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Beruf und Qualifikation 11 Abstract / Das Wichtigste in Kürze Die demokratischen Staaten Norwegen und Deutschland waren 2011 mit einem bisher einmaligen Ausmaß rechtsterroristisch motivierter Gewalt konfrontiert und die Diskussion über den Umgang mit unterschiedlichen rechtsextremen Phänomenen steht im Spannungsfeld von Sicherheits- und Freiheitspolitik. Keywords / Stichworte Rechtsextremismus/-terrorismus, Demokratiepolitik, Repression, Verbote, Freiheitsrechte, Pädagogik, Beratung. Im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit Umgang mit Rechtsextremismus Am 15. Dezember 2011 hätte in Marburg eine Fachtagung mit dem Titel „Freiheit oder Sicherheit?“ Die Anschläge in Norwegen (und Deutschland) und die Folgen…“ stattfinden sollen. Vorgesehen war u.a. ein Vortrag Johann Galtung. Diese Tagung wurde kurzfristig abgesagt (Begründung s. Kasten rechts). Wir geben hier den Inhalt eines Impulsreferats wieder, das Benno Hafeneger auf der Veranstaltung gehalten hätte. holt empirisch nachgewiesen gibt es ein deutlich erkennbares menschenfeindliches Einstellungspotential, rechtsextreme und vor allem rechtspopulistische Orientie- rungen und latenten Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft, bis in ihre „Mitte“ hinein. Das zeigen die Daten aus dem For- schungsprojekt „Deutsche Zustände“ und in den letzten Jahren u a. wiederholt im Wahlverhalten, hier vor allem von männ- lichen Erst- und Jungwählern. Auch der Alltagsrassismus, Vorurteile und Ressen- timents in Teilen der Bevölkerung sind ein Dauerphänomen in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir wollen bei dieser Fachtagung auf zwei entwickelte und stabile Demokrati- en blicken, die 2011 von rechtsterroristi- schen Anschlägen und Morden betroffen waren: Norwegen und Deutschland 1 . Ge- walt, Mord und Terror sind schon immer von der rechtsextremen Szene ausgegan- gen, aber Rechtsterrorismus in einem sol- chen Ausmaß ist eine neue Dimension in der Entwicklung beider Länder. Die Ta- gung wurde nach den Mordtaten in Nor- wegen geplant und in der Bundesrepublik war zu dieser Zeit von rechtsterroristi- schen Entwicklungen und Gefahren noch keine Rede; nun sind wir mit Rechtster- rorismus in beiden Ländern konfrontiert. Die Beschäftigung mit dem Thema „Gruppenbe- zogene Menschenfeind- lichkeit“ und „Rechtsext- remismus/-populismus“, hier als Sammelbegriff für unterschiedliche Elemen- te wie Rassismus, Frem- denfeindlichkeit, Anti- semitismus, ist facetten- reich und hat eine lange Tradition. Das gilt für die wissenschaftliche, politi- sche, rechtliche wie auch pädagogische Auseinan- dersetzung. Dabei ist für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dreierlei zu konstatieren: 1. Die organisierte extreme (und bisher auch die populistische) Rechte ist nie zu einer Gefahr für die parlamentarisch ver- fasste Demokratie geworden. 2. Der organisierte Rechtsextremis- mus/-populismus ist bei allem „Auf und Ab“ ein Dauerphänomen der politischen Kultur, das sich immer wieder in un- terschiedlichen Formen – bis hin zum Rechtsterrorismus – bis heute erhalten und (re-) organisiert hat. 3. Über den organisierten Rechtsextre- mismus/-populismus hinaus und wieder- Sozial Extra 1|2 ’12: 11-14 DOI 10.1007/s12054-012-0003-0 Benno Hafeneger *1948 Prof. Dr., ist Hoch- schullehrer für Erzie- hungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Außerschulische Ju- gendbildung“ an der Philipps-Universität Marburg. [email protected] marburg.de Mit der Ausschreibung „Freiheit oder Si- cherheit?“ Die Anschläge in Norwegen (und Deutschland) und die Folgen… … für unse- re Werte, Haltungen und unsere Handlung- spraxis“ sollte am 15. Dezember 2011 in Marburg eine Fachtagung stattfinden. Sie war organisiert vom „beratungsNetzwerk hessen“ und umfasste u. a.: einen Vortrag von Johann Galtung, mehrere work-shops (einer mit dem Titel „Die außerordentliche Bedrohung durch Terror von rechts: Polizei und Gesellschaft“). Die Tagung wurde kurz- fristig mit folgender Begründung abgesagt: Die Sicherheitsbehörden des Landes und des Bundes, die Politik sowie die Medien befassen sich aktuell intensiv mit den im Zusammenhang mit der Gruppierung „Na- tionalsozialistischer Untergrund“ (NSU) be- kannt gewordenen Informationen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, ein Ergebnis noch nicht absehbar. Eine Fokus- sierung der Fachtagung auf die Ereignis- se in Norwegen wird der derzeit geführten Diskussion zum Ausmaß des Rechtsterro- rismus in Deutschland nicht gerecht. Die Lenkungsgruppe des „beratungsNetz- werk hessen – Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus“ hat deshalb entschie- den, die Fachtagung zu verschieben, um auf der Grundlage gesicherter Analysen die Folgen der Ereignisse in Norwegen sowie des Rechtsterrorismus in Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt umfassend und angemessen erörtern zu können. Wir bitten hierfür um Ihr Verständnis und würden uns freuen, Sie zur Fachtagung 2012 begrüßen zu dürfen. Der Termin wird rechtzeitig auf der Homepage des „bera- tungsNetzwerk hessen“ bekannt gegeben. Norwegen Der rechtsextreme Attentäter Anders Breivik hat bei einem Terroranschlag und Amoklauf in Norwegen am 22. Juli

