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In Der Hungerwüste

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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 51

In der Hungerwüstevon William Voltz

Über Myra und Dragons Thron, den zu halten sich Königin Amee nach Kräften bemüht, sind düstere Schatten gefallen.

Schuld daran, daß es so kam, trägt zweifellos Dragons lange Abwesenheit, bewirkt durch den veränderten Zeitablauf, der aus drei Monaten Aufenthalt auf Vestas oder Danilas Welt drei ganze irdische Jahre macht. Und drei Jahre sind zuviel! Schon vorher beginnt es in Myranien unruhig zu werden. Da Dragon längst für tot gehalten wird, bedrängen Freier die Königin, die sich ihrer nur mit Hilfe des magischen Umhangs erwehren kann, den Dragon vom Namenlosen erhielt und der aus dem Eisland zurückgeholt wurde.

Rachmud, ein schmählich abgewiesener Freier, bedient sich sogar der Mächte der Dunkelheit und des Meisters der Dämonen, um die Königin unter Druck zu setzen und sich an Myra zu rächen.

Doch Rachmud stirbt durch eben die Mächte, die er zu Hilfe gerufen hat. Und auch ein Meister der Dämonen – so zeigt es sich – ist nicht in allen Situationen unschlagbar, so daß die Myraner und ihre Königin noch einmal aufatmen können.

Bald darauf gelingt Dragon die Rückkehr in seine eigene Welt. Zusammen mit Ubali, dem Panther, und der schönen Thamai durchschreitet er das »Götterauge«. Er und seine Begleiter landen IN DER HUNGERWÜSTE.

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Die Hauptpersonen des Romans:Dragon - Der Atlanter kehrt in seine eigene Welt zurück. Ubali und Thamai - Dragons Weggefährten.Schlangentöter - Ein junger Padoka wird zum Krieger.Taymagadur - Ein Blutjäger von Ossar.Grephim - Bewahrer eine Mumie.

1.

Großer Vogel war hundert Männer.Er war hundert Pfeile und hundert Äxte. Und er war die Stimme unseres ganzen Volkes.Kriegsgesang der Kanuks

*

»Sieh deinen Sohn an, Talahasset, Großer Geist des Waldes«, sagte der Sohn des Weißen Elchs und stieg mit federnden Schritten zu den sonnenheißen Felsen hinauf.

Oben auf dem Hügel hielt er an, legte Pfeile und Bogen neben sich, nahm die Kampfaxt aus dem Hüftgurt und löste das Grasband aus seinen Zöpfen.

»Sieh deinen Sohn an«, sagte er zu seinem Gott und hob den Kopf. »Er wird sich einen eigenen Namen machen, die Tat vollbringen und nicht mehr nur der Sohn des Weißen Elchs sein.«

Der Padoka war sechzehn Sommer alt, für sein Alter hochgewachsen und muskulös. Er war abgemagert und seine Augen lagen tief in den Höhlen, eine Folge der seit vielen Tagen andauernden Mannbarkeitsriten, die nun ihren Abschluß und Höhepunkt finden sollten. Fünf Tage hatte er an einem Holzkreuz über dem Feuer des Häuptlingstipis gehangen und gefastet, nun waren seine Gedanken klar und voller Zuversicht.

Seine Blicke schweiften über das Land der Kanuks. Noch war es ein freies Land, in dem viele Stämme aus dem Volk der Kanuks frei leben konnten, genau wie die Padokas.

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Aber die alten Häuptlinge hatten warnend ihre Stimme erhoben und prophezeit, daß die Stämme der Kanuks versklavt werden könnten, genau wie das Volk der Quesas, die ein paar Jahrhunderte vor den Kanuks in dieses Land gekommen waren und nun den Süden von der Hungerwüste bis zum Großen Dschungel beherrschten.

Die Stämme der Kanuks hatten sich zerstritten, sie überfielen einander, raubten sich Frauen und Kinder, um diese an den Wasicun auszuliefern.

Auch der Sohn des Weißen Elchs kannte bereits die Sprache der Hellhäutigen von Neu-Atlantis. Einer der Schamanen, die zusammen mit dem Häuptling die Geschicke der Padokas bestimmten, hatte sie dem Häuptlingssohn beigebracht.

»Es ist gut die Sprache des Wasicun zu beherrschen«, hatte er dazu bemerkt. »Denn so sicher, wie die Sonne über der Hungerwüste verschwindet, wirst du einmal mit den Fremden zusammentreffen.«

In letzter Zeit, erinnerte sich der Padoka, waren fremdartige Waffen in den Zelten seines Volkes aufgetaucht. Krieger der Padokas hatten sie im Tausch gegen Frauen und Kinder anderer Stämme von den Hellhäutigen erhalten. Es war nicht klar, was die Hellhäutigen mit den Gefangenen machten, aber es gab wilde Gerüchte und Vermutungen überall im Lande der Kanuks.

Unmittelbar vor Beginn der Mannbarkeitsriten hatte der Häuptlingssohn seinen Vater nach dem Sinn solcher Handelsbeziehungen befragt, doch der Weiße Elch war ihm ausgewichen.

»Es ist nicht meine Sache, darüber nachzudenken!« hatte der Weiße Elch gesagt. »Das überlasse ich den Schamanen.«

Und die Schamanen der Padokas sagten, daß die neuen Waffen, die man von den Hellhäutigen erhielt, gut waren.

Der Sohn des Weißen Elchs hielt sich an die Regel, daß ein junger Mann, der noch kein vollwertiger Krieger war, gegen die ungeschriebenen Gesetze seines Stammes keinen Einspruch erheben durfte. Aber er kannte die Legende vom Großen Vogel, jenem

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tapferen Häuptling, der einst die Stämme der Kanuks geeint und gegen die Blutburg Mendos geführt hatte.

Damals hatten, so berichtete jedenfalls die Legende, die Kanuks die Blutburg erobert. Seither hatten die Hellhäutigen nicht gewagt, eine neue Festung unmittelbar im Land der Kanuks zu errichten. Aber es gab zwei Blutburgen im Lande der Quesas: Shebar und Ossar.

Die Padokas kannten diese Festungen nur dem Namen nach, und niemand wußte genau, warum sie eigentlich Blutburgen hießen.

Der Sohn des Weißen Elchs ging in die Hocke. Seine nackten, vom hochlodernden Lagerfeuer des Häuptlingszelts verbrannten Fußsohlen schmerzten, als sie den heißen Stein berührten.

Der junge Padoka legte beide Arme auf die Knie und öffnete die Hände, daß ihre Flächen nach oben zeigten.

Unmittelbar bevor er hierher gekommen war, hatte er Zercas gegessen, halluzinogene Pilze.

»Dein Sohn ist voller Demut und Opferbereitschaft, Talahasset«, sagte der Sohn des Weißen Elchs. Seine Stimme klang weit über die Felsen dahin und verriet alles andere als Unterwürfigkeit. Unterschwelliger Trotz schwang in dieser Stimme mit und die Bereitschaft, auch mit dem Großen Geist des Waldes zu streiten, wenn es nötig sein sollte.

Der Sohn des Weißen Elchs war tapfer und ehrlich. Er war von unbändigem Stolz erfüllt. Die Art, wie der junge Padoka sich im Lager der Jäger verhielt,

hatte einen Schamanen veranlaßt, den Weißen Elch zu warnen. »Dein Ältester hat einen wilden Blick, und seine Zunge

verschleudert die Worte wie ein Bogen die Pfeile.« Doch wenn es um seinen Sohn ging, war der Weiße Elch nicht

bereit, mit den Medizinmännern zu diskutieren. »Er wird ein großer Krieger werden!« Das war alles, was der Weiße Elch zu den Warnungen der

Schamanen zu sagen hatte. Die Gedanken des jungen Padokas begannen sich unter dem

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Einfluß der Pilze zu verwirren. Seine Augen wurden fiebrig und bekamen eine merkwürdige

Starre. Außerdem traten sie ein Stück aus ihren Höhlen hervor. Auch mit dem Körper des Jünglings ging eine Veränderung vor sich. Er schien sich zu verkrampfen und völlig leblos zu werden.

Nur seine Hautfarbe unterschied den Padoka jetzt noch von den Felsen, zwischen denen er hockte.

Die Umgebung verblaßte vor den Augen des jungen Mannes. An ihre Stelle trat ein weites Land mit ausgedehnten Tälern und

weiten Steppen. Am Horizont waren Berge zu sehen, mit so unregelmäßigen

Gipfelformationen, daß sie aussahen wie die vom Wind zerfurchte Oberfläche des Endlosen Meeres.

Eine Anhöhe jedoch überragte alle anderen. Das Land war das Gebiet um den Ah'rath. Der Sohn des Weißen Elchs hätte nicht zu sagen gewußt, woher er

diesen Begriff kannte, denn er hatte ihn niemals zuvor gehört. Auch das Land, daß er jetzt mit faszinierender Deutlichkeit vor

sich sah, war fremdartig. Sicher war es noch nie von einem Kanuk betreten worden.

Das Gebiet um den Ah'rath war von einer Ehrfurcht gebietenden Stille und Einsamkeit. In dieser großen Stille hätte Talahasset in der Gestalt eines weißen Elchs leben können und wäre zufrieden gewesen.

Plötzlich jedoch entstand Bewegung in dieser Einsamkeit. Aus einem Taleinschnitt kam eine mächtige Gestalt hervor. In seinem Traum hielt der Podeka unwillkürlich den Atem an,

seine wie versteinert dahockende Gestalt schien zusammenzuschrumpfen.

Das gewaltige Geschöpf war größer als alle Tiere, die der Sohn des Weißen Elchs bisher erblickt hatte. Es glitt majestätisch in der Luft dahin, wie ein überdimensionaler Adler und doch völlig anders.

Obwohl dieses Wesen flog, unterschied es sich in allen Äußerlichkeiten von den Vögeln, die der Padoka bisher gesehen

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hatte. Das wichtigste Merkmal dieses Riesen war, daß er keine Federn besaß.

Auch der langgestreckte Hals, der Rückenkamm und der Schwanz waren äußerst ungewöhnlich.

Dieses Wesen konnte keine Realität sein – es war eine Vision aus dem Land der Götter.

Wenn ihm, dem Sohn des Weißen Elchs, in einem Wachtraum ein solches Geschöpf erschien, mußte dies ein besonderes Zeichen von Talahasset sein.

Kein anderer als der Geist des Großen Vogels schwebte über diesem fremden Land. Es konnte nur der Große Vogel sein, der sich in dieser Gestalt zeigte.

Der Jüngling »sah«, wie der Geist des legendären Kanuk-Häuptlings an den Hängen der Berge vorbeiglitt. Wo immer der Schatten des Riesen auf das Land fiel, schien sich alles zu ducken.

Das Bild wechselte. Der Padoka sah jetzt eine große Schlange, ein ungewöhnlich

großes Tier, dessen Körper den Durchmesser eines mittleren Baumes besaß und entsprechend lang war.

Die Schlange glitt durch das Gras, sie walzte es platt und hinterließ dabei eine dunkle Spur auf dem Boden.

Ihr Kopf war dreieckig und sie hob ihn ab und zu kurz an, anscheinend, um zu beobachten. Sie ging auf Jagd. Auch auf seinen Ausflügen in alle Richtungen der Hungerwüste hatte der Padoka niemals zuvor eine so große Schlange gesehen.

Aus den Erzählungen der alten Häuptlinge wußte er, daß die Schlange von den Neuatlantern und den Bewohnern der Blutburgen in besonderem Maße verehrt wurde, sie hatten dieses Tier zu ihrem Wappenzeichen erhoben.

Da fiel der Schatten des Großen Vogels auf die Schlange. Ihre Bewegungen brachen abrupt ab. Ihre goldbraunen Schuppen schimmerten im Licht der Mittagssonne.

Der Geist des Großen Vogels kreiste hoch über der Schlange, er war unerreichbar für sie, obwohl sie nach einer Weile wieder den

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Kopf hob und zornig zischelte. Dann rollte sie sich zusammen und erwartete den Angriff. Der Sohn des Weißen Elchs glaubte das Pfeifen der Luft zu hören,

als der seltsame Riesenvogel herniederstieß, um sich auf die Schlange zu stürzen.

Die Wucht des Angriffs ließ die Schlange erbeben, sie streckte sich, und ihr peitschendes Hinterteil pflügte eine dunkle Furche in den Boden. Der Geist des Großen Vogels hatte seine gewaltigen Pranken in den Körper der Schlange geschlagen.

Der Kampf war von unglaublicher Wildheit und wurde von beiden Seiten mit dem Ziel geführt, den Gegner zu töten. Die Gnadenlosigkeit, mit der die beiden Traumtiere sich bekämpften, ließ nur den Schluß zu, daß hier eine tiefgreifende Feindschaft zum Ausdruck kam.

Für den Jüngling auf dem Felsen gab es keine Zweifel daran, daß der Geist des Großen Vogels ein Bote Talahassets war und alles Ehrliche und Tapfere repräsentierte. Die Schlange dagegen war der Repräsentant von Doppelzüngigkeit, Heimtücke und Finsternis. Das war schon aus der Art zu erkennen, wie sie diesen Kampf führte.

Aber was sie auch unternahm, um den Großen Vogel abzuschütteln – es gelang ihr nicht.

Ihr Gegner riß das Fleisch in großen Fetzen aus ihrem Körper und zerstückelte sie auf diese Weise in mehrere Teile.

Die Teile des Schlangenkörpers schienen ein Eigenleben zu haben, denn sie zuckten und ringelten sich im blutbefleckten Gras zusammen.

Es war schrecklich anzusehen, daß die Schlange nicht sterben wollte, daß sie über den Tod hinaus eine unheimliche Aktivität bewahrte, als würden Mächte der Finsternis ihr ein unnatürliches Leben verleihen.

Doch der Häuptlingssohn hatte nicht lange Zeit, um über dieses Phänomen nachzudenken, denn in diesem Augenblick sah er ein anderes Bild.

Vor seinen Augen entstand eine hügelige Wüstenlandschaft,

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durch die sich drei merkwürdige Gestalten bewegten. Zwei von ihnen waren schwarzhäutig, ein Mann und eine Frau. Trotz ihrer ungewöhnlichen Hautfarbe schenkte ihnen der Padoka nur kurze Aufmerksamkeit, denn die dritte Person war faszinierender als die beiden anderen.

Padoka beobachtete einen hochgewachsenen Hellhäutigen, der einen Umhang trug, auf dem der Geist des Großen Vogels abgebildet war. Außerdem trug dieser Mann einen achteckigen Schild, auf dem sich ebenfalls das Symbol des Großen Vogels befand. Dieser Fremde bewegte sich kraftvoll und zielstrebig, neben dem Schild schleppte er noch einen Langbogen, ein Schwert und andere Ausrüstungsgegenstände mit, ohne daß es ihm auch nur die geringste Mühe bereitete.

Das Haar dieses Mannes hatte die Farbe von ausgetrocknetem Gras. So oder so ähnlich mußten auch die Männer von Neuatlantis aussehen, obwohl der Sohn des Weißen Elchs sofort sah, daß dieser Fremde nicht zu den Neuatlantern gehörte.

Der Sohn des Häuptlings entdeckte, daß der Unbekannte eine Große Medizin auf der Brust trug, ein kostbares, kunstvoll gearbeitetes Amulett. Zusätzlich dazu hatte er an seinem Gürtel einen Lederbeutel befestigt, dessen pralle Fülle auf einen reichhaltigen und geheimnisvollen Inhalt hinwies.

Erst jetzt nahm sich der Jüngling Zeit, die beiden anderen Gestalten zu betrachten, wobei er unwillkürlich sein Augenmerk zuerst auf die Frau richtete.

Im Stamme der Padokas gab es viele schöne junge Frauen, aber keine von ihnen hätte mit der Figur dieser Fremden konkurrieren können. In dem Padoka regte sich Verlangen, als er die Bewegungen des fast völlig nackten und schwarzen Frauenkörpers sah, aber er bekam sich sofort wieder in seine Gewalt, denn solche Gefühle standen einem Jüngling, der die Mannbarkeitsriten noch nicht vollständig vollzogen hatte, nicht zu.

Außerdem war offenkundig, daß der schwarzhäutige Mann, der hinter dem Mädchen durch den Sand schritt, ihr Gefährte war. Das

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ging schon aus der Art hervor, wie er sich halbschräg hinter ihr bewegte, mit stets wachen Blicken, um sie bei einem unerwarteten Angriff zu beschützen.

Irgend etwas an den Bewegungen dieses Mannes erinnerten den Padoka an ein Raubtier. Er wußte nicht, warum er auf diesen Gedanken kam, aber dieser Eindruck ließ sich nicht verwischen.

Die Frau, erkannte der Kanuk beim zweiten Hinsehen, trug einen Stab über der Schulter, der eine besondere Waffe zu sein schien.

Dann stürzte das Bild in sich zusammen. Der Padoka fand sich auf dem Felsen hockend in den Hügeln oberhalb des Jagdreviers seines Stammes wieder.

Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, aber an der körperlichen Schwäche spürte er, daß er länger als einen Tag und eine Nacht in dieser Haltung verharrt hatte. Er wußte von den Schamanen, daß die Wirkung der Pilze oft tagelang anhielt.

Als er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig, und er rutschte aus. Er schlug auf die Felsen, war aber noch geistesgegenwärtig und stark genug, um den Sturz mit den Händen abzufangen.

Der Wahrtraum hatte ihn völlig verwirrt. Sollte er zu den Schamanen gehen und ihn deuten lassen? Irgend etwas in seinem Innern schien ihm zuzuflüstern, das besser

nicht zu tun, denn es hätte große Gefahren für ihn heraufbeschworen. Die Berater des Häuptlings wären sicher eifersüchtig geworden, wenn sie von den einmaligen Visionen des Jünglings gehört hätten.

Kein Kanuk konnte von sich behaupten, daß ihm der Geist des Großen Vogels erschienen war.

Für den Sohn des Weißen Elchs gab es nur eine Erklärung: Der Große Vogel war von Talahasset geschickt worden, um den jungen Mann aufzufordern, den Feldzug des legendären Häuptlings zu erneuern.

Sobald der Padoka zum Krieger geworden war, mußte er den Kampf gegen die Neuatlanter aufnehmen.

Jetzt kam es zunächst einmal darauf an, Verbindung zu den drei

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seltsamen Fremden aufzunehmen, die er in seinem Traum gesehen hatte. Der Jüngling war sicher, daß sie südwärts durch die Hungerwüste zogen. Er kannte dieses Gebiet aus den Erzählungen der Jäger und hatte sich viele Geländemerkmale aus seiner Vision eingeprägt.

Er war überzeugt davon, daß er die Unbekannten einholen würde, denn der zweite Teil seiner Vision hatte offensichtlich einen Ausblick in die Zukunft gewährt.

Der Sohn des Weißen Elchs wartete ungeduldig, daß sein Blut wieder normal zirkulierte, dann richtete er sich auf und streckte sich.

»Dein Sohn ist voller Dankbarkeit«, sagte der Padoka zu seinem Gott. »Er hat die Nachricht des Großen Vogels erhalten und wird sich nach ihr richten.«

Er sammelte seine Utensilien ein und stieg die Felsen hinab. Das Lager der Padokas lag weiter westlich, aber der

Häuptlingssohn spürte kein Verlangen, jetzt noch einmal dorthin zurückzukehren. Er mußte dem Ruf folgen, der ihn während des Wachtraums erreicht hatte.

Beinahe mitleidig dachte er an seinen Vater, den Weißen Elch. Er ahnte, daß er ihn nicht mehr wiedersehen würde, jedenfalls nicht unter den Bedingungen, wie sie seither zwischen ihnen geherrscht hatten.

Der Sohn des Weißen Elchs begann zu laufen. Er war schnell und ausdauernd. Und er hatte ein Ziel. Großer Vogel trat vor das Volk und zerbrach einen Pfeil. Er sagte:

»Das ist unser Volk, uneins und ohne Kraft!« Und er nahm einen zweiten Pfeil, stieß ihn in seine Schulter, daß

es blutete. Er schwieg dazu. Kriegsgesang der Kanuks

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2.

In der mondhellen Nacht war die Silhouette des Westgebirges deutlich zu erkennen. Der Sohn des Weißen Elchs hatte den Rand der Hungerwüste erreicht und war froh, als er auf eine kleine Felsenquelle stieß, an der er seinen Durst stillen konnte. Abseits der Quelle fand er die Spuren von Pferden und Menschen. Die Mondnacht war hell genug, um den Padoka Einzelheiten erkennen zu lassen.

Im feuchten Boden rund um die Wasserstelle hatten sich die Spuren deutlich eingedrückt.

Da waren die Spuren eines einzelnen Pferdes, tief genug, um auf einen schweren Reiter mit Ausrüstung zu schließen. In der Nähe fand der Jüngling die Spuren von nackten Füßen, die teilweise von Schleifspuren verwischt wurden. Der Padoka schätzte, daß sie von einem Dutzend in Ketten gelegter Kanuks verursacht worden waren. Die Schleifspuren konnten nur von den Ketten herrühren. Es gab noch andere Schleifspuren, als wären Schlangen von doppelter Manneslänge um die Quelle geglitten. Der Jüngling wollte nicht glauben, was er sah. Zwischen den Pferdespuren entdeckte der Padoka Eindrücke von leichten Lederschuhen mit geflochtener Sohle. Die Quesas trugen solche Schuhe.

Der Sohn des Weißen Elchs las die Geschichte dieser Spuren. Ein Neuatlanter zu Pferde war mit etwa zwölf gefangenen und in Ketten gelegten Kanuks hier vorbeigekommen. Die Gefangenen wurden von vier oder fünf Quesas und mehreren schlangenähnlichen Tieren bewacht.

Die Spuren waren etwa einen Tag alt. Diese Gruppe bewegte sich südwärts, etwa in die Richtung, die

auch der junge Padoka einschlagen mußte, wenn er die drei Fremden aus dem Wahrtraum finden wollte.

Rund um die Quelle wuchsen Sträucher mit dunklen Beeren daran. Der Padoka aß von den Beeren und trank noch einmal aus

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der Felsenquelle. Er wußte genau, daß er in der Hungerwüste nicht damit rechnen durfte, ausreichend Nahrung und Trinkwasser zu finden.

Als er sich genügend gestärkt hatte, rannte er weiter. Seine innere Erregung ließ keine Müdigkeit aufkommen, außerdem kaute er ab und zu getrocknete Pilze, die er in einem kleinen Beutel mit sich führte und die ihn stimulierten.

Die Schamanen behaupteten, daß sich ein Krieger mit Hilfe dieser Pilze einen ganzen Sommer lang wachhalten konnte – allerdings nur um den Preis seines Lebens. Der Padoka hatte Krieger gesehen, die nach tagelangen Jagdzügen ohne zu schlafen ins Lager zurückgekommen und dann entkräftet zusammengebrochen waren. Ihre Schwäche hatte jedoch niemals lange angedauert.

Während des Laufes nach Süden ließ die Aufmerksamkeit des Häuptlingssohns niemals nach. Er achtete auf seine Umgebung und registrierte das leiseste Geräusch. Er selbst verursachte kaum ein Geräusch. Sobald seine Füße etwas berührten, was unter der Last des Körpers nachgeben und brechen konnte, verlagerte der Padoka blitzschnell sein Gewicht, so daß es keinen Lärm gab. Es kam noch hinzu, daß der Kanuk seinen Laufstil dem jeweiligen Untergrund anpaßte.

Bei Tagesanbruch machte er einen unheimlichen Fund. Er befand sich in einem Gebiet, das man als die eigentliche Grenze zwischen dem Waldland der Kanuks und der Hungerwüste bezeichnen konnte. Ausläufer der Wüste hatten sich weit vorgeschoben und den Baumbestand zurückgedrängt. In dieser Gegend wuchsen zähe, niedrige Sträucher und gelbes Gras, das immer wieder zugeweht wurde und einen ständigen Kampf um seine Existenz führte. Frühmorgens war das Westgebirge nicht zu sehen, es lag im Dunst, der jede Nacht vom Endlosen Meer aufstieg und die Berge verhüllte, bis er von der Sonne wieder aufgesaugt wurde. Auf der anderen Seite der Hungerwüste befand sich die Große Bucht, ein Gebiet, daß der Sohn des Weißen Elchs bisher nie gesehen hatte.

Etwa hundert Schritte von dem Padoka entfernt lag ein regloser

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Körper am Boden. Der Jüngling suchte sofort die Deckung einer flachen Düne, denn

er mußte damit rechnen, daß Fremde in der Nähe waren. Eine Zeitlang lag er bewegungslos da, lauschte und beobachtete die Umgebung. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn in den Bogen. Die Kampfaxt lag griffbereit neben ihm. Wenn er auch noch kein vollwertiger Krieger war, wollte er beim Auftauchen eines Gegners seine Geschicklichkeit, seinen Mut und seine Stärke unter Beweis stellen.

Doch er hörte nur den Wind, der über die Dünen strich und den staubfreien Belag über dem Sand in grotesk aussehenden Wolkenformationen vor sich hertrieb.

Der Sohn des Weißen Elchs glitt langsam weiter. Ohne sich aufzurichten, arbeitete er sich zu einer höheren Düne vor. Von dort konnte er das Land über eine große Fläche hinweg beobachten. Er sah niemanden. Nun richtete er sich endgültig auf und näherte sich der Gestalt, die er gesehen hatte.

Bevor er sie erreichte, erkannte er, daß es sich um einen toten Kanukjungen handelte. Das Kind war bestimmt schon zwölf Sommer alt gewesen, als der Tod es ereilt hatte.

Der tote Kanuk lag auf dem Bauch, halb von Sand zugeweht und völlig nackt. Der Teil des Körpers, der frei dalag, wirkte seltsam geschrumpft, als hätte sich die Haut zusammengezogen. Außerdem war die Haut nicht rotbraun, sondern hellrot und wie durchsichtig.

Der Häuptlingssohn sah sich noch einmal um, aber es war niemand in der Nähe.

Erst jetzt beugte er sich nieder, drehte den Toten auf den Rücken und starrte ihn an.

Das Gesicht des toten Jungen sah eingefallen aus. Entsetzt stellte der Padoka fest, daß sich in diesem Körper kein

Blut mehr befand. Der Tod war offenbar durch totalen Blutverlust eingetreten. Etwaige Spuren rund um den Toten waren längst zugeweht worden, aber als der Padoka Hand- und Fußgelenke des Kindes untersuchte, stellte er fest, daß sie wundgescheuert waren.

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Das konnte nur bedeuten, daß er bis zu seinem Tod mit Ketten gefesselt gewesen war.

Der Sohn des Weißen Elchs schloß daraus, daß dieses Kind zu jenem Gefangenentrupp gehört hatte, der sich irgendwo vor ihm südwärts durch die Hungerwüste bewegte.

Am Hals des Kindes entdeckte der Jüngling mehrere Wunden. Die Halsschlagader war an vier Stellen geöffnet worden. Wahrscheinlich war hier das Blut ausgetreten. Das hatte zum Tod des Kindes geführt.

Der Häuptlingssohn vermutete, daß die schlangenähnlichen Tiere, die den Gefangenenzug als Wächter eskortierten, das Blut des Kindes getrunken hatten.

Er konnte nicht ahnen, daß die Wahrheit viel schrecklicher war. So hockte er neben dem toten Jungen und sann darüber nach, wie

er die Schuldigen bestrafen und den Mord rächen konnte. Diese schreckliche Tat mußte gesühnt werden.

Der Padoka glaubte, daß ihn der Geist des Großen Vogels nur hierher geführt hatte, um ihm in aller Deutlichkeit zu zeigen, daß ein neuer Feldzug gegen die Neuatlanter und ihre Blutburgen geführt werden mußte.

»Ich werde nicht ruhen, bis die Mörder dieses Jungen gefunden und bestraft worden sind, Talahasset«, sagte der Padoka zornig. »Alle Kanuks sollen erfahren, was geschehen ist. Vielleicht werden sie dann begreifen, daß sie einander nicht länger Frauen und Kinder rauben dürfen.«

Er ergriff die Kampfaxt und schlug dem Toten zwei Finger ab. Einen davon verwahrte er in seinem Medizinbeutel, den anderen vergrub er. Er hatte keine Zeit, Steine zu suchen und den Toten darunter zu begraben.

»Talahasset wird dich in seinem Reich aufnehmen«, sagte er. »Und er wird mir Kraft geben, die Mörder zu jagen.«

Er dachte an den Geist des Großen Vogels, der die Schlange getötet hatte.

»So werde ich die Feinde der Kanuks zerschmettern«, sagte er

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zornig. Sein junges Herz war übervoll von verschiedenen Gefühlen, aber

sein Gesicht blieb ausdruckslos und seine Stimme beherrscht. Schwarze Vögel kreisten über dem Land, und viele Elche starben

an einer schlimmen Krankheit. Die Schamanen sagten: »Das ist eine schlechte Zeit, um einen

gerechten Krieg zu führen.« Doch der Große Vogel verlachte sie und sagte: »Für den Kampf

um die Freiheit gibt es keine gute und keine schlechte Zeit. Dieser Kampf muß immer geführt werden.«

Kriegsgesang der Kanuks

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3.

Als er sicher sein konnte, daß weder die Quesas noch die Gefangenen ihn sehen konnten, nahm Taymagadur den golden schimmernden Metallhelm ab und strich sich mit dem Ellenbogen über das verschwitzte Gesicht. Die strohblonden Haare klebten in seiner Stirn, und der Schweiß brannte in seinen Augen. Er hatte sein Pferd hinter eine Düne geführt. Von seinem Platz aus konnte er das Klirren der Ketten hören. Die Gefangenen waren beunruhigt. Sie schienen zu ahnen, daß der Zeitpunkt, da man einen zweiten aus ihren Reihen töten würde, nahe war.

Den Jungen, der zuerst schwach geworden war, hatte Taymagadur als ersten ausgewählt. Nun würde eine der vier Frauen an die Reihe kommen. Mit den restlichen zwölf Gefangenen wollte Taymagadur jedoch auf jeden Fall die Blutburg Ossar erreichen.

Der Blutjäger war ein großer, schwerfällig aussehender Mann mit einem aufgequollenen, brutal wirkenden Gesicht und hellblauen Augen. Außer dem Helm, der mit Augenschlitzen und Atemöffnungen versehen war, trug er ein Kettenhemd und einen Waffenrock. Niemals zuvor war einer der Blutjäger von Ossar so tief in das Gebiet des Waldvolks eingedrungen. Taymagadur hatte dabei weniger eventuelle Angriffe der Kanuks als einen Zusammenstoß mit Blutjägern von Shebar befürchtet.

Shebar und Ossar waren seit langem miteinander verfeindet und standen in erbitterter Konkurrenz. Die Herren der Blutburgen mußten alle sechs Monde ihre Gefangenen in Neuatlantis abliefern. Da Ossar den unmittelbaren Weg nach der Großen Bucht versperrte, mußte Shebar und seine Blutjäger ihre Beute auf einem recht umständlichen Weg abliefern.

Dieser Weg führte per Segelschiff über das Endlose Meer, entlang der Küste des Felsigen Landes bis zum Vogelkap und dann durch die Enge der Winde nach Neuatlantis.

Ein paarmal bereits hatte Shebar versucht, die Sperre im Osten des

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Landes zu durchbrechen, aber er war jedesmal zurückgeschlagen worden. Im Land der Kanuks hatte Taymagadur seltsame Gerüchte gehört. Es wurde erzählt, daß Shebar in den Ruinen von Tochtar für immer verschwunden war.

Für Taymagadur, der genügend Arbeit mit seinen Gefangenen gehabt hatte, war wenig Zeit geblieben, nach dem Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu forschen. Obwohl er sie für übertrieben hielt, würde er jedoch Ossar davon unterrichten, was man ihm erzählt hatte.

Der Blutjäger hockte sich auf eine kleine Anhöhe und stützte die Arme auf die Knie. Er fühlte sich längst nicht mehr so frisch wie vor zwei Tagen, als sie den Jungen getötet hatten. Ohne die Hossas hätte er das gesamte Blut des Jungen zu sich nehmen können, doch da er die Tiere für die Beaufsichtigung der Gefangenen dringend benötigte, mußte er auch ihren Wünschen Rechnung tragen.

Taymagadur hörte das Zischeln eines Hossas in seiner unmittelbaren Nähe. Er ergriff die kleine Pfeife, die er am Hals hängen hatte, steckte sie in den Mund und blies hinein. Das Geräusch, das dabei entstand, war für ihn selbst nicht hörbar, aber die Hossas reagierten prompt darauf.

Wie jeder Blutjäger dirigierte auch Taymagadur seine Hossas mit der Pfeife.

Das Zischeln erstarb, das Tier entfernte sich wieder von seinem Herrn.

Taymagadur ging zu seinem Pferd und nahm den Wasserbeutel vom Sattelknauf. Er trank ein paar Schluck von der brackigen Brühe, die keinen Vergleich mit frischem Blut aushielt und gerade noch gut genug war, um den ausgetrockneten Mund zu befeuchten.

Dann schüttete Taymagadur etwas in seine Handflächen und ließ das Pferd daraus trinken.

In drei Tagen, so hoffte Taymagadur, würde er mit den Gefangenen Ossar erreicht haben. Dabei ging er von der Voraussetzung aus, daß es zu keinen Zwischenfällen kam. Bisher war er noch niemals aufgehalten worden, schon gar nicht in der

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Hungerwüste, aber er war ein Mann, der alle Eventualitäten in seine Pläne einbezog.

Taymagadur befeuchtete sein Gesicht und stülpte den Helm wieder über den Kopf. Nachdem er ihn am Kragen des Kettenhemds befestigt hatte, rief er die vier Jagdsklaven zu sich.

Die Quesas näherten sich ihm unterwürfig und blieben in respektvoller Entfernung stehen.

