürtenur ein kurzes Ziehen. Langsam tastete ersich weiter ins Netz vor und sandte gleich-zeitig einen Ruf aus. Irgendwo waren dieGedanken seiner Freunde, er mußte nureinen Weg finden, sie aus der Masse heraus-zufiltern. Nach einiger Zeit fand er sichschon viel leichter zurecht, durchforschte dieGedankenlinien und rief weiterhin ununter-brochen – bis er plötzlich Antwort bekam,vermittelt durch etwas, das ihm vertraut war.Der Callon half ihm dabei, den Gedankenweiter herauszufiltern und als ein Teammit-glied zu erkennen. Wie sich dieser Impulsgenau auswirkte, konnte Bull nicht sagen, erempfand jedenfalls das Gefühl des Erken-nens und Wiedersehens und war sich plötz-lich sicher, Enzio Ribera gefunden zu haben.Er sandte erneut seinen Ruf aus und empfingeinen vorsichtigen, fragenden Gedanken:

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Bull?Ja, dachte er. Kannst du mich verstehen?Ausgezeichnet sogar. Gott sei Dank habe

ich endlich einen von euch gefunden. Wiekommst du mit dieser Gedankenspielerei zu-recht?

Zusehends besser. Es ist eine phantasti-sche Sache, das muß ich sagen. Wo bist du?

Auf irgendeiner Raumstation in der Um-laufbahn des fünften Planeten. Ist ziemlicheng hier, lauter Maschinen, die merkwürdi-ge Reparaturen an noch merkwürdigerenGeräten durchführen, dazu ein Haufen Spie-ler. Und wo bist du?

Auf Zadus, dem sechsten Planeten. Ist ei-ner von den anderen bei dir?

Nein, ich habe bisher hoch keinen gefun-den. Ich muß allerdings gestehen, daß icheinige Zeit brauchte, bis ich die Gedankender anderen Spieler einigermaßen abschal-ten konnte; anfangs dachte ich, ich würdewahnsinnig. Aber jetzt klappt die Verbin-dung sehr gut, ich erkannte dich gleich alsTeammitglied.

Ich denke, daß unsere Callons dasselbeIdentifikationsmuster senden, damit wir unsfinden können. Wir sollten gemeinsam wei-tersuchen, das verstärkt möglicherweise denImpuls und hilft den anderen, uns schnellerzu finden.

Und wie stellst du dir vor, daß das funk-tionieren soll?

Wir müssen irgendwie unsere Gedankenverbinden. Konzentrier dich einfach wiederdarauf, die anderen zu suchen, und ich ma-che dasselbe. Die Callons müßten den Resterledigen können.

Na gut. Hoffentlich finden wir die ande-ren bald.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis siedie restliche Mannschaft aufgestöbert hatten;anfangs war es ein wenig schwierig, denKontakt zu halten, da alle Gedanken undGefühle durcheinandergingen und sich aufjeden gleichermaßen übertrugen, dochschließlich fanden sie nach und nach die be-sten Kompromisse heraus. Die Wiederse-hens-Freude (oder wie immer man das auch

nennen mochte) war groß, und jeder berich-tete kurz von seinen Erlebnissen – die sichim großen und ganzen mit denen der ande-ren deckten – und über seinen derzeitigenAufenthaltsort. Es stellte sich heraus, daßdas Team über das ganze Lakoor-Systemverstreut war und sich auf verschiedenenRaumstationen und den jeweiligen PlanetenDemus (Nummer 3), Pourron, Kulur undZadus befand. Eine kurze Zählung ergab,daß sich inzwischen achtundzwanzig Mit-glieder zusammengefunden hatten. JoaraClayton und drei andere von der Mann-schaft, darunter Norman Fallar, fehlten.

Wie können wir sie finden? fragten EnzioRiberas Gedanken.

Wir werden so lange suchen, bis sie ant-wortet, antwortete Bull.

Aber wir sollten nicht alle gleichzeitig ru-fen, warf ein anderer ein. Wir sollten uns mitBull zusammenschließen, das wird seinenImpuls verstärken. Versucht nicht zu denken,sondern konzentriert euch nur gefühlsmäßigauf Bull. Das müßte funktionieren. Bully, dukümmerst dich nicht um uns, sondern rufstJoara.

In Ordnung, dachte Bull. Er ließ sicheinen Moment ganz fallen und leerte seinenVerstand, soweit es ging. Das Quidor-Netzumgab ihn wie ein schwirrendes und pfei-fendes Chaos, er fing unzählige Gedankenauf und Gefühle von Hunger, Zufriedenheit,Ehrgeiz und Suche. Irgendwann spürte erVertrautes wie eine schützende Wärme, under ahnte, daß die anderen nun seine Netzver-bindung teilten.

Ruhig sammelte er seine Gedanken zu ei-nem einzigen Wunsch und machte sich aufdie Suche.

4.

Für einen Moment glaubst du dich si-cher, ja du denkst, du kannst es vergessen.Aber es lauert weiterhin in dir, verborgen ineiner Ecke, und wartet auf den günstigenMoment. Denk dran: Deine Zeit läuft …

Bull? Ein Gedanke, kaum zu erfassen,

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zaghaft und voller Mißtrauen. Reginald, bistdu das?

Ich bin es, Joara. Wie geht es dir? Wobist du?

Wir sind auf dem vierten Planeten, Pour-ron.

Wer ist wir?Cara, Jacques, Bean und ich. Wir haben

uns ziemlich schnell gefunden und uns hiergetroffen. Wir sind in Pourris, einer giganti-schen Stadt, die den halben Planeten be-deckt. Reginald, wenn du kannst, komm um-gehend hierher. Wir können hier nicht mehrweg, wir sind gefangen …

Gefangen? Worin?Ich kann … ich kann nicht mehr sprechen

… Sie greifen wieder an … Hilf uns …Bull zuckte zusammen, als er Joaras Ge-

dankenschrei hörte, und unterbrach die Ver-bindung.

Wir gehen alle, meldete sich Enzio. Werweiß, was sich dort abspielt.

Wie kommen wir dorthin? fragte Bull.Mit Hilfe des Netzes, antwortete eine

Frau. Ich habe in Erfahrung gebracht, daßwir uns nur an den Identifikationsimpulsenzu orientieren brauchen. Der Callon leitetunseren Gedankenimpuls in das Netz, dasuns wiederum wie ein Transmitter zum ge-wünschten Ort abstrahlt. Laut der Auskunftmüßte es einfach und schnell gehen.

In Ordnung, stimmte Bull zu. Ich konzen-triere mich wieder auf Joaras Muster, ihrkönnt mir folgen.

*

Er spürte einen sanften Ruck, und es flim-merte kurz vor seinen Augen. Als er wiederklar sah, stand er auf völlig fremdem Boden.Es war phantastisch: die Erfüllung allerWünsche, die wirkliche Vollkommenheit.Ein einziger Gedankenimpuls, und er trans-mittierte zu einem anderen Planeten.

Ein gigantisches, verschlungenes schwar-zes Metallwerk umgab ihn, so weit er schau-en konnte, es gab keinen Himmel, keinenHorizont und keine Ebene. Wasser tropfte

aus monströsen Leitungen und verdampftezischend auf glühendheißen Rohren; kalteLampen gaben gerade 300 oder 400 MeterSicht, dahinter lauerten nur noch waberndeNebelfetzen und Schatten. Wesen bewegtensich in Zeitlupe durch diese Schatten, We-sen, die schwarze Anzüge wie er trugen,aber keinen Namen mehr hatten. Sie beweg-ten sich wie Prozessionen von Aussätzigenund Bettlern durch die Straßen, humpelndund kriechend; manche trugen phosphores-zierende Lampen in den deformierten Hän-den, hin und her schwankend wie Irrlichter.

Das kann nicht sein, dachte Bull. Er fuhrzusammen, als dicht neben ihm etwas lautkreischte. Ein schuppiges, geflügeltes Ech-senwesen mit dem abstoßend häßlichenKopf einer alten, menschlichen Frau schoßan ihm vorbei; die Augen glühten rot undbösartig, und die Echse umkreiste ihn schrillkichernd.

Er mußte ausweichen, als sie plötzlichAngriffshaltung annahm und messerscharfeKlauen nach ihm ausstreckte. Obwohl sie ihrZiel verfehlte, verringerte sie die Geschwin-digkeit nicht, flog in halsbrecherischemTempo zwischen zwei freischwingendenStreben hindurch und verschwand hinter ei-nem dampfenden Rohr.

Bull wartete keinen zweiten Angriff mehrab, sondern ging die Straße entlang; dieRichtung war gleichgültig, da es keinen An-fang und kein Ende zu geben schien, nurbergauf und bergab. Er marschierte einigeZeit auf der Suche nach irgendwelchen Ori-entierungspunkten, aber es veränderte sichnichts – als ob er auf einem Rad liefe, des-sen Achse fest verankert war.

Seltsam war, daß er niemanden von derMannschaft finden konnte, obwohl sie sichalle gleichzeitig zum selben Bezugspunktabgestrahlt hatten. Und weshalb hatte er kei-nen Kontakt mehr zu ihnen oder Joara? Warer auf einer ganz anderen Welt gelandet, ir-gendwo außerhalb des Systems, aus demNetz geworfen?

Nein, das konnte nicht sein. Der Callonfunktionierte immer noch, und er spürte

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nach wie vor das Schwirren anderer Gedan-ken.

Und dennoch … irgendwie schien dieseWelt hier nicht real zu sein, manchmal hatteer das Gefühl – wenn er seinen Blick aufeinen Punkt konzentrierte –, als ob das Bildsich veränderte und verwischte. Die Stadtschien zu leben, zu atmen, ihre Lage zu ver-ändern. Er hörte das Kreischen der Echsen-kreaturen sowie das leise Wimmern undKlagen der pilgernden Verlierer, und er sahmonströse, unförmige Kreaturen zwischenden Strebenverbindungen herumklettern,während andere, flache Geschöpfe, mitSchwämmen vergleichbar, über den Bodenschlurften.

»Es ist falsch«, murmelte Bull. »Es isteinfach alles falsch. Ich glaube das nicht,was ich hier sehe.«

Weil du es nicht glauben willst, wispertedie Stimme des Alptraums in ihm. Du hastAngst, gib es doch zu. Du erkennst mich indem, was du siehst, und du weißt, daß diesdie Wirklichkeit ist. Diesmal kannst du nichtmehr vor mir fliehen, indem du aufwachst,denn du bist bereits wach. Wehre dich nichtgegen mich, sondern mach dich mit mir ver-traut. Dies ist deine zukünftige Heimat, deinkünftiges Leben.

»Nein«, flüsterte Bull. Er schwankte un-schlüssig hin und her und fühlte, wie ihmein eisiger Schauer den Rücken hinablief. Erträumte nicht, er sah eine Bewegung in derDunkelheit hinter einem Rohrgeflecht undwußte, was es war – und was es wollte. Baldwürde es den Schutz der Schatten verlassenund ins Licht treten, und es würde einenMoment verharren, ihn mit seinen grausa-men Blicken durchbohren, und dann würdees angreifen mit dem donnernden Gebrüll ei-nes wilden Tiers …

»Nein!« rief er laut, gleichzeitig sandte ereinen Impuls an den Callon. Der Anzug rea-gierte augenblicklich.

Bull erstarrte, als sich die Oberflächen-struktur der Rüstung veränderte, geradezuversteinerte; die Ohrfilter schlossen sichschalldicht, das Visier verdunkelte sich zu

absoluter, undurchdringlicher Schwärze. DerTerraner war völlig in sich abgeschlossen,das einzige Wesen in dem Universum seinerRüstung, nichts konnte mehr von außen ein-dringen, nichts konnte mehr nach außen ab-gegeben werden. Einen kurzen Augenblickgenoß er die Stille, den Moment der Leereund Versenkung, aber sein auf Hochtourenarbeitender Verstand gestattete keine längerePause. Er konzentrierte seine Gedanken undsuchte nach Joara.

Nun, da er nicht mehr abgelenkt werdenkonnte, fand er schnell das vertraute Musterund schaltete sich in Joaras Gedanken ein.Sie kauerte in einem winzigen runden Raumund versuchte, scharfen Nadeln auszuwei-chen, die unregelmäßig aus den Wändenherausschossen und sich wieder zurückzo-gen; sobald sie den Callon berührten, erhieltJoara einen schmerzhaften Stromschlag, undsie schrie auf. Bull hatte es nicht leicht, ihreAngstgefühle zu durchdringen und sie dazuzu bringen, ihm zu antworten.

Ich komme zu dir.Das kannst du nicht! Ihre Gedanken wa-

ren voller Verzweiflung und Panik. Wir ha-ben beide nicht genug Platz hier, und ichkann nicht mehr hinaus. Mein Anzug funk-tioniert nicht mehr!

Du darfst nicht nachgeben. Joara. Diesist nicht die Realität. Mach dich davon frei.

Bist du verrückt? Ich spüre den Schmerz!Was kann realer sein als Schmerz?

Daß es kein Schmerz ist. Du erwartest,daß es weh tut, und deshalb glaubst du dar-an. Du kannst dich daraus befreien.

Aber wie denn?Zieh dich in dich selbst zurück. Ich habe

es auch getan. Hab keine Angst, ich bin beidir. Schalte alles nach außen hin ab, derCallon tut das übrige dazu. Vertrau mir.

Sie hielt einen Moment still und schrie er-neut auf, als sie wieder getroffen wurde.Bull sandte sofort den Impuls an ihren Cal-lon, und dieser reagierte tatsächlich. Für einpaar Sekunden schwiegen Joaras Gedankenverblüfft, dann fragte sie zaghaft:

Wo sind wir jetzt?

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In uns. In der Leere. Wo immer wir seinwollen.

Sind wir allein?Er lachte. Diese Frage führt sich selbst ad

absurdum. Wir sind zusammen, wie könnenwir da allein sein?

Tut mir leid, Reginald. Ich habe nie zuvoretwas Ähnliches erlebt. Wo sind die ande-ren?

Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich in ähn-lichen Fallen wie wir. Wir werden sie su-chen, sobald wir uns befreit haben.

Wie stellst du dir das vor?Wir schließen uns zusammen und stellen

uns einen erträglicheren Ort vor, zu dem wirtransmittieren können.

Sie zog sich ein wenig,zurück, um nach-zudenken, und Bull wartete geduldig. Erkonnte spüren, daß sie keine Angst mehrhatte, ihre Gedanken waren wieder klar undruhig. Es war erstaunlich, wie verständlichihm ihre Empfindungen waren und wie ver-traut, als wäre sie ein verwandter Geist. Erwußte, daß er ihr vorbehaltlos vertrauenwürde, was auch immer geschehen mochte,und war sich sicher, daß sie ihm ebenso ver-traute.

Ich glaube, wir können es riskieren, mel-dete sie schließlich. Schalten wir unsere Ge-danken zusammen. Ich habe noch das Bildvon Pourris vor Augen, bevor wir in die Fal-len stürzten. Vielleicht kannst du es sehen,dann springen wir gemeinsam dorthin.

Er tastete nach ihren Gedanken und ließsich von seinen Gefühlen leiten; er spürte,wie sie ihm entgegenkam, und öffnete sichihr. Als die Verbindung zustande kam,konnte er durch ihre Augen sehen und siedurch seine, für einen Moment tauschten siedie Körper und vermischten sich; im näch-sten Augenblick standen sie nebeneinanderauf der Straße einer riesigen, weitverzweig-ten Stadt aus Metall und Stein.

Es war nicht erkennbar, ob in diesen selt-samen, maschinenähnlichen Konstruktionenauch Wohn- oder Arbeitsbereiche lagen;ähnlich wie in der Alptraumwelt dampfte eshier und da, Wasser wurde über eine weit-

verzweigte Kanalisation in verschlosseneBauwerke geführt, und aus Rohren stieggelblicher Dunst auf. Ein leises, an- und ab-schwellendes Brummen lag über allem, be-gleitet von kreischenden Geräuschen wievon einem Sägewerk, Hämmern und Klop-fen, aber es war nicht erkennbar, welcheMaschinen liefen und von wem sie bedientwurden. Über der Stadt zogen weiße Wol-ken an einem blaugrünen Himmel dahin,und auf den breiten Straßen wimmelte esvon Leben: Spieler, Überwacher, Verlierer –und Tiere, katzenartige Wesen, kindergroßeEchsen, die auf zwei Beinen liefen, Vögelund kleine Flugechsen. Der Anzug öffneteseine Luftfilter, und Bull konnte frische, rei-ne, angenehm warme Luft einatmen; dieSchutzfunktion war aufgehoben, und derCallon schien sogar leichter und geschmei-diger geworden zu sein, dieser Welt ange-paßt. Joara lachte übers ganze Gesicht undumarmte Bull impulsiv, und er erwiderte dieUmarmung herzlich.