Im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit

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Beruf und Qualifikation

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Abstract / Das Wichtigste in Kürze Die demokratischen Staaten Norwegen und Deutschland waren 2011 mit einem bisher einmaligen Ausmaß rechtsterroristisch motivierter Gewalt konfrontiert und die Diskussion über den Umgang mit unterschiedlichen rechtsextremen Phänomenen steht im Spannungsfeld von Sicherheits- und Freiheitspolitik.

Keywords / Stichworte Rechtsextremismus/-terrorismus, Demokratiepolitik, Repression, Verbote, Freiheitsrechte, Pädagogik, Beratung.

Im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit

Umgang mit Rechtsextremismus

Am 15. Dezember 2011 hätte in Marburg eine Fachtagung mit dem Titel „Freiheit oder Sicherheit?“ Die Anschläge in Norwegen (und Deutschland) und die Folgen…“ stattfinden sollen. Vorgesehen war u.a. ein Vortrag Johann Galtung. Diese Tagung wurde kurzfristig abgesagt (Begründung s. Kasten rechts). Wir geben hier den Inhalt eines Impulsreferats wieder, das Benno Hafeneger auf der Veranstaltung gehalten hätte.

holt empirisch nachgewiesen gibt es ein deutlich erkennbares menschenfeindliches Einstellungspotential, rechtsextreme und vor allem rechtspopulistische Orientie-rungen und latenten Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft, bis in ihre „Mitte“ hinein. Das zeigen die Daten aus dem For-schungsprojekt „Deutsche Zustände“ und in den letzten Jahren u a. wiederholt im Wahlverhalten, hier vor allem von männ-lichen Erst- und Jungwählern. Auch der Alltagsrassismus, Vorurteile und Ressen-timents in Teilen der Bevölkerung sind ein Dauerphänomen in der Geschichte der Bundesrepublik.Wir wollen bei dieser Fachtagung auf

zwei entwickelte und stabile Demokrati-en blicken, die 2011 von rechtsterroristi-schen Anschlägen und Morden betroffen waren: Norwegen und Deutschland1. Ge-walt, Mord und Terror sind schon immer von der rechtsextremen Szene ausgegan-gen, aber Rechtsterrorismus in einem sol-chen Ausmaß ist eine neue Dimension in der Entwicklung beider Länder. Die Ta-gung wurde nach den Mordtaten in Nor-wegen geplant und in der Bundesrepublik war zu dieser Zeit von rechtsterroristi-schen Entwicklungen und Gefahren noch keine Rede; nun sind wir mit Rechtster-rorismus in beiden Ländern konfrontiert.