Taymagadur betrachtete sie mit einer Mischung aus Verachtung und Ungeduld und sagte: »Wir dürfen die Gefangenen jetzt nicht mehr so sehr antreiben und vor allen Dingen nicht quälen. Ich will nicht, daß uns noch jemand stirbt, bevor wir Ossar erreichen. Das gilt natürlich nicht für die Frau, deren Tod bereits beschlossene Sache ist.«

Er wußte, daß die Quesas die Kanuks haßten. Zwischen beiden Völkern bestand Todfeindschaft. Schon aus diesem Grund war es für die Neuatlanter einfach gewesen, die Quesas für ihre Ziele zu gewinnen. Die Quesas waren ein paar Jahrhunderte früher aus dem Norden gekommen als die Kanuks, und sie waren inzwischen seßhaft geworden. Die Kanuks dagegen lebten nach wie vor als Nomaden. Die einzelnen Stämme zogen durch das Waldland und lebten ausschließlich von der Jagd.

Für die Neuatlanter war es nicht schwierig gewesen, die Quesas zu unterjochen, dagegen war ihnen eine völlige Unterwerfung der Kanuks bisher nicht gelungen. Vor vielen Jahren hatten sie es einmal versucht und zunächst mit der Errichtung einer Blutburg an der Großen Bucht, östlich vom Waldland begonnen. Ein Mann namens Mendos hatte diese Burg beherrscht. Doch die Kanuks hatten in unerwarteter Weise reagiert. Der Kriegshäuptling Großer Vogel hatte die zerstrittenen Stämme der Kanuks geeint und sie gegen die Blutburg Mendos geführt. Sie war schließlich gefallen. Das hatte die Neuatlanter dazu gezwungen, ihre Taktik zu ändern.

Sie nutzten die Zwietracht der inzwischen wieder zerstrittenen Stämme aus und wiegelten die Mitglieder des Kanuk-Volkes gegeneinander auf. Dabei machten sie immer mehr Stämme von sich

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abhängig. Mittlerweile waren alle Stämme in Gefahr, durch die »Segnungen« der neuatlantischen Zivilisation zu zerfallen. Kämpfe der Kanuks untereinander, die früher ausschließlich wegen der Jagdgründe ausgetragen worden waren, entbrannten jetzt immer häufiger, so daß die Neuatlanter bereits einen Plan ausarbeiteten, wann sie die Kanuks genauso wie die Quesas endgültig versklaven konnten.

Dabei war die Todfeindschaft, die zwischen Kanuks und Quesas herrschte, natürlich ein großer Vorteil für die Blutjäger, denn kein Quesa würde jemals einem Kanuk zu Hilfe eilen, genausowenig wie umgekehrt.

Taymagadur gab sich jedoch, was das Verhalten der Quesas anging, keinen Illusionen hin. Sobald er eine Schwäche zeigte, würden ihn die vier Jagdsklaven überfallen und töten, um seinen Besitz an sich zu bringen. Dann würden sie zu ihrem Stamm zurückkehren, um sich bei nächster Gelegenheit wieder anwerben zu lassen. Das entsprach ihrem Charakter, und es war sinnlos, etwas dagegen zu unternehmen. Die Kanuks hätten sich niemals so verhalten, aber sie wären auch eher gestorben, als einem Blutjäger als Sklaven zu dienen.

»Wenn ich einen von euch sehe, der die Gefangenen schlägt oder unnötig antreibt, lasse ich die Hossas auf ihn los!« drohte Taymagadur. »Ihr wißt also Bescheid, richtet euch gefälligst danach.«

Sie verstanden alle genügend Neuatlantisch, um zumindest den Sinn dieser Worte zu begreifen.

Taymagadur war froh, daß diese vier Männer so zäh und ausdauernd waren. Sie waren das Leben in diesem Lande gewohnt und konnten tagelang ohne Wasser und Nahrung auskommen. Schon aus diesem Grund waren sie neben den Hossas die idealen Aufpasser für die Gefangenen.

»Wir setzen den Marsch fort«, sagte Taymagadur. Er schwang sich auf sein müdes Pferd. Er schätzte, daß das Tier die Blutburg nur halbtot erreichen würde. Aber dafür brachte er ja zwölf Gefangene

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mit, die man nach Neuatlantis bringen konnte, wo die großen Orgien alle sechs Monde stattfanden, Taymagadur trieb sein Pferd zwischen den Dünen hervor. Die Hossas begrüßten sein Auftauchen mit einem erregten Zischeln.

Taymagadur ritt zu den Gefangenen hinüber. Sie schenkten ihm keine Beachtung, aber er hatte gelernt, ihren unbändigen Stolz zu ignorieren. Bei seiner ersten Expedition in das Land des Waldvolks hatte er über zwanzig Gefangene gemacht. Ihr stolzes Verhalten hatte ihn damals so wütend gemacht, daß er die Hälfte von ihnen umgebracht hatte.

Mehr als heftige Kritik von Ossar hatte ihm diese Aktion damals nicht eingebracht.

Das Blut von stolzen Kanuks schmeckte nicht schlechter als das der unterwürfigen Quesas.

Und es hatte die gleiche Wirkung.

*

Bei Sonnenuntergang waren Dragon, Ubali und Thamai durch das Götterauge von Kha-aun gegangen, und sie befanden sich nun auf dem Weg nach Süden. Die Sterne über der Wüste hatten Dragon gezeigt, daß er sich tatsächlich wieder in seiner eigenen Welt befand und daß er in der Nähe des ehemaligen Atlantis herausgekommen war.

Jammads Worte hatten dem Atlanter deutlich gemacht, daß in Danilas Welt ein anderer Zeitablauf geherrscht hatte, denn in Dragons Welt waren inzwischen drei Sommer verstrichen, höchste Zeit also, daß Dragon nach Myra zurückkehrte.

Dragon bedauerte, daß er dem Realtraum, der dem Kampf mit dem Blutjäger Shebar und seiner Hossa-Meute vorausgegangen war, genausowenig konkrete Angaben über Neuatlantis hatte entnehmen können wie Jammads Erzählung.

Der Mann, auf dessen Schild und Umhang das Drachensymbol leuchtete, war sich jedoch nach den Erlebnissen mit Shebar darüber

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im klaren, daß ihn in diesem Land wenig schöne Dinge erwarteten. Die Stille der Wüste täuschte über die Schrecken hinweg, die sich hier zu manifestieren pflegten.

Das bedeutete, daß seine Gefährten und er wachsam und vorsichtig sein mußten, wenn sie überleben und nach Myra gelangen wollten.

Zunächst einmal wollte Dragon die Blutburg Shebar aufsuchen. Den Besitzer dieser Festung hatte er im Labyrinth von Dhaugal umgebracht. Mit Hilfe seines Sonnenamuletts würde es Dragon leichtfallen, die Rolle eines hochgestellten Neuatlanters zu spielen. Solche äußeren Zeichen hoher Würde waren offenbar nur hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten. Von Shebar aus wollte Dragon dann den Vorstoß nach Myra wagen.

Es gab jedoch noch einen zweiten Grund, der ihn nach Shebar führte.

Er mußte das Jammad gegebene Versprechen einlösen und die noch lebenden Melniken, die einst auf der Flucht vor den Dalaugiri aus Danilas Welt übergewechselt waren, befreien.

Der Atlanter gestand sich ein, daß er noch einen dritten Grund hatte, um nach Shebar zu gehen. Er wollte in Erfahrung bringen, was für ein Reich Neuatlantis war, und wie die Erben jener vor 2000 Jahren bei der schrecklichen Katastrophe umgekommenen Atlanter aussahen.

»Du bist sehr nachdenklich«, drang Ubalis Stimme in seine Gedanken. »Ich kann mir vorstellen, daß es viele Dinge gibt, die dich bewegen, doch dieses Land verlangt unser aller erhöhte Wachsamkeit. Wenn es auch einsam wirkt, so strahlt es doch die Drohung von großen Gefahren aus,«

Dragon lächelte verständnisvoll, denn die gutgemeinte Rüge traf ihn verdient.

»Es ist die Nähe meiner alten Heimat, die mich in diese Stimmung versetzt«, erwiderte er. »Ich habe Thamai und dir schon berichtet, daß ich den Traum einer Erneuerung des Goldenen Zeitalters von Atlantis geträumt habe.«

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»Es wird ein Traum bleiben«, befürchtete Ubali. »Oh, nein!« widersprach Dragon. »Vielleicht wird sich der Traum

hier und jetzt zu verwirklichen beginnen.« Er sah, daß seine beiden Freunde einen Blick tauschten. Für sie konnten solche Reden nur verwirrend sein. »Schon gut«, sagte er und gab sich einen Ruck. »Wir wollen diese

ganze Geschichte zunächst einmal vergessen. Sie belastet mich nur.« Thamai nahm das Blasrohr von der Schulter und ließ es prüfend

durch ihre Hände gleiten. Diese Aktion zeigte, wie sehr Thamai von der Notwendigkeit einer ständigen Einsatzbereitschaft ihrer Waffe überzeugt war.

Dragon wandte die Augen von der Schwarzhäutigen ab, denn er ertappte sich dabei, daß das Betrachten der unverhüllten Formen Thamais Verlangen nach einer Frau in ihm aufsteigen ließ. Viel zu lange war er mit keiner Frau zusammen gewesen – und das zu einem Zeitpunkt, da die ihm innewohnende Vitukraft Energie und Ausdauer von zehn Männern verlieh.

Dragon packte seinen Schild fester, mit der anderen Hand umklammerte er den Knauf seines Schwertes, dem er den Namen Almunir gegeben hatte. Auf Altatlantisch bedeutete das soviel wie »Verhüter des Unrechts«. Das Schwert war von Vesta so präpariert worden, daß es glühend heiß wurde und nicht angefaßt werden konnte, wenn man es gegen einen Unschuldigen richtete.

»Glaubst du, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« erkundigte sich Ubali.

Seine Blicke glitten prüfend über den Freund, und Dragon fragte sich unbehaglich, ob der Panther etwas von den geheimen Gefühlen und Gedanken des Atlanters gemerkt hatte. Ubali und Thamai liebten sich leidenschaftlich, sicher wäre auch ein Werben Dragons um Thamai von Ubali mit unnachsichtiger Feindschaft beantwortet worden.

Dragon wollte Ubali als Freund behalten, und er hoffte, daß er sich nicht mehr von Thamai verwirren ließ, als das bisher der Fall gewesen war.

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»Sobald es Nacht ist«, erwiderte Dragon mit einem Blick zum Himmel hinauf, »werden uns die Sterne wieder den richtigen Weg nach Shebar zeigen, vorausgesetzt natürlich, daß Jammad uns keine falschen Informationen gegeben hat.«

Dragon schätzte, daß sie Shebar in einem Tag erreichen würden, vorausgesetzt, daß sie von niemandem aufgehalten wurden. Die Wüste wirkte einsam und verlassen, aber das bedeutete nicht, daß hier alles friedlich war. Ubali hatte in Worte gekleidet, was auch Dragon und Thamai spürten: In diesem Land gab es zahlreiche Gefahren, die sich jederzeit manifestieren konnten.

Die Wüste, durch die die drei Freunde zogen, wirkte überall gleich, aber für die Augen eines erfahrenen Wanderers wie Dragon zeigten sich doch überall deutliche Unterschiede im Landschaftsbild. Es gab verschieden große und verschieden geformte Hügel. Auch der Sand besaß nicht überall die gleiche Farbe, er war gelb bis dunkelbraun und manchmal gab es seltsame Flecken mitten darin. Sogar der Wind schien an verschiedenen Plätzen mit unterschiedlicher Stärke zu wehen, und für die aufmerksamen Augen Dragons wurden ab und zu Stellen sichtbar, wo die Natur verzweifelte Versuche unternahm, sich zu behaupten. Dort keimten zähe Gräser und dürre Büsche. Dragon schloß daraus, daß es überall in dieser Wüste auch Oasen gab.

»Bist du glücklich, wieder auf deiner Welt zu sein?« fragte Thamai unvermittelt.

Dragon sah sie an. »Du weißt selbst, wie es auf dieser Welt aussieht. Ubali weiß es auch. Wie könnte ich glücklich sein, da ich doch weiß, wie es um diese Welt bestellt ist, auf der überall die Spuren des Bösen zu finden sind?«

»Ob wir das jemals ändern können? »überlegte Ubali nachdenklich. »Nein«, sagte Dragon. »Wir können das Böse nur eindämmen und dafür sorgen, daß es diese Welt niemals völlig beherrschen kann.«

Thamai sagte: »Damit können wir bei den Blutburgen bereits beginnen.«

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Dragon dachte darüber nach, welche Bewandtnis diese Blutburgen haben mochten. Er wußte viel zu wenig über sie. Auch Jammads Bericht war alles andere als aufschlußreich gewesen. Allein die Bezeichnung, die man diesen Bauwerken gegeben hatte, verhieß wenig Gutes.

»Wir werden sehen, was wir tun können, sobald wir Shebar erreicht haben«, meinte Dragon.

Der Atlanter konnte nicht ahnen, daß das Schicksal ihn schon vor der Erreichung des Zieles mit jenen schrecklichen Dingen konfrontieren würde, die von den Blutburgen ihren Ausgang nahmen und dieses Land von der Eissteppe im Norden bis hinab zum Vogelkap im Bann hielten.

*

Am späten Mittag brach die Kanuk-Frau, die von allen Gefangenen den schwächsten Eindruck machte, unter dem Gewicht der Ketten zusammen. Die Gruppe kam zum Stillstand. Die Hossas fauchten zornig und wollten die Frau mit Gewalt weitertreiben, doch ein Pfiff aus Taymagadurs Pfeife holte sie zurück.

»Laßt sie in Ruhe!« befahl der Blutjäger den Quesas. Er ritt zu der am Boden Liegenden und betrachtete sie.

Wüstenstaub bedeckte ihre rotbraune Haut und ließ sie bleich erscheinen. Der Glanz ihrer Augen war erloschen, aber sie erwiderte die Blicke des Reiters ohne Furcht. Ihre Begleiter machten nicht den Versuch, sie wieder auf die Beine zu stellen; sie wußten, daß die Frau am Ende ihrer Kräfte war.

Taymagadur ließ sich vom Pferd gleiten und zog sein Schwert. Die Hossas wußten, was nun bevorstand, und sie gerieten in große Erregung. Taymagadur mußte zweimal seine Pfeife benutzen, um die Tiere zur Ordnung zu rufen.

Die Quesas hockten sich in den Sand und warteten geduldig auf das, was nun folgen würde. Ihr Haß auf die Kanuks war so groß, daß sie Szenen dieser Art genossen und nicht einmal auf den

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Gedanken kamen, ihren Verwandten zu helfen. Die zwölf Gefangenen, die noch auf den Beinen waren, hatten

einen Halbkreis um die Frau gebildet, als wollten sie sie schützen. Taymagadur blieb unwillkürlich stehen. Er wußte, daß die

Mitglieder dieses Waldvolks unberechenbar waren. Man durfte sie nicht unterschätzen, auch diese erschöpften Gestalten nicht, die zudem noch mit Ketten gefesselt waren.

»Geht zurück!« befahl Taymagadur den Gefangenen. »Ich will die kranke Frau von ihren Fesseln befreien.«

Doch sie bewegten sich nicht. Wie eine lebendige Mauer umstanden sie die Gestürzte.

Taymagadur fühlte, daß ihm das Blut in den Kopf stieg. Der alte Zorn erwachte in ihm, doch dieses Gefühl dauerte nur ein paar Augenblicke, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er durfte sich von den Wilden nicht provozieren lassen.

Vor allem jedoch mußte er aufpassen, daß es hier nicht zu einem Blutbad kam. Zwölf Gefangene mußte er auf jeden Fall bis zur Blutburg bringen, sonst würde Ossar sich überlegen, ob er ihn weiter als Blut-Jäger behalten sollte. Das Leben in Neuatlantis war sicher bequemer als in den Gebieten um die Hungerwüste, aber Taymagadur war ein Mann, der Abwechslung und Abenteuer brauchte. Er konnte sich nicht vorstellen, wieder in Neuatlantis leben zu müssen.

Vorsichtig näherte er sich der Gruppe der Gefangenen. Sie sahen ihn unbewegt an, ihre von Staub bedeckten Gesichter glichen starren Masken. Den Männern war es gelungen, sich die Federn aus dem Haar zu reißen; es entsprach der Sitte ihres Volkes, daß ein entwürdigter Gefangener sich nicht mit den Zeichen eines Kriegers schmücken durfte. Taymagadurs Opfer gehörten verschiedenen Stämmen an, aber der Blutjäger wußte, daß ihr gemeinsames Schicksal diese Kanuks schneller geeint hatte, als es Worte vermocht hätten.

»Geht zurück!« befahl er abermals. »Geht zurück, oder ich hetze die Hossas auf euch.«

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Ein zu der Gruppe gehörender Jüngling versuchte, ihm ins Gesicht zu spucken. Taymagadur reagierte spontan. Er machte einen Schritt nach vorn und schlug dem ihm am nächsten stehenden Kanuk das Schwert flach gegen den Kopf. Der Mann war viel zu erschöpft, um schnell genug auf diesen Hieb zu reagieren.