»Wir haben's geschafft, Reginald!« riefsie. »Ist das nicht wunderbar? Wie hast du'sgemerkt?«

Er lächelte. »Das war gar nicht so schwer.Ich habe einfach dasselbe wie in den letztenNächten gemacht.«

Sie stutzte und musterte ihn dann for-schend. »Ein Alptraum, ja?« erwiderte sie.»Suggestion?«

Er nickte. »Ein gegnerisches Team. Sievermischten ihre Alpträume mit unseren undversetzten uns in eine Welt aus Schein undWirklichkeit.«

»Und wenn ich – wenn du mich nun nichtgefunden hättest und ich hätte nie denSprung gewagt?«

»Ich nehme an, das fremde Team hättedich, sobald sein Sieg offensichtlich gewor-den wäre, entweder mit deinen bisher erziel-ten IQ-Punkten vereinnahmt, oder du wärstauf ewig als Verlierer umhergeirrt. So zu-mindest hätte ich gehandelt.«

»Ich freue mich jedenfalls, dich zu se-hen«, gestand sie. »Wir sind uns in manchenGefühlen ziemlich ähnlich, zumindest kam

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es mir so vor, als wir uns verbanden.«»Nun, auf der BASIS haben wir uns

schließlich schon recht gut verstanden«, sag-te er ernst. Er musterte ihren Helm. Das hal-be Quidor-Zeichen darauf war spiegelver-kehrt zu seinem Zeichen. »Du trägst die Ge-gentilde.«

Sie nickte. »Ja, mir ist ebenfalls gleichaufgefallen, daß du ein Positivträger bist.Das scheint aber weiter keine Auswirkungenzu haben.«

»Mir wurde gesagt, daß es nur dann nach-teilig ist, wenn man nicht zusammenarbeitet.Die unterschiedlichen Polungen erweiternmöglicherweise das Aktionsspektrum undführen nur dann zur gegenseitigen Absto-ßung, wenn das Team nicht gemeinschaft-lich denkt und handelt. Bei uns klappt dasjedenfalls gut.«

»Reginald, denkst du, wir können die an-deren befreien?«

»Ich glaube schon, daß wir zusammen ge-nug Kraft haben. Wir müssen das andereTeam einfach verwirren. Wir sollten einennach dem anderen unserer Freunde suchenund befreien, irgendwann werden die ande-ren schon den Fehler machen, sich offen zuzeigen.«

»Und wie, stellst du dir vor, sollen wir sieverwirren?«

»Indem wir ihre Gedanken umdrehen undauf sie zurücklenken. Wir sollten uns wiederaufeinander einstimmen und gemeinsamvorgehen, vor allem aber dürfen wir nichtdarauf achten, in welcher Art Falle die ande-ren sitzen, sondern müssen sofort positiveGedanken zu ihnen senden. Sonst lassen wiruns unter Umständen von irgendwelchenSchrecken beeinflussen und verlieren wert-volle Zeit.«

»Ja, und Kraft.« Joara zögerte einen Mo-ment. »Mir wäre es lieber, wir würden unsan den Händen halten«, sagte sie dann. »AlsAbsicherung sozusagen, als psychische Stüt-ze, damit wir uns nicht wieder verlieren.«

»Gut.« Er ergriff ihre Hände und zog siedicht an sich. »Bist du bereit?«

Sie nickte, und dann verschlossen sie sich

wieder nach innen, nahmen Gedankenkon-takt auf und machten sich auf die Suche. Zuzweit ging es schneller und leichter. Baldfanden sie Norman Fallar, der verzweifeltgegen hundeartige, geflügelte Kreaturenkämpfte. Sie sandten starke, positive Gedan-ken, die schließlich zu ihm durchdrangen,und es gelang Joara gleichzeitig, die sugge-stiven Gedanken von ihm abzulenken undins Netz zurückzuschicken. Norman reagier-te völlig verdutzt auf seine »Befreiung« undwollte ihnen zunächst nicht glauben, daßdiese Alptraumwelt von einem gegnerischenTeam inszeniert wurde, um sie aus demSpiel zu werfen.

Egal, wer recht hat, signalisierte Bull, wirmüssen weiter. Du mußt uns unterstützen. Jegrößer das Team wird, je mehr wir zusam-menarbeiten, desto mehr Chancen habenwir.

Ich konzentriere mich auf die Gegner,meldete Joara. Alles, was du mir sendest, lei-te ich weiter. Ich denke, ich habe schon eineSpur zu ihnen gefunden.

Sie suchten weiter nach den anderen Mit-gliedern der Mannschaft; Joara und Bull gin-gen dabei vor, als wären sie schon ein jahre-lang eingespieltes Team und hätten nie et-was anderes getan. Je mehr Freunde sie fan-den, desto stärker wurde die Blockade gegendie Fremdbeeinflussung, und schließlichgingen Joara und Bull gemeinsam zum Ge-genangriff über, während die anderen wei-tersuchten. Die Terraner stellten dabei fest,daß sie es jeweils leichter hatten, als Plusträ-ger einen Minusträger anzugreifen und um-gekehrt. Die gegensätzliche Polung erwiessich als durchaus nützlich; was innerhalb ei-nes Teams zur Ergänzung führte, konnte au-ßerhalb gegen einen andersgepolten Trägergerichtet werden. Die Gedanken pralltenheftig aufeinander, jeder versuchte den an-deren durch abstruse Bilder zu überwindenund zur Kapitulation zu zwingen. Die beidenTerraner waren sich schnell einig, sich nurauf ihre jeweiligen Gegenträger zu konzen-trieren und dabei geballt vorzugehen; da-durch wurde das gegnerische Team so gefor-

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dert und abgelenkt, daß Joara ClaytonsMannschaft schließlich vollständig befreitwerden konnte und anhand der Identifikati-onsmuster zu einem gemeinsamen Treff-punkt transmittierte. Die meisten waren sehrerschöpft und suchten nach einem Compu-terstand, um die Anzüge aufladen zu lassen,die übrigen erzählten sich gegenseitig ihreErlebnisse. Bull bemerkte, daß alle, ein-schließlich Joara, von den ungeahnten Mög-lichkeiten des Netzes eingenommen warenund die verschiedensten Spekulationen überden Sinn des Quidor anstellten. Er wußtekeinen Grund, aber er fühlte sich davon aus-geschlossen; es war nur ein unbestimmtes,unsicheres Gefühl, das ihn davon abhielt, dieBegeisterung der anderen zu teilen.

»Was ist mit dir?« erkundigte sichschließlich Joara. »Du stehst grübelnd ab-seits, als würdest du dich gar nicht freuen,daß wir wieder alle zusammen sind.«

»Ich freue mich«, erwiderte er. »Ich den-ke nur darüber nach, wie ich mehr über die-ses System herausfinden kann. Ich habe die-se Expedition schließlich unternommen, umfremde Welten zu erforschen, nicht um zuspielen.«

»Das können wir doch immer noch tun.«»Wie meinst du das?« Er starrte sie ver-

blüfft an. »Denkst du, dieses Spiel ist einnetter Spaziergang? Hast du irgendwelcheVorstellungen darüber, wie lange manbraucht, um die höchste Stufe zu errei-chen?«

Sie lachte. »Nein, natürlich nicht, und someinte ich es ja auch nicht. Ich denke nur,wenn wir schon hier sind und die Gelegen-heit haben, an diesem Spiel teilzunehmen,sollten wir sie auch nutzen. Das ist dochebenfalls eine Art Forschungsarbeit. Und ichfinde es ungeheuer faszinierend, die Mög-lichkeiten des Netzes auszuschöpfen. Ohneden Quidor sind wir doch richtiggehendblind und taub, findest du nicht auch?«

»Ja und nein.« Er runzelte die Stirn. Siehatte ihn auf einen anderen Gedanken ge-bracht, der seine Stimmung nur noch mehrverdüsterte. »Joara, hast du eine Vorstel-

lung, wie lange wir schon hier sind?«»Nein. Ich habe jegliches Zeitgefühl ver-

loren, und der Anzug mißt keine Zeit. Eskönnen ein paar Stunden, aber auch ein paarTage vergangen sein.«

Ein paar Tage?»Warum interessiert dich das?«»Nur so.«Sie musterte ihn scharf; Joara spürte, daß

etwas nicht stimmte, und ihre Gedanken ta-steten nach ihm, aber er blockierte den Zu-gang. »Reginald, sag mir, was nicht in Ord-nung ist«, sagte sie sanft. »Ich sehe doch,daß dich etwas quält, vielleicht kann ich dirhelfen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das mußich mit mir selbst abmachen.«

»Na gut.« Sie berührte flüchtig seinenArm und ging zu den anderen; sie hattensich inzwischen auf einem Marktplatz derStadt versammelt, auf dem mehrere Compu-terstände und die üblichen Schwarzhändlerselbstbewußt ihre Dienstleistungen und Wa-ren anpriesen. Wie an allen anderen Ortendes Systems schien es hier nur Spieler, Ver-lierer und Siilyrer zu geben; es gab hier –wie überall – keinerlei Hinweise auf dieKonstrukteure und Erbauer der Stadt oderüberhaupt auf die Ureinwohner des Lakoor-Systems. Es war nicht einmal sicher, ob sichdie Tiere, die hier auf den Straßen zwischenden Spielern herumwuselten, auf Pourronevolutionär entwickelt hatten.

So viele Fragen, dachte Bull, und keineAntworten. Und es scheint sich keiner dafürzu interessieren, alle sind völlig in diesesSpiel vernarrt. Dabei wissen wir doch nochnicht einmal genau, was für einen Preis derSieger erwarten darf.

Vielleicht war er zu sehr Pragmatiker, daßer sich nicht als Spieler fühlte, und er konntesein Mißtrauen nicht ablegen. Sicherlich warer davon fasziniert, mit nur einem einzigenGedankenimpuls zu jedem beliebigen Orttransmittieren zu können, die Gedanken undGefühle der anderen kennenzulernen, undauch die elektronische Welt des Netzes zogihn an, aber er vertraute niemandem blind-

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lings, schon gar nicht jemandem, den er niezu Gesicht bekam. Irgend jemand mußtedieses Spiel schließlich erfunden haben, aberaus welcher Motivation heraus?

Er drehte sich um, als er auf ihn gerichteteGedankenimpulse spürte, und sah eineGruppe fremder Spieler auf sich zukommen.Es waren zehn hochgewachsene, schlanke,zweibeinige Wesen, deren Helme so abge-dunkelt waren, daß man die Köpfe nicht er-kennen konnte. Das fremde Team blieb ineiniger Entfernung stehen; eine einzelne Ge-stalt löste sich von der Gruppe und ging wei-ter auf Bull zu. Er hörte, wie Joara tief einat-mete, als der Spieler schließlich vor ihnenstand.

Es war nicht mehr erkennbar, was er einstgewesen war: Er hatte sich zu einem Cyborgentwickelt, dessen wahre Gestalt niemandmehr nachvollziehen konnte. Der Callon warmit seiner ursprünglichen Haut völlig ver-wachsen, der Kopf war unproportional großund völlig deformiert, der Helm teilweisevon Haut und Muskeln überwuchert, die Au-gen waren schwarze Höhlen, in denen einrötliches Glühen lag.

»Ich bin Errus«, sprach er mit tiefer,klangvoller Stimme, der Callon übersetztesofort. »Ihr habt uns in dem Wettstreit be-siegt, und ich gratuliere euch. Wir kapitulie-ren und bieten euch an, uns als Verstärkungin euer Team aufzunehmen.«

Bull und Joara Clayton tauschten einenBlick; das restliche Team hatte sich inzwi-schen hinter ihnen versammelt und warteteab.

»Ich danke dir, Errus«, sagte Bull schließ-lich. »Aber bevor wir eine Entscheidungtreffen, ob wir euch aufnehmen, haben wirein paar Fragen. Wir sind ganz neu in die-sem Spiel und haben unseren ersten Wett-streit mit euch ausgetragen.«

»Und sofort gesiegt.« Errus lachte dröh-nend. »Wahrlich, ihr seid sehr stark undmächtig und habt deshalb gute Chancen, eu-ren IQ-Stand zu multiplizieren. Ich werdedeine Fragen gern beantworten. Laß unseinen etwas ruhigeren Platz suchen.« Er

deutete auf einen Computerstand, hinter demeine größere Fläche mit steinernen Bänkenausgestattet war, auf denen Spieler saßenoder lagen und miteinander diskutierten. Siefanden am Rand genügend freien Platz füralle; Errus' Team hielt sich etwas abseits,während die Terraner sich um den Cyborgscharten.

»Meine Leute müssen die Niederlage erstnoch verkraften«, erläuterte Errus. Was voneinem Mund übrig war, zog sich zu einemLächeln in die Höhe; ein schmaler Schlitzmit Schwärze dahinter, ein Draht ragte auseinem Mundwinkel. »Es ist ihre erste. Ihrmüßt wissen, daß wir nun eine ganze Saisonnur gesiegt haben und mit dem Sieg übereuch die vorletzte Stufe erreicht hätten. Des-halb wollen wir uns euch anschließen, denndas würde uns sonst weit zurückwerfen.«

»Es tut uns leid«, versicherte Joara.»Es braucht dir nicht leid zu tun«, wider-

sprach Errus. »Das Quidor-Spiel ist ein fai-res Kräftemessen, ein Wettstreit der Geister,der mit Sieg oder Kapitulation endet. Wirtrachten nicht danach, einem anderen zuschaden, nur weil wir weiterkommen wol-len. Ihr habt euch sehr gut gehalten und fairnach den Regeln gekämpft.« Er wies aufsich. »Wie ihr seht, bin ich ein Cyborg. Daswar nicht immer so, aber ich nehme schonseit meiner frühesten Jugend an diesemSpiel teil, ohne je mein Ziel erreicht zu ha-ben. Ich kann den Callon nicht mehr able-gen, er ist jetzt ein Teil von mir, und ichwerde einst auf dem Spielfeld sterben.«

»Bist du hier geboren?« erkundigte sichBull.

»Nein. Ich kam hierher wie alle anderen,voller Hoffnungen, und ich habe schon un-zählige Wettkämpfe bestritten, mal als Sie-ger, mal als Verlierer. Ich war der Anführermehrerer Teams, die sich dann entwederauflösten oder nacheinander wegstarben.«Er stieß einen menschlich klingenden Seuf-zer aus. »Diesmal war ich näher dran als jezuvor, und nun bin ich wieder um eine Hoff-nung ärmer. Aber das sind nun einmal dieRegeln dieses Spiels.«

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»Errus, wer hat das Netz aufgebaut? Gibtes im Lakoor-System noch irgendwo Urein-wohner, die diese phantastischen Städte unddie Raumstationen erbaut haben?« fragteBull.

»Ich glaube nicht«, antwortete Errus. »Ichhabe anfangs dieselben Fragen gestellt wiedu, aber es gibt keine Antworten darauf. DasNetz existiert schon immer, ebenso die Bau-ten. Man weiß nichts mehr über die ur-sprüngliche Zivilisation oder die Erfinderdes Quidor-Spiels. Es ist offensichtlichschon so unendlich lange her, daß es keineInformationen mehr hierüber gibt, nicht ein-mal mehr in der Datenbank. Man kann dar-über spekulieren, ob das die Absicht der Er-bauer war oder ein Versehen.«

»Und das Spiel?« fuhr Joara fort. »Was istdas wirkliche Ziel des Spiels?«

»Geistige Vollkommenheit, aber nicht ei-nes einzelnen Wesens, sondern der Gemein-schaft. Durch das gemeinschaftliche Han-deln verschmelzen die Geister zu einemvollkommenen Ganzen.«

»Zu einer höheren Entität«, fügte Joarahinzu. Ihre Augen leuchteten. »Dadurchkönnten wir eine geistige Reife erlangen, dieFür uns auf dem derzeitigen Entwicklungs-stand an sich unmöglich ist.«

»Kein schlechtes Ziel«, bemerkte Ribera.Hinter ihm klang zustimmendes Gemurmelauf.

»Natürlich gibt es immer wieder Spieler,die denken, daß es mit unlauteren Mittelnschneller geht«, berichtete Errus weiter. »Siehaben nicht die geringste Chance. Das Netzerkennt sofort bösartige Gedanken, die ge-gen andere zu deren Schaden gerichtet wer-den. Diese Spieler erhalten sofort Verlierer-Sta-tus und nie wieder eine Chance, aktiv amSpiel teilzunehmen.«

»Du sprichst etwas aus, was mich schonlange beschäftigt«, warf Bull ein. »Was pas-siert eigentlich mit den Verlierern? Könnensie das Netz wieder verlassen? Und was pas-siert mit Spielern, die das Ziel nicht errei-chen, des Spiels aber müde werden?«

»Ich weiß von keinem, der das Spiel je

verließ«, antwortete Errus. »Aber das bedeu-tet nichts – bei den Millionen Teilnehmern,die es im ganzen System gibt. Allerdings istmir auch keine Regef dazu bekannt.«

»Habt ihr denn nie darüber nachgedacht?«Errus wirkte erstaunt. »Nein, weshalb

auch?«»Reginald, darum geht es jetzt doch gar

nicht«, unterbrach Joara. »Wir müssen unsmit dem Spiel beschäftigen, nicht mit denmöglichen Konsequenzen.«

»Und weshalb nicht?« fragte er scharf.Sie erwiderte seinen Blick funkelnd.

»Weil ich der Ansicht bin, daß wir es schaf-fen können.«

»Nur wegen eines Sieges?«»Nicht allein deswegen. Obwohl wir nie

zuvor solche geistigen Fähigkeiten aus-schöpfen konnten, haben wir uns unglaub-lich schnell angepaßt – und wie ein Wesengehandelt. Wir sind ein verdammt gutesTeam, und ich denke gar nicht daran, miroder meinen Leuten die Möglichkeit vor-zuenthalten, eine höhere Bewußtseinsebenezu erreichen!«

»Ich verstehe dich nicht, Bull«, sagte Er-rus. »Weshalb sträubst du dich gegen dieseshohe Ziel, nach dem doch jede Intelligenzstrebt? Geistige Vollkommenheit! Überlegedir, welche Möglichkeiten dir dann offenste-hen!«

Zustimmende Rufe wurden laut, und Bullerkannte, daß er abseits stand. Wie sollte ersein Mißtrauen erklären?

»Ihr dürft nicht vergessen, daß wir eineAufgabe haben«, sagte er schließlich laut.

»Ja«, stimmte Joara zu. »Und genau des-wegen machen wir weiter. Reginald, denkstdu nicht, daß wir herausfinden sollten, wasuns am Ziel erwartet? Vielleicht findest dudort die Antworten auf deine Fragen.« Siebeugte sich nach vorn und fügte leise hinzu:»Und vielleicht findest du dort auch daswahre Gesicht deines Alptraums und dieKraft, ihn zu vernichten.«

Ihre Gedanken tasteten nach ihm, und erspürte ihre Wärme. Ich möchte weiterspie-len, aber mit dir.