Die Beschäftigung mit dem Thema „Gruppenbe-zogene Menschenfeind-lichkeit“ und „Rechtsext-remismus/-populismus“, hier als Sammelbegriff für unterschiedliche Elemen-te wie Rassismus, Frem-denfeindlichkeit, Anti-semitismus, ist facetten-reich und hat eine lange Tradition. Das gilt für die wissenschaftliche, politi-sche, rechtliche wie auch pädagogische Auseinan-

dersetzung. Dabei ist für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dreierlei zu konstatieren: 1. Die organisierte extreme (und bisher auch die populistische) Rechte ist nie zu einer Gefahr für die parlamentarisch ver-fasste Demokratie geworden.2. Der organisierte Rechtsextremis-mus/-populismus ist bei allem „Auf und Ab“ ein Dauerphänomen der politischen Kultur, das sich immer wieder in un-terschiedlichen Formen – bis hin zum Rechtsterrorismus – bis heute erhalten und (re-) organisiert hat.3. Über den organisierten Rechtsextre-mismus/-populismus hinaus und wieder-

Sozial Extra 1|2 ’12: 11-14 DOI 10.1007/s12054-012-0003-0

Benno Hafeneger *1948

Prof. Dr., ist Hoch-schullehrer für Erzie-hungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Außerschulische Ju-gendbildung“ an der Philipps-Universität Marburg.

[email protected]

Mit der Ausschreibung „Freiheit oder Si-

cherheit?“ Die Anschläge in Norwegen (und

Deutschland) und die Folgen… … für unse-

re Werte, Haltungen und unsere Handlung-

spraxis“ sollte am 15. Dezember 2011 in

Marburg eine Fachtagung stattfinden. Sie

war organisiert vom „beratungsNetzwerk

hessen“ und umfasste u. a.: einen Vortrag

von Johann Galtung, mehrere work-shops

(einer mit dem Titel „Die außerordentliche

Bedrohung durch Terror von rechts: Polizei

und Gesellschaft“). Die Tagung wurde kurz-

fristig mit folgender Begründung abgesagt:

Die Sicherheitsbehörden des Landes und

des Bundes, die Politik sowie die Medien

befassen sich aktuell intensiv mit den im

Zusammenhang mit der Gruppierung „Na-

tionalsozialistischer Untergrund“ (NSU) be-

kannt gewordenen Informationen. Dieser

Prozess ist noch nicht abgeschlossen, ein

Ergebnis noch nicht absehbar. Eine Fokus-

sierung der Fachtagung auf die Ereignis-

se in Norwegen wird der derzeit geführten

Diskussion zum Ausmaß des Rechtsterro-

rismus in Deutschland nicht gerecht.

Die Lenkungsgruppe des „beratungsNetz-

werk hessen – Mobile Intervention gegen

Rechtsextremismus“ hat deshalb entschie-

den, die Fachtagung zu verschieben, um

auf der Grundlage gesicherter Analysen die

Folgen der Ereignisse in Norwegen sowie

des Rechtsterrorismus in Deutschland zu

einem späteren Zeitpunkt umfassend und

angemessen erörtern zu können.

Wir bitten hierfür um Ihr Verständnis und

würden uns freuen, Sie zur Fachtagung

2012 begrüßen zu dürfen. Der Termin wird

rechtzeitig auf der Homepage des „bera-

tungsNetzwerk hessen“ bekannt gegeben.