Er sackte in sich zusammen und stürzte zu Boden. Seine Ketten klirrten, und das Geräusch pflanzte sich über die

Körper der anderen Gefangenen hinweg fort. Als wäre dieser Lärm ein vorher vereinbartes Signal, drangen die Gefangenen auf Taymagadur ein. Die Männer warfen sich auf ihn und versuchten, ihn mit den losen Teilen ihrer Ketten zu umschlingen und niederzureißen. Obwohl der Blutjäger mit einem verzweifelten Angriff gerechnet hatte, überraschte ihn doch die Wucht, mit dem er vorgetragen wurde.

Er hob das Schwert, um mit der flachen Schneide auf die Angreifer einzuschlagen, doch sie waren zu dicht bei ihm und bedrängten ihn, so daß er nicht ausholen konnte.

In diesem Augenblick waren die Quesas heran, um ihrem bedrängten Herrn zu helfen. Sie stießen die Gefangenen zurück und verschafften Taymagadur Luft. Als der Blutjäger frei war, hob er erneut sein Schwert, diesmal jedoch, um einen tödlichen Hieb zu führen. Im letzten Augenblick besann er sich. Er rang nach Atem. Unter seinem Helm rann ihm der Schweiß über das Gesicht. Bei dieser Hitze strengte jede Bewegung an.

Die Quesas hielten jetzt die Gefangenen in Schach. »Ich töte jeden, der mich noch einmal angreift!« sagte Taymagadur

wild. Er stellte fest, daß seine Drohung kaum Eindruck auf die Kanuks

machten; die Wilden waren sich längst darüber im klaren, daß das Schicksal, das sie erwartete, schlimmer war als der Tod durch Taymagadurs Schwert.

Der Blutjäger befreite jetzt die junge Frau von ihren Ketten. Er zerrte sie auf die Beine und schleppte sie von den übrigen Gefangenen weg. Die Hossas folgten ihm, sie schnappten

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eifersüchtig nacheinander und zischelten gierig. Die Kanukfrau war so benommen, daß sie offenbar kaum begriff,

was um sie herum vorging. Die Gefangenen sahen zu, wie Taymagadur den Kopf der Frau

nach hinten bog. Taymagadur griff jetzt nach seinem kurzen Messer, um die

Halsschlagader der Gefangenen durchzutrennen. Er hielt die Pfeife im Mund und ließ die Hossas nicht

herankommen. Der erste warme Schwall der Lebensenergie stand dem Blut-Jäger

selbst zu, um den Rest konnten sich dann die Tiere streiten. Taymagadur klappte das Kinnvisier seines Helms auf, um

ungehindert trinken zu können. Sein Messer blitzte in der Sonne auf, der Körper der sterbenden

Frau bäumte sich noch einmal auf, dann floß ein Strahl roten Blutes über Taymagadurs Waffenrock und über seine Beine.

Der Blutjäger sättigte sich mit Lebensenergie und stieß den Körper dann von sich. Er schloß seinen Helm. Die Hossas hockten jetzt auf dem Leichnam und sogen das letzte Blut aus ihm heraus. Taymagadur beachtete die Tiere nicht.

Seine Blicke wanderten zu den zwölf Kanuks hinüber, die in ohnmächtiger Verzweiflung dastanden und alles gesehen hatten.

»Jeder, der mich noch einmal angreift, wird ihr Schicksal teilen«, sagte Taymagadur. Diesmal hinterließen seine Worte eine sichtbare Wirkung.

Ein junger Krieger wandte sich mit niedergeschlagenen Blicken an seine Artgenossen.

»Talahasset verbirgt sein Gesicht«, sagte er. »Er hat uns verlassen.« Taymagadur ging zu seinem Pferd. »Weiter!« befahl er. »Wir werden jetzt ohne Aufenthalt bis nach

Ossar marschieren.« Die Quesas trieben die Gefangenen an. Wenig später folgten auch

die Hossas, deren Blutdurst nur unvollkommen gestillt worden war. Die Kanuks stießen klagende Laute aus, sie trauerten um die

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getötete Frau. »Ruft zu eurem Gott!« sagte Taymagadur spöttisch. »Er wird euch

nicht helfen.« Er wandte sich im Sattel um und sah den verlorenen Haufen

durch die Wüste ziehen. In den zu Stein gewordenen Gesichtern war jede Hoffnung erloschen.

Talahasset, der Große Geist des Waldes, hatte sich von seinen Kindern abgewandt.

*

Der Weiße Elch stand bewegungslos vor dem Eingang seines großen Zeltes am Rande des Padokalagers und beobachtete den Waldrand. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und einen Umhang über die Schultern geworfen. Der Lärm der Kinder, die mit den Hunden in der Nähe der Feuerstellen balgten, störte ihn nicht. Seine Gedanken waren bei seinem Sohn, der längst wieder im Lager hätte eintreffen müssen.

Der Weiße Elch war zu stolz, um ein paar Krieger auf die Suche zu schicken und damit einzugestehen, daß sein Sohn nicht in der Lage war, die Tat allein zu bestehen, aber in der vergangenen Nacht war der Weiße Elch heimlich zu den Felsen der Erleuchtung hinaufgestiegen, um selbst nach dem Jüngling zu sehen.

Doch er hatte seinen Sohn nicht mehr angetroffen. Spuren deuteten darauf hin, daß der Jüngling sich in der dem

Lager entgegengesetzten Richtung zurückgezogen hatte. Der Weiße Elch hatte lange zu Talahasset gesprochen, doch er

hatte keine Antworten auf seine quälenden Fragen erhalten. Von der anderen Seite des Lagers näherte sich jetzt Kleiner Bär,

der Schamane der Padokas. Kleiner Bär trug seine Fellkapuze. Als er vor dem Weißen Elch

stand, konnte der Häuptling das Wolfsfett riechen, mit dem der Medizinmann seinen Körper einzureiben pflegte.

»Die Gedanken des Weißen Elchs sind voller Trauer«, stellte

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Kleiner Bär fest und sah den Häuptling listig an. »Wir werden gemeinsam am Feuer sitzen und zu den Geistern sprechen. Sie werden uns sagen, was mit dem Sohn des Weißen Elchs geschehen ist.«

»Nein!« sagte der Weiße Elch schroff. Kleiner Bär, der mit einer so deutlichen Abfuhr nicht gerechnet

hatte, machte eine ärgerliche Geste. »Glaubt Weißer Elch, auf den Rat der Geister verzichten zu

können?« Der Häuptling drehte sich um und zog sich wortlos in sein Zelt

zurück. Er ließ den Schamanen einfach stehen. »Talahasset hat seinen Verstand benebelt«, sagte Kleiner Bär

wütend und zog sich wieder zurück. Im Innern des Zeltes öffnete der Weiße Elch seinen Medizinbeutel

und warf den Inhalt neben dem Feuerplatz auf den Boden. Es waren Knochen und eine getrocknete Maus.

»Ich werde meine Feder aus dem Haar nehmen und meinen Körper mit Asche beschmieren«, sagte Weißer Elch. »Dann werde ich zu den Frauen gehen und mit ihnen heulen.«

Aber auch mit dieser eindringlichen Warnung konnte er Talahasset nicht dazu bewegen, ein Zeichen zu schicken.

Wenig später trat Schöner Mond in das Zelt. Sie war die jüngste Frau des Häuptlings, aber nicht die Mutter des verschollenen Sohnes. Trotzdem teilte sie die Sorgen ihres Mannes. Sie sprach Weißer Elch nicht an, denn das hätte er ihr nie verziehen.

Sie ließ sich neben dem Feuer nieder, um dem Weißen Elch mit ihrer Anwesenheit zu helfen. Doch der Häuptling schickte sie weg, er wollte allein sein.

Seine Einsamkeit war nicht von langer Dauer. Der Gehende Falke, einer der Kriegshäuptlinge, kam herein. Er war für einen Padoka ungewöhnlich groß. Sein Kopf war bis auf eine Skalplocke kahlgeschoren.

»H'gun«, sagte er zur Begrüßung. »Nur Mut!« »H'gun«, gab Weißer Elch zurück. Gehender Falke war der beste

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Freund des Häuptlings, und kein anderer hätte es wagen dürfen, Weißer Elch in dieser Form zu begrüßen.

Gehender Falke streckte einen Arm aus und sagte: »Einen Tagesmarsch von hier sind Fremde aufgetaucht. Es kann sein, daß sie in unsere Jagdgründe eindringen.«

Weißer Elch sah ihn lange und prüfend an, aber Gehender Falke hielt dem Blick stand. Der Häuptling begriff, daß sein Freund ihm eine Gelegenheit geben wollte, unauffällig nach dem verschollenen Sohn zu suchen.

»Es wird gut sein, wenn wir uns dort umsehen«, fuhr der Kriegshäuptling fort. »Die Mainocks sind auf dem Kriegspfad.«

Die Mainocks waren ein Kanuk-Stamm, der seit zwei Sommern mit den Padokas verfeindet war.

Bedächtig und ohne seine Würde zu verlieren, richtete sich der Weiße Elch auf und sammelte seine Medizin ein. Dann griff er nach seinen Waffen.

»Hopo!« sagte er zu Gehender Falke. »Gehen wir!« Der Große Vogel ritt an der Spitze von hundert mal hundert

Kriegern, und es wurden immer mehr, denn die Stimme des Großen Vogels drang in alle Lager.

Die Krieger wollten einen Häuptling töten, der den Feldzug nicht mitmachen wollte, doch der Große Vogel hinderte sie daran und sagte: »Er wird seinen Stamm zu uns führen, bevor die Sonne wieder aufgeht!«

Kriegsgesang der Kanuks

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4.

Als der Sohn des Weißen Elchs die tote Frau fand, war der Körper noch nicht völlig erkaltet. Der Vorsprung des Gefangenentransports war zusammengeschmolzen. Der Padoka war sicher, daß er die Gruppe noch vor Sonnenuntergang einholen konnte.

Er rechnete jedoch damit, daß er vorher mit den drei Fremden zusammentreffen würde, die er in seinem Wahrtraum gesehen hatte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie ihm beistehen würden, denn der Traum hatte in aller Deutlichkeit gezeigt, daß es sich um Abgesandte des Großen Vogels handelte.

Die Frau war genauso zugerichtet wie der Junge, den der Padoka zuerst gefunden hatte. Auch sie hatte Wunden am Hals, und ihr Körper war blutleer.

Der Jüngling fragte sich, ob die Quesas und der Reiter ihre Gefangenen nach und nach auf diese brutale Art umbringen wollten.

Haß und Zorn vernebelten seinen Verstand, so daß er sogar vergaß, einen Finger der Frau abzuschlagen und zu vergraben. Auch an den Finger für seinen Medizinbeutel dachte er nicht.

Er war hungrig und durstig, der lange Marsch zeigte trotz der Pilze, die der Jüngling ständig kaute, allmählich die ersten Folgen.

Doch der Sohn des Weißen Elchs achtete nicht auf diese Signale seines Körpers, sondern rannte schneller als zuvor durch die Wüste.

Als Hunger und Durst immer stärker wurden, verlangsamte er seine Geschwindigkeit und achtete auf Spuren in der Wüste. Ein Mann, der nicht in diesem Land aufgewachsen war, hätte nicht daran geglaubt, daß es in dieser Einöde Nahrung gab.

Doch der Padoka wußte es besser. In der Hungerwüste hatten sich besondere Lebensformen entwickelt, die der Natur trotzten.

Die Aufmerksamkeit des Jünglings konzentrierte sich auf eine Gruppe kahler Felsen mitten in der Wüste. Solche Plätze waren immer der bevorzugte Aufenthaltsort von Tieren, die in der Wüste

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lebten. Die Augen des Kanuks suchten den Boden nach Spuren ab. Schließlich entdeckte er baumdicke Schleifspuren, die erst vor

kurzem entstanden waren. Der Sohn des Weißen Elchs hatte nicht damit gerechnet, hier auf riesige Schlangen zu stoßen, doch die breiten Spuren ließen keine andere Deutung zu.

Der Padoka machte seinen Bogen schußbereit, denn er wollte nicht überrascht werden. Er folgte den Spuren bis zu den Felsen. Dort hörten sie abrupt auf. Die Erklärung war einfach: Die Tiere, die von hier aus in die Wüste geglitten waren, hatten sich vorher oben auf den Felsen gesonnt.

Der einsame Mann kletterte auf die Felsen, von wo aus er die Umgebung besser beobachten konnte. Meterhohe Dünen verhinderten einen weiten Ausblick, aber das Gebiet, in das der Padoka einsehen konnte, machte einen verlassenen Eindruck, Die Aufmerksamkeit des Jünglings ließ jedoch nicht nach, denn diese Ruhe konnte trügerisch sein. Tiere, die hier lebten, bewegten sich in der Regel mit völliger Lautlosigkeit und besaßen außerdem auch oft noch die Fähigkeit, ihre Körperfarbe der des Bodens anzupassen.

In einer Mulde zwischen den Felsen fand der Sohn des Weißen Elchs schließlich das Gelege.

Sieben kopfgroße, braungelb gesprenkelte Eier lagen auf dem nackten Boden.

Der Padoka zweifelte keinen Augenblick daran, daß es die Eier jener Riesenschlangen waren, die unten im Sand ihre Spuren hinterlassen hatten.

Was mochte das Schlangenpärchen veranlaßt haben, sein Nest gemeinsam zu verlassen?

Vielleicht hielten die Schlangen ihr Gelege für völlig ungefährdet, kaum ein anderer Wüstenbewohner würde sich in die Nähe so großer Gegner wagen.

Vermutlich waren die Besitzer des Geleges auf Jagd gegangen. Im Waldland der Kanuks gab es viele Gerüchte von riesigen

Schlangen, die in der Hungerwüste leben sollten, aber der Häuptlingssohn hatte den Geschichten der Schamanen nie viel

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Bedeutung beigemessen. Jetzt wurde er jedoch nachdrücklicher, als ihm lieb war, an die Existenz solcher großen Wesen erinnert.

Die Schamanen hatten diese Schlangen Boster oder auch Hossas genannt. Für den Sohn des Weißen Elchs waren es stets Erfindungen gewesen, mit denen die Medizinmänner Eindruck bei den Kriegern machen wollten. Jetzt sah er sich veranlaßt, seine Ansichten darüber zu ändern.

Noch einmal sah er sich um. In gewisser Beziehung war er dankbar, daß die Erzählungen der

Schamanen sich als richtig herausgestellt hatten, denn die Eier, die er gefunden hatte, lösten seine Nahrungsprobleme mit einem Schlag.

Der Padoka bückte sich und nahm eines der Eier aus dem Gelege. Es war ungewöhnlich schwer.

Der Jüngling nahm das Ei und legte es auf einen flachen Felsen. Dann griff er nach seiner Kampfaxt, um es aufzuschlagen.

Er führte den ersten Schlag nicht besonders fest, weil er glaubte, daß das Ei eine zerbrechliche Schale besaß. Zu seinem Erstaunen prallte die Schneide der Axt ab und glitt neben dem Ei auf den Felsen. Die Eierschale mußte von unglaublicher Härte sein.

Der Padoka legte das Ei jetzt in eine Rinne im Felsen und hielt es mit einer Hand fest. Mit der anderen Hand führte er den zweiten Schlag. Die Wucht des Hiebes hätte ausgereicht, um einem ausgewachsenen Krieger den Schädel zu spalten – in der Eierschale entstand lediglich ein Sprung.

Verbissen hieb der Jüngling weiter auf das Ei ein, bis es schließlich zerbarst.

Etwas Zappelndes, Häßliches kam aus der Schale und lag japsend zwischen den Trümmern des Eies.

Der Sohn des Weißen Elchs wich unwillkürlich einen Schritt zurück und starrte mit wachsendem Entsetzen auf das, was er gewaltsam freigelegt hatte.

Die kleine Schlange besaß immerhin die Länge eines Unterarms. Ihr Körper endete in einem flachen, katzenähnlichen Kopf mit zwei

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herausragenden Fangzähnen auf der einen und in einem schlank auslaufenden Schwanz auf der anderen Seite. In der Mitte des Körpers ragten an jeder Seite krallenbewehrte Schwingen hervor.

Das kleine Monstrum, gerade erst ausgeschlüpft, versuchte, seine Fangzähne in den Arm des Padokas zu bohren. Der Kanuk wich weiter zurück. Er konnte sich vorstellen, daß die Zähne des Wesens Gift verspritzten, so daß unter Umständen ein Biß des Neugeborenen tödlich sein konnte.

Die kleine Schlange kroch bis zum Rand des Felsenplateaus, wobei sie den Jüngling pausenlos anzischte. Ihre Bösartigkeit und Mordgier war offensichtlich. In seinem ganzen Leben hatte der Padoka noch kein so angriffslustiges Tier erlebt.