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Einen Moment zog er sich zurück, umnachzudenken. Sie hatte recht, eine solcheChance durfte man nicht ungenutzt verstrei-chen lassen. Und vielleicht fand er wirklichdie Antworten. Es war phantastisch, denGeist umherschweifen zu lassen, die Gedan-ken und Gefühle anderer zu teilen, sich einszu fühlen mit dem Universum …

Er spürte ihre Hand auf seinem Arm undnickte. »Wie gehen wir jetzt weiter vor, Er-rus?« wandte er sich dem Cyborg zu.

»Ihr könnt uns als Verstärkung in euerTeam aufnehmen und gleichzeitig unserenPunktestand mit übernehmen«, antworteteErrus. »Und ihr könnt das Orakel von De-mus in Anspruch nehmen, da ihr einen Siegerrungen habt. Das Orakel ist eine öffentli-che Datenbank, die alle Informationen überdas Lakoor-System und den Quidor enthält.Anhand der Informationen des Orakelskönnt ihr eure weiteren Strategien planen.«

»Wie denken deine Leute darüber, sichuns anzuschließen?« fragte Bull und deuteteauf Errus' Team, das sich immer noch ab-seits hielt.

»Lassen wir sie selbst entscheiden«,mischte sich Joara ein. »Unsere Mannschaftsoll bestimmen, was wir tun werden. Sie sol-len sich untereinander absprechen, Errus.«

Der Cyborg nickte. »Ich halte das auchfür das beste. Unstimmigkeiten schaden al-len.«

Die Diskussion dauerte nicht lange; beideTeams waren sich einig, nicht zusammenzu-arbeiten. Errus zeigte sich nicht weiter er-staunt, er hatte so etwas offensichtlich schonöfter erlebt, während Joara überrascht war.

»Ich weiß, was du denkst«, meinte Ribe-ra. »Aber wir wollen es allein versuchen.Die anderen und wir sind nicht aufeinandereingespielt, und wir haben selbst nicht ge-nug Erfahrung, um uns problemlos auf sieeinstellen zu können.«

»Damit ist auch keines der beiden Teamswirklich bereit, das Ziel zu erreichen«, sagteErrus und erhob sich langsam. »Versteht ihr:Das Ziel ist das gemeinschaftliche Handelnohne Vorbehalte.«

»Du denkst, daß es ein Team allein nichtschaffen kann?« fragte Bull.

Der Cyborg hob die Schultern; er hatte soviele menschliche Gesten, daß Bull sich ei-gentümlich angesprochen fühlte. »Ich habein so vielen Teams gespielt, die sehr gut wa-ren und es meiner Ansicht nach hättenschaffen können, daß ich nicht weiß, was ichüberhaupt denken soll. Vielleicht lag es im-mer nur an mir, daß wir verloren haben, aberich denke allmählich, daß es nur alle zusam-men schaffen können.«

»Wärst du denn dazu bereit?« wollte Joa-ra wissen.

»So bereit wie du«, erwiderte er. »Wie je-der von uns.« Er nickte den Terranern zu.»Wir verlassen euch jetzt. Befragt das Ora-kel, bevor ihr wieder auf das Spielfeld zu-rückkehrt. Vielleicht sehen wir uns einmalwieder.«

Er drehte sich um und transmittierte mitseinem Team zu einem anderen Ort.

»Wir sollten gleich weitermachen, oder isteiner von euch müde?« sagte Fallar undwandte sich der übrigen Mannschaft zu. Diemeisten schüttelten den Kopf; ein paar woll-ten zuerst noch auftanken, aber Ribera lehn-te ab.

»Ihr habt bereits aufgetankt, das reicht.«»Was ist das, dieses Auftanken?« fragte

Joara. »Ich habe es noch nicht probiert.«»Eine Droge«, erklärte Bull ruhig. »Es

macht dich abhängig vom Netz und zwingtdich weiterzuspielen. Ich nehme an, Errushängt die meiste Zeit an einem Kabel, weiler sonst nicht mehr existieren könnte. Es hältdich andauernd fit und kräftig, so daß duweiterhin am Quidor teilnimmst.«

Die anderen schauten ihn betroffen an.»Bist du sicher?«

Er nickte. »Ich habe ebenfalls schon auf-getankt. Und seither denke ich fast ständigdaran, wann ich mich wieder ans Netz hän-gen kann. Ich nehme an, das Netz gibt unsEnergie und bezieht gleichzeitig aus uns ei-ne Art Energie für sich selbst, was schließ-lich eine gegenseitige Abhängigkeit bewirkt.Dies alles hier ist wie ein riesiger Organis-

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mus, und wir sind ein Teil davon, wie Blut-körperchen …«

»Oder Darmbakterien«, unterbrach ihnFallar und lachte scheppernd. »Mein lieberBully, du bist ein noch schlimmererSchwarzseher, als ich bisher annahm. Hof-fentlich störst du nicht unseren Teamgeist.«

»Mich wundert, daß du das Pluszeichenträgst«, stimmte Ribera zu. »Ich hätte dichjetzt eher als Minusträger angesehen.«

»Schluß jetzt!« befahl Joara streng. »Jedervon euch übertreibt. Wir werden das Orakelanrufen. Bist du bereit, Reginald?«

Er nickte, und sie schickten den Gedan-ken an den Callon, der den entsprechendenImpuls ins Netz leitete. Kaum war dies er-folgt, als das gesamte Team in einen abge-schlossenen runden Raum, der wie die Steu-erzentrale eines Raumschiffs wirkte, trans-mittierte.

Vor einem gigantischen Computer standdie in fluoreszierende, seidige Gewändergehüllte Gottesanbeterin, welche die Terra-ner um einen guten Kopf überragte. Sie zirp-te und trillerte mit den Fühlern und bewegtesich voller Anmut.

»Willkommen«, sprach Malassir, Spiellei-ter des Quidor. »Willkommen und herzli-chen Glückwunsch zu eurem ersten großenErfolg.«

5.

Du darfst nicht mehr darüber nachden-ken, wieviel Zeit inzwischen vergangen seinmag. Du kannst daran nichts mehr ändern.Du bist nun sterblich wie alle anderen, unddu kennst nicht einmal mehr den Zeitpunktdeines Todes. Also mach's wie sie, kümmeredich nicht darum, sondern lebe die Zeit, diedir bleibt. Vielleicht verblassen dann sogardie Bilder des Alptraums.

»Ihr habt einen sehr guten ersten Sieg er-rungen, der euch so viele IQ-Punkte einge-bracht hat, daß ihr bereits den nächsten Le-vel betreten könnt«, fuhr Malassir fort.»Dieser Erfolg liegt vor allem darin begrün-det, daß die beiden Anführer des Teams«, er

deutete auf Bull und Joara, »eine sehr großegeistige Stärke und Ausgeglichenheit besit-zen und zudem ein hohes Maß an Vertrauenund Zuneigung. Aber auch die anderen Mit-glieder verhalten sich harmonisch zueinan-der, was für ein ganz neues Team ein relativungewöhnliches Verhalten ist. Ich freuemich sehr, daß ihr an unserem großen Spielteilnehmt, und ich wünsche euch, daß ihrdas hohe Ziel erreicht. Gleichzeitig will icheuch aber nun nicht dazu verleiten, euch zuüberschätzen. Bleibt innerhalb eurer Gren-zen und weicht Herausforderungen aus, dieeure Leistungsfähigkeit von vornhereinüberfordern. Schon viele verloren aus einemtriumphierenden Hochgefühl heraus den Bo-den unter den Füßen und stürzten so tief,daß sie zu Verlierern wurden. Es geht hiernicht allein ums Siegen, sondern auch umden Beweis geistiger Reife und Stärke. Mitjeder Stufe, die ihr bewältigt, lernt ihr dazu,entwickelt sich euer Geist weiter; aber ihrmüßt euch stets vor Augen halten, daß euchimmer mindestens ein Team an Punkten vor-aus ist, ebenso möglicherweise geistig über-legen.«

»Wir werden es nicht vergessen«, sagteJoara; in ihrer Stimme lag eine eigenartigeBegeisterung, die Bull nicht gefiel. Obwohlsie noch nicht aufgetankt hatte, hatte dasNetz sie in seinen Bann gezogen, und erspürte, daß die Lage schon ernster war, alser zuerst angenommen hatte. Je länger sieund die anderen damit zu tun hatten, destobegeisterter wirkten sie, sie dachten nichtmehr an ihre Mission oder an mögliche Ge-fahren.

Malassir führte ihnen in seinem zirpendenSirenengesang die Wunder des Spiels vorund beschrieb die unglaublichen Möglich-keiten, die am Ende auf den Sieger warteten;gleichzeitig stellte er in flammenden Wortendie Voraussetzungen dar, nach denen dieSpieler dieses Ziel erlangen konnten. Und jelänger er sprach, desto hingebungsvollerlauschten ihm die Terraner. Ihre Augen nah-men den leidenschaftlichen Glanz der beses-senen Spieler an, wenn sie sich an den Kar-

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tentisch setzten oder zum Roulette gingen.Alle außer Bull. Seine Fragen blieben

weiterhin unbeantwortet, er konnte sich da-durch nicht einmal richtig auf den Gesangdes Spielleiters konzentrieren. Malassir schi-en das zu spüren, denn plötzlich richtete ereinen langen Greifarm mit einer scharfenGreifzange am Ende auf ihn und zirpte:»Deine Gedanken beschäftigen sich zuvielmit überflüssigen Dingen, Spieler. Bedenke,welche Auswirkungen dein Verhalten aufdas Team haben kann. Du trägst das Plus-Symbol, und neben dir steht das Gegen-Symbol, mit deren Verbindung du einevollendete Harmonie bilden kannst. DieseVerbindung hat euch den ersten Sieg ge-bracht, daher verstehe ich deine jetzigenZweifel nicht.«

»Wir brauchen ihn«, wandte Joara schnellein und ergriff seinen Arm. »Er ist unserAnführer, und es ist unsere Art, immer Fra-gen zu stellen. Er wird das Spiel dennochbestreiten können und uns niemals schaden.Er ist viel älter und weiser als wir alle zu-sammen.«

»Nun, ich halte die Warnung dennochaufrecht«, entgegnete Malassir. »Achte aufdas, was du wirklich willst, Spieler. Wenndu irgend etwas tust, was dir oder dem Netzschaden könnte, wirst du sofort ausgeschlos-sen. Wir können keine Störenfriede dulden.«

»Ich werde nichts tun, was mein Team inGefahr bringen könnte«, versprach Bull ru-hig. »Aber ich werde mich nicht vorbehalt-los fügen, solange irgendwelche Fragen of-fenbleiben. Ich trage die Verantwortung füralle meine Leute und werde sie nicht able-gen, nur weil die Regeln es verlangen.«

Die Gottesanbeterin bewegte sich in ei-nem unruhigen Tanz; nach einer Weilesprach sie: »Ich weiß jetzt den Grund fürdein atypisches Verhalten. Dein Callonfunktioniert nicht einwandfrei, wir werdenihn wohl neu einstellen müssen. Ich empfan-ge Störsignale von einem Fremdimplantat,und ich nehme an, das bringt deinen Seelen-zustand durcheinander.«

»Nein«, widersprach Bull. »Der Callon

funktioniert hervorragend, er wurde nur neujustiert, aufgrund des Fremdimplantats. Esdarf unter keinen Umständen isoliert wer-den, da ich sonst als Spieler ausfalle.« Erblickte Joara an. »Außer das Team wünschtes.«

»Natürlich nicht«, sagte sie sofort. »Ichsagte es bereits, Malassir, wir brauchen un-seren Teamleiter.«

Malassir stimmte zögernd zu und hielt ei-ne kurze Abschlußrede über das weitereVorgehen des Teams.

»Nun habt ihr die Gelegenheit, das Orakelvon Demus zu befragen«, schloß der Spiel-leiter seine Rede ab. »Ich wünsche euchweiterhin viel Erfolg und vor allem Stabili-tät. Ihr braucht jetzt nichts weiter zu tun, ichaktiviere von hier den Leit-Transmitter, dereuch direkt nach Demus abstrahlt.«

Die Luft flimmerte kurz, und dann fandsich das gesamte Team auf dem dritten Pla-neten des Lakoor-Systems inmitten des Ora-kel-Komplexes wieder. Das Orakel bestandaus unzähligen weiträumigen und sehr ho-hen Hallen mit leuchtenden gotischen Rund-bögen und Säulen; das Material glich wei-ßem, grün strukturiertem Marmor. Durch dieHallen zogen sich asymmetrisch miteinanderverbundene gigantische schwarze Computerder unterschiedlichsten Form – würfelför-mig, rund, ineinander geschachtelte Acht-ecke –, und viele tausend verschiedenfarbigblinkende Lampen streuten ein seltsamesLicht durch die Hallen.

»Großer Gott, was ist das denn?« flüsterteFallar. »Diese seltsamen Bauteile … sie se-hen wie Lebewesen aus …«

»Es sind Lebewesen«, sagte Joara. »Ichhabe gesehen, wie sich eines bewegt hat …«

In diesen riesigen Maschinenkomplex wa-ren tatsächlich fremdartige Lebensformenintegriert, die ähnlich wie Errus in einer Me-tamorphose mit dem Metall verwuchsen undso zu monströsen halborganischen Schauer-gestalten wurden, deren ursprüngliches Aus-sehen nicht mehr nachvollziehbar war. Man-che Wesen konnten noch teilweise die defor-mierten Extremitäten und Köpfe bewegen,

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wo ihre vibrierenden roten Muskelsträngeund Adern das schwarze Metall nicht völligüberwuchert hatten.

Vielleicht sind das die ursprünglichen Er-bauer des Netzes, dachte Bull. Sie sind,möglicherweise auf der Suche nach der Un-sterblichkeit, eine Symbiose mit den Maschi-nen eingegangen und haben dadurch dasNetz erst vollkommen gemacht, indem sienicht nur die Gedanken, sondern auch dieGefühle überwachen und steuern konnten.Ich frage mich, ob sie noch eine Erinnerungan ihr früheres Leben haben oder ob sie sichvöllig in dem Netz aufgelöst haben.

Langsam gingen die Terraner durch dieHallen auf einen hellen Lichterschein zu;dort vermuteten sie das Zentrum des Ora-kels.

Den zentralen Mittelpunkt der Computer-einheit bildete ein hell leuchtender, freischwebender und leicht rotierender sech-zehneckiger Kubus, über den sich, ausge-hend von den Computern zu beiden Seiten,ein blauschimmernder Bogen wölbte, aufdem ein Zeichen angebracht war. Bull er-kannte in dem Zeichen eine liegende Acht,und plötzlich begriff er, was Kendor mitdem Begriff in sich verdrehte Schleife ge-meint hatte. Er befühlte das Plussymbol aufseinem Helm und musterte gleichzeitig dasMinussymbol auf Joaras Helm. Wenn mandie Tilden aneinanderfügte, ergab sich ausihnen eine liegende Acht. Das war der Qui-dor!

Das vollkommene Ganze, Minus und Plus,Gut und Böse oder wie immer man das auchnennen mag; es ist die harmonische Einheit,das Gleichgewicht, was den Quidor bildet.Was aber gleichzeitig bedeutet, daß sichdann die ursprüngliche Daseinsform auflöst,wenn das Ziel erreicht ist. Das Verschmel-zen der Geister miteinander bildet ein ganzneues Bewußtsein, es vernichtet die eigentli-che Wesensform, dachte Bull.

Er fühlte, wie ihm kalt wurde, und derGedanke des Spiels verlor jeglichen Reiz fürihn. Wir müssen hier so schnell wie möglichweg.

*

»Willkommen!« erklang eine hallende,metallene Stimme aus dem Nichts. »Ich bindas Orakel von Demus, das ihr hiermit zumersten, aber sicher nicht zum letzten Mal inAnspruch nehmen könnt.«

»Orakel, erzähl uns die Geschichte desSpiels«, bat Joara, bevor Bull etwas sagenkonnte.

»Die Geschichte des Spiels ist beinahe soalt wie die Geschichte der Planeten und derEntstehung des Lakoor-Systems«, beganndas Orakel. »Äonen sind seither vergangen,aber die Regeln haben sich nie verändert, siehaben heute noch dieselbe Gültigkeit wiedamals, denn es sind die Gesetze des Lebensund der Harmonie. Es gab eine Zeit vor denGesetzen, die war dunkel und barbarisch,und jeder trachtete nur nach dem Leben desanderen. Das Ende der Zivilisation war na-he.

Und als das Ende so nahe war, besannensich die Völker und erkannten, daß sie denfalschen Weg gegangen waren, nur derWahre Weg war der Weg der Erleuchtung.Sie erkannten die Gesetze der Harmonie undlegten sie nieder im Quidor, in der ver-schlungenen Schleife. Aber das genügte ih-nen nicht, denn sie sahen nun den WahrenWeg deutlich vor sich, an dessen Ende dieVollkommenheit stand. Also schickten sieSendboten in alle Teile des Alls, verkünde-ten die Botschaft ihrer Erleuchtung und for-derten die Völker auf, am Spiel teilzuneh-men und Vollkommenheit im Quidor zu er-fahren. Und die Völker nahmen den Ruf auf,folgten ihm und reisten ins Lakoor-System,um sich der Herausforderung des Quidor zustellen. Nur die Auserwähltesten und Rein-sten im Geiste konnten das Ziel erreichen,und seit Tausenden und aber Tausenden vonJahren gelang es immer nur wenigen, imQuidor zu verschmelzen.