NorwegenDer rechtsextreme Attentäter Anders

Breivik hat bei einem Terroranschlag und Amoklauf in Norwegen am 22. Juli

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Beruf und QualifikationSozial Extra 1|2 ’12

2011 77 Menschen gezielt getötet. Er hat mit einem Bombenanschlag das Zentrum von Oslo verwüstet, sich als Polizist ver-kleidet und auf der Insel Utøya 69 Kinder und Jugendliche erschossen, manche hat er regelrecht mit Kugeln durchsiebt. Das war sein „Plan B“, nach seinem Plan von „Verrätern der Kategorie A“ wollte er ur-sprünglich sozialdemokratische Politiker ermorden.Seine Taten hat Breivik gestanden, be-

reut hat er sie nicht und er hält sich mit einer kaltblütigen Rationalität für „nicht schuldig“. Er nennt sich „Militärkomman-dant einer Widerstandsbewegung“ und sagt bei seiner Vernehmung, dass er noch eine Bombe habe zünden und noch mehr Menschen hätte umbringen wollen. Nach Medienberichten zu den Verhör-

protokollen erklärt und antwortet er bei den polizeilichen Ermittlungen höflich. Über die Verhöre wird u. a. berichtet, dass Breivik über 130 Stunden lang gere-det und sich klar artikuliert hat; die Ab-schrift umfasst bisher über 430 Seiten, in der er über die Autobombe und sein Mas-saker im Jugendcamp auf Utøya erzählt. Der Inhalt der Befragungen ist geheim und noch nicht abgeschlossen; sie sind Grundlage für den Prozess, der im April 2012 beginnen soll. Breivig soll nach ei-nem Ende November vorgelegten und umstrittenen, lediglich psychologisieren-den Gutachten, das keine multidisziplinä-re Perspektive einnimmt, angeblich nicht zurechnungs- und damit nicht schuldfähig sein; danach soll er an paranoider Schizo-phrenie leiden.In der Diskussion und den Fragen über

das Verhalten (das Versagen) der Sicher-heitskräfte vor und während der Anschlä-ge – auch hier sind die Ermittlungen der Arbeit einer Kommission noch nicht ab-geschlossen – ist u.a. der verantwortliche Justizminister zurückgetreten. Die meis-ten Norweger sind stolz auf die besonne-ne Reaktion und den Zusammenhalt des Landes und ihrer politischen Repräsen-tanten in den Tagen nach dem Terroran-schlag und Amoklauf. Das gilt vor allem für die Betonung der Offenheit des Lan-des und seiner multikulturellen Entwick-

lung. Aber es gibt auch kritische Fragen, die sich auf die Reaktion und das Vorge-hen der Behörden bezieht. Es sind Fra-gen, die die Öffentlichkeit in dem Ge-fühl zurücklassen, die Anschläge hätten vielleicht nicht verhindert, aber in ihrem Ausmaß deutlich eingeschränkt werden können.

Bundesrepublik Deutschland

Anfang November 2011 wird deutlich, dass eine kleine und zugleich im „brau-nen Lager“ vernetzte, rechtsextreme Ter-rorgruppe mit dem Namen „Nationalso-zialistischer Untergrund“ (NSU) inner-halb von 13 Jahren ungestört mindestens zehn Menschen ermorden, über ein Dut-zend Banküberfälle, diverse Sprengstoff-anschläge und andere Straftaten verü-ben konnte. Die Ermittlungen haben bis-her u.a. ergeben: Die Gruppe war in die rechtsextreme Szene in den östlichen und westlichen Bundesländern tief eingebun-den und vernetzt, es ist die Rede von ei-ner größeren Zahl von Unterstützern. Die Terrorgruppe war den Behörden lan-ge bekannt; sie hat öffentlich und beken-nend, militant und gewalttätig agiert; bei Durchsuchungen wurden 1998 u. a. Rohrbomben, TNT und Propaganda-material gefunden. Sie konnte dann un-tertauchen und mit Unterstützung der rechtsextremen Szene 13 Jahre im Un-tergrund leben und ihre Gewalttaten be-gehen. Sie pflegten ein soziales Leben in Zwickau und waren wohl zeitweise im Ausland, unterhielten Kontakte zu einem weiten Unterstützerkreis und sie besuch-ten Demonstrationen, Konzerte und Ver-anstaltungen.Die beispiellose Mordserie wurde u.a.