Seine Überraschung war jedoch nicht von langer Dauer. Er gewann seine Fassung zurück und schlug der jungen Schlange

den Kopf ab. Gelbes und grünes Blut rann über die Felsen und verbreitete einen bestialischen Gestank. Der abgetrennte Kopf schnappte noch immer nach dem Jüngling, ganz so, als hätte er ein eigenes Leben. Auch der massive Körper wand und ringelte sich auf dem Felsen, bis der Padoka ihn mit zwei weiteren Hieben auseinandertrennte und zur Ruhe brachte. Dann zerschmetterte er den Kopf mit der flachen Seite der Axt.

Der Hunger des Waldbewohners war mit einem Schlag verflogen, aber sein angeborener Instinkt, der ihn alle Wesen dieser Art hassen ließ, machte sich bemerkbar und trieb ihn dazu, ein weiteres Ei aus dem Gelege zu nehmen, um es zu vernichten.

Der Padoka hatte längst den Entschluß gefaßt, das gesamte Gelege abzutöten.

Er arbeitete schnell und mit großer Verbissenheit. Schließlich waren nicht nur die Felsen ringsum, sondern auch der Körper des Jünglings mit dem Blut toter Schlangenkinder besudelt. Ein Gefühl des Ekels befiel den Häuptlingssohn, als er das fünfte Ei ergriff, um es ebenfalls zu zerschmettern.

Er befand sich in einer Art Rauschzustand, bei dem das immer noch wirksame halluzinogene Gift der Pilze ein Übriges tat, um ihn

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zu verwirren. Zum erstenmal, seit er seine Heimat verlassen hatte, vergaß der

Padoka seine Umgebung. Seine Aufmerksamkeit, mit der er bisher alles beobachtet hatte, erlahmte und erstarb schließlich ganz.

Da war nur noch die widerliche Brut, die zerstückelten Körper der kleinen Schlangen und der Gestank ihres Blutes.

Als der Padoka das fünfte Ei aufschlug, hörte er ein drohendes Zischen.

Er fuhr herum. Unterhalb des Geleges kauerten zwei Riesenschlangen, offenbar

das Pärchen, dem das Gelege gehörte. Der Padoka blickte in starre, mordlustige Reptilienaugen. Das waren ausgewachsene Hossas, jeder einzelne mindestens

doppelt so lang und so dick wie ein ausgewachsener Mann. Mit einem Schlag war der Sohn des Weißen Elchs wieder

hellwach. Er begriff, daß er einen schweren Fehler gemacht hatte. Die Eltern der Brut waren zurückgekehrt, ohne daß er es bemerkt hatte.

Er sah sich blitzschnell um, aber der Fluchtweg nach hinten wurde ihm von den steil aufragenden Felsen versperrt.

Es gab nur einen Weg aus dieser Falle, in die er sich selbst begeben hatte – und dort warteten die beiden Riesenschlangen, um sich an ihm für die Vernichtung des Geleges zu rächen.

*

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit stieß Taymagadur auf eine Begrenzung der Blutburg Shebar. Er zügelte sein Pferd und trieb es dicht zu dem dunklen Streifen im Wüstenboden. Die Grenzmarkierung war verblaßt, ein sicheres Zeichen, daß sie längere Zeit nicht aufgefrischt worden war.

Taymagadur runzelte nachdenklich die Stirn. Im allgemeinen achteten die Besitzer der Blutburgen streng auf die

Erkennbarkeit der Grenzmarkierungen; es mußten gewichtige

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Gründe sein, die Shebar und seine Blutjäger an der Auffrischung des Streifens hinderten.

Taymagadur bedauerte, daß er die zwölf Gefangenen bei sich hatte, das hinderte ihn an Nachforschungen.

Auf jeden Fall würde er Ossar von seiner Entdeckung berichten. Es gab verschiedene Erklärungen, die möglich waren. Vielleicht

hatten Shebar und alle Jäger der Burg ihren Sitz verlassen, um einen gewaltsamen Durchbruch durch das von Ossar beherrschte Gebiet zu wagen. Es war aber auch denkbar, daß sie alle zu einem großen Raubzug unterwegs waren.

Taymagadur rief einen der Quesas zu sich. »Stelle fest, wann dieser Streifen zum letztenmal erneuert wurde!«

befahl er. Der Wilde bückte sich und untersuchte die mit Tierblut markierte

Grenze. Als er sich aufrichtete, wirkte er unsicher. »Nun?« drängte der Blutjäger. »Es ist schwer festzustellen, wie alt der Streifen ist«, erwiderte der

Quesa. »Aber diese Grenze wurde in den letzten Tagen nicht erneuert.«

»Wir machen keine Rast«, entschied Taymagadur, denn er verspürte keine Lust, mit einem schwerbewaffneten Jagdtrupp von Shebar zusammenzustoßen. »Es wird eine mondhelle Nacht. Wir marschieren weiter nach Ossar.«

Der Quesa warf unwillkürlich einen Blick in Richtung der Gefangenen.

»Ich kenne deine Gedanken«, sagte Taymagadur. »Du glaubst nicht, daß sie es durchhalten werden. Aber diese Kanuks sind zäh. Jetzt, da die Sonne untergeht und die Hitze nachläßt, werden sie es schaffen.«

»Nötigenfalls können wir die Schwächeren töten!« sagte der Wilde hoffnungsvoll.

Taymagadur kannte den Haß, den die Quesas für die Kanuks empfanden. Er selbst hätte nichts gegen eine zusätzliche

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Auffrischung mit Lebensenergie einzuwenden gehabt, aber er mußte diese zwölf Gefangenen bis nach Ossar bringen, wenn er beim Herren der Blutburg nicht in Ungnade fallen wollte.

Auf Neuatlantis erwartete man für die nächsten Blutorgien wieder eine große Anzahl von Opfern; die Nichteinhaltung einer zugesagten Lieferung konnte für den Besitzer einer Blutburg und für dessen Jäger schlimme Folgen haben.

»Es wird keiner der Gefangenen mehr getötet!« sagte Taymagadur schroff.

Er sehnte den Augenblick herbei, da er sich in den kühlen Räumen der Blutburg Ossar ausruhen konnte.

*

Der Sohn des Weißen Elchs warf den Kopf in den Nacken. »Talahasset wird meinen Arm führen! »rief er wild. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß er siegreich aus dem

Kampf gegen die beiden Ungeheuer hervorgehen würde, der Große Vogel konnte ihn nicht im Traum besucht, haben, um ihn hier in der Wüste umkommen zu lassen.

Der Padoka spannte den Bogen und schoß einen Pfeil ab. Er hatte erwartet, daß der Pfeil sich tief in den Körper des Hossas

bohren würde, doch er wurde enttäuscht. Die feste Schlangenhaut nahm dem Schuß viel von seiner Wucht, so daß der Pfeil nur fingerbreit in das Fleisch eindrang und zitternd steckenblieb.

Der Hossa gab ein gereiztes Zischen von sich. Sein Artgenosse – da er kleiner war, vermutete der Jüngling, daß es sich um das Weibchen handelte – glitt blitzschnell die Felsen hinauf. Der spontane Angriff ließ dem Waldbewohner keine Zeit mehr, den Bogen erneut zu spannen. Er ergriff seine Axt und ließ den Bogen fallen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Zähne des Tieres. Wenn er von ihnen verletzt wurde, war er verloren.

Die Schlange schoß an ihm vorbei und traf ihn seitlich mit dem Schwanz.

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Der Hieb war so fest, daß der Padoka das Gleichgewicht verlor und gegen die Felsen geschleudert wurde.

Schon fuhr der Hossa herum, um erneut anzugreifen. Gleichzeitig griff das Männchen an. Es hatte den Pfeil abgeschüttelt und kam mit der Geschwindigkeit eines herabstoßenden Falken auf den Häuptlingssohn zu.

Unerwartet fühlte der Padoka sich in die Mitte genommen. Er setzte zum Sprung an und machte einen Satz über die Schlangen hinweg. Federnd landete er auf der anderen Seite des Plateaus.

Die Hossas fauchten und zischten, ihre Zähne blitzten im Licht der untergehenden Sonne immer wieder auf. Ihre hornigen Schwänze peitschten den Boden und wirbelten die Überreste ihrer Brut durcheinander.

Zum erstenmal hatte der Padoka Bedenken, daß er diesen Kampf siegreich beenden würde. Er fragte sich, ob Talahasset sich von ihm abgewandt hatte.

Hatte er einen Fehler begangen und den Großen Geist des Waldes verärgert?

Der Padoka schwang die Axt über seinem Kopf. Die Hossas erreichten ihn erneut. Er traf eine der Schlangen am

Hals und warf sie zurück. Die andere konnte ihm einen Hieb mit dem Schwanz beibringen, der ihn von den Beinen riß. Er achtete nicht auf die Schmerzen, sondern rollte sich zur Seite. Ein Körper wirbelte an ihm vorbei, der Kopf eines Hossas stieß ins Leere. Der Padoka spürte den heißen, stinkenden Atem des Ungeheuers in seinem Gesicht.

Er prallte gegen die Felsen, so daß er nicht weiterrollen konnte. Mit einem Ruck kam er hoch, aber seine Gegner waren schon da

und drangen auf ihn ein. Ihre aufgerissenen Rachen erschienen dem Padoka übermäßig

groß. Er packte die Axt mit beiden Händen und hieb verzweifelt auf

diese Köpfe ein. Sie schwangen hin und her, so daß er sie nur streifte, aber keinen

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entscheidenden Schlag anbringen konnte. Die Kraft seiner Arme ließ nach. Die Hossas brauchten nur zu warten, um dann ohne Risiko über

ihn herzufallen.

*

Ubali blieb plötzlich stehen und hob einen Arm. »Was ist?« erkundigte sich Dragon. »Möchtest du eine Rast

einlegen?« Es war unmittelbar vor Sonnenuntergang, die Schatten der Dünen

wurden länger, und oben auf den Hügeln schien der Sand aufzuglühen und goldenes Licht zu verbreiten. Zu keiner Zeit war die Wüste stiller und unheimlicher als in diesen Augenblicken.

»Still!« rief Ubali. »Hört ihr nichts?« »Nein«, sagten Dragon und Thamai wie aus einem Munde. »Irgendwo in der Nähe wird gekämpft!« rief der Panther. »Laßt

uns nachsehen, was dort geschieht!« Obwohl Dragon nichts hören konnte, erhob er keine Einwände. Er

wußte, daß er sich auf Ubali verlassen konnte. Der Schwarzhäutige hätte den Marsch nach Shebar niemals ohne Grund unterbrochen.

Die beiden Männer rannten auf den nächsten Hügel hinauf, um sich umzusehen.

Etwa hundert Schritte weiter entfernt sahen sie eine Felsformation aus dem Sand ragen.

Ubali deutete in diese Richtung. »Dort!« rief er aufgeregt. »Es kommt von dort!« Sie sahen sich an. Dieser kurze Blick genügte, um zwischen den

beiden Männern Einverständnis herzustellen. »Thamai!« rief der Panther seiner Gefährtin zu. »Folge uns.« Trotz des Gewichts seiner gesamten Ausrüstung rannte Dragon

genauso leichtfüßig durch den Sand wie seine beiden Freunde. Lange bevor sie die Felsen erreicht hatten, entdeckte Dragon drei

Gestalten, die dort einen Kampf auf Leben und Tod austrugen. Zwei

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der Gestalten waren ausgewachsene wilde Hossas, die dritte war ein schlanker Mann von rotbrauner Hautfarbe.

»Sieh nur!« schrie Ubali. »Sie haben ihn in die Enge getrieben. Diese Biester werden ihn töten, wenn wir nicht sofort eingreifen.«

»Ja«, sagte Dragon grimmig. Er wurde noch schneller. Seit seinem Kampf gegen die Hossas des Blutjägers Shebar wußte er um die Gefährlichkeit dieser Monstren. Allerdings hätte er nicht erwartet, gerade hier auf solche Wesen zu treffen.

Das Opfer der beiden Hossas lehnte mit dem Rücken gegen die Felsen und erwehrte sich der immer heftiger werdenden Angriffe mit einer Axt. Am Ausgang dieses ungleichen Kampfes konnten keine Zweifel bestehen: Die Hossas waren dabei, ihre Zähne in den Körper des Mannes zu schlagen.

Die Konturen Ubalis begannen zu zerfließen. Dragon erkannte, daß sein Kampfgefährte sich in einen Panther zu verwandeln begann. Er kümmerte sich nicht darum, sondern stieß einen gellenden Schrei aus. Auf diese Weise wollte er die Hossas von dem Jüngling oben in den Felsen ablenken und dem Bedrängten Luft verschaffen. Sein Versuch hatte Erfolg.

Die Hossas fuhren herum, um nach der Ursache für den Lärm zu suchen.

Sie erblickten Dragon, einen schwarzen Panther und ein nacktes Mädchen, die nebeneinander durch den Sand liefen.

Dragon hielt sein Schwert Almunir stoßbereit in einer Hand, mit der anderen umklammerte er den achteckigen Schild.

Der Atlanter sah, daß der Rothäutige oben in den Felsen erschöpft zusammenbrach.

Ubali schnellte durch die Luft. Der Krieger aus Shi-but lag langgestreckt in der Luft, die Tatzen mit den Krallen waren gespreizt, und das schwarze Fell glänzte in der Sonne.

Einer der Hossas sprang von den Felsen herab, fauchend und zischend vor Wut und Überraschung.

Die beiden ungleichen Wesen prallten in der Luft zusammen. Es gab einen dumpfen Laut, als die Körper aufschlugen und

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gemeinsam zu Boden krachten. Thamai setzte ihr Blasrohr an den Mund und schoß auf den

zweiten Hossa, der noch auf einem Felsen kauerte. Ubali und die schwingenbewehrte Schlange bildeten ein wildes

Knäuel am Boden. Dragon erreichte die ineinander verschlungenen Körper und wartete auf eine günstige Gelegenheit.

Bevor sie kam, sah er sich einem Angriff des zweiten Ungeheuers ausgesetzt. Er hörte Thamais Warnschrei und fuhr herum. Dabei riß er instinktiv den Schild hoch.

Der schwere Schlangenkörper prallte dagegen und riß Dragon mit zu Boden.

Er stemmte den achteckigen Schild hoch und drückte damit den Körper des Monstrums zurück. Gleichzeitig führte er einen Schlag mit seinem Schwert.

Die krallenbewehrten Schwingen des Hossas kratzten über den Schild des Atlanters und erzeugten dabei ein durchdringendes Geräusch. Es vermischte sich mit dem Knurren Ubalis und dem Zischen der beiden Schlangen.

Der Hossa lag jetzt auf Dragon und schlug mit dem Schwanz. Er traf nur die Beine des Atlanters, der übrige Körper wurde von dem Schild geschützt.

Am Schild vorbei konnte Dragon auf die höher gelegenen Felsen blicken. Dort hatte sich der rothäutige Jüngling inzwischen aufgerichtet. Er schwankte vor Schwäche, aber er hielt sein Kurzbeil schlagbereit in der Hand und wankte an den neuen Kampfplatz hinab, um seine Retter zu unterstützen. Diese Tapferkeit war beeindruckend.

Es gelang Dragon, von der Seite mit dem Schwert zuzustoßen. Almunirs Schneide bohrte sich tief in den Körper des Hossas. Die Schlange krümmte sich zusammen und hätte mit dieser Bewegung dem Atlanter fast die Waffe aus der Hand gerissen. Doch Dragon drehte sich ab und riß dabei sein Schwert wieder heraus. Der Hossa war angeschlagen, er röchelte und spie grünes Blut, das von seinen Zähnen tropfte.

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Dragon stand breitbeinig über ihm und führte einen Streich gegen eine der starken Schwingen des Hossas. Er traf genau und trennte die Schwinge vom Körper ab. Der Hossa verlor seinen Gleichgewichtssinn und drehte sich im Kreise, wobei er immer wieder nach Dragons Beinen schnappte.

Dragon stieß ihm das Schwert bis zum Heft in den aufgerissenen Rachen.

Der Hossa streckte sich. Ein letztes Fauchen kam aus seinem Rachen, dann starb er.

Dragon zog sein Schwert heraus und wandte sich Ubali zu. Der Panther war in großer Bedrängnis, aber Dragon brauchte nicht mehr einzugreifen. Der rothäutige Fremde hatte die beiden Kämpfenden erreicht und führte einen fürchterlichen Hieb gegen den ungedeckten Kopf des Hossas, der mit diesem Angriff nicht gerechnet hatte. Dragon hörte den Schädel des Monstrums krachen. Es sackte über Ubali zusammen. Der Panther befreite sich, warf den Kopf zurück und stieß ein triumphierendes Brüllen aus. Thamai kam heran. »Ich habe sie mindestens fünfmal getroffen, aber sie zeigten keine besondere Wirkung«, sagte sie und deutete auf ihr Blasrohr.

Dragon brachte ein Lächeln zustande. »Die Körper des Hossas sind so voller Gift, daß ihnen das Gift

deiner Pfeile nichts ausmacht, Thamai!« Sie lächelte anmutig und berührte ihn flüchtig mit einer Hand am

Arm. Trotz ihrer Freundschaft zu Dragon war sie eine Frau, die sich gern der Wirkung ihrer Reize versicherte. Der Atlanter hätte jedoch gewünscht, daß sie ihm gegenüber etwas zurückhaltender gewesen wäre, denn schließlich war er nicht aus Stein.