Im Quidor jedoch ist der Weg noch langenicht zu Ende, dort beginnt er erst wirklich,denn die Auserwählten folgen nun weiter

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dem Wahren Weg, und der Währe Wegführt durch die Unendlichen Korridore, diekein normaler Sterblicher je betreten darf,ohne zu verbrennen. Am Ende des WahrenWegs liegt die Endgültige Wahrheit, und nurdie wirklich Auserwählten können sie ertra-gen und in ihrem Licht baden und uns dieBotschaft bringen.«

»Und kamen die Auserwählten von die-sem Weg zurück?« warf Fallar ein.

»Die Zahl der Spieler ist nicht zu zählen,die seither das Spiel bestritten haben undden Weg betraten, und sie alle dienen demQuidor und helfen den anderen, die ihnenfolgen, und je mehr es werden, desto höherwird die geistige Kraft«, antwortete das Ora-kel von Demus.

»So, wie wir stärker wurden, je gemein-schaftlicher wir handelten?« fragte Ribera.Seine Augen glänzten in einem träumeri-schen Licht. »Was könnten wir alles damiterreichen …«

»Möglicherweise eine ganz andere Di-mension, die jenseits unserer Vorstellungs-kraft liegt«, sagte Joara Clayton ruhig.»Orakel, wir können dieses Ziel also nur alsKollektiv erreichen, sehe ich das richtig?«

»Ein Kollektiv erhöht die Kapazität desGeistes – jedes einzelnen«, sprach das Ora-kel. »Die Erweiterungen steigen bis fast insUnendliche, je verschiedener die Wesen undVölker sind, die sich zusammenschließen.Ein Team erreicht das hohe Ziel und ver-schmilzt mit allen anderen, die vor ihm an-gekommen sind. Den Möglichkeiten sindhier kaum mehr Grenzen gesetzt, und derWeg zu den Tabuzonen liegt frei vor euch.Diese Tabuzonen könnten niemals von ei-nem einzelnen, wie ihr hier steht, erreichtwerden.«

»Wo liegen die Tabuzonen?« fragte eineFrau. »Kann man sie sehen?«

»Sie liegen jenseits von allem, was euchbekannt ist, jenseits aller Mathematik, dieihr mit eurer Technik erreichen könnt. Zeitund Entfernung spielen dort keine Rollemehr, man ist überall zugleich, allein durchGedankenkraft.«

Es kann nicht sein, dachte Bull, währender sich umsah. Alle Mitglieder des Teamshatten denselben leuchtenden Ausdruck inden Augen, alle schienen bereit dazu zusein, sich zu beweisen. Sind sie denn alleverrückt geworden? Erkennen sie nicht, washier wirklich vorgeht?

»Wir können weitergehen, als wir es jefür möglich gehalten hätten«, sagte Joara.»Orakel, gibt es irgend etwas, das wir be-sonders beachten müssen?«

»Ihr kennt die Regeln bereits, und mehrgibt es nicht zu sagen. Wenn ihr wirklich be-reit dazu seid, werdet ihr das Richtige tun,andernfalls werdet ihr zu Verlierern. DerQuidor mag manchmal hart und kompro-mißlos erscheinen, aber er ist absolut ge-recht. Wenn das Hohe Ziel erreicht werdensoll, darf es keine Mißstände oder falschenGedanken geben. Laßt euch Zeit, eurenGeist zu entwickeln, übernehmt euch nicht,damit sich eure guten Gedanken nicht plötz-lich gegen euch wenden und zu den schlech-ten Gedanken eines besessenen, machthung-rigen Spielers werden. Das wäre das Endeeures Teams und eurer Chance, erhoben zuwerden.«

»Joara, das ist doch nicht dein Ernst«,stieß Bull hervor. »Merkst du nicht, was hiergespielt wird?«

»Reginald, es ist mein voller Ernst«, erwi-derte sie und drehte sich zu ihm um. »Wiralle denken dasselbe, du bist derjenige, dernicht begriffen hat um was es hier geht. Wirkönnen Welten erschaffen! Wir können Frie-den bringen, Ruhe und Harmonie. Sehnst dudich denn nicht danach?«

»Ich sehne mich danach wie jeder andere,aber nicht auf diese Weise.«

»Welche Weise ist dir dann genehm? Mitdiesem Spiel können wir weiter gehen als jezuvor! Ich möchte es wenigstens versuchen,Reginald. Warum kannst du das nicht ver-stehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sollten dasNetz verlassen.«

»Treibt dich wirklich nur die Sorge umuns an, oder liegt es eher an deiner Angst,

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möglicherweise sterben zu müssen?« fragtesie nicht ohne Schärfe.

Sie weiß es. »Ich mache mir Sorgen umeuch«, sagte er leise.

Sie nickte, plötzlich lächelnd. »Tut mirleid, das war ziemlich taktlos. Ich denke –ich denke, du brauchst dir darüber keine Ge-danken zu machen. Der Callon erhält sicherdeine Lebenssysteme, und wenn du ihn ab-legst, wird dein Aktivator wieder voll arbei-ten.«

»Eine entsprechende Ungewißheit bleibttrotzdem.«

»Nun, wer hat die nicht?«»Vielleicht nicht ganz so sehr nach dem

heutigen Stand der Lebenserwartung undmedizinischen Möglichkeiten. Nun gut. Duwillst es also wirklich tun?«

Ribera kam an Joaras Seite. »Wir alle,Bully. Ich weiß, daß wir es schaffen werden.Wir haben unsere Wahl getroffen. Wirst dumit uns gehen?«

»Ja.« Nur so konnte er eine Möglichkeitfinden, das Team aus dem Netz herauszu-bringen.

Das Orakel schloß: »Eure nächsten Prü-fungen sollt ihr auf dem Planeten Kulur be-stehen. Ihr betretet nun die zweite Stufe desSpiels, bedenkt daher, daß der Schwierig-keitsgrad nun höher ist. Sobald ihr die dritteStufe erreicht habt, wird Malassir euch hier-herbringen, und ihr könnt erneut Informatio-nen abrufen.«

Joara wollte noch eine Frage stellen, aberdas Netz transmittierte in diesem Augen-blick das gesamte Team nach Kulur.

6.

Kulur war der fünfte Planet des Lakoor-Systems mit einer Schwerkraft, die geradeausreichte, um eine dünne, aus Sauerstoffund Edelgasen bestehende Atmosphäre zuhalten. Er war eine kalte, trockene, dahin-dämmernde Welt, die nur in bestimmten Ab-ständen erwachte, wenn einer der zahlrei-chen Vulkane tätig wurde. Die Vulkane er-streckten sich zum Teil wie Gebirge über

riesige Flächen, abgelöst von skurrilenLandschaften und weiten Wüstenflächen; esgab Kegel-, Tafel-, Ringwallvulkane, Feuer-spalten und Lavahöhlen. Durch die Wüsten-flächen zogen sich Lavafelder, die wie mit-ten in der Bewegung aufgehaltene, reißendeFlüsse oder sogar wie eine erstarrte Meeres-brandung wirkten.

Pflanzen konnten hier nicht existieren, daes im Erdinnern keine Wasserreservoire gab;das Sonnenlicht reichte auch nicht aus, umeine Photosynthese auszulösen. Dennochgab es zwei ursprüngliche Lebensformen aufdieser Welt: eine davon die Ceniten, eineArt Sporenbakterien auf Nitritoder Schwe-felbasis, die durch Chemosynthese existie-ren konnten.

Der einzelne Cenit war um ein Vielfachesgrößer als bekannte Bakterien und bildetebis zu hundert Geißeln aus, um sich mit an-deren Ceniten untrennbar zu verbinden. DieBakterienhaufen konnten mehr als hand-spannenlang werden und über eine MillionBakterien beherbergen. Sie schwebten in derGesamtheit sichtbar als zierliche, anmutigeSporenfäden durch die Luft, teilweise hellleuchtend, je nachdem, von welchem Vul-kan sie sich ernährten.

Die Ceniten bildeten die Nahrungsgrund-lage für die Annitaphoren: gigantische, gas-gefüllte Hohlkörper, die ruhig und anmutigin Schulen in großer Höhe um den ganzenPlaneten flogen. Die Armitaphoren warenfast durchsichtige, ätherische, silbrig schim-mernde Geschöpfe von bis zu achtzig Me-tern Länge, wenn sie voll ausgewachsen wa-ren, mit fiedrig gefächerten, bis zu hundertMetern langen Tentakelfäden, die als Nah-rungs-, Fortpflanzungs- und Kontaktorganedienten.

Kulur war ein Planet der wechselndenLandschaften, schmelzend und neu entste-hend; auf dem Boden hatte hier nichts dau-erhaften Bestand. Die vielen Vulkane warensehr aktiv und stießen mit ihrer Lava unteranderem Silikate und verschiedene andereQuarze in die Luft, die als Kristalle langsamzu Boden sanken und phantastische Wälder

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und Hügel bildeten; je nach Vorstellungs-kraft konnte man Burgen, Schlösser, Städte,skurrile Büsche und Bäume, dämonischeFelsen und Höhlen erkennen, die aus demNichts erschaffen wurden. Die Entstehungging nicht lautlos vor sich, die Quarze er-zeugten bei der Zusammenfügung einen zar-ten Gesang, und je nach Beschaffenheit hat-te so jedes kristalline Gebilde sein eigenesLied.

Doch diese Gebilde waren selten von lan-ger Dauer, wenn wieder ein Vulkan aus-brach und sich heißes Magma und glühendeGesteinsbrocken über die filigrane Land-schaft ergossen; die Kristallstruktur brachauseinander und zerfloß. Zurück blieb danneine Wüste mit spiegelglattem Boden, diespäter vielleicht wieder einmal von Lavaüberflutet wurde oder das Fundament für einneues Kristallschloß bildete.

*

Die Erbauer des Quidor-Netzes hattenauch diesen Planeten zum Zweck des Spielsbesiedelt, allerdings nur unterirdisch, um dieHarmonie der Planetenoberfläche nicht zustören. Man erreichte die Unterstadt durchüber den ganzen Planeten verteilte pyrami-denförmige schwarze Eingänge, wenn mannicht transmittieren konnte oder wollte. DerAufbau und die Einrichtung der Unterstadtwaren denkbar einfach wie überall in denSpielerzentren: große, weiträumige Hallenmit Märkten, Computerständen, Diskussi-ons- und Ruheebenen. Die Hallen warendurch hell erleuchtete breite Wandelgängemiteinander verbunden; es war nicht ersicht-lich, wie groß diese Stadt war, möglicher-weise unterhöhlte sie den ganzen Planeten.

Das KAHALO-Team hatte sich nach ei-ner ersten gemeinsamen Erkundung in Vie-rergruppen aufgeteilt, wobei auf jeden Plus-träger ein Minusträger kam; nach einem kur-zen emotionalen Abtasten hatte sich raschherausgestellt, wer am besten zusammen-paßte. Bull und Joara bildeten ein Quidor-Paar, Fallar und Ribera, die sich schon seit

der Kindheit kannten und gut verstanden,das andere Quidor-Paar der Gruppe.

Die Gruppen verstreuten sich bald in alleRichtungen und hielten untereinander nuroberflächlichen Gefühlskontakt. Keiner vonihnen wußte, was als nächstes zu erwartenwar, und sie lauschten vorzugsweise anderenGedanken als denen ihrer Freunde.

Bull bedauerte, keine Möglichkeit zu ha-ben, genauere Daten über Kulur zu erfahren;da er keinerlei Zeitmesser hatte, konnte erdie Eigenrotation des Planeten nicht messen,er wußte nichts über die Umlaufzeit um dieSonne, eine zu erwartende Evolution oderdie physikalische Zusammensetzung des Bo-dens. Er vermutete, daß die Leiter des Net-zes solche Informationen absichtlich denSpielern vorenthielten, damit sie jeglichenBezug zur Realität verloren und sich ganzdem Spiel hingaben.

Er behielt seine Gedanken jedoch für sich;er wollte keinen neuen Streit mit seinen Ge-fährten provozieren. Es mußte einen anderenWeg geben, ihnen die große Gefahr begreif-lich machen zu können, in der sie schweb-ten.

*

»Was für eine faszinierende, schöneWelt«, bemerkte Joara, als sie auf die Ober-fläche zurückgekehrt waren.

Sie hatten sich nach kurzer Beratung dazuentschlossen, die Unterstadt zu verlassen, daes dort nichts Interessantes oder Neues gab.Bisher hatte noch kein Teammitglied einenAngriff gemeldet, und sie wollten die Gele-genheit nutzen und sich in aller Ruhe umse-hen.

»Du möchtest also nicht Von selbst aktivwerden?« hatte Bull wissen wollen.

»Noch nicht.« Sie hatte den Kopf ge-schüttelt. »Wir haben noch nicht genug Er-fahrung. Außerdem möchte ich zuerst nochmehr von dieser Welt sehen.«

Also waren sie an die Oberfläche trans-mittiert. Die Anzüge schützten sie nach wievor perfekt und paßten sich ihren jeweiligen

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Wünschen an – sie konnten auf dem Bodengehen, ohne auszugleiten oder bei einerschnellen Bewegung abzuheben; sie konntenaber auch im Gleitflug dahinschweben.

Als hoch über ihnen eine Schule Armita-phoren vorüberzog, flog Joara langsam zuihnen hinauf. Die anderen folgten ihr zö-gernd und mit größerem Abstand zu denRiesenwesen.

Sei vorsichtig, signalisierte Bull telepa-thisch. Bleib außerhalb des Bereichs ihrerFangfäden. Wir haben keine Ahnung, ob siewie Quallen nesseln oder dich packen, weilsie dich für einen Cenit halten. Wir hättenkeine Möglichkeit, dich zu befreien, da wirkeine Waffen oder sonstige Geräte besitzen.

Ich passe schon auf, antwortete Joara.Folgt mir in sicherer Entfernung, ich werdeversuchen, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.

Sie hielt sich einige Zeit außerhalb desBereichs der Fäden und überholte nachein-ander die Mitglieder der Schule. Es warenetwa fünfzig Tiere der unterschiedlichstenGrößen, die kleinsten waren gerade einenhalben Meter lang. Angeführt wurde dieHerde von einem voll ausgewachsenen, ma-jestätisch wirkenden Giganten; er bewegteseine langen, weitverzweigten Tentakel un-ablässig in alle Richtungen, fing Ceniten einund berührte sacht andere Rudelmitglieder.Man konnte bei ihm gut die inneren Organeerkennen, die vorn am Rumpf saßen, zusam-mengeballt zu einer Kugel von etwa fünfMetern Durchmesser, sanft pulsierend undrötlichgold leuchtend.

Die Organe der kleineren Armitaphorenwaren nicht so gut sichtbar, nur durch dasleichte Pulsieren einigermaßen zu erahnen.Ungefähr die Hälfte ihrer Fäden war un-ablässig damit beschäftigt, die teilweise indichten Trauben schwebenden Ceniten(ähnlich wie Mückenschwärme) einzufan-gen und zu der unsichtbaren Mundöffnungvorn am Rumpf, unterhalb der Organe, zubefördern. Die beiden Armitaphoren, diedem Herdenführer am nächsten waren, hat-ten bereits eine Länge von fünfzig Metern;an mehreren Tentakeln hatten sich Knöll-

chen gebildet, die von anderen, miteinanderverflochtenen Fäden beschützt und gehaltenwurden.

Joara hatte irgendwann den Rumpf desHerdenführers erreicht und schwebte einigeZeit neben ihm her. Ihr war schon ein wenigmulmig dabei, an einem achtzig Meter lan-gen Giganten vorbeizufliegen; sie war zwarum ein Zigfaches größer als die Sporenfädender Ceniten, aber dennoch nur eine Fliegeim Vergleich zu ihm – weshalb sollte er sienicht als willkommene Nahrung ansehen?Sie warf einen schnellen Blick zur Seite; et-wa zweihundert Meter entfernt schwebtenBull, Fallar und Ribera. Sie waren vielleichtvernünftiger als sie, aber Joara vertraute ih-rem Gefühl. Sie wußte, daß ihr keine Gefahrdrohte.

Komm zu uns, meldete sich Ribera. Dubist viel zu nah. Geh wenigstens bis auf 120Meter Abstand, damit du den Armen, wennnotwendig, ausweichen kannst.

Laß mich nur machen, gab sie zurück.Wenn ich Kontakt aufnehmen will, muß ichso nah sein. Sie werden mir bestimmt nichtstun.

Was macht dich so sicher?Ich weiß es nicht. Ich fühle mich wohl in

ihrer Nähe. Sie sind so … ruhig, so wunder-schön. Ihr solltet sie auch so nah sehen kön-nen, von hier aus schimmern sie perlmutt-farben, und ihre Fäden bewegen sich wie ineinem Tanz, Ich glaube nicht, daß sie mir et-was tun werden.

Mit Absicht vielleicht nicht, aber du bistfür sie doch nichts weiter als ein überdimen-sionaler Cenit.

Bisher hat mich aber keiner angegriffen,es ist noch nicht einmal ein Fangarm in mei-ne Nähe gekommen. Ich glaube, sie könnenganz genau unterscheiden, was Nahrung istund was nicht.

Du denkst, sie sind intelligent?Sie zögerte ein wenig. Ja, antwortete sie

dann. Nicht auf die Art intelligent, wie wirdas verstehen, aber ich bin mir sicher, daßsie ein Bewußtsein haben. Bitte laßt michweitermachen. Ich habe noch niemals so

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schöne, faszinierende Geschöpfe gesehen.Sie wandte den Kopf wieder der Armitapho-re zu und verschloß ihre Gedanken vor denanderen.

Es ist schon in Ordnung, übermittelte Bullan Ribera und Fallar. Joara ist nicht in Ge-fahr, und es gibt eine ganz einfache Mög-lichkeit, sie zu befreien, wenn sie eingefan-gen würde.