von der rechtsextremen Band „Gigi & die braunen Stadtmusikanten“ 2010 auf ei-ner CD „Adolf Hitler lebt“ mit dem Lied „Döner Killer“ (einem „Sommerhit“ der rechtsextremen Szene) musikalisch be-jubelt. Die CD wurde öffentlich verbrei-tet, im Internet angepriesen und verkauft, ohne dass Behörden und V-Leute etwas merkten. Haben hier einzelne versagt oder das System? Es ist darauf hinzuwei-sen, dass es seit langem eine gewaltbereite

rechtsextreme Szene gibt und rechtsext-reme Gewalt in den letzten Jahrzehnten in Deutschland keine Ausnahmeerscheinung war. Dies ist wiederholt dokumentiert worden: nach seriösen Recherchen sind seit 1990 über 150 Menschen durch die Folgen rechtsextremer Gewalt ums Leben gekommen. Kaum wahrgenommen wur-den die vielen Bedrohten, Zusammenge-schlagenen und Schwerverletzten. Nach Berechnungen von Opferberatungsstel-len waren 2010 in Ostdeutschland 1.400 Menschen von rund 730 rechtsextremen Gewalttaten betroffen.

Fragen

Fast alle europäischen Länder sind mit rechtsextremen/-populistischen Phäno-menen (Parteien und Gruppen, Militanz und Gewalt in der Szene), aber auch mit menschenfeindlichen Orientierungen und Einstellungen in Teilen der Gesellschaft konfrontiert. Das stellt viele Fragen an demokratische Gesellschaften: Wie ge-hen sie mit „ihrem“ Rechtsextremismus und -populismus um? Welche Instrumen-te haben, favorisieren und setzen sie ein? Welches demokratiepolitische Selbstver-ständnis ist leitend, wird favorisiert und welche Kompromisse werden eingegan-gen? Wie gehen Politik und Gesellschaft mit menschenfeindlichen Orientierungen und Mentalitäten um? Bei dieser Tagung soll und kann es nicht um das breite Feld des politischen, gesellschaftlichen, recht-lichen, wissenschaftlichen und pädagogi-schen Umgangs gehen; das gilt insbeson-dere auch für Fragen, die in den letzten Wochen die Bundesrepublik Deutschland beschäftigt haben. Hier bleiben die weite-ren Ermittlungsergebnisse abzuwarten.Im Mittelpunkt der Tagung sollen vor al-

lem Aspekte stehen, die sich auf die politi-sche Kultur, die Facetten des Rechtspopu-lismus/-extremismus, dann den langfris-tigen, dauerhaften Umgang vor allem im Feld der pädagogischen Arbeit – hier der Beratung als zentraler Aufgabe des Bera-tungsnetzwerkes – beziehen. Dabei steht die Sicherheitspolitik in ihrer Bedeutung in der Auseinandersetzung mit Rechtsex-tremismus zunächst nicht im Mittelpunkt

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der Tagung, spielt aber eine Rolle. Hier stellen sich Fragen nach den politischen und sicherheitspolitischen Fehleinschät-zungen und der Ahnungslosigkeit; nach dem Versagen und den Versäumnissen, den Fahndungs- und Ermittlungspannen von Sicherheitsbehörden; nach den Er-mittlungs- und Beobachtungsstrukturen oder auch den Verharmlosungen und dem Weltbild in den Sicherheitsbehörden.

Umgang

Demokratische Gesellschaften reagieren bzw. können unterschiedlich reagieren und setzen in der Auseinandersetzung mit „ihrem“ nationalen und auch europäisch vernetzten Rechtsextremismus unter-schiedliche Akzente. In demokratischen Gesellschaften geht es um das Spannungs-feld von Sicherheit und Freiheit, um Ak-zentsetzungen, die zeigen „wohin die Rei-se gehen soll“. Dabei ist die Verfolgung von Straf- und Gewalttaten zunächst Auf-gabe der zuständigen Behörden, von Po-lizei und Justiz; und die Beobachtung der Szene ist Aufgabe der Geheimdienste (des Verfassungsschutzes). Zuständig in der Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Alltagsrassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus und deren Ächtung sind zugleich die gesamte Gesellschaft und der öffentliche Diskurs, d.h. Poli-tik, Zivilgesellschaft, Arbeitswelt, Medi-en, Kultur, Familie, Kindergarten, Schule bzw. das gesamte Bildungssystem.