Dragon war froh, daß er sich dem jungen Fremden zuwenden konnte, den sie gerettet hatten.

Die Rothaut senkte den Kopf, als Dragon auf sie zuging. Es war jedoch keine Unterwürfigkeit in dieser Haltung, sie drückte lediglich Dankbarkeit und Respekt aus.

Dragon sah, daß der Junge ein angenehmes und gut geschnittenes

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Gesicht hatte, das jetzt allerdings von Entbehrungen und Strapazen gezeichnet war.

»Wer bist du?« fragte Dragon. »Ich begrüße dich«, sagte der Fremde in einer Sprache, die Dragon

sofort verstand. Sie ähnelte so sehr dem Atlantischen, das Dragon in seiner Jugend gesprochen hatte, daß der Gruß des Fremden sofort eine Reihe von Erinnerungen in Dragon weckte. Er vermutete, daß der Gerettete Neuatlantisch sprach.

»Ich habe dich in meinen Träumen gesehen«, erklärte der Jüngling. »Du trägst das Symbol des Großen Vogels auf deinem Schild und auf deinem Umhang.«

Dragon mußte lächeln. »Das ist kein großer Vogel, sondern das Bildnis eines Drachen«,

erklärte er. »Mein Traum hat mich zu euch geführt«, fuhr der Fremde fort.

»Talahasset hat mich gelenkt, damit ich mit euch zusammentreffe. Ihr werdet mir helfen, das Werk des Großen Vogels zu vollenden.«

Dragon, der nicht genau verstand, worum es eigentlich ging, beschloß, geduldig zu sein.

Bevor er jedoch das Gespräch fortsetzen konnte, entfernte sich der Jüngling von ihm und beugte sich über eine Bodenmulde, die Dragon bisher nicht gesehen hatte. Er entnahm ihr zwei große Hossaeier und zerschlug sie mit seiner Axt. Die Hossas, die dabei herauskamen, tötete er.

Erst dann wandte er sich wieder an seine drei Retter. »Die Tat ist vollbracht«, sagte er stolz. »Ich habe jetzt das Recht,

einen Namen zu tragen.« »Und für welchen hast du dich entschieden?« fragte Dragon. Der halbnackte Wilde sah sich um, und seine Blicke fielen auf die

toten Hossas. »Es ist Talahassets Wille, das ich nicht länger namenlos bin«, sagte

er. »Ich bin ein vollwertiger Krieger vom Stamme der Padokas, die zum großen Volk der Kanuks gehören.«

Er stieg auf einen Felsen, machte seltsame, rituell wirkende Gesten

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und berührte schließlich mit einem kleinen Beutel seine Stirn. »Von nun an bin ich nicht mehr allein der Sohn des Weißen

Elchs«, sagte er. »Mein Name ist Schlangentöter.« Die Krieger hatten sich in der Ebene vor den Wäldern versammelt,

und ihre Zahl war so groß, daß sie bis zum Horizont reichten. Auf einem Hügel saß der Große Vogel und sprach mit dem Großen Geist des Waldes.

Die Krieger sahen zu ihm empor, bis er den Arm hob. Das war das Zeichen für den Beginn des Feldzugs gegen die Blutburg Mendos.

Kriegsgesang der Kanuks

Page 47: In Der Hungerwüste

5.

Westlich der Küstenberge strömten die Mutter und der Vater der Schlange zusammen mit dem Bruder der Schlange in den Schlangenfluß, der weiter südlich in der Großen Bucht ins Meer von Atlantis mündete.

An der Stelle, wo drei Flüsse sich vereinigten, trafen Weißer Elch und Gehender Falke wieder zusammen. Sie brauchten nicht miteinander zu sprechen. Die Tatsache, daß jeder von ihnen allein zum Treffpunkt geritten kam, demonstrierte mehr als alle Worte die Erfolglosigkeit der Suche.

Sie hatten das Waldland vom Westgebirge bis zum Schlangenfluß durchstreift, ohne auch nur eine Spur von dem Häuptlingssohn zu finden.

Weißer Elch stieg vom Pferd und watete ein Stück in den Fluß hinein. Eine Zeitlang stand er in Gedanken versunken da, bis Gehender Falke neben ihn trat und auf ihr gemeinsames Spiegelbild auf der Wasseroberfläche blickte.

»Die Gedanken meines Bruders sind voller Zweifel und voller Trauer«, stellte der Kriegshäuptling fest.

»Er hätte ein großer Häuptling werden können«, stellte Weißer Elch fest und brach damit endgültig das von ihm selbst geschaffene Tabu, über seinen verschollenen Sohn kein Wort zu verlieren.

»Er wird von Talahasset mit Gnaden aufgenommen werden«, sagte Gehender Falke.

Weißer Elch nahm die große Adlerfeder, das äußere Zeichen seiner Häuptlingswürde aus dem Haar und warf sie ins Wasser. Sie wurde von der Strömung schnell davongetragen. Dann zerriß Weißer Elch sein Jagdwams. Wortlos verließ er den Fluß und ging zu seinem Pferd. Gehender Falke sah, daß der Häuptling allein sein wollte, schwang sich auf sein Pferd und ritt am Ufer des Schlangenflusses entlang davon.

Weißer Elch aber ritt zu seinem letzten Lagerfeuer zurück und

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beschmierte seinen Körper mit Asche. Als er zwei Tage später das Lager des Padokas erreichte, war

Gehender Falke schon eingetroffen und hatte die traurige Nachricht vom Verschwinden des Häuptlingssohns verbreitet.

Die Schamanen tanzten um die Lagerfeuer, verbrannten übelriechende Wurzeln und murmelten Beschwörungen. Um das Tipi des Häuptlings hatten die alten Weiber einen Halbkreis gebildet, und ihr Wehklagen war von einem Ende des Lagers bis zum anderen zu hören.

*

Als es dunkel geworden war, hatte Schlangentöter seine erstaunliche Geschichte beendet, und Dragon konnte sich jetzt ein ungefähres Bild vom bisherigen Leben des Jünglings und dessen Abenteuer in den letzten Tagen machen. Die Tapferkeit und Aufrichtigkeit des Padokas beeindruckten Dragon sehr.

Inzwischen hatte Ubali wieder seine normale Gestalt angenommen, und Schlangentöter, der Zeuge dieses Vorgangs geworden war, sah sich in seiner Meinung bestärkt, daß die drei Fremden Boten des Großen Vogels waren, die den Auftrag hatten, Schlangentöter, bei einem neuen großen Feldzug gegen die Blutburgen der Neuatlanter zu unterstützen.

Nach anfänglichen Versuchen, dem Padoka die eigene Ansicht zu den Vorgängen als die einzig richtige darzulegen, hatte Dragon inzwischen feststellen müssen, daß Schlangentöter sich nicht von seiner Meinung abbringen lassen würde.

Schließlich waren die Überlegungen des Wilden nicht völlig falsch, denn Dragon spielte ja tatsächlich mit dem Gedanken, die Lage in diesem Land auszukundschaften und Maßnahmen zu ergreifen.

Er zweifelte keinen Augenblick an der Behauptung des Kanuks, daß die Neuatlanter eine Gefahr für das stolze Waldvolk darstellten. Die Träume des Padokas besaßen ein zusätzliches Gewicht. Wenn

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sie auch in verschiedener Hinsicht falsch gedeutet worden waren, so hatten sie doch einen starken Bezug zur Realität.

Das Bild, daß der Padoka von Neuatlantis gezeichnet hatte, war alles andere als angenehm. Dragon mußte damit rechnen, daß in den Resten seiner ehemaligen Heimat das Böse Fuß gefaßt hatte.

Die Neuatlanter stellten sich als Sklavenjäger und unehrliche Händler, als Lügner und Intriganten dar, alles Eigenheiten, die Dragons Lebenseinstellung widersprachen und seinen Zorn weckten.

Er begann, sich mit der Rolle des Geistes eines Häuptlings namens Großer Vogel abzufinden. Schlangentöter war nicht bereit, das Treuegelöbnis, das er Dragon kurz nach seiner Rettung dargebracht hatte, zurückzunehmen.

So blieb dem Atlanter schließlich keine andere Wahl, als Schlangentöter aufzufordern, ihn auf dem Marsch nach Shebar zu begleiten.

Der Padoka war glücklich, von der kleinen Gruppe aufgenommen zu werden.

Das erste, was er als neues Mitglied dieser Gemeinschaft tat, war, die drei Freunde zu den Spuren des Gefangenenzugs zu führen. Diese mehr oder weniger deutliche Aufforderung, im Sinne der Gefangenen einzugreifen, kam Dragon nicht gelegen, denn er hatte noch in dieser Nacht Shebar erreichen wollen.

Er entsprach jedoch Schlangentöters Wünschen, zumal Ubali eindeutig Partei für den Jüngling ergriff.

So kam es, daß Dragon und seine drei Begleiter die in der mondhellen Nacht deutlich sichtbaren Spuren im Sand aufnahmen und ihnen mit großer Eile folgten.

*

Seit Beginn der Nacht kam der Gefangenenzug nur schleppend voran, so daß Taymagadur wünschte, er hätte entgegen seiner ursprünglichen Absicht am vergangenen Nachmittag noch eine Rast

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eingelegt. Das langsame Vorwärtskommen hatte mehrere Gründe, in erster Linie lag es an der Scheu der Quesas vor der Dunkelheit. Die Wilden beschworen ununterbrochen Tahome, den Großen Steinwerfer, der ihr oberster Gott war und von dem sie sich Unterstützung gegen alle möglichen Arten von Dämonen und Feinden erhofften, die ihrer Ansicht nach in der Dunkelheit lauerten.

In ihrer Furcht vernachlässigten sie die Beaufsichtigung der Gefangenen.

Ärgerlich über die ständigen Unterbrechungen trieb Taymagadur seine Jagdhelfer immer wieder an die Arbeit.

Auch die Hossas reagierten nicht wie gewohnt auf die für Menschen unhörbaren Töne der Pfeife.

Die Nacht war für sie voller erregender Düfte und verlockender Geräusche, die ihren Jagdtrieb weckten und sie bei der Bewachung der Kanuks ablenkten.

So mußte der Blutjäger selbst sich ausschließlich um die Wilden kümmern, was dazu führte, daß sie ein paarmal vom richtigen Weg abkamen.

Natürlich hätte Taymagadur auch jetzt noch anhalten und rasten können, doch irgend etwas hielt ihn von einem solchen Schritt ab. Er ertappte sich dabei, daß er sein Pferd immer wieder auf umliegende Hügel trieb, von denen aus er die Umgebung, vor allem aber das Land hinter sich, beobachten konnte.

Für seine innere Unruhe gab es keine vernünftige Erklärung. Der Blutjäger war ein wirklichkeitsbezogener Mann, der nicht an übersinnliche Eingebungen glaubte. In dieser Nacht jedoch fühlte er sich von Gefahren bedrängt. Sogar der Wind, der ab und zu aufkam und zwischen den Dünen heulte, machte ihn nervös.

Schließlich rief er einen der Quesas zu sich. »Du läßt dich zurückfallen und beobachtest die Gegend hinter

uns!« befahl er. »Ich möchte nicht, daß uns irgend jemand folgt.« Der Wilde erstarrte vor Furcht, er begann zu zittern und bat

Taymagadur flehentlich, doch einen anderen mit dieser Aufgabe zu

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betreuen. Der Blutjäger verfluchte ihn. »Du wirst tun, was ich dir sage! Du kannst uns auf Hörweite

folgen. Wir werden sofort zu dir kommen, wenn du nach uns rufst.« Doch der Quesa schüttelte stumm den Kopf. Taymagadur riß das Schwert aus der Scheide und setzte es dem

Mann an die Kehle. »Wirst du gehen, oder soll ich dir den Hals aufschneiden?« fuhr er

ihn an. Die Waffe glitzerte im bleichen Licht des Mondes; die ganze Szene

kam Taymagadur unwirklich vor, und er hätte viel dafür gegeben, die Schatten von Ossar in der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Doch sie waren noch ein ganzes Stück von der Blutburg entfernt.

»Ich kann nicht!« krächzte der Quesa. Er war außer sich vor Angst, seine Nasenflügel bebten, und seine Augen traten ein Stück hervor. Trotzdem blieb er stehen, bereit, lieber den Tod durch Taymagadurs Schwert auf sich zu nehmen als allein in die dunkle Wüste zu gehen.

»Was ist es, das du mehr fürchtest als mein Schwert?« fragte Taymagadur wütend und verblüfft zugleich.

»Die Schrecken der Nacht haben keinen Namen«, stammelte der Quesa. »Aber sie sind allgegenwärtig, und sie werden mich vernichten.«

»Hm!« machte Taymagadur nachdenklich. »Wenn das so ist, kannst du bei der Gruppe bleiben.«

Der Quesa kehrte zu den Gefangenen zurück, um sie mit seinen Artgenossen und den Hossas zu bewachen.

Taymagadur wäre gern selbst ein Stück zurückgeritten, um das Land auszukundschaften, aber er konnte die Quesas nicht allein lassen, solange sie in dieser Verfassung waren.

Er gesellte sich zu ihnen. »Wir waren schon in vielen Nächten gemeinsam unterwegs«,

erinnerte er sie. »Niemals zuvor habt ihr euch so gefürchtet. Was ist Besonderes an dieser Nacht, daß sie euch solche Angst einflößt?«

Einer der Wilden deutete zum Mond, der zum Teil von einer

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kleinen Wolke bedeckt wurde. »Tahomes Zeichen!« sagte der Mann. Taymagadur fand an einer Wolke, die vor dem Mond stand, nichts

Eigenartiges, aber er konnte sich vorstellen, daß sie in den Augen der naturverbundenen Quesas eine besondere Bedeutung hatte.

Er blickte abermals zum Himmel empor und konnte sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, daß die Wolke eine besondere Form hatte, fast wie der Kopf eines schlangenähnlichen Wesens. Das war natürlich Zufall, aber Taymagadur zweifelte daran, daß er das den Wächtern klarmachen konnte.

Auch die Kanuks schienen beunruhigt zu sein. Immer wieder blickten sie zum Mond hinauf, um die Wolke zu beobachten.

Taymagadur hoffte, daß heftiger Wind aufkommen und die Wolke vertreiben würde. Sein Wunsch erfüllte sich jedoch nicht, die Wolke behielt auch länger als gewöhnlich ihre Form.

»Jetzt fange ich schon selbst mit diesem Unsinn an!« sagte Taymagadur zu sich selbst.

Er trieb die Quesas und die Hossas an, die Gefangenen zu größerer Eile zu bewegen.

Taymagadur ritt jetzt am Ende der Gruppe. Ab und zu sah er sich um, aber die Dünen wirkten in der Dunkelheit wie drohende Schatten, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollten.

Da es jedoch still blieb und nichts geschah, beruhigte Taymagadur sich wieder.

*

Auch Schlangentöter erkannte die ungewöhnlichen Zeichen, die in dieser Nacht entstanden, aber da er in der Nähe des Großen Vogels war, konnte ihn diese Entwicklung nicht beunruhigen.

Mit einer Sicherheit, die sogar Ubali verblüffte, folgte er den Spuren des Gefangenenzugs.

»Er ist ein noch besserer Spurenleser als ich«, stellte der Krieger aus Shi-but fest. »Ich hätte nicht gedacht, einmal auf jemand zu

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treffen, der es mit mir in dieser Kunst aufnehmen kann.« »Schlangentöter gehört zu einem Volk von Jägern und Nomaden«,

sagte Dragon. »Kein Wunder also, wenn er derartige Fähigkeiten besitzt.«

Nun, da er sich einmal entschlossen hatte, die unbekannten Entführer der Kanuks zu verfolgen, konzentrierte sich der Atlanter ganz auf sein Ziel.

Wahrscheinlich würden sie jetzt ein wenig später als geplant in Shebar ankommen, aber das wollte Dragon in Kauf nehmen.

Der Padoka schien keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß er zusammen mit seinen neuen Freunden in der Lage sein würde, die Gefangenen zu befreien. Dieses Selbstvertrauen wirkte zwar ansteckend, aber Dragon war ein viel zu erfahrener Kämpfer, um sich über den Ausgang der bevorstehenden Auseinandersetzung Illusionen zu machen. Sie würden gegen mehrere Hossas, ein paar Wilde und einen Blutjäger kämpfen müssen – eine nicht zu unterschätzende Streitmacht.

Dragon glaubte nicht daran, daß die gefangenen Kanuks bei dem Kampf eine bedeutende Rolle spielen konnten, sie waren wahrscheinlich viel zu erschöpft, um ihren Rettern beizustehen.

Schlangentöter blieb stehen und deutete auf Trampelspuren im Sand.

»Hier wurden sie von irgend etwas vorübergehend gestört«, stellte er fest.