Natürlich. Ribera schlug sich geistig andie Stirn. Die Transmitterfunktion. Sie kannsie auslösen, und wenn sie dazu nicht mehrin der Lage sein sollte, können wir sie her-ausholen.

Wahrscheinlich hat der Anzug ohnehingenug Selbstschutzvorrichtungen, die wirnicht kennen, meinte Fallar. Spieler dürfenkeiner ernsten Gefahr ausgesetzt werden,bei der sie ihr Leben verlieren könnten. DeinMißtrauen ist hier wirklich fehl am Platz,Bully. Dies ist ein perfektes, friedliches Sy-stem. Ich habe mich noch nirgends so wohlund geborgen gefühlt, und ich brenne dar-auf, meine geistigen und emotionalen Fähig-keiten unter Beweis zu stellen; ich will wis-sen, inwieweit ich mich richtig eingeschätzthabe – oder überschätzt.

*

Joara wagte inzwischen einen ersten vor-sichtigen Vorstoß; sie suchte nach den Ge-fühlswellen der Armitaphore und sandtegleichzeitig positive Emotionen aus, um ihreFriedfertigkeit zu zeigen. Sie wartete, emp-fing aber nichts; sie versuchte es immer wie-der, doch es kam keine Antwort.

Schließlich näherte sie sich dem Gigantenbis auf vierzig Meter, ihr Herz pochte für einpaar Sekunden heftig, bis der Callon regulie-rend eingriff. Sie war jetzt so nah, daß sieglaubte, eine unüberwindliche, endloseMauer vor sich zu haben, und beschleunigteihren Flug bis zum Rumpfende. Dannstreckte sie einen Arm aus und sandte erneutfreundschaftliche Gefühle.

Ihr Herz blieb fast stehen, als sich ihrplötzlich ein Fangarm näherte, und schlug

dann so wild, daß für einen Moment nichteinmal der Anzug eingreifen konnte.

Der Fangarm war weit gefiedert und ver-ästelt, die Enden der kräftigeren Ästchenwaren etwas verdickt und dienten anschei-nend als sensible Tastorgane. Joara hielt sichganz still, den Arm ausgestreckt, währendder Tentakel langsam näher kam und sieschließlich mit mehreren Tastorganen be-rührte. Ein Zittern durchlief sie, als plötzlichder erhoffte Kontakt zustande kam; der An-zug übermittelte Wärme und ein leichtesKribbeln, als die »Finger« behutsam über ih-re Hand, dann über ihren Arm strichen.

In ihrem Geist entstand allmählich einBild; sie sah Kulur unter sich, aber in einemganz anderen Farbenspektrum. Der Planetwirkte plötzlich warm und hell, die Kristall-wälder und – burgen leuchteten und funkel-ten wie Edelsteine, selbst die Vulkane glüh-ten in einem Rotbraun, das wellenmäßig hel-ler und dunkler wurde, als ob sie atmeten.Die Ceniten zogen wie tanzende Sternedurch die Luft. Joara spürte in einem leich-ten, stimulierenden Vibrieren den im Infra-schallbereich liegenden, tiefen Gesang derArmitaphoren. Es waren Lieder voller Frie-den und Freude, die von der harmonischenEintracht mit der Natur erzählten, von derEntstehung vulkanischer Landschaften, vonneuem Leben.

Das gigantische Wesen erzählte der Ter-ranerin in Bildern von seinem Leben, vonseinem langen Wachstum, den vielen Um-kreisungen des Planeten, von seinen eigenenNachkommen, bis es zum Anführer dieserSchule wurde. Es hatte die Aufgabe, dieHerde sicher über die Vulkane zu leiten,große Cenitenballungen zu finden, die Nach-kommen zu schützen. Dabei spielten seineTentakel eine wichtige Rolle, sie »witterten«die beginnende Aktivität eines Vulkans, derdann zu umgehen war, spürten die Nahrungauf, hielten Kontakt mit jedem Mitglied derHerde, damit keines zurückblieb oder sichallein gelassen fühlte. Diese Aufgabe würdees bis zu seinem Tod erfüllen.

Joara flog lange mit der Armitaphore, sie

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bemerkte anfangs nicht, daß ihre Freunde in-zwischen an ihre Seite gekommen warenund ebenfalls Kontakt aufgenommen hatten;doch schließlich spürte sie vertraute Gedan-kenmuster und teilte die Bilder mit ihnen.

*

Aus dieser Idylle wurden sie abrupt geris-sen, als sie den dringlichen Ruf einer ande-ren Vierergruppe erhielten: Der erste An-griff eines gegnerischen Teams war erfolgt.

Sie lösten umgehend die Verbindung undsanken auf die Erde hinab. »Das ging viel zuschnell«, klagte Joara über Funk. »Ich binnoch ganz versunken …«

»Ich habe nie etwas Schöneres erlebt«,schwärmte Ribera. »Diese Armitaphorensind vollkommen.«

»Ihr solltet euch ein Beispiel an ihnennehmen«, meinte Bull.

Die anderen sahen ihn erstaunt an. »Wiemeinst du das?« fragte Fallar.

»Wie ich es sagte«, antwortete er undwandte sich ab, einen letzten Blick auf dieArmitaphoren werfend, die hoch über ihnendahinschwebten; schimmernde silbrige Wol-ken vor einem pechschwarzen Himmel.

7.

»Lassen wir die philosophischen Diskus-sionen, die nichts bringen«, sagte JoaraClayton schließlich, als Bull keine weitereErklärung mehr gab. »Suchen wir die ande-ren und kehren ins Spiel zurück.«

Sie nahm Gedankenkontakt mit der Grup-pe auf, die sie gerufen hatte, um zu erfahren,wie sie handeln sollten.

Kommt hierher, kam die Antwort. Wir ha-ben die anderen auch schon gerufen.

Ist es gefährlich?Keine Sorge. Es ist eine körperliche Aus-

einandersetzung, aber sehr interessanterArt. Bitte kommt sofort, uns geht schon diePuste aus.

Die Gruppe transmittierte umgehend zuden Freunden; gleichzeitig mit ihr trafen die

letzten Mitglieder der KAHALO-Mann-schaft ein.

Sie standen auf dem weiten, glatten Feldeiner Wüste. Auf weite Sicht gab es nichtsals Leere, erst am Horizont waren eine Vul-kangruppe und ein Kristallwald erkennbar.Dem KAHALO-Team gegenüber standenetwa zwanzig Wesen mit zwei Beinen undvier Armen mit scherenähnlichen Händen,einem dünnen Schwanz mit einer Rassel amEnde, die seltsamerweise außerhalb des Cal-lons lag; sie hatten lange Hälse, auf denenkleine, birnenförmige Köpfe mit einer ArtHundeschnauze saßen. Die Beine besaßengroße Füße und sehr kräftige Sprunggelen-ke, die ihnen zu den tollsten Sätzen verhal-fen.

Die Auseinandersetzung lag darin, sichgegenseitig mit immer tollkühneren undkunstreicheren Sprüngen zu übertreffen, da-bei mußten sich auch Kopf, Arme und Hän-de anmutig bewegen.

»Das ist nicht so einfach, wie's aussieht«,keuchte einer des Viererteams. »Diese Bur-schen haben uns eine Menge voraus, keinWunder bei dieser Anatomie. Außerdem set-zen sie ihre Schwanzrassel sehr geschickt alsTaktmittel ein, manche fangen auch schonan, damit die tollsten Verrenkungen aufzu-führen.«

»Außerdem bin ich weder musikalischnoch athletisch«, brummte der Mann nebenihm. »Ich lasse lieber andere springen, wennihr versteht, was ich meine.«

»Er meint, er kommandiert sie herum«,fügte der erste Sprecher bissig hinzu. Erstieß ihn in die Seite. »Wir sind wiederdran.«

Bull, Joara, Fallar und Ribera schautendem seltsamen Treiben zunächst zu; die Ter-raner mühten sich redlich ab, ihr Bestes zuzeigen, aber es war schon ersichtlich, daß siespätestens nach der nächsten Runde aufge-ben mußten. Das andere Team war noch lan-ge nicht am Ende seiner Kapriolen, und seinTriumphgefühl spürten die Terraner deut-lich.

Was haltet ihr von einer Pause? signali-

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sierte ein Terraner, der schon recht schweratmete und aus allen Poren schwitzte, ob-wohl sein Anzug auf Hochtouren arbeitete.

Das könnte euch so passen, hohnlachtendie Gegner. Ihr traurigen Figuren, gebt lie-ber auf, bevor ihr euch noch mehr blamiert.Mit diesen Sprüngen bringt ihr alle nur zumLachen, aber Punkte bringt das keine ein.

Joara schüttelte den Kopf. »So geht dasnie«, murmelte sie. »Liebe Leute, die ande-ren haben ganz recht; was ihr da macht, istgroßer Mist.« Sie sandte zugleich die Ge-danken, die sie aussprach, an ihre Mann-schaft, und die meisten drehte sich verdutztzu ihr um.

Was denkst du denn, was wir machen sol-len?

Sie zwinkerte, obwohl es niemand sehenkonnte, hob die Arme und schnippte in dieFinger. »Sirtaki!«

Herrje! dachte Bull.Ayay! dachten Ribera und Fallar gleich-

zeitig und sprangen an Joaras Seite, die be-reits die Hüften gekonnt zu einer imaginärenMusik bewegte und mit den Füßen auf-stampfte. Sie legten sich die Arme um dieSchultern, die Männer paßten sich demRhythmus der Kommandantin an, und siebewegten sich langsam seitwärts. Mehr undmehr aus dem Team sprangen dazu, legtendie Arme um die Schultern, tanzten imGleichschritt; die Kette wurde zusehendslänger, die Füße glitten elegant über den Bo-den, ohne auszurutschen. Die jeweils letztender Kette schnippten mit den Fingern, dieanderen sangen im Chor, und Bull stand da-neben und dachte, jetzt seien tatsächlich alleübergeschnappt. Das schienen auch die Geg-ner zu denken; sie standen völlig verblüfftund schauten sprach- und gedankenlos derseltsamen Vorstellung zu.

Joara pfiff laut, Ribera und Fallar schrien»Ayay!«, und die Terraner erhoben sich indie Luft, immer noch weitertanzend; ab-wechselnd vollführten sie Überschläge,machten große Sätze über die Köpfe der an-deren, drehten sich in Pirouetten und beweg-ten schnippend die Arme, während sie lang-

sam wieder in die Kette zurücksanken. Sosank die Sirtaki-Kette mal höher, mal tiefer,und keiner kam aus dem Takt. Schließlichkonnte sich der erste des gegnerischenTeams nicht mehr zurückhalten; er machteeinen gewaltigen Satz und flog auf die Kettezu.

Ayay! fragte er vorsichtig.Ayay, antworteten die einen, die anderen

lachten laut und öffneten die Kette; derfremde Spieler reihte sich ein, rief »Ayay!«und pfiff gleichzeitig. Er paßte sich raschdem Rhythmus an, und sein Schwanz rassel-te im Takt dazu. Sein Vergnügen riß die an-deren mit, einer nach dem anderen folgteihm, zurück auf der Erde blieben nur dergegnerische Teamführer – und Bull.

Der gegnerische Teamführer schaltetesich schließlich mit einem machtvollen Ge-danken ein: In Ordnung. Ihr habt gewonnen.Wir geben auf.

Sein Team nahm den Ruf auf, wenn auchmit gewissem Bedauern, sandte einen kurz-en Abschiedsgruß – und verschwand. DasKAHALO-Team sank langsam zu Boden,die Kette löste sich zögernd auf, undschließlich standen alle da und redeten wilddurcheinander.

Kurz darauf bildete sich ein Transmitter-Hologramm vor ihnen, in dem Malassir er-schien; die Terraner verstummten und wand-ten sich dem Spielleiter zu.

»Ich gratuliere euch«, zirpte Malassir.»Ihr habt nun euren zweiten Sieg errungenund euren Punktestand erhöht. Aber ihr wer-det keine Bonuspunkte erhalten, obwohl esein umfassender Sieg war, und ich kanneuch auch nicht die volle Punktezahl gewäh-ren.«

»Warum nicht?« fragte Joara.Der Spielleiter deutete auf Bull. »Weil ihr

nicht alle gespielt habt. Ihr wißt genau, daßdie Regel der Teilnahme eines jeden Team-mitglieds erfordert. Wenn sich einer aus-schließt, bedeutet das Punkteabzug für dasTeam. Ich wiederhole es noch einmal: Ihrkönnt nicht einzeln Punkte sammeln, son-dern nur als Gemeinschaft. Das erfordert

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Aktion von jedem, ganz im Sinne der Ge-meinschaft. In meiner Eigenschaft als Spiel-leiter muß ich euch daher eine Verwarnunggeben. Und nun – viel Glück bei euremnächsten Spiel. Seht aber zu, daß ihr eureUnstimmigkeiten beseitigt, wenn ihr weiter-kommen wollt.«

Das Hologramm verschwand. Die Terra-ner sahen Bull an, der gelassen die funkeln-den Blicke erwiderte.

»Mir war nicht nach einem Tanz«, sagteer ruhig.

»Dir war nicht danach?« fragte Fallarlaut. »Ist das alles, was du dazu zu sagenhast?«

Bull nickte.Joara sprach langsam, um ihren Zorn

nicht zu zeigen. »Auf der BASIS war diraber ganz und gar danach, auch was diesenTanz betraf. Wenn ich mich recht erinnere,hast du ihn uns allen beigebracht.«

»Das war etwas anderes«, sagte er leise.»Was ist denn nur mit dir los?« fragte Ri-

bera. Selbst in seinen sanften dunklen Au-gen blitzte der Zorn.

Alle waren zornig auf ihn. Gemeinschaft-lich zornig.

Er schüttelte den Kopf und wandte sichab. Er war müde und traurig. Wütende Ge-danken prasselten auf ihn ein, aber er errich-tete eine Mauer, die nichts hindurchließ, vonkeiner Seite.

Er sah auf, als er Joaras Nähe spürte; selt-sam, wie vertraut sie ihm bereits war. Kei-nen Gefühlskonflikt, dachte er verborgen.Ich darf mich nicht beeinflussen lassen. Un-sere Zeit läuft ab. Er stutzte einen Moment,dann lächelte er kurz in sich hinein. Ja, un-sere Zeit, wiederholte er. Endlich kann ichwieder richtig denken.

»Reginald«, begann Joara ganz leise. Siehatte ihre Stimme wieder voll in der Gewalt,und sie wußte genau, wie sie ihn ansprechenmußte. Sie war eine ausgezeichnete Psycho-login, und sie kannte ihn gut. »Wir wollenweiterkommen, und dazu brauchen wir je-den Punkt. Mach es uns doch nicht soschwer.«

Er erwiderte ihren Blick. »Weißt du, wasich an dir von Anfang an am meisten schätz-te?«

Sie schüttelte den Kopf.»Du nanntest mich vom ersten Moment

an Reginald.« Er lächelte und hob die Hand,als wollte er über ihr Gesicht streichen, erin-nerte sich an den Helm und wandelte dieGeste in ein aufforderndes Winken um.»Komm, laß uns weitermachen.« Er wandtesich an das Team: »Die nächste Arena wer-den wir uns aussuchen, bevor uns noch ir-gendein unerwarteter Angriff alle Punktekostet.«

»Hast du eine bestimmte Vorstellung?«fragte Enzio Ribera. »Ich meine, bezüglichder Arena. Und was machen wir dann? Stel-len wir uns hin und warten auf irgendeinenTölpel, der in unsere Falle tappt?«

»Was würdest du dir zum Beispiel für ei-ne Arena vorstellen?« stellte Bull die Ge-genfrage.

»Na ja, eine von diesen Kristallburgen,mit einem Kristallwald darum herum«, ant-wortete Ribera spontan. »Bei einem Rund-flug habe ich ein sehr hübsches Tal entdeckt,mit diesem Ambiente, es gefiel mir gut, undich wollte mich gern dort umsehen, als lei-der der Tanz hier begann.«

»Führ uns dorthin«, schlug Bull vor.Was hat er im Sinn? dachte Joara.Unter Riberas Führung transmittierte das

Team in ein noch sehr junges Tal, dessenEntstehung auf einen nicht lange zurücklie-genden Vulkanausbruch zurückführte undnoch nicht abgeschlossen war. UnzähligeStaub- und Kristallteile schwebten durch dieLuft und fügten sich zu zufälligen Formenzusammen; ein aus »Büschen« und»Bäumen« bestehender Wald war schon fastfertig, während die »Burg« erst zur Hälftestand, einige Zinnen und Wehrgänge warennoch im Aufbau.

»An was für eine Aufgabe hast du ge-dacht?« erkundigte sich Joara.

Bull deutete auf die singenden und klin-genden Quarze, die sich beim Vorüberglei-ten aneinanderrieben oder sich beim Auf-

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prall ineinander verhakten. »Musik«, sagteer.

8.

»Du willst es also wirklich wagen?« frag-te Joara. »Wir sollen angreifen?«

»Ja, wir müssen aktiv werden. Wir arbei-ten mittlerweile so gut zusammen, daß wirdieses Risiko eingehen können. Wenn wirweiterkommen wollen, dürfen wir uns nichtauf die faule Haut legen.«

»Und wie stellst du dir einen Angriff vor?Ich sehe hier keinen Gegner, und ich weißnicht, wie wir den richtigen finden sollen.«

»Wir haben das Netz, Joara. Wir werdenunsere Herausforderung über das Netz ver-breiten, und du wirst sehen, daß sich raschein Gegner finden wird.«

»Hoffentlich nicht gleich drei oder vier«,murmelte Ribera.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Bull.»Die Regeln sehen nur den Kampf Team ge-gen Team vor.«

»Außer es handelt sich um ein verstärktesTeam.«

»Sicherlich. Aber wenn ihr jetzt einenRückzieher macht, scheint ihr doch nichtganz so sicher zu sein, es schaffen zu kön-nen. Ein Spiel kann nur von aktiven Spielernbestritten werden, keinesfalls von passiven.«

»Willst du damit etwas sagen?« fragteJoara lauernd.