Politische Kultur

In der politischen Kultur mit ihren na-tionalen Traditionen zeigen sich – grob – zwei Varianten, die unterschiedliche staat-liche und gesellschaftliche Selbstverständ-nisse repräsentieren. Sie stehen sich nicht diametral gegenüber und sollten nicht ge-geneinander – als besser oder schlechter, richtig oder falsch – ausgespielt werden. Sie zeigen aber Tendenzen bzw. Akzent-setzungen von Gesellschaften und staat-lichem Handeln, das unterschiedlichen Traditionen, Logiken und Vorstellungen von Demokratie bzw. ihrer Entwicklung folgt. Dabei geht es geht um die Balan-ce von Sicherheit und Freiheit. Die ers-

te Tendenz favorisiert mehr „Kontrolle, Repression und Verbote“: Dabei geht es um Gesetzesänderungen, Verschärfungen (siehe Vorratsdatenspeicherung) und Ver-bote. Mit mehr Sicherheit soll versucht werden die Demokratie und offene Ge-sellschaft gegen ihre Feinde zu schützen, sie „wehrhaft“ und sicherer zu machen. Mit Blick auf die NPD und ihre Verbin-dungen zum „NSU“, ihrer Vernetzung mit der radikalisierten Szene der Kame-radschaften und „Freien Kräfte“ wird er-neut über ein NPD-Verbot diskutiert. Die Argumente, die für und gegen ein Verbot bzw. einen Verbotsantrag sprechen, sind bekannt und ausgetauscht. Für ein Verbot gibt es gute Gründe und

es muss sorgfältig – ohne Aktionismus – geprüft werden. Ein hoher und perma-nenter Verfolgungs- und Fahndungsdruck und die konsequente Anwendung von Ge-setzen sowie die Durchsetzung von Ver-boten wirken in die rechtsextreme Szene immer auch einschüchternd, Infrastruk-turen und Ressourcen werden aufgelöst und zerschlagen. So wäre die NPD nach ihrem Verbot aus den Landtagen, Konten würden eingefroren und Parteibüros ge-schlossen; es gäbe keine Wahlkampfkos-tenerstattung der Partei mehr aus Steu-ergeldern. Man würde ihnen die Plakate, Anwesen und Säle nehmen. Das hat eine politische Signalwirkung in die Gesell-schaft (ihr Wählerpotential) und in das rechtsextreme Lager. Im Blick ist damit vor allem der parteipolitisch organisierte Rechtsextremismus, dann auch die mili-tante, gewaltbereite und auch terroristi-sche Szene gerichtet, wenn sich weitere Verbote auch auf Gruppen der militanten Kameradschaftsszene, die „Freien Kräf-te“, Autonomen Nationalisten und deren Netzwerke beziehen.Das ist die eine Seite der Medaille, die

andere Seite ist: Mit einer solchen favo-risierten (vielfach symbolischen und ak-tionistischen) Handlungsstrategie wird Sicherheit versprochen oder suggeriert, die sie nicht bieten und garantieren kann. Sie zentriert und engt damit die Debatte und politisches Handeln auf Sicherheits- und Organisationsfragen, auf techni-

sche und administrative Regelungen bzw. Verschärfungen. Ein Parteiverbot besei-tigt nicht die Gefahr und Gesinnung; die rechtsextreme Szene fühlt sich geradezu heroisch, wenn sie Gesetze brechen. Die Szenen sowie deren Ideologie bleiben er-halten; es wird – nach einer gewissen Pha-se der Verunsicherung und Schwächung – zu (Re-) Organisationsversuchen und neuen Strukturen (auch Parteigründun-gen) kommen. Das hat die Geschichte des Rechtsextremismus in der Bundesrepu-blik wiederholt gezeigt. Weiter sind mit einer verbotsfixierten Debatte nicht das Umfeld und die „Mitte der Gesellschaft“ thematisiert und in Handlungsstrategien einbezogen. Wir haben es mit einer „hal-bierten Strategie“ zu tun, die lediglich auf den „Rand der Gesellschaft“ blickt. Wichtig ist, dass diese Debatte nicht ab-