»Vielleicht haben sie auch nur Rast gemacht«, meinte Ubali. »Nein«, sagte der Padoka bestimmt. »Es gibt keine Anzeichen für

eine Rast. Die Spuren des Reiters weisen deutlich darauf hin, daß er nervös ist.

Er wird versuchen, Ossar schnellstens zu erreichen. Wenn wir ihn nicht bald einholen, können wir den Gefangenen nicht mehr helfen, denn wir sind allein nicht stark genug, um gegen eine Blutburg vorgehen zu können. Dazu brauchten wir eine Streitmacht wie vor vielen Sommern der Große Vogel.«

Der Gedanke an sein großes Vorbild machte ihn erregt.

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»Ich werde nicht weniger Krieger als der Große Vogel um mich versammeln und gegen Ossar und Shebar marschieren«, sagte er. »Wir werden die Neuatlanter endgültig aus diesem Land vertreiben.«

Dragon sah ihn skeptisch an. Er kannte diese jugendliche Begeisterung, denn sie hatte ihn lange genug zu großen Taten angetrieben. Jetzt war er abgeklärter und konnte die Situation besser einschätzen.

»Es ist möglich, daß es dir eines Tages gelingen wird, die Neuatlanter zu vertreiben«, meinte er. »Doch das Waldland wird immer wieder Fremde anziehen, so daß dein Volk niemals zur Ruhe kommen wird.«

Vielleicht ahnte Dragon in dieser Nacht, daß seine Worte eine prophetische Bedeutung besaßen, denn er empfand Mitleid, wenn er an das stolze Volk der Kanuks dachte.

*

Noch vor Mitternacht pfiff Taymagadur den Rudelführer der Hossas zu sich. Der Blutjäger wußte, daß in der Wüste viele wilde Hossas lebten. Vielleicht konnte er von dort Verstärkung für den Rest des Weges erhalten. Zwar war nicht abzusehen, wer die Gruppe angreifen sollte, doch Taymagadurs Unruhe wollte sich nicht völlig legen.

Durch Pfiffe machte er dem Hossa klar, was er von ihm wollte. Trotz der relativ großen Klugheit des Schlangenungeheuers war es für Taymagadur nicht einfach, seine Befehle in Pfeifsignalen auszudrücken.

Schließlich verstand der Hossa, was man von ihm erwartete. Er warf sich herum und verschwand in der Dunkelheit.

Taymagadur wußte, daß er seine kleine Streitmacht auf diese Weise vorübergehend geschwächt hatte, aber er hoffte, daß sich dieses Risiko schließlich mit dem Eintreffen mehrerer Hossas auszahlen würde.

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Die Gefangenen marschierten jetzt zügiger, vielleicht, weil die Hitze des Tages ihnen nun nicht mehr zu schaffen machte, vielleicht auch, weil sie instinktiv ebenfalls unbekannte Gefahren wahrnahmen.

Die Quesas bewegten sich zu beiden Seiten des Zuges, während die Hossas an der Spitze durch den Sand glitten.

Taymagadur bildete den Abschluß, seine Hand lag auf dem Knauf des schweren Schwertes, das in einer Scheide des Sattels steckte.

*

»Halt!« rief Schlangentöter. Dragon schloß zu ihm auf. »Ein Hossa hat sich von der Gruppe entfernt«, stellte der Padoka

fest. »Um so besser!« sagte Ubali, der wie immer den Ereignissen eine

gute Seite abzugewinnen versuchte. »Das schwächt die Zahl unserer Gegner.«

»Was hältst du davon?« fragte Dragon den Jüngling. Der Häuplingssohn dachte angestrengt nach. Er wußte nicht viel

vom Verhalten der Hossas und ihrer Beziehung zu den Männern, die Jagd auf Kanuks machten. Er konnte nur versuchen, das, was sich zugetragen hatte, anhand der Spuren zu ergründen.

»Ich glaube nicht, daß der Hossa diese Gruppe aus eigenem Antrieb verlassen hat«, sagte er schließlich. Er beugte sich hinab und tastete mit den Fingern über die Abdrücke im Boden. »Es sieht so aus, als hätten sich der Reiter und der Hossa vorher verständigt.«

Dragon dachte an den Zusammenstoß mit Shebar und dessen Hossas. Er wußte, daß die Männer, die in dieses Land kamen, die Hossas für ihre Zwecke einsetzen konnten.

»Ich nehme an, daß der Reiter den Hossa weggeschickt hat«, sagte der Atlanter.

»Warum sollte er das tun?« wollte Thamai wissen. »Vielleicht will er das Monstrum als Kurier benutzen«, meinte

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Ubali. Thamai lächelte. »Ich wüßte nicht, auf welche Weise eine Schlange eine Botschaft

übermitteln könnte.« »Hast du eine bessere Idee?« fragte Ubali gereizt. »Das Mädchen hat recht«, griff Dragon ein. »Der Hossa ist

bestimmt nicht als Botschafter weggeschickt worden.« »Wenn ich nicht sicher wäre, daß sie nichts von unserer

Anwesenheit ahnen, würde ich sagen, daß der Hossa uns einen Hinterhalt legen soll«, überlegte Dragon laut. »Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, wohin dieser eine Hossa gegangen ist.«

Er wandte sich an den dunkelhäutigen Riesen. »Du gehst dieser Einzelspur nach, Ubali. Sobald du

herausgefunden hast, was geschehen ist, kehrst du wieder zu uns zurück.«

»Ich gehe mit ihm!« sagte Thamai prompt. »Nein!« bestimmte Ubali mit Nachdruck. »Dragons Entscheidung

ist richtig. Du bleibst bei ihm und Schlangentöter.« Er umarmte sie kurz und stürmte dann in die Nacht. »Wir setzen die Verfolgung fort«, entschied Dragon. »Ubali wird

uns wiederfinden, wenn er unserer Spur folgt.«

*

Ubali wußte, daß er als Panther nicht viel schneller vorankommen würde als in seiner normalen Figur, deshalb verzichtete er auf eine Verwandlung. Vielleicht gab es in dieser Nacht noch wichtigere Anlässe, sich in einen Schwarzen Panther zu verwandeln, und der Krieger wußte genau, daß er nach mehr als drei Verwandlungen pro Tag stark geschwächt war.

Ubali hatte Thamai nicht so leichten Herzens zurückgelassen, wie er sich den Anschein gegeben hatte. Nicht, daß er an Dragons Fähigkeiten gezweifelt hätte, das Mädchen zu schützen, sondern es war der Gedanke, daß Dragon und Thamai ohne ihn zusammen

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waren, der ihm zu schaffen machte. Er schalt sich selbst einen Narren, daß er sich damit beschäftigte, aber nun, da sich die Idee einmal in seinem Kopf festgesetzt hatte, ließ sie sich nicht so schnell wieder vertreiben.

Fast hätte Ubali bei seinen Überlegungen die schnurgerade durch die Wüste führende Spur verloren. Die Geradlinigkeit, mit der sich der Hossa bewegte, deutete auf zwei Dinge hin: Das Ungeheuer kannte sein Ziel ziemlich genau, und es bewegte sich mit größtmöglicher Eile.

Das bedeutete, daß es einen wichtigen Auftrag auszuführen hatte. Nach einiger Zeit gelangte der Panther in ein Gebiet, wo die

Dünen höher aufzuragen schienen. Der Untergrund wurde härter, so daß die Spur an manchen Stellen nur schwer auszumachen war. Entweder befand er sich im Randgebiet der Wüste oder in der Nähe einer Oase.

Ubali stieß jetzt auf vereinzelte Felsen. Wenig später rannte er sogar an verdorrten Sträuchern vorbei. Die Anzeichen, daß er sich in einer besonderen Gegend befand, häuften sich.

Ubali mußte vorsichtiger sein und kam daher nicht mehr so schnell voran. Er wußte überhaupt nicht, ob es möglich sein würde, den Vorsprung der Schlange aufzuholen.

Plötzlich sah er, daß die Spur, die er verfolgt hatte, sich mit denen anderer Hossas kreuzte.

Er blieb sofort stehen und lauschte. War die Schlange zu ihrem Volk zurückgekehrt? Diese Umgebung war dafür geeignet, zahlreiche dieser

widerlichen Kreaturen zu beherbergen. Hier gab es jagdbares Kleinwild und sicher auch Wasserstellen.

Im Mondlicht sah Ubali jetzt eine Hügelgruppe, die sich ringförmig um ein bestimmtes Gebiet gruppierte. Dragons Gefährte nahm an, daß dahinter ein Tal oder die Oase lag. Befand sich dort auch die Heimat dieser Ungeheuer?

In geduckter Haltung schlich Ubali weiter, stets bereit, einem Angriff auszuweichen. Er hätte es jederzeit mit einem oder zwei

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Hossas aufgenommen, doch den Kampf mit einer ganzen Gruppe zu wagen, wäre einem Selbstmord gleichgekommen.

Die Spur des Hossas, den er bisher verfolgt hatte, verlor sich zwischen den anderen. Plötzlich vernahm Ubali hundertfältiges Zischen und Fauchen. Es kam von hinter den Hügeln, die jetzt unmittelbar vor ihm lagen. Das Geräusch war dazu angetan, einem weniger mutigen Mann als Ubali Angstzustände zu verursachen, doch für den Schwarzen war es nur eine Bestätigung seiner Vermutungen.

Über den Hügeln glaubte Ubali einen Lichtschimmer zu sehen, als würden irgendwo Lagerfeuer brennen. Doch das konnte nicht sein. Es war nicht denkbar, daß die Hossas fähig waren, solche Feuer zu entfachen, noch geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß hier in der Nähe Menschen lebten, die solche Feuer in Gang hielten.

Ein paar Dutzend Schritte entfernt hörte Ubali ein paar Schlangen über den Boden gleiten. Sofort streckte er sich im Sand aus, um nicht entdeckt zu werden.

Als die Monstren verschwunden waren, kroch der Krieger weiter. Er bewegte sich jetzt einen der Hügel hinauf, die sein Interesse in Anspruch genommen hatten.

Als er oben angelangt war, legte er sich flach auf den Boden und spähte über den Rand der hohen Düne.

Was er sah, ließ ihn den Atem anhalten. Vor ihm lag ein Talkessel. In ihm brannten tatsächlich mehrere Feuer. Die Flammen bezogen

ihre Nahrung jedoch nicht von aufgelegten Holzscheiten oder anderem Material, sondern loderten aus Erdlöchern.

Ubali wußte, daß es unterirdische Gasströme gab, die sich an Austrittsstellen entzünden konnten. Das schien auch hier der Fall zu sein, obwohl schwer zu erklären war, bei welcher Gelegenheit sich diese Feuer entzündet hatten.

Rund um die Feuer krochen ein paar hundert Hossas hin und her. Es war nicht auszumachen, was sie antrieb, aber die Bewegungen schienen sich nach bestimmten Regeln zu vollziehen.

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Ungefähr in der Mitte des Talkessels befand sich ein großer Stein, den die Hossas durch ständiges Darüberhinweggleiten fast völlig glattgeschliffen hatten.

Auf diesem Stein hockte ein Hossa mit aufgerichtetem Kopf. Er zischte die Schlangen, die den Stein umlagerten, ständig an. Ubali schloß daraus, daß er ihnen eine Nachricht übermittelte. Der

Panther nahm an, daß dieses Tier jenes war, das er bisher verfolgt hatte.

Und mit einem Schlag erkannte er, was sich hier ereignete. Die Erklärung, die er gefunden hatte, bedeutete einen Schock für ihn, denn seinen Freunden und ihm drohte eine Gefahr, die tödlich war.

Der Hossa war hierher gekommen, um seine Artgenossen zu alarmieren. Wahrscheinlich sollte er sie holen, um den Gefangenenzug sicher an sein Ziel zu bringen.

Das konnte nur bedeuten, daß die Wächter der Kanuks mißtrauisch geworden waren. Vielleicht ahnten sie sogar, daß sie verfolgt wurden.

Eigentlich hätte Ubali jetzt auf der Stelle umkehren und zu seinen Gefährten eilen müssen, doch das Bild unten im Tal ließ ihn nicht los. Die im Talkessel versammelten Schlangen schienen unschlüssig zu sein, wie sie sich gegenüber dem Ankömmling verhalten sollten. Sie glitten unruhig um den großen Stein und zischten ab und zu drohend.

Vielleicht verübelten sie ihrem Artgenossen, daß er nicht wie sie in dieser Wildnis lebte, sondern sich den Neuatlantern angeschlossen hatte und in deren Dienst stand.

Ubali hatte den Eindruck, daß der Kurier immer eindringlicher zischte. Sein Kopf schwankte hin und her. Der Kreis um den Stein zog sich enger. Dann glitt einer der Hossas zu dem Botschafter hinauf und schlug die Fangzähne in seinen Körper.

Das war das Signal für die anderen. Blitzschnell war der Hossa auf dem Felsen von anderen Schlangen

umgeben, die ihn mit ihren Körpern derart zudeckten, daß Ubali ihn nicht mehr erkennen konnte. Lediglich an dem Knäuel sich

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drehender und windender Körper konnte der Krieger die Position des Botschafters ausmachen. Der ganze Spuk dauerte nur wenige Augenblicke, dann glitt die Schlangenmeute wieder auseinander. Auf dem Stein lagen die Überreste des Besuchers – es waren nur noch ein paar Fetzen.

Ubali erschauerte. Er konnte sich vorstellen, was es für einen Menschen bedeutete, von einer solchen Horde überrascht und getötet zu werden.

Jetzt wäre der Zeitpunkt günstig gewesen, den Beobachtungsplatz oben auf dem Hügel zu verlassen, doch Ubali ahnte, daß sich noch etwas ereignen würde, das wichtig für ihn war.

Ein besonders großer Hossa glitt jetzt auf den Felsen, von dem aus der Besucher kurz davor seine Nachricht übermittelt hatte.

Diese große Schlange schien der Anführer dieser Gruppe zu sein. Die Art, wie sie den Kopf hielt, ließ Wildheit und Stärke erkennen. Sie zischte, und die Menge zog sich vom Stein zurück. Beinahe lautlos nahmen die Hossas die Anweisungen ihres Anführers entgegen.

Nach einiger Zeit bildete sich eine Gruppe von etwa drei Dutzend starken Kreaturen. Sie formierten sich und kamen die andere Seite der Hügel herauf.

Ubali konnte sich leicht erklären, was dieser hastige Aufbruch zu bedeuten hatte. Die Hossas gingen auf die Suche nach jenen, die die Wüste durchquerten. Dabei bestand die Gefahr, daß sie auch auf Dragons Gruppe stießen.

Ubali wußte, daß seine Freunde und er gegen diese Übermacht keine Chance haben würde.

Jetzt endlich erwachte er aus seiner Starre. Er richtete sich auf und rannte den Hügel hinab, als wären tausend

Dämonen hinter ihm her. Und diese hätten in der Tat nicht schlimmer sein können als die Hossas, die jetzt die Jagd auf alles eröffnen würden, was sich in ihrem Reich aufhielt.

Die Krieger unter der Führung des Großen Vogels erreichten die Blutburg Mendos in der Nacht. Sie umzingelten sie und zündeten

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ihre Feuer an. Solange es dunkel war, griffen sie nicht an, aber bei Tagesanbruch stieß der Große Vogel den Kriegsruf seines Volkes aus, und die Trommeln der Schamanen verkündeten den Beginn der Schlacht.

Kriegsgesang der Kanuks

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6.

Nach Mitternacht hörte Dragon das Schnauben eines Pferdes. In der stillen, mondhellen Nacht hätte eine Explosion keinen nachhaltigeren Eindruck haben können.

Thamai griff nach ihrem Blasrohr und schob einen Pfeil in das Mundstück.

Schlangentöter ging sofort hinter einer Düne in Deckung, während Dragon die Umgebung beobachtete.

Nach einer Weile richtete der Padoka den Oberkörper auf und winkte Dragon.

Der Atlanter begab sich an den Beobachtungsplatz seines neuen Freundes.

»Wir haben sie fast eingeholt«, flüsterte Schlangentöter. »Der Reiter befindet sich am Ende der Gruppe. Wir wissen jedoch nicht, wie weit er zurückhängt.«

Dragon konnte sich nicht vorstellen, daß ein einzelner Reiter ihnen große Schwierigkeiten bereiten würde, andererseits mußten sie damit rechnen, daß bei einem Angriff auf diesen Mann soviel Lärm entstehen würde, daß die anderen Wächter darauf aufmerksam wurden und dem Reiter zu Hilfe eilten.

»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte Dragon und stützte sich auf seinen Schild. »Entweder greifen wir den Reiter sofort an oder wir umgehen ihn und versuchen, zuerst die Kanuks zu befreien.«

»Ich kümmere mich um diesen Reiter«, bot Schlangentöter an. »Das Mädchen und du können inzwischen versuchen, die Gefangenen einzuholen.«

Dragon sah den schlanken Wilden skeptisch an. Schlangentöter war mutig und entschlossen, aber er schien die Stärke seines strapazierten Körpers zu überschätzen. Außerdem war fraglich, ob er erfahren genug war, den Reiter zu überwältigen.