Bull nickte. »Ganz genau. Entweder ihrmacht jetzt weiter, oder wir kehren zur KA-HALO zurück. Entscheidet euch jetzt.«

»Selbstverständlich machen wir weiter«,sagte Fallar. »Gib uns noch eine kurze Pau-se, dann schicken wir unsere Herausforde-rung los.«

»Keine Pause, kein Auftanken«, wider-sprach Bull. »Ihr bleibt alle hier. Ihr habt ge-nug Ruhezeit, während ihr auf den Gegnerwartet. Macht es euch nur nicht zu leicht.«

Ribera seufzte. »Wie du befiehlst, Dikta-tor. Los, Leute, sammelt euch.«

Das Team begann sich zu konzentrieren,gab seinen Standort bekannt und die Heraus-

forderung an ein Team, das sich im Bereichder Musik mit ihm messen wollte.

Die Herausforderung wurde schnell ange-nommen; ein Team aus 16 Insektoiden ma-terialisierte bei ihnen. Es waren grillenähnli-che Geschöpfe, die sich aufwendig verbeug-ten.

Wir haben schon von euch gehört, über-mittelte der Teamführer. Errus' Niederlagehat sich herumgesprochen, und man berich-tet von ungewöhnlichen Methoden. Mit unswerdet ihr es jedoch nicht so leicht haben.

Das wird sich zeigen, gab Bull zurück.Der Teamführer gab etwas von sich, was

ein Lachen bedeuten konnte.Reginald, wenn das tatsächlich Grillen

sind, sitzen wir in der Patsche, meldete sichNorman Fallar, seine Haare sträubten sichbereits wieder.

Unsinn, erwiderte Bull. Er schottete dieGedanken seines Teams von den anderen ab;die anderen taten dasselbe, um ihre Strategiedurchzusprechen. Sie werden versuchen, ei-ne wundervolle, unübertreffliche Musik zuerschaffen. Wir werden jedoch das Lied derKristalle aufnehmen und weiterentwickeln.Wir wollen die Musik lebendig machen, ver-steht ihr? Jeder von euch gibt sein Teil dazu,meinetwegen mit seinem erdachten Lieb-lingsinstrument. Versucht, euren eigenenKristallwald mit dem Lied aufzubauen.Bringt die ganze Welt zum Klingen, benutztjedes Material, das ihr finden könnt.

Aber das tun wir doch nicht wirklich,oder? Das findet nur in der Vorstellungstatt, nicht wahr? kam eine vorsichtige Fra-ge.

Eine Welt zwischen Schein und Wirklich-keit. Denkt an unsere erste Auseinanderset-zung: Genauso will ich es haben. Versetztdie anderen in eine Scheinwelt, die ihre Mu-sik zum Verstummen bringt.

Joara nickte. Ja, so kann es klappen. Werfängt an?

Bull gab die Frage an das gegnerischeTeam weiter: Wollt ihr beginnen?

Wir werden gleichzeitig beginnen, ant-wortete der Teamführer. Wir werden euch

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von diesem Platz wegfegen.Seid nur nicht so selbstsicher.Die Insektoiden begannen augenblicklich

zu musizieren; die Musik klang zum Teilsehr fremd, zum Teil aber auch vertraut. DasTeam war sehr gut eingespielt, sie spieltenin absolutem Gleichklang, kein Ton ging da-neben. Es war ein symphonisches Orchestervon gewaltiger Ausdruckskraft, und die Ter-raner waren tatsächlich einen Moment ver-unsichert. Bull und Joara verloren jedochkeine Zeit und begannen gemeinsam an demharmonischen Aufbau eines Kristallbaums;die Bilder, die sie projizierten, waren so klarund wirklichkeitsgetreu, daß es ihnen ge-lang, die Realitäten zu verschieben.

Die übrige Mannschaft schloß sich nachund nach an, benutzte die vorhandenen Töneder Quarze, verfremdete und erweiterte sieund setzte sie bildlich um. Auf diese Art undWeise bauten sie nach und nach eine ganzeStadt auf; Joara hatte zunächst weitere Bäu-me geplant, während Bull neben ihr skurrileHauser errichtete. Seine Gedanken wurdenvon den anderen begeistert aufgenommen,dadurch wurde es auch leichter, den Gegnerzu verwirren. Ein fröhlicher Städtebau be-gann, der keine Gesetze der Schwerkraftoder der Symmetrie kannte. Jeder baute, wiees ihm gerade einfiel, und der nächste setztenoch ein Stockwerk oder einen Balkondrauf. Nach und nach stimmte die ursprüng-lich dissonante Melodie sich auf ein partitur-artiges Stück ein, wobei die Stimmen sichaus gedanklicher Vorstellung, Erinnerungenund dem Gesang der Quarze zusammensetz-ten. Die Gedankenbilder waren klar und ver-ständlich, und Bull und Joara übernahmenwieder die Aufgabe, sie zum Gegner zu pro-jizieren, wobei sie jeweils die Plus- und Mi-nusträger berücksichtigten.

Die Insektoiden wurden von diesemmerkwürdigen, naiven Musikverständnisverwirrt; ihre Symphonie kannte nur voll-kommene Noten, die sie durch phantastischeFarben und geometrische Formen ausdrück-ten. Ihre Bilder waren unvorstellbar schönund leuchtend, und Joara kam tatsächlich

mehrmals der Versuchung nahe, sich ihnenhinzugeben. Bull jedoch, der weiterhin annichts anderes dachte, als die Mannschaft soschnell wie möglich heil zur BASIS zurück-zubringen, rüttelte sie immer wieder auf.

Das zähe Ringen ging eine lange Zeit hinund her, ohne daß einer der Kontrahentenins Wanken kam oder aufgeben wollte; soentschloß sich Bull schließlich zum Han-deln. Das Team mußte irgendwann verlie-ren, aber das sollte auf subtile Weise gesche-hen, damit es von selbst zur Vernunft kam.Er ließ sehr menschliche Bilder entstehen,die ihre Wirkung nicht verfehlen konnten:ein Sonnenuntergang am leise rauschendenMeer, mit pfeifenden Möwen und singendenFischern; ein sonnenbeschienener Frühlings-wald, in dem Singvögel laut rufend umher-schwirrten, Spechte ans Holz klopften undder Kuckuck rief. Er zeigte Enzio Ribera dasBild eines Raumschiffs, das er selbst alsKommandant und Eigner führte und mitdem er wie ein Globetrotter durchs halbeUniversum schipperte; Norman Fallar setzteer an einen gigantischen Computer mit min-destens hundert Bildschirmen, der nur ihmallein diente und die unglaublichsten, vonihm selbst geschriebenen Programme ablau-fen ließ. Joara Clayton verführte er mit denGedanken, eine Familie zu gründen, ohneden beruflichen Erfolg aufgeben zu müssen,ein Leben voller Wärme und Behaglichkeit.Und so machte er immer weiter, mit einervöllig eigenen, klassischen Melodie, die ertief aus dem Gedächtnis kramte und einfachimprovisierte.

Der Städtebau geriet völlig durcheinan-der, die Gedanken des KAHALO-Teamswurden wirr und chaotisch. Irgendwie be-hielten sie trotzdem die Grundmelodie beiund sangen sie in einem vielstimmigen,leicht atonalen Kanon.

AUFHÖREN! schrie eine Gedankenstim-me so schrill und verzweifelt, daß die Terra-ner abrupt verstummten, bis auf zwei oderdrei Nachzügler. Die Scheinwelt brach insich zusammen wie ein Glas, das durcheinen hohen Ton in tausend Scherben zer-

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sprang. Die letzten singenden Kristalle san-ken rieselnd zu Boden, und die beidenTeams standen sich wieder auf dem realenBoden des Planeten gegenüber.

Es reicht! schrie der Teamführer weiter.Noch niemals ist mir etwas Derartiges be-gegnet! Was ihr da tut, mag den Regeln ent-sprechen, aber das ist uns zuviel! Wir wei-gern uns, diese Auseinandersetzung fortzu-setzen, selbst wenn wir letztlich gewinnenwürden!

Ihr gebt also auf? fragte Fallarfrohlockend.

Das gegnerische Team gab keine Antwortmehr, sondern transmittierte fort.

Das KAHALO-Team stand einen Augen-blick verdutzt, dann brach der Jubel überden erneuten Sieg aus. Die erschöpften Spie-ler transmittierten weg und gönnten sich ei-ne verdiente Pause in der Unterstadt.

Nur Joara und Bull blieben zurück; siemusterte ihn eindringlich, und er wich ihremBlick nicht aus.

»Dieser Sieg geht wohl auf dein Konto,wie ich das sehe«, sagte sie; es klang nichtbesonders freundlich.

»Sieht so aus«, erwiderte er. Bedauerli-cherweise. Aber diesen Gedanken behielt erfür sich.

»Was sollte dieser Blödsinn?« fuhr sie ihnah. »War das ein Angriff auf uns, oder wassollte dieser Alleingang bedeuten?«

»Nun, jedenfalls brachte er uns den Siegein, oder nicht?« entgegnete er kalt. »Daswar's doch, was du wolltest.«

»Woher willst du wissen, was ich will?«schrie sie. »Woher willst du überhaupt wis-sen, was wir alle wollen? Du interessierstdich sowieso nur für dich!«

»Zum Glück«, sagte er ruhig. »ZumGlück kann ich das noch. Du und die ande-ren, ihr scheint das vergessen zu haben.«

»Der Ansicht bin ich ganz und gar nicht«,stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »ImGegenteil, ich finde sogar, daß wir ein aus-gezeichnetes Team sind. Noch vor kurzerZeit ging jeder von uns seiner Wege, wir ar-beiteten zusammen, waren auch miteinander

befreundet, aber in Gedanken lebten wir nurin unserer Welt. In diesem Netz hier wurdenuns die Augen geöffnet, und wir haben er-kannt, daß wir viele Gemeinsamkeiten ha-ben, ja daß wir wie ein Mensch, ein Gedan-ke handeln können! Wir haben nun dreiKämpfe ausgefochten, die sich voneinanderunterschieden, und von Anfang an fandenwir stets den Weg, gemeinsam zu handeln,miteinander zu verschmelzen und unsereGedankenkraft unglaublich zu erhöhen. Ichfinde das ganz wunderbar, und ich werdeweitermachen, bis ich das Ziel erreiche.«

Sie trat einen Schritt zurück und atmetetief durch. Dann sagte sie ruhig: »Ein für al-lemal, Reginald: Bist du für oder gegenuns?«

»Ich war nie gegen euch, Joara. Selbstver-ständlich bin ich für euch, mehr denn je. Ichverstehe deine Zweifel an mir nicht.«

Sie nickte. »Nun gut. Laß uns zu den an-deren springen.« Plötzlich hob sie die Hand.»Zuvor noch eins, Reginald: Hör auf, dichgegen uns abzuschotten! Wir sind ein Team,und jeder, der dazugehört, hält seine Gedan-ken weitgehendst offen! Du verschließt so-gar deine Gefühle vor uns!«

»Ich bin eben ein eigensinniger alterNarr.« Er lächelte breit. »Es tut mir leid. Ichverspreche dir, ich werde mich bessern.«

Sie hielt ihm daraufhin die Hand hin.»Die anderen warten.«

*

In der Erholungspause erschien Malassirin dem Hologramm vor ihnen.

»Ich habe die Beschwerde eines Teamserhalten, aus diesem Grund bin ich hier«,begann er. Sein Zirpen klang scharf undhektisch. »Ich bin der Beschwerde nachge-gangen und habe mir eure Auseinanderset-zung in der Aufzeichnung angesehen. Ichwar geneigt, ein Patt zu verkünden und eineWiederholung zu fordern, aber das andereTeam weigerte sich, noch einmal gegeneuch anzutreten. Daher bleibt mir nichts an-deres übrig, als euch den Sieg zuzusprechen,

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aber ich werde euch auch jetzt Punkte abzie-hen.«

Einige Proteste wurden laut, aber Malassirließ sich nicht beeindrucken. Er deutete aufBull. »Du hast erneut einen Alleingang un-ternommen, Spieler.«

»Ich habe am Spiel teilgenommen«, wi-dersprach er.

»Ja, aber entgegen der Strategie deinesTeams. Ich bin nicht gerade schlau aus demgeworden, was ihr da veranstaltet habt, abersoweit ich es beurteilen kann, hast du deineGedanken sogar gegen deine Leute gerichtetund sie von ihrer Linie abgelenkt. Ich mußdich erneut verwarnen, und ich entziehe dirhiermit die Führung des Teams. Dein Mi-nus-Partner trägt jetzt die alleinige Verant-wortung für das Team, und ich würde ihmraten, sich einen anderen Plusträger zu su-chen. Du kannst deinen Status behalten,denn dein Verhalten hat letztlich den Siegfür das Team herbeigeführt, wenn auch mitMitteln, die wir nicht schätzen.« Malassirrichtete einen Greifarm drohend auf Bull.»Aber ich rate dir, keinen weiteren Fehlermehr zu machen, sonst werde ich ernsthafteStrafen erwägen. Dein Team spielt ausge-zeichnet, und ich bin der Ansicht, daß es dasZiel erreichen kann. Es ist ausdauernd undbeharrlich, und die Zusammenarbeit funktio-niert bestens. Ich habe mir jeden Spieler ge-nau angeschaut, und ich bin sehr zufriedenüber die Motivation und die Lebenseinstel-lung. Ich werde es nicht zulassen, daß eingutes Team nur wegen eines Außenseitersum seine Chance kommt.«

Das Hologramm verschwand, und dieMannschaft unterhielt sich leise; Bull betei-ligte sich nicht daran, sondern starrte sehn-süchtig nach einem Computerstand. Er fühl-te sich schwach und müde, und alles in ihmschrie nach dem Netzanschluß.

Sich erfrischen, auftanken, allem entflie-hen, nur für ein paar Minuten. Dann würdealles leichter sein.

»Na, Freundchen, bist du hungrig?« er-klang die quietschende Stimme eines Siily-ren.

Bull schüttelte verdutzt den Kopf. Ohnees zu merken, war er zum Stand gegangen,vermutlich hatte der Callon ihn hierhergezo-gen. »Nein«, sagte er verwirrt. »Nein, dasbin ich gar nicht.«

»Siehst aber ganz so aus, Freundchen«,kicherte der Siilyre. »Komm her an MamasBrust, gleich wird alles gut.«

Bull hob abwehrend die Hände undsprang zurück. Er durfte jetzt nicht nachge-ben, sonst würde er den Kampf gegen dasNetz doch noch verlieren.

Reginald? Joaras Ruf unterbrach das Ge-spräch, und er antwortete rasch.

Ich komme sofort. Er transmittierte zuJoara, die mit der Mannschaft am Fuß einesBerges stand. Fünf Spieler standen ihnen ge-genüber, deren Aussehen nicht nachvoll-ziehbar war; sie wirkten zugleich hell unddunkel, ihre Formen verschwammen undwechselten ständig.

»Es hat sich herumgesprochen, was wirgetan haben«, sagte Joara und nickte zu denGegnern. »Diese Schemen da wollen uns ei-ne Lehre erteilen. Was ich bisher in Erfah-rung bringen konnte, ist gleichzeitig gut undschlecht für uns. Sie sind schon auf einemsehr hohen Level, darum aber auch sehrmächtig. Sie wollen wohl unser ethischesBewußtsein testen.«

»Dann zeigen wir ihnen mal, was wirkönnen«, knurrte Bull.

9.

Die Schemen erzeugten schwer erfaßbareGedankenbilder aus geometrischen Formenund Farben, teilweise der Musik der Grillenähnlich, aber völlig lautlos. Es war nicht er-sichtlich, ob sie untereinander kommunizier-ten, es waren überhaupt keine einzelnenMerkmale herauszufinden – als ob sie einBewußtsein wären. Joara versuchte sie zu-erst anzugreifen, dann Bull, aber sie mußtenbeide feststellen, daß es keine Plus- und Mi-nuspole mehr in diesem Team gab, daher er-klärte sich auch das Ungleichgewicht derSpielerzahl.

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Was sollen wir tun? fragte Joara ratlos.Sie greifen uns nicht richtig an, sie sindnicht erfaßbar, ich weiß nicht, wie wir ihreGedanken beantworten sollen – oder uns da-mit auseinandersetzen.

Ich glaube nicht, daß wir etwas tun kön-nen, entgegnete Bull. Diese Wesen scheinenbereits im Quidor verschmolzen zu sein.

Aber wieso sind sie dann noch im Spiel?Bedeutet denn nicht die Erreichung des Zielsdie Verschmelzung im Quidor?

Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht ist dieWandlung noch nicht ganz vollzogen, undsie brauchen eine letzte Bewährung.

Ebenso wie wir, eh? meldete sich Ribera.Wir können uns mit den Schemen nicht aufdie bewährte Weise auseinandersetzen.

Aber irgend etwas müssen wir doch tun.Ja, stimmte Joara zu. Und ich weiß auch

schon, was.Sie achtete nicht auf die Fragen der ande-

ren, sondern begann sich zu konzentrierenund ließ das genaue Gedankenbild des Vul-kans entstehen, an dessen Fuß sie standen.Die anderen warteten zögernd ab, währendsie ein leises Vibrieren auf dem Boden aus-löste, das sich zu einem kleinen Erdbebensteigerte. Sie veränderte das Farbenspek-trum, wie sie es bei dem Flug mit den Armi-taphoren erlebt hatte, und ließ den Vulkanaufglühen, heller und heller, er schien sichzusammenzuziehen und zu pulsieren, bis erschließlich in einer gewaltigen Entladungexplodierte. Lava floß in einem breitenStrom aus ihm, die Luft wurde dick von derRauch- und Staubwolke, die der Vulkan aus-stieß.