lenkt und zum Alibi staatlichen Handelns wird; dass sie andere notwenige Aufklä-rungen, demokratiepolitische Aktivitäten und Programme nicht verdrängt oder er-setzt. Wenn die Diskussion um das NPD-Verbot keine Ersatzhandlung und kein Ablenkungsmanöver sein soll, dann gilt: Wenn man davon überzeugt ist, dass die Partei die freiheitliche Grundordnung in aggressiv-kämpferischer und gewalt-fördernder Weise bekämpft und mit der gewaltaffinen neonazistischen Szene ver-netzt ist (und es sieht ja nach der Unter-stützung der Terrorgruppe aus), warum hat man es dann nicht längst konsequent anhand der Handlungsanweisung des BVG aus dem Jahr 2003 vorangetrieben, anstatt in Endlosdiskussionen ständig neue Prüfaufträge zu erteilen und Krite-rienkataloge zu erstellen, zur Vorsicht zu mahnen und an Gewissenhaftigkeit zu ap-pellieren. Zu den zentralen Fragen und Themen gehören in der weiteren Debatte über Rechtsextremismus und die Aufklä-rung der Mordserie m. E. dreierlei:

• Ob Politik und Gesellschaft primär oder ausschließlich auf den rechtsextre-men Rand blicken und fixiert sind.• Ob, wie angekündigt, alle zu klären-den Fragen des Rechtsterrorismus mit seinen vernetzten Strukturen beantwor-

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Beruf und QualifikationSozial Extra 1|2 ’12

tet werden. Das sind u.a.: Wer waren die Mitwisser und wer hat der Terrorzelle ge-holfen und sie unterstützt? Wer hat sie be-günstigt, gewähren lassen oder ihre Taten fahrlässig übersehen? Welche Rolle spiel-ten das Umfeld und die Netzwerke? Wo-her kamen die Waffen, der Sprengstoff und die Munition? Was ist mit dem V-Mann „Klein-Adolf “ vom hessischen Ver-fassungsschutz? Was hatte er in dem Kas-seler Internetlokal zu suchen, in dem der 21-jährige Halit Yozgat von der Zwickauer Terrorgruppe kaltblütig exekutiert wur-de? Was ist mit den gefälschten Pässen und den angemieteten Wohnungen? Was leistet eigentlich der Verfassungsschutz, der vorgibt durch Kritiker- und Gegner-beobachtung die Verfassung zu schützen – und seine (dubiosen) V-Männer? In was sind letztere verwickelt? Wir haben es mit einer Mordserie zu tun, die systematisch geplant wurde und sich über mehrere Jah-re hingezogen hat. Sie wurde psychisch, ideologisch und logistisch geradezu per-fekt vorbereitet. Wie war so etwas mög-lich, ohne dass eingegriffen wurde? Gibt es Zusammenhänge zwischen den ein-zelnen Morden und lokalen rechtsextre-men Gruppen und neonazistischen Akti-vitäten? Solche Fragen dürfen nicht in ei-nem rhetorischen Verschiebebahnhof von Schuldzuweisungen bearbeitet werden. Es bleibt abzuwarten, zu welchen Erkennt-nissen und Schlussfolgerungen die weite-ren Untersuchungen kommen.• Und ob auch menschenfeindliche Mentalitäten und Orientierungen, die bis in die „Mitte der Gesellschaft“ reichen, thematisiert werden und zu politischem Handeln auffordern.

Die zweite Tendenz favorisiert mehr den Erhalt und die Entwicklung einer „frei-en, offenen und demokratischen Gesell-schaft“. Hier wird die Bedeutung akzentu-iert, dass eine demokratische Gesellschaft ihre Freiheitsrechte und Offenheiten nicht einschränkt und, sie sich zu ihrer mul-tikulturellen Entwicklung bekennt und alle einlädt, diese mitzugestalten. Damit wird auf die Stärke der Demokratie, auf die Überzeugung der Bürgerinnen und

Bürger, auf das Selbstbewusstsein gesetzt, im politischen und gesellschaftlichen Dis-kurs die besseren Argumente zu haben. Vertrauen und Zutrauen in Demokratie und Verfassungsstaat, die staatlichen In-stitutionen und den zivilgesellschaftlichen Diskurs sind Markenzeichen einer Ge-sellschaft, die sich nicht in die Defensive drängen lässt, sondern den Rechtsextre-mismus und -populismus in allen seinen Facetten ächtet und zugleich rechtsstaat-lich bekämpft.

