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Immanuel Kant Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?

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Immanuel Kant

Beantwortung der Frage:Was ist Aufklärung?

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Text gemeinfrei.Aufmachung urheberrechtlich geschützt.

1. Vorabversion der 1. Auflage vom 16. Juni 2015.

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Beantwortung der Frage:Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seinerselbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit istdas Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitungeines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist dieseUnmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht amMangel des Verstandes, sondern der Entschließung unddes Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderenzu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eige-nen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruchder Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum einso großer Theil der Menschen, nachdem sie die Naturlängst von fremder Leitung frei gesprochen

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(naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens un-mündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird,sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so be-quem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das fürmich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Ge-wissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt,u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezah-len kann; andere werden das verdrießliche Geschäftschon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größ-te Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Ge-schlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daßer beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: da-für sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsichtüber sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdemsie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, undsorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe jakeinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sieeinsperreten, wagen durften; so zeigen sie ihnen nach-her die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchenallein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so großnicht, denn sie würden durch einigemahl Fallen wohlendlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Artmacht doch schüchtern, und schrekt gemeiniglich vonallen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sichaus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmün-digkeit

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herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen, undist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eige-nen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals denVersuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln,diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Ge-brauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben,sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmün-digkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auchüber den schmalesten Graben einen nur unsicherenSprung thun, weil er zu dergleichen freier Bewegungnicht gewöhnt ist. Daher giebt es nur Wenige, denenes gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistessich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln, unddennoch einen sicheren Gang zu thun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist ehermöglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt,beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immereinige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetztenVormündern des großen Haufens, finden, welche, nach-dem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfenhaben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des ei-genen Werths und des Berufs jedes Menschen selbstzu denken um sich verbreiten werden. Besonders isthiebei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnenunter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbstzwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seinerVormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind,dazu aufgewiegelt

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worden; so schädlich ist es Vorurtheile zu pflanzen,weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die, oderderen Vorgänger, ihre Urheber gewesen sind. Daherkann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelan-gen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl einAbfall von persönlichem Despotism und gewinnsüch-tiger oder herrschsüchtiger Bedrükkung, aber niemalswahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen;sondern neue Vorurtheile werden, eben sowohl als diealten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Hau-fens dienen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert alsFreiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, wasnur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Ver-nunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu ma-chen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räson-nirt nicht! Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondernexercirt! Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern be-zahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt!(Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!)Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. WelcheEinschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? wel-che nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ichantworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunftmuß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärungunter Menschen zu

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Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darföfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darumden Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebraucheseiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Ge-lehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserweltmacht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, dener in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichenPosten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf.Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interessedes gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanismnothwendig, vermittelst dessen einige Glieder des ge-meinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, umdurch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierungzu öffentlichen Zwekken gerichtet, oder wenigstensvon der Zerstörung dieser Zwekke abgehalten zu wer-den. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonniren;sondern man muß gehorchen. So fern sich aber dieserTheil der Maschine zugleich als Glied eines ganzengemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaftansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, dersich an ein Publikum im eigentlichen Verstande durchSchriften wendet; kann er allerdings räsonniren, ohnedaß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zumTheile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehrverderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinenOberen etwas anbefohlen wird, im Dienste

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über die Zwekmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Be-fehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Eskann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden,als Gelehrter, über die Fehler im Kriegesdienste Anmer-kungen zu machen, und diese seinem Publikum zurBeurtheilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nichtweigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogarkann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sievon ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (dasallgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte) be-straft werden. Eben derselbe handelt demohngeachtetder Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er, alsGelehrter, wider die Unschiklichkeit oder auch Unge-rechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seineGedanken äußert. Eben so ist ein Geistlicher verbun-den, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinenach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vor-trag zu thun; denn er ist auf diese Bedingung angenom-men worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit,ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüftenund wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte injenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrich-tung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikummitzutheilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewis-sen zur Last gelegt werden könnte. Denn, was er zuFolge seines Amts, als Geschäftträger der Kirche, lehrt,das stellt er als etwas vor, in Ansehung

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dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gut-dünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift undim Namen eines andern vorzutragen angestellt ist. Erwird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; dassind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er ziehtalsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeindeaus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Ueber-zeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag ersich gleichwohl anheischig machen kann, weil es dochnicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verbor-gen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichtsder innern Religion widersprechendes darin angetrof-fen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden,so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwaltenkönnen; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch also,den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vorseiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch;weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch sogroße, Versammlung ist; und in Ansehung dessen ister, als Priester, nicht frei, und darf es auch nicht sein,weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen alsGelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publi-kum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistlicheim öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießteiner uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenenVernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zusprechen. Denn daß die Vormünder des Volks

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(in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig seinsollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung derUngereimtheiten hinausläuft.

Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen,etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdigeKlassis (wie sie sich unter den Holländern selbst nennt)berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein ge-wisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, umso eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedesihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zuführen, und diese so gar zu verewigen? Ich sage: dasist ganz unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf im-mer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechteabzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings nullund nichtig; und sollte er auch durch die oberste Ge-walt, durch Reichstäge und die feierlichsten Friedens-schlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nichtverbünden und darauf verschwören, das folgende ineinen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich wer-den muß, seine (vornehmlich so sehr angelegentliche)Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern zu reinigen,und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten.Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Na-tur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesemFortschreiten besteht; und die Nachkommen sind alsovollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbe-fugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen.Der Probierstein

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alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossenwerden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbstwohl ein solches Gesetz auferlegen könnte? Nun wäredieses wohl, gleichsam in der Erwartung eines bessern,auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine ge-wisse Ordnung einzuführen; indem man es zugleichjedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen, freiließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d. i.durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligenEinrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessendie eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bisdie Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffent-lich so weit gekommen und bewähret worden, daß siedurch Vereinigung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht al-ler) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, umdiejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich et-wa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einerveränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohnedoch diejenigen zu hindern, die es beim Alten woll-ten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche, vonNiemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsver-fassung, auch nur binnen der Lebensdauer eines Men-schen, sich zu einigen, und dadurch einen Zeitraumin dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserunggleichsam zu vernichten, und fruchtlos, dadurch aberwohl gar der Nachkommenschaft nachtheilig, zu ma-chen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kannzwar für seine Person,

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und auch alsdann nur auf einige Zeit, in dem was ihmzu wissen obliegt die Aufklärung aufschieben; aber aufsie Verzicht zu thun, es sei für seine Person, mehr abernoch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligenRechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschlie-ßen darf, das darf noch weniger ein Monarch über dasVolk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehenberuht eben darauf, daß er den gesammten Volkswillenin dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daßalle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürger-lichen Ordnung zusammen bestehe; so kann er seineUnterthanen übrigens nur selbst machen lassen, was sieum ihres Seelenheils willen zu thun nöthig finden; dasgeht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nichteiner den andern gewaltthätig hindere, an der Bestim-mung und Beförderung desselben nach allem seinenVermögen zu arbeiten. Es thut selbst seiner MajestätAbbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er dieSchriften, wodurch seine Unterthanen ihre Einsichtenins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsichtwürdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchstenEinsicht thut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Cae-sar non est supra Grammaticos, als auch und noch weitmehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt,den geistlichen Despotism einiger Tyrannen

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in seinem Staate gegen seine übrigen Unterthanen zuunterstützen.

Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt ineinem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein,aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß dieMenschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzengenommen, schon im Stande wären, oder darin auchnur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sichihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andernsicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel.Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird,sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse derallgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrerselbst verschuldeten Unmündigkeit, allmälig wenigerwerden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. Indiesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter derAufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.

Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zusagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingenden Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnendarin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hoch-müthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: istselbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Weltund Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, derzuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit,wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, undJedem frei ließ, sich

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in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenenVernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungs-würdige Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ih-re vom angenommenen Symbol hier oder da abwei-chenden Urtheile und Einsichten, in der Qualität derGelehrten, frei und öffentlich der1 Welt zur Prüfungdarlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keineAmtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheitbreitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mitäußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehen-den Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieserdoch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit, für die öffent-liche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nichtdas mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeitensich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus,wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darinzu erhalten.

Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die desAusganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldetenUnmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt:weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften un-sere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormundüber ihre Unterthanen zu spielen; überdem auch je-ne Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auchdie entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungs-art eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt,geht noch weiter, und sieht ein: daß selbst in Ansehungseiner Gesetzgebung

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es ohne Gefahr sei, seinen Unterthanen zu erlauben,von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zumachen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfas-sung derselben, sogar mit einer freimüthigen Kritik derschon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen; davonwir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch keinMonarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.

Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sichnicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldisci-plinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichenRuhe zur Hand hat, – kann das sagen, was ein Frei-staat nicht wagen darf: räsonnirt so viel ihr wollt, undworüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hierein befremdlicher nicht erwarteter Gang menschlicherDinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen be-trachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Gradbürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistesdes Volks vortheilhaft, und setzt ihr doch unübersteig-liche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafthingegen diesem Raum, sich nach allem seinen Vermö-gen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieserharten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichstensorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Den-ken, ausgewikkelt hat; so wirkt dieser allmählig zurükauf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheitzu handeln

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nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar aufdie Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträg-lich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschineist, seiner Würde gemäß zu behandeln.*)

I. Kant.Königsberg in Preußen,den 30. Septemb. 1784.

*) In den Büsching’schen wöchentlichen Nachrichtenvom 13. Sept.[ember] lese ich heute den 30sten ebendess.[elben] die Anzeige der Berlinischen Monatsschriftvon diesem Monat, worin des Herrn Mendelssohn Be-antwortung eben derselben Frage angeführt wird.2 Mirist sie noch nicht zu Händen gekommen; sonst würdesie die gegenwärtige zurükgehalten3 haben, die jetztnur zum Versuche da stehen mag, wiefern der ZufallEinstimmigkeit der Gedanken zuwege bringen könne.

2 Moses Mendelssohn: Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in:Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 193–200.3 Vorlage: zuükgehalten

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