Fallar begriff Joaras Vorhaben, schickteeinen Impuls an die anderen Teammitgliederund schloß sich ihr an. Aus der Vulkanascheheraus begannen sie eine Welt zu formenund zu entwickeln, gruben dem Lavastromein Bett und wandelten ihn in reines, klaresWasser um, die Kristallquarze wandeltensich zu Blättern und Blüten, Bäume entstan-den, blühende Büsche, der Boden wurdefruchtbar und bedeckte sich mit Gras. Jägerund Gejagte tranken gemeinsam am Wasser,

und dazwischen bewegten sich Menschen inRuhe und Beschaulichkeit.

Es war nicht ersichtlich, ob die Schemendiese Schöpfung verstanden; sie übermittel-ten weiterhin ihre mathematisch-farblichenBilder; immerhin waren die Farben warmund freundlich, die Formen wiesen keine be-drohlichen Spitzen und Stacheln auf.

Joara fuhr fort zu erschaffen, sie begannnun die Ceniten und die Armitaphoren zu in-tegrieren, die alle Wunder einer atmosphäre-reichen, warmen und feuchten Welt entdeck-ten, mit einem blauen Himmel und hellemSonnenlicht. Nach und nach entstandenStädte, aber die Spieler achteten ängstlichdarauf, eine Harmonie zwischen Technikund Natur zu erhalten. Sie wollten in Frie-den leben und jedes andere Leben achten.

Die Schemen begannen schließlich, ihreGedankenbilder in die Welt zu versetzen, inder Luft spiegelten sich nun die seltsamstenErscheinungen.

Das war der Zeitpunkt, zu dem Bull ein-greifen mußte. Es widerstrebte ihm, so zuhandeln, aber ihm blieb keine andere Wahlmehr. Er verursachte ein erneutes Beben, ge-nau in dem Moment, als eine Schule Armita-phoren über den Vulkan zog, und ließ ihnexplodieren. Eine Feuerfontäne schoß in denHimmel hinauf, hüllte die Giganten ein, zer-schmolz und verbrannte sie. Die Armitapho-ren stießen unerträglich hohe Laute desSchmerzes und der Trauer aus, bevor siestarben, und die Welt geriet ins Wanken.Bull verlor keine Sekunde, sondern machteweiter, verwandelte Positives in Grauen, Jä-ger fielen über Gejagte her und zerfleischtensie, die Menschen erschlugen sich gegensei-tig mit Speeren und Schwertern, Häuser bra-chen in Erdbeben und Stürmen zusammen.

Sein eigenes Team war für einen Momentso geschockt und erschüttert, daß ihm keinerEinhalt gebot; wie ein tobsüchtiger Sturmfiel er über die Welt her und zerstörte sie.Die Schemen versuchten sich zurückzuzie-hen, aber grauenvolle, dämonische Schattenentstanden aus der Luft, umkreisten die war-men Lichterscheinungen, zerrissen und zer-

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fetzten sie. Entgegen allen Regeln griff Bulldas gegnerische Team in wilder Zerstö-rungswut an und versuchte es mit aller Kraftzu vernichten.

GENUG!Das Spiel wurde plötzlich vom Netz un-

terbrochen, Bulls Gedanken wurden zurück-geschleudert und die Gedankenwelt ausge-löscht. Das KAHALO-Team fand sich in derRealität am Fuß des Vulkans wieder. DieSchemen waren zusammengebrochen, ihreverschwommenen Gestalten leuchteten nurnoch schwach, in dunklen Farben.

Das Hologramm des Spielleiters erschien.Malassir schrie schrill: »Dieses Spiel wurdevon mir unterbrochen, und es wird nichtfortgesetzt! Durch euer Verhalten wurde eingegnerisches Team beinahe vernichtet! Hier-mit werden euch alle bisher gesammeltenIQ-Punkte entzogen, und ich gebe euch nurnoch eine einzige Chance, den Regeln ge-mäß am Spiel teilzunehmen. Solltet ihr er-neut zuwiderhandeln, werdet ihr ausge-schlossen!«

Er verschwand, ohne eine Rechtfertigungabzuwarten, und mit ihm transmittierten dieSchemen.

Die Terraner standen verstört und unsi-cher da; sie hatten noch nicht ganz begriffen,was mit ihnen vorgegangen war.

Joara faßte sich als erste, sie übermittelteden anderen, sie nicht zu stören, und ging zuBull.

»Ich hatte keine andere Wahl«, beteuertedieser.

»Und ich habe auch keine andere Wahl«,erwiderte sie. »Ich verstoße dich aus demTeam. Du bist ab sofort ein Statusloser, einVerlierer. Und bei dem, was du bisher ange-stellt hast, wirst du kaum wieder ein Teamfinden, das dich aufnehmen will. Damit hastdu doch erreicht, was du wolltest, nichtwahr? Endlich bist du allein!«

»Du begreifst einfach nicht, Joara. Ich ha-be mit allen Mitteln versucht, dir und denanderen klarzumachen, in welcher Gefahrwir schweben. Ich versuchte es zunächst miteinfachen Hinweisen, aber das half alles

nichts.«»Deine Gedanken waren von solcher

Kraft, daß ich kaum glauben kann, daß dirdieser Angriff eben schwerfiel. Du trägst ei-ne Menge Alpträume mit dir herum, Regi-nald Bull, und tief in dir bist du keineswegsso friedfertig, wie du dich immer gibst. Dubist ein archaisches Fossil, das man besser ineinem Museum ausstellen sollte, damit esniemandem schaden oder ihn verletzenkann!« Ihre Stimme zitterte vor Zorn, ihreAugen versprühten Funken.

Er blieb ruhig. »Genau dasselbe stecktauch in dir, Joara. Du bist ein Mensch wieich, mit demselben Hang zur Gewalt. Ag-gression ist ein wichtiges Ausleseverfahrender Evolution, ohne sie hätten wie uns nie soweit entwickelt. Wir stehen noch nicht aufdieser hohen geistigen Ebene, die du dir er-hoffst. Du magst dein hohes Ethikverständ-nis unter Beweis gestellt haben, aber den-noch bleibst du, was du bist: ein Mensch.«

»Aber hier habe ich die Möglichkeit,mich weiterzuentwickeln!« rief sie.»Erkennst du denn nicht die phantastischenMöglichkeiten, die uns hier geboten wer-den? Wir können teleportieren, wir beherr-schen die Telepathie und sogar …«, sie be-wegte den Finger, und ein Steinchenschwebte langsam hoch, »…sogar die Tele-kinese!«

»Aber doch nur, solange wir in diesemNetzwerk sind«, widersprach Bull. »Siehstdu denn nicht die große Gefahr? Nur solan-ge wir den Anzug tragen, haben wir dieseKräfte, die uns deiner Ansicht nach voll-kommen machen! Aber wo bleiben dennwir, das, was wir selbst sind, unser Kern?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sieeigensinnig. »Es ist eine unglaubliche Chan-ce, uns weiterzuentwickeln, auf eine ganzandere Stufe, und es öffnet uns Tür und Torin ganz neue Dimensionen!«

Er verlor für einen Moment die Beherr-schung. »Aber dafür sind wir nicht geschaf-fen, Joara!« schrie er. »Wir sind Individuen!Man kann natürlich in Eintracht miteinanderexistieren, aber dafür darf man sich doch

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nicht selbst aufgeben! Was bleibt am Endevon uns übrig, wenn wir uns in diesem Netz-werk auflösen? Erkennst du denn nicht, daßdies nichts anderes ist als ein gigantischesLebewesen, das sich andere Lebewesen ein-verleibt und dadurch größer und stärkerwird? Wir werden ein Teil von diesem Le-ben, völlig abhängig davon, und sind nichtmehr als ein winziges Rädchen in einem un-geheuren Getriebe. Wir verlieren unsereFreiheit, unsere ganze Existenz!«

»Selbstverständlich muß man einen Preisbezahlen, aber dafür …«

»Joara, hör doch endlich mit diesen Phra-sen auf«, unterbrach er. »Sie versuchen, sicheine Art Superintelligenz heranzuzüchten,für welchen Zweck auch immer!«

»Ich gebe mich doch nicht selbst auf«, wi-dersprach sie hartnäckig.

Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Dasist das wahre Problem: euer Irrglauben, amEnde würdet ihr noch ihr selbst bleiben.«

»Aber weshalb denn nicht? Wir lernen da-zu …«

»Um Himmels willen, Joara, rede ich hiermit einem Kind oder mit einer erwachsenenFrau?«

»Reginald, komm mir nicht auf dieTour!«

»Ich komme auf genau die Tour, die dei-nem Verhalten angemessen ist! Willst dumir nun zuhören, ja oder nein?«

Einen Augenblick standen sie sich zit-ternd vor Zorn gegenüber, als würden siesich jeden Moment gegenseitig an die Kehlegehen.

»Siehst du, was ich meine?« fragte Bullschließlich. »Du bist keinen Deut besser alsich.«

Joara trat einen Schritt zurück, sie öffneteden Mund zu einer heftigen Erwiderung undschwieg dann erschrocken. Auf ihrem Ge-sicht spiegelten sich die unterschiedlichstenEmotionen.

»Joara«, bat er, »willst du mir zuhören?Ich bitte dich, gib mir die Chance, dannkannst du immer noch eine Entscheidungfällen.«

»Natürlich«, sagte sie leise. »Natürlichwill ich dir zuhören.«

»Ich meine damit, bewußt zuhören. Ichhabe nicht die Absicht, mich zu rechtferti-gen. Ich will dir nur sagen, was ich heraus-gefunden habe und in welch großer Gefahrwir uns befinden.« Er machte eine kurzePause, und als sie nichts erwiderte, führ erfort: »Dieses Spiel verfolgt einen ganz be-stimmten Zweck. Das Orakel sprach davon,daß die richtige Aufgabe erst beginnen wür-de, wenn man das Ziel erreicht hat und Plus-und Minusträger zum Quidor verschmolzensind. Aber was geschieht denn mit uns,wenn wir verschmelzen? Wir lösen uns auf,verstehst du? Wie diese Schemen, gegen diedu vorhin angetreten bist. Es gibt kein Plusund Minus mehr, kein Gut und Böse, Weißoder Schwarz. Es entsteht eine völlig neuegeistige Form, die vielleicht noch eine Erin-nerung in sich trägt, wer oder was sie einstwar, aber mehr nicht! Du bist nicht mehrJoara, ich bin nicht mehr Bull. Du kannstkeine Liebe, keine Leidenschaft und keinenZorn mehr empfinden. Wir können uns nichtmehr miteinander streiten oder füreinanderSympathie empfinden, weil wir nun ein We-sen sind! Und damit hört es nicht auf. Erin-nere dich an Errus' Worte: Keiner von unskann das Ziel wirklich erreichen, solange ernicht auch mit den anderen Teams ver-schmilzt. Erst der Zusammenschluß allerTeams kann den erwünschten Erfolg brin-gen! Denn der Quidor hört nicht bei dir odermir auf, sondern erst bei der Vereinigung al-ler Wesen, die an diesem Spiel teilnehmen.Du hast gesehen, was mit den Siegern pas-siert, im Orakel von Demus.«

Der Zorn war langsam aus ihren Augengewichen, während sie ihm zuhörte, und siewurde blaß. »Ich dachte, das wären die Er-bauer …«, flüsterte sie.

»Es sind möglicherweise die Erbauer, vorallem aber all jene, die die Bewährungspro-be bestanden. Aber auch die Verlierer blei-ben im Netz, denn sie müssen die Spieler beider Stange halten.

Deshalb weiß auch niemand genau, was

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am Ende mit Spielern oder Verlierern pas-siert. Keiner darf dieses System jemals wie-der verlassen, er dient auf die eine oder an-dere Weise dem Quidor. Das Orakel verein-nahmt alle Wesen in sich wie ein Molochund züchtet so aus ihnen und sich selbst einkollektives Wesen, eine Art Superintelli-genz, die einst einen bestimmten Zweck er-füllen soll.« Bull holte tief Luft.

»Was wirklich dahintersteckt, wissen wirjetzt nicht, genausowenig, was der wahreAuslöser für dieses Spiel und den Quidor-Gedanken war. Und wir werden es auch nieerfahren, denn sollte es dazu kommen, wis-sen wir nicht mehr, wer wir einst waren. DasOrakel kann es sich nicht leisten, jedem Ein-zelwesen seine Erinnerungen, sein Bewußt-sein oder sogar seinen Körper zu lassen, dar-aus würde nie ein einheitliches Ganzes, dasnur immer einen Gedanken produziert undimmer nur eine Handlung ausführt. Stell dirvor, jedes Haar, jeder Muskel deines Kör-pers hätte ein eigenes Bewußtsein. Sie wol-len zwar mit dir zusammenarbeiten, weil sievon dir abhängig sind, aber vielleicht nichtimmer alle gleichzeitig. Du wärst ein Kol-lektiv aus lauter Individuen, und das ist un-möglich lebensfähig.«

»Es gäbe ein ständiges Chaos«, sagte sieleise.

»Ganz recht. Erinnere dich daran, wieschrecklich es war, als du am Anfang demNetz freigegeben wurdest und sich plötzlichMillionen Gedanken und Emotionen in dei-nem Verstand drängten. Du kannst dich heu-te davor schützen, aber damit trennst du dichaus der Einheit des Netzes. So oder so, Joa-ra: Du wirst aufhören zu existieren.« Er leg-te seine Hände auf ihre Schultern. »Ich willaber nicht, daß du aufhörst zu existieren,auch nicht die anderen. Für mich hat dieserGedanke, sich in ein Kollektiv aufzulösen,das aus Millionen verschiedener Lebewesenbesteht, etwas Grauenvolleres an sich als je-der Alptraum, den ich je hatte. Wir Men-schen sind Individuen, die über Jahrtausendehinweg für ihre persönliche Freiheit ge-kämpft haben und nach einem Kompromiß

suchten, um friedlich zusammenzuleben unddennoch eine eigenständige Person zu blei-ben – kein Klon. Die Armitaphoren bei-spielsweise haben diese Erfüllung gefunden,sie leben in einer harmonischen Gemein-schaft, aber jeder hat ein eigenes Bewußt-sein und eine eigene Aufgabe. Das war es,worauf ich euch nach dem Flug mit ihnenaufmerksam machen wollte. Mir geht es wieden Armitaphoren: Ich bin einfach nicht be-reit dazu, mich völlig in einem Kollektivaufzulösen, und ich glaube – ich bin mir si-cher, auch du bist es nicht oder irgendein an-derer aus dem Team. Ich sehe das als Todan, auch wenn mein Geist eine höhere Exi-stenzebene erreichen mag.«

Sie schloß die Augen und nickte dann.»Nein, so will ich das nicht. Aber … bist dudir ganz sicher, daß es so ist, wie du sagst?«

»Hundertprozentig, Joara. Alles, was ichbisher gesehen habe, läßt einfach keinen an-deren Schluß zu. Du hast dich nur so sehr ineine fixe Idee verrannt, daß du nicht selbstdarauf gekommen bist.«

»Ich – ich habe mir etwas ganz anderesvorgestellt … Ich dachte, ich könnte zu denanderen zurückkehren und sie – und sie un-terrichten …« Sie legte in einer hilflosenGeste die Hände an den Helm, und er hörtesie kurz schluchzen.

Er zögerte einen Moment, schloß dannseine Arme fest um sie und drückte sie ansich. »Ich finde diesen Gedanken auch wun-dervoll, aber er ist menschlich, und dienichtmenschlichen Spielleiter haben sich dasganz anders gedacht«, sagte er sanft. »Unddann braucht man eben ein archaisches Fos-sil wie mich, das angestrengt darüber nach-denkt, was andere mit seinem Luxuskörperanstellen könnten, und entsprechend rea-giert.«

Sie lachte leise und befreite sich von ihm,hielt jedoch seine Hand fest. »Es tut mirleid, Reginald, aber ich …«

»Schon gut, dazu haben wir später nochZeit, wenn wir wieder auf der KAHALOsind«, unterbrach er sie. »Wir müssen jetztso schnell wie möglich hier weg.«

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»Hast du eine Idee, wie wir das schaffenkönnen?« fragte sie.

»Allerdings«, sagte er grimmig.Joara nickte. »Gut. Warte hier, ich spre-

che mit den anderen.«Sie ging zu ihrem Team; Bull wartete ge-

duldig abseits und schaltete seine Gedankenweitgehend ab. Trotzdem bekam er deneinen oder anderen Fetzen einer ausdauerndheftigen und wütenden Diskussion mit, aberer war sicher, daß Joara sich durchsetzenwürde. Der Anzug brachte ihn in eine ange-nehme, freischwebende Lage, und er dösteein wenig ein, bis Joara mit dem Team zuihm kam.

»Joara hat uns eine Menge erklärt, und esklingt plausibel«, sagte Ribera. »Was istaber, wenn ihr euch täuscht?«

»Dann besteht immer noch die Möglich-keit für diejenigen, die es wollen, ins Spielzurückzukehren«, antwortete Bull. »Aberich will, daß jeder zuerst genügend Abstandgewinnt und darüber nachdenkt. Wenn ertrotzdem zu dem Schluß kommt, daß ihn et-was anderes im Quidor erwartet, werde ichihn ohne Vorbehalte gehen lassen.«

Ribera nickte. »Wir sind uns keineswegseinig in dem, was ihr behauptet. Deshalb ha-ben wir abgestimmt, und die knappe Mehr-heit – darunter auch ich – ist für euch, alsokehren wir auf die KAHALO zurück. Wirkönnen das dort noch genauer ausdiskutie-ren, denn das Spiel geht uns deswegen nichtverloren, wie du bereits sagtest, und Punktehaben wir ohnehin keine mehr.«

»Und was sollen wir jetzt tun?« fragteFallar.