Demokratiepolitik

In der Auseinandersetzung mit Rechts-extremismus, -populismus gibt es zwar zahlreiche Programme und gute Projekte, aber es ist keine politisch-gesellschaftliche Offensive erkennbar, die auf eine tiefe und breite Selbstaufklärung der Gesellschaft (und hier vor allem auch die Erwachse-nengesellschaft), ihres mentalen Zustan-des und auf Demokratieentwicklung zielt. Das gilt für alle politischen Ebenen, Insti-tutionen und für die Zivilgesellschaft. Die Forderung nach einem NPD-Verbot ist ein „Ladenhüter“ und ein neues Gemein-sames Abwehrzentrum gegen Rechtsext-remismus (GAR) erscheint sinnvoll; aber ein neues Register bzw. eine Verbundda-tei von rechtsextremen Gewalttätern, ge-waltbereiten Rechtsextremisten und Kon-taktpersonen kann auch die Gefahr einer Gesinnungsdatei beinhalten; sie muss eng gefasst sein und sich auf einzelne Fälle beziehen. Die Demokratie, Partizipati-on und das Interesse am Politischen bele-ben solche Maßnahmen nicht, aber gerade darauf käme es in einer demokratie- und partizipationspolitischen Offensive an. Es stellen sich Fragen nach breiten Präventi-onsprogrammen, klugen Interventions-, Beratungs- und Aussteigerprogrammen, nach dem demokratischen Selbstbewusst-sein und der demokratischen Selbstüber-zeugung in Politik und Gesellschaft.

Chancen von Pädagogik und Beratung

Die pädagogische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus/-populismus be-darf ständiger Reflexion und Vergewisse-

rung. Das gilt auch für das Beratungsnetz-werk und seine Praxis. Wenn der Rechts-extremismus/-populismus ein stabiles Dauerphänomen demokratischer Gesell-schaften ist, sich seine Phänomene – vom Rechtspopulismus bis hin zum Rechtster-rorismus – immer wieder ändern, wenn menschenfeindliche Orientierungen und Mentalitäten bis in die „Mitte der Gesell-schaft“ reichen, dann sind die Wege und Instrumente der Auseinandersetzung im-mer wieder abzuwägen. Für den Umgang und eine Zielgruppen-

differenzierung gilt nach langjährigen Er-fahrungen u.a. folgendes zu bilanzieren: Der harte Kern, die führenden Protago-nisten und Aktivisten der rechtsextreme Szene werden mit kommunikativen An-geboten nicht erreicht, sie leben in abge-schotteten Eigenwelten und sind mit Ar-gumenten nicht beeinflussbar. Wir haben es hier mit Überzeugungs- und Gefühls-welten zu tun, die von Hass, Neid, Ra-che, Verachtung, Feindbildern, Gewalt- und Vernichtungsphantasien geprägt sind. Auch Mitglieder, Wähler und Sym-pathisanten rechtsextremen Parteien und Gruppen sind ebenfalls kaum rationalen Argumenten zugänglich und in ihren Ein-stellungen beeinflussbar. Demgegenüber sind mehr offene Weltbilder und Über-zeugungen, potentielle Wähler rechtsext-remen Parteien, die vor allem sozial (-po-litisch) mit der Gerechtigkeitslücke argu-mentieren, am ehesten mit Argumenten und Erfahrungen erreichbar. Hier liegen dann Chancen von pädagogischer und be-ratender Arbeit, von Hilfen in Suchpro-zessen nach Orientierung, Sinn und Deu-tung. Einrichtungen wie Beratungsnetz-werke sind hier ein wichtiges Element in einer Strategie, die Prävention und Inter-vention, Hilfe und Begleitung favorisiert.

∑Anmerkung 1 Auch Italien ist in diesen Tagen von

einem rassistisch motivierten Amoklauf betroffen: in Flo-renz hat am 14. Dezember ein bekannter und bekennen-der Rechtsextremist zwei Männer aus dem Senegal ermor-det und drei schwer verletzt.