»Wir werden uns zusammentun und einSpielchen treiben, aber mit allen, auch denLeitern und den Überwachern«, antworteteBull.

10.31. Januar 1206 NGZ

Die Menschen von der KAHALO veran-stalteten in der Folge im gesamten Lakoor-System ein beispielloses Chaos. Sie schalte-

ten sich in Auseinandersetzungen ein undbrachten sie so durcheinander, daß sie abge-brochen werden mußten, sie unterbrachendie Verbindungen von Computerständen undverkehrten gedankliche Anweisungen derÜberwacher ins Gegenteil. Das Quidor-Netzwurde bis in die Basis erschüttert, und dieBeschwerden der Spieler nahmen so Über-hand, daß bald nahezu nirgends mehr einWettstreit stattfand. Das KAHALO-Teamwich jedem geistigen Angriff aus, sandtevöllig verdrehte Gedanken durch das Netzund verwandelte das Lakoor-System in einTollhaus.

Malassir schaltete sich mehrmals ein, ver-warnte die Terraner und versuchte sieschließlich an ihren Aktionen zu hindern,aber sie entglitten ihm mühelos. Sie warenüberall zugleich, aber nirgends greifbar, weilsie blitzartig auftauchten, Chaos verursach-ten und sofort wieder verschwanden, undimmer mehr Spieler zogen sich – soweit esging – aus dem Netz zurück. Da niemand ih-re abstrusen Handlungen verstehen konnte,gab es auch keine Möglichkeit, ihnen zu be-gegnen, und so flüchtete schließlich allesvor ihnen.

Zuletzt schaltete sich das Orakel selbst einund fragte, was das Team eigentlichbezweckte. Auf die einheitliche Antwort:»Zurück zum Schiff, aus dem System« rea-gierte es mit der Drohung, sie gefangenzu-setzen und als Nahrung zur Speisung desNetzes zu verwenden.

Daraufhin setzte das Team seine Störun-gen fort, ungeachtet aller Verwarnungen desSpielleiters.

Da ihr Wunsch kein Gehör fand, warensich Bull und Joara schließlich einig, daßhier nur massive Gewalt helfen konnte. Er-neut schlossen sich die Terraner zusammenund holten aus ihrem tiefsten Unterbewußt-sein und ihrer Phantasie die schrecklichstenund blutigsten Alpträume hervor, die sie ingeballter Ladung über das ganze Netz ver-breiteten. Sie brachten das Sonnenlicht zumErlöschen, setzten die Funktionsfähigkeitder Callons aus, ließen riesige geflügelte

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Dämonen aus Feuerlohen entspringen, diemit messerscharfen Krallen und Zähnenüber die Spieler herfielen und sie zerfetzten.

Tausende von Spielern und Verlierernbrachen schreiend und von Krämpfen ge-schüttelt zusammen, die Überwacher warennicht in der Lage, ihnen zu helfen, und Ma-lassir konnte nicht überall gleichzeitig sein.Angespornt von ihrem Erfolg, machten Re-ginald Bull, Joara Clayton und die anderenweiter und verwandelten das Lakoor-Systemin eine Hölle. Dann wurden sie vom Netzabgeschaltet. Plötzlich, von einer Sekundezur anderen, erlosch das Stimmengewirr inihren Köpfen, eine seltsame, friedliche Stilletrat ein, und sie waren allein. Um sie herumwar nichts als Dunkelheit, sie waren völligisoliert, und nicht nur ein Teammitgliedstellte sich die bange Frage, ob das Orakelseine Drohung, sie gefangenzunehmen, wahrgemacht hatte. Sie konnten sich nicht mit-einander unterhalten, da die Gedankenver-bindung abgeschaltet war, und auch derFunk funktionierte nicht.

Möglicherweise war das ihr Ende. Es gabkeine Möglichkeit mehr, zu entkommen,sich aufzulehnen, etwas zu unternehmen. Je-der war allein auf sich gestellt, umgeben vonleerer Finsternis, isoliert von allem Leben.Es war nur eine Frage der Zeit, wann derVerstand wahnsinnig wurde, unfähig zu be-urteilen, ob er noch lebte oder bereits tot war– im Nichts.

Wollen sie riskieren, daß wir wahnsinnigwerden? dachte Bull. Als Wahnsinnige kön-nen wir dem Netz nicht einmal mehr alsNahrung dienen.

Dann erlosch sein Bewußtsein.

*

Als Bull wieder zu sich kam, fand er sichan Bord der KAHALO, in seiner eigenenKabine. Was ist los? dachte er verwundert.Habe ich das alles nur geträumt? Vorsichtigtastete er seinen Körper ab. Kein Anzug,nicht die Spur einer symbiotischen Verbin-dung.

»Datum!« forderte er laut.»31. Januar«, lautete die Antwort.Das wäre aber ein sehr langer Schlaf ge-

wesen. Er stand auf, um sein Gesicht imSpiegel zu betrachten. Alles unverändert,wie vor zwei Wochen. Keine Alterslinien,keine grauen Haare. Er war jung, er war ge-sund. Er war unsterblich.

Aber was war mit den anderen? Hastigmachte er sich auf den Weg in die Komman-dozentrale; Joara, Ribera und Fallar warenkurz vor ihm angekommen.

»Wir verlassen bald das System«, sagteRibera. »Der Traktorstrahl hat uns hinausge-bracht.«

»Dann habe ich also nicht geträumt?« ent-fuhr es Bull.

Die anderen lachten, offensichtlich hattensie sich auf dieselbe Weise begrüßte.»Keineswegs, oder wir haben alle dasselbegeträumt«, sagte Joara. »Offensichtlich ka-men sie überein, daß es besser wäre, uns los-zuwerden. Wir haben eine längere Zeit dortverbracht, als ich angenommen habe. Sobaldder Leitstrahl uns freigegeben hat, machenwir uns auf den Weg zur BASIS.« Sie mu-sterte ihn prüfend. »Bist du in Ordnung?«

Er nickte. »Alles bestens und unverändert.Der Zellaktivator funktioniert. Ich scheinenoch einmal Glück gehabt zu haben.« Erkonnte nicht sagen, wie unendlich erleichterter sich fühlte.

»Sie sind hoch entwickelt und wollen fürjeden nur das Beste«, sagte Fallar. »Mir tutes verdammt leid, daß wir nicht mehr dortsind.«

Joara legte ihm eine Hand auf die Schul-ter. »Mir auch. Ich fühle mich merkwürdig,irgendwie leer, nachdem ich keine anderenGedanken und Gefühle mehr spüren kann,sogar der Anzug fehlt mir. Aber darüber re-den wir später. Jetzt kümmern wir uns umden Rückflug.«

*

Später, auf dem Weg in die Messe, suchteJoara Clayton nach Reginald Bull und fand

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ihn im Observatorium; träumend, wie esschien.

»Betrachtest du die Sterne?« erkundigtesie sich lächelnd.

Er schien aus weiter Ferne zu sich zukommen und starrte sie einen Moment ver-wirrt an. Dann lächelte er zurück. »Ich wer-de es nie müde«, antwortete er. »Ich habenie aufgehört, die Sterne zu lieben. Trotz un-serer Raumfahrt sind sie uns stets fern undvoller Wunder.«

»Eines dieser Wunder lassen wir soebenhinter uns«, entgegnete sie. »Und ich binfroh – wenn ich auch nicht leugnen will, daßich Bedauern darüber empfinde, nie dieseErfüllung erfahren zu können.«

»So weit sind wir einfach noch nicht«,sagte Bull. »Deshalb werde ich dafür sorgen,daß wir dem Lakoor-System bis auf weiteresfernbleiben.« Er wies auf die Sterne. »Wirsind weiter gereist als je zuvor, auf der Su-che nach immer neuen Rätseln, die es zu lö-sen gilt, und das reizt und erschreckt michzugleich. Ich habe viele Dinge erlebt, diemich geprägt haben, ich stehe ständig mittenim Geschehen, doch manchmal wird meinGeist einfach müde … oder von Alpträumenheimgesucht.« Er schwieg einen Momentnachdenklich. »In einer gewissen Hinsichtbeneide ich dich, Joara«, fuhr er dann fort.

»Mich?« fragte sie lachend. »Du mich?Ich sollte dich beneiden, um alles, was dubereits gesehen hast. Du bist unsterblich!«

»Eben darum«, erwiderte er sanft.»Unsterblichkeit ist nicht immer ein Segen.«

»Willst du mich damit trösten?« provo-zierte sie ihn.

»Es ist nur die Wahrheit.«»Reginald, jeder von uns muß eine Last

tragen. Wir müssen für alles einen Preis zah-len.«

Er ging nicht darauf ein, sondern fragte:»Joara, könntest du dir vorstellen, mit mir zuleben?«

Sie hob eine Braue. »Meinst du das jetzthypothetischer oder romantischer Art?«

»Das überlasse ich dir. Die Konsequenzen

würden in jedem Fall gleichbleiben: Duwürdest altern, ich nicht. Du wärst biologi-schen Problemen ausgesetzt, die ich nie ha-ben werde. Du würdest dein Herz an Dingehängen, die mir vielleicht vor ein paar Jahr-hunderten einmal wichtig gewesen wären.«

»Hm. Ich verstehe, was du meinst. Des-halb konntest du dich leichter aus dem Spiellösen, nicht wahr? Und ich habe mich wieein Idiot benommen.«

»Nein«, widersprach er. »Wie ein Men-sch.« Er hob eine Hand und strich sacht überihre Wange.

Jetzt hob sie beide Brauen. »Du wirst mirentschieden zu philosophisch, mein Lieber.«

»Ich bin eben ein archaisches Fossil, dasin ein Museum gehört«, schmunzelte er.

»Das wirst du mir ewig nachtragen, wie?Wie dem auch sei, deine Stimmung verträgtsich augenblicklich nicht mit meinem leerenMagen. Wenn du genug vom Denken hast,kannst du ja nachkommen und mir Gesell-schaft leisten.« Ein spitzbübisches Lächelnerschien in ihren Mundwinkeln, und ihrebraungrünen Augen blitzten auf.»Einstweilen werde ich über dein Angebotnachdenken, schließlich, auch Fossile habenetwas für sich.« Sie zwinkerte ihm zu undmachte sich auf den Weg.

Er sah ihr lächelnd nach, bevor sich seinBlick wieder in den Sternen verlor. »Wirsind schon so weit gegangen, aber wir dür-fen es einfach nicht vergessen«, murmelteer. »Wir dürfen in unseren hochfliegendenPlänen die Anfänge nicht vergessen. Wirmüssen menschlich bleiben.«

Er glaubte kurz ein leises Flüstern in sichzu hören, aber der Alptraum war schon lan-ge fort.

»Allerdings muß es doch eine andereMöglichkeit geben, herauszufinden, wereinst den Quidor erfand und was er wirklichbedeutet«, schloß er sein Selbstgespräch.»Mal sehen …«

E N D E

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Am Rand der Großen Leere sind die Galaktiker nach wie vor damit beschäftigt, erste Infor-mationen über die dortigen Zivilisationen zu sammeln. Auch Arlo Rutans Landekommando,nach dreieinhalb nahezu untätigen Jahren an Bord der BASIS besonders abenteuerlustig, er-hält die Gelegenheit, einen Planeten zu erforschen. Die Soldaten landen auf der Randwelt derRätsel und stoßen auf das Erbe der Raunach.

Wie es dort weitergeht, schildert H. G. Ewers in seinem Roman RANDWELT DER RÄT-SEL, der in der nächsten Woche erscheint.

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Computer: Androgyn-Roboter

Der Roboter wurde entwickelt, damit er dem organi-schen Intelligenzwesen, dem Org – seinem Herrn undSchöpfer – die Arbeit erleichtert oder ganz und garabnimmt. Es liegt auf der Hand, daß der Roboter sei-ne Aufgabe um so wirksamer wahrnehmen kann, jemehr Intelligenz er besitzt. Die Robottechnik aller be-kannten Zivilisationen legte daher von Anfang angroßen Wert darauf, ihre Produkte so schlau wie mög-lich zu machen und mit autarker Denkfähigkeit auszu-statten. Ein Symbol robotischer Selbständigkeit sinddie Robotfabriken – auf der Erde gibt es sie seit demBeginn des dritten Jahrtausends alter Zeitrechnung –,in denen Roboter damit beschäftigt sind, Roboter her-zustellen. Zu Anfang werden Roboter üblicherweiseso gebaut, daß sie ihren Erfindern ähneln. Auf Terrahielten sich Maschinenwesen, die auf zwei Beinengingen und mit zwei Armen ausgestattet waren, einenSchädel besaßen und aus zwei Linsenaugen bückten,viele Jahrhunderte lang. Erst später setzte sich die Er-kenntnis durch, daß es wesentlich effizienter ist, dieäußere Erscheinung des Roboters der Aufgabe anzu-passen, für die er gedacht ist.

Roboter mit selbständiger Intelligenz sind im Prinzipfähig, gegen ihre Herren und Schöpfer zu revoltieren,sich aufzulehnen, sogar die Herrschaft über die Zivili-sation zu übernehmen, der sie ihr Dasein verdanken.Es gab indes, solange die Roboterproduktion von or-ganischen Wesen überwacht und gesteuert wurde, fürdie Roboter wenig Motivation zu einem solchen Ver-halten. Denn bei der Entwicklung der künstlichen In-telligenz war sorgfältig darauf geachtet worden, daßRoboter keine metarationalen Regungen wie Stolz,das Gefühl des Unterdrücktseins oder Widerstands-willen zu empfinden vermochten. Das war alles rechtgut und schön. Aber wer wollte die Roboter, sobaldsie in den Robotfabriken selbst die Verantwortung fürdie Produktion der nachfolgenden Robotergenerationübernahmen, daran hindern, an der Grundprogram-mierung ihrer Spezies herumzudoktern?

Die Antwort ist bekannt. Mißverhalten dieser Artwird verhindert durch die Drei Gesetze der Robotik(die schon so oft zitiert worden sind, daß wir uns eineWiederholung hier ersparen können). Die Roboterge-setze sind in den Fertigungsprozeß fest eingebrannt,so daß sie von niemandem umgangen werden kön-nen. Sie verhindern, daß Roboter, die der organi-schen Kreatur an physischer Konstitution und in ge-wissen Aspekten der Denkfähigkeit haushoch überle-gen sind, die von ihren Schöpfern gewollte Ordnungumkehren und sich von Dienern zu Herren aufschwin-gen. In ihrer Formulierung sind die Gesetze der Robo-tik von Zivilisation zu Zivilisation verschieden. Aber siedienen überall demselben Zweck: das organische Le-ben vor der Aufsässigkeit der synthetischen Intelli-genz zu schützen.

Unbeschadet der Robotergesetze kommt es immerwieder zur Entstehung eigenständiger robotischer Zi-vilisationen, die unabhängig von ihren Konstrukteurenund Erschaffern existieren. Die Menschheit ist auf ih-rem Weg durchs Weltall schon manchem Robotvolk

begegnet. Zwei dieser Völker kommen einem unwill-kürlich in den Sinn: die Posbis von der Hundertson-nenwelt und die Roboter von Ctl, jene Geschöpfe desAltweisen Oogh at Tarkan, welche die Aufgabe hat-ten, die Kartanin beizeiten an ihre Herkunft aus einemfremden Universum zu erinnern. Im Augenblick ist dieMenschheit im Begriff, ihre eigenen Robotzivilisatio-nen zu schaffen. Die Androgynen-Stämme, die RobertGruener an mehreren Punkten entlang der Heiserouteder Coma-Flotte aussetzt, sind dazu bestimmt, eigeneMiniaturreiche zu errichten. Sie sind gänzlich auf sichallein gestellt. Man nennt die Orte, an denen sie aus-gesetzt werden, Brückenköpfe und deutet damit an,daß eines Tages Menschen nachkommen und sichauf dem von den Androgynen bereiteten Grund nie-derlassen werden. Aber bis dahin hat es noch guteWeile. Die Menschheit ist auf die Besiedlung derartunermeßlicher Weiten noch nicht vorbereitet. In eini-gen Fällen werden sicherlich Jahrhunderte vergehen,bis der Brückenkopf seiner eigentlichen Bestimmungzugeführt werden kann. In der Zwischenzeit schaltenund walten die Androgynen nach eigenem Gutdün-ken.

Ein Androgynen-Stamm setzt sich aus Spezial- undAllzweckrobotern zusammen. Die letzteren zu beob-achten, wird besonders interessant sein. Sie besitzenvon beiden Typen die größere Intelligenz. Währendsie werkeln, Siedlungen bauen, Landwirtschaft betrei-ben und schließlich eine Roboterfabrik einrichten,könnten sie ohne weiteres auf die Idee kommen, daßdie Drei Gesetze der Robotik, so tief eingebrannt sieauch sein mögen, ein Hindernis darstellen. Sie wer-den vielleicht eine Möglichkeit finden, das Hinderniszu beseitigen. Was hat es überhaupt für einen Sinnfestzulegen: »Ein Robot darf keinen Menschen verlet-zen …«, wenn kein Mensch in der Nähe ist? Der Kon-trolle durch ihre organischen Konstrukteure entzogen,könnten die Androgynen ihre eigene, von Org-Vorschriften freie Zivilisation entwickeln. Den Men-schen, die später nachkommen sollen, um dieBrückenköpfe zu besetzen, steht womöglich eineÜberraschung ins Haus.

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