»Ich werde mich um den Reiter kümmern«, sagte Dragon daher. »Ihr beide bleibt zurück und greift erst ein, wenn ich von Hossas

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oder den Quesas angegriffen werde. » »Du bist der Geist des Großen Vogels«, sagte Schlangentöter. »Du

hast die Klugheit des großen Häuptlings, und ich tue, was du mir befiehlst.«

Dragon lächelte, aber das konnte der Jüngling nicht sehen. Dann ging der Atlanter über den Hügel hinweg und bewegte sich

in die Richtung, aus der er das Schnauben des Pferdes gehört hatte. Da der Reiter seine Geschwindigkeit der der Gefangenen anpassen mußte, hoffte Dragon, daß er ihn bald eingeholt haben würde.

Er wußte, daß er nicht viel Zeit haben würde, um den Kampf gegen den Fremden zu beenden, denn die Hossas und die Wilden, die den Zug begleiteten, konnten jederzeit eingreifen.

Dragon rannte so schnell er konnte. Nach einer Weile sah er auf einem Hügel in der Ferne die

Silhouette eines Mannes auf einem Pferd. Der Reiter beobachtete die Umgebung.

Dragon war sicher, daß er von dem anderen nicht gesehen werden konnte, denn er befand sich in der Senke zwischen zwei Dünengruppen. Dieser Wüstenstreifen lag im Schatten.

Dragon nutzte die Deckung aus und rannte weiter auf den Reiter zu.

Bevor er ihn erreichte, lenkte der Unbekannte sein Pferd von dem Hügel hinab und entfernte sich wieder. Er wollte den Vorsprung aufholen, den der Trupp mit den Gefangenen inzwischen herausgeholt hatte. Dragon machte sich deshalb keine Gedanken. Früher oder später würde der Blutjäger erneut eine Beobachtungsposition beziehen und Dragon die Gelegenheit bieten, auf die der Atlanter wartete.

Von Thamai und Schlangentöter war nichts mehr zu sehen, aber Dragon wußte, daß sie dicht hinter ihm waren. Er hoffte, daß auch Ubali bald wieder zu ihnen stoßen würde, denn ohne die Hilfe des Panthers konnten sie die gefangenen Kanuks nicht befreien.

Wenig später hörte Dragon das leise Knirschen der Pferdehufe im Sand. Der Fremde ritt im Schritt hinter dem Gefangenentrupp nach.

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Da von den Gefangenen und den anderen Wächtern nichts zu hören war, schloß Dragon, daß doch ein gehöriger Abstand zwischen den Kanuks und dem Reiter bestand.

Als Dragon zwischen zwei Hügeln herauskam, konnte er plötzlich das Pferd wieder sehen, es bewegte sich nur ein paar Dutzend Schritte von ihm entfernt durch die Dunkelheit. Sein Reiter blickte gerade in die andere Richtung.

Dragon zog Almunir. »Sohn von Atlantis!« rief er leise, aber durchdringend. »Du

handelst nicht im Namen deiner Väter, wenn du Schrecken und Unfreiheit in dieses Land bringst.«

Schon bei den ersten Worten hatte sich das Pferd aufgebäumt, aber der Reiter parierte diese unverhoffte Bewegung mit großer Geschicklichkeit. Dann riß er das Pferd herum und blickte in Dragons Richtung. Das Schwert des Atlanters blitzte im Mondlicht. Dragon sah, daß der Fremde eine Art Rüstung trug, deren hauptsächlichstes Merkmal der bis zu den Schultern reichende Helm war.

Der Reiter nahm die Herausforderung an, er zog sein Schwert aus der Sattelscheide und riß es hoch. Dann trieb er sein Tier an und preschte durch den lockeren Boden auf den einsamen Mann zwischen den Dünen zu.

*

Kaum, daß er den Fremden gesehen hatte, war die Spannung aus Taymagadur gewichen. Die Gefahr, die die ganze Nacht über gelauert hatte, war endlich in der Gestalt eines Mannes aus der Dunkelheit getreten und hatte ihre Drohung in Worte gekleidet.

Da der Mann allein war, dachte Taymagadur nicht daran, nach den Hossas zu pfeifen oder die Quesas herbeizurufen.

Der Blutjäger auf seinem Pferd fühlte sich dem Unbekannten überlegen. Er würde ihn einfach niederreiten und dann mit seinem Schwert einen tödlichen Hieb beibringen.

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Im Mondlicht war nicht viel von dem so plötzlich aufgetauchten Gegner zu erkennen, aber Taymagadur sah, daß der Mann einen ungewöhnlich geformten Schild trug. Der Blutjäger hatte niemals zuvor einen achteckigen Schild gesehen. Der Nachtwind, der über die Hügel kam, blähte den Umhang des Fremden auf und ließ den Mann breit und massig erscheinen. Doch davon ließ Taymagadur sich nicht beeindrucken.

Als er den Fremden fast erreicht hatte, hielt er sein Schwert stoßbereit.

Der Mann warf sich zur Seite, wich dem Pferd aus und parierte den Schlag des Blutjägers mit seinem Schild. Gleichzeitig führte er einen Hieb gegen die Flanke des Pferdes. Die Bewegungen wirkten nicht besonders schnell, aber sie waren in einem von Taymagadur noch nie gesehenem Maße aufeinander abgestimmt, als sei der Mann auf nichts anderes eingestellt.

Das getroffene Pferd bäumte sich hoch auf, es wieherte vor Schmerz und Schreck.

Taymagadur hielt sich mit einer Hand an den Zügeln fest, mit der anderen packte er sein Schwert. Einen Augenblick verlor er seinen Gegner aus den Augen. Es gab ein zischendes Geräusch, als das Schwert des Unbekannten durch die Luft glitt und den Sattelgurt durchtrennte.

Taymagadur fühlte den Sattel seitwärts rutschen. Instinktiv ließ er die Zügel los, so daß er über die Hinterbacken des Pferdes zu Boden gleiten konnte und gleich wieder aufrecht dastand.

Das tödlich verwundete Pferd stand einen Moment zwischen den beiden Kämpfenden, dann machte es ein paar hilflose Schritte vorwärts und brach zusammen.

Taymagadur stand fünf Schritte von seinem Widersacher entfernt. Zum erstenmal spürte er Todesfurcht. Er vergaß, daß er nach den Quesas rufen konnte. Er vergaß auch die Hossapfeife, die an einer Schnur von seiner Brust hing.

»Sohn von Atlantis!« sagte der große Fremde. »Nimm deinen Helm ab, damit ich dein Gesicht sehen kann!«

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Taymagadur hörte diese Stimme wie in einem Traum. Obwohl er seinen Gegner verstand, war dessen Sprache nicht die Sprache der Blutjäger von Neuatlantis.

Der Fremde sprach eine der alten Sprachen. Taymagadur erschauerte. Woher kam dieser Mann? Wer war er? »Ich werde meinen Helm nicht abnehmen!« sagte er trotzig.

»Wenn du mich sehen willst, wirst du mich töten müssen.« »Nun denn«, lautete die Antwort, »laß uns beginnen.« Taymagadur gab einen unartikulierten Laut von sich und stürzte

sich auf den Widersacher. Er war kein besonders geschickter Schwertkämpfer, aber er vertraute auf seine große Schlagkraft und auf seine Standfestigkeit.

Beinahe mühelos parierte der Mann mit dem achteckigen Schild den ersten Schlag. Er täuschte Taymagadur mit einer Ausfallbewegung. Beinahe gleichzeitig stieß er mit seinem Schwert zu. Er traf Taymagadur in die Seite, aber das Kettenhemd bewahrte den Blutjäger vor einer größeren Wunde.

Er kam jedoch nicht zum Gegenangriff, denn sein Gegner kam blitzschnell von der anderen Seite. Die Schilde krachten aufeinander, dann spürte der Blutjäger das Schwert des Feindes von unten her in seinen Körper dringen. Es war kein besonders schmerzhaftes Gefühl, aber es löste panische Angst in Taymagadur aus, denn er ahnte, daß er nun sterben mußte.

Der Fremde riß seine Waffe zurück und trat zur Seite. Taymagadur kippte in den Sand, der Schild entglitt seinen

Händen. »Du bist wie der Wind«, sagte er matt. »Den Wind kann man nicht

treffen.« Sein Kopf sank zurück, der Fremde kam heran, um ihm den Helm

abzunehmen. Von einem Hügel aus hatte Schlangentöter zusammen mit Thamai

den Kampf der beiden Hellhäutigen beobachtet. Die scheinbare

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Leichtigkeit, mit der Dragon seinen Gegner besiegt hatte, bestärkte den Häuptlingssohn in seiner Ansicht, daß dieser Mann der Geist des Großen Vogels war.

»Komm!« sagte er zu Thamai. »Laß uns zu ihm gehen.« Als sie die beiden Männer erreichten, zog Dragon dem Blutjäger

gerade den Helm vom Kopf. Schlangentöter verfolgte diesen Vorgang mit Spannung; er war enttäuscht, als unter dem Helm ein völlig normales Gesicht hervorkam.

Der Jüngling hätte nicht zu sagen vermocht, was er zu sehen erwartet hatte, aber die vielen Geschichten, die die Schamanen von den Neuatlantern erzählten, hatten seine Phantasie beflügelt.

Der Hellhäutige lebte noch. »Sag mir deinen Namen«, sagte er mühsam. »Ich will wissen, wer

mich besiegt hatte.« Dragon wollte bereits antworten, als er den Sohn des Weißen Elchs

erblickte. Einer inneren Eingebung folgend, sagte er zu dem Sterbenden:

»Ich bin der Geist des Großen Vogels.« »Ich glaube nicht an solche Geschichten!« sagte der Mann am

Boden. Plötzlich griff er nach einem Röhrchen, das an seiner Brust hing,

nahm es zwischen die Lippen und blies hinein. Dragon riß es ihm aus dem Mund, aber er wußte nicht, ob er

schnell genug gewesen war. Er verwünschte seinen Leichtsinn. Schließlich hatte er diese Hossapfeife bereits bei Shebar gesehen und wußte genau, welche Funktion sie erfüllte.

»Zu spät!« sagte der Neuatlanter triumphierend. »Die Hossas werden kommen.«

Ein Blutschwall kam aus seinem Mund. Er bäumte sich noch einmal auf und sank dann endgültig zusammen.

»Er ist tot!« sagte Dragon wütend. »Aber ich habe nicht aufgepaßt, so daß es ihm gelang, seine

Hossas zu alarmieren.« »Den Spuren nach zu schließen, hat er ein halbes Dutzend

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dressierter Schlangen bei sich«, sagte Thamai. »Eine von ihnen hat sich entfernt und wird von Ubali verfolgt. Wir haben es also noch mit fünf dieser Ungeheuer zu tun.«

Schlangentöter griff nach seiner Axt. »Dort hinüber!« rief Dragon und deutete zu dem toten Pferd. »Wir

können es als Deckung benutzen.« Sie rannten los. Noch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, hörte

Dragon das charakteristische Zischen einiger Hossas. Mit einem Satz sprang er über das Pferd hinweg und blieb dahinter stehen.

Mit dem Schwert deutete er über das Tier. »Da kommen sie!« sagte er grimmig. In der hellen Nacht zeichneten sich die Körper von fünf Hossas

deutlich gegen den Wüstensand ab. Die Schlangen hatten die drei Menschen entdeckt und kamen auf sie zu.

Schlangentöter stieß den Kriegsschrei der Padokas aus. In Dragons Gegenwart schien er keinen Augenblick daran zu zweifeln, daß sie diesen Kampf gewinnen würden.

»Es sind fünf!« stellte der Atlanter fest. »Wenn sie uns einkreisen, haben wir keine Chancen. Vielleicht verleitet sie ihre zahlenmäßige Überlegenheit zu einem Frontalangriff.«

Er drängte Thamai zurück, die mit ihrem Blasrohr auf das Pferd klettern wollte.

Wenn nur Ubali zurückgekommen wäre! dachte er verzweifelt. Mit dem Panther an seiner Seite hätten sie die fünf Angreifer zurückwerfen können. So aber war der Ausgang des Kampfes mehr als ungewiß.

Der Mann, dessen Hilfe Dragon so ersehnte, hatte Schlangentöters Kriegsschrei gehört, aber er näherte sich dem Kampfplatz von der anderen Seite, so daß er erst auf die Gefangenengruppe stieß. Die Kanuks drängten sich zusammen. Bei ihnen standen vier Wächter mit stoßbereiten lanzenähnlichen Waffen. Ubali nahm an, daß diese vier Männer zum Volk der Quesas gehörten, von dem Schlangentöter berichtet hatte.

Voller Zuversicht, daß Dragon, Thamai und der Jüngling mit den

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übrigen Gegnern inzwischen allein fertig wurden, verwandelte Ubali sich in einen Panther und stürmte brüllend über die Hügel in die Senke hinein, wo die Gefangenen zusammengedrängt standen.

Sein Anblick und der Lärm, den er machte, hätten sicher auch hartgesottenere Gegner als die vier abergläubischen Quesas aus der Fassung gebracht.

Bevor die Wächter sich von ihrem Schrecken erholten, war der Krieger aus Shi-but unter ihnen. Sie wichen zurück, als einer aus ihrer Mitte von Ubali umgerissen und getötet wurde.

Die gefangenen Kanuks beobachteten den Vorgang teilnahmslos; alles, was ihnen in letzter Zeit widerfahren war, hatte sie gleichgültig werden lassen.

Jetzt erst holten die drei anderen Quesas mit ihren Lanzen aus, um sie in den Körper des schwarzen Tieres zustoßen.

Doch die Großkatze krümmte sich zum Sprung zusammen und schnellte in die Höhe. Die Lanzenspitzen stießen ins Leere. Ubali griff den zweiten Krieger an. Er sah, daß einer der Quesas die Lanze wegwarf und in die Nacht floh. Im Augenblick hatte er keine Zeit, diesen Mann aufzuhalten.

Eine Lanzenspitze streifte seine Schulter. Der Mann, der den Stoß ausgeführt hatte, versuchte noch einmal zuzuschlagen, aber Ubali sprang ihn von unten an und warf ihn um. Knurrend kam er auf dem Mann zu liegen. Der Quesa schrie sein Entsetzen hinaus. Der einzige Mann, der jetzt noch auf den Beinen war, hob seine Lanze mit beiden Armen, um sie in den Körper des so plötzlich aufgetauchten schwarzen Teufels zu rammen.

Ubali spürte die Gefahr. Er drehte sich blitzschnell um die eigene Achse. An seinen Tatzen brach sich die Wucht des Stoßes, und die Waffe bekam eine andere Richtung. Sie bohrte sich genau in den Körper des unter Ubali liegenden Mannes. Der Stoß war tödlich. Der Quesa, der ihn geführt hatte, ließ die Lanze los und riß sein Jagdmesser aus dem Hüftgürtel.

Doch Ubali war auch für den Nahkampf gerüstet. Er sprang den Wilden an. Das Messer bohrte sich in sein

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Hinterbein, ohne dort größeren Schaden anzurichten. Der Wächter versuchte, es wieder herauszuziehen, um es in Ubalis Körper zu stoßen. Aber er kam nicht mehr dazu. Die Reißzähne des Panthers fanden ihr Ziel und schlugen in den Hals des Quesas.

Das war das Ende. Die Bewegungen des Kriegers erlahmten. Die drei Wächter waren tot, der vierte war entkommen. Ubali verwandelte sich in einen Mann zurück. »Ich gehe zu meinen Freunden!« sagte er zu den Gefangenen. »Ich

hole sie her, damit sie eure Ketten lösen.«

*

Waches Auge rannte, als ob alle Dämonen der Wüste hinter ihm her wären. Tatsächlich beging der Quesa in seiner Furcht eine schwere Fehleinschätzung bei der Anzahl ihrer Gegner. Die Feinde, die so überraschend aufgetaucht waren, konnten nur von Shebar kommen – und es schien eine ganze Armee zu sein.

Allein kam Waches Auge sehr schnell voran. Er drehte sich nicht um, sondern rannte geradewegs in die Richtung, wo Ossar lag und wo er in Sicherheit sein würde. In Gedanken malte er sich bereits aus, wie er dem Beherrscher der Blutburg gegenübertreten und von dem Angriff derer von Shebar berichten würde.

Für Waches Auge bestand kein Grund, die Geschichte, an die er selbst mit immer größerer Überzeugung glaubte, noch einmal zu überdenken.

Er würde Ossar von dem Zusammenprall mit einem Heer aus Shebar berichten. Die Jäger aus der anderen Blutburg hatten wilde Tiere mitgeführt, gegen die selbst die Hossas harmlos wirkten. Es war der kleinen Gruppe unmöglich gewesen, die gefangenen Kanuks zu retten und nach Ossar zu bringen. Die Opfer waren in den Besitz der Jäger von Shebar übergegangen.

Keinen Augenblick kam Waches Auge auf die Idee, in die Heimat seines Volkes zurückzukehren. Dazu hätte er die gesamte

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Hungerwüste noch einmal durchqueren müssen. Er glaubte nicht daran, daß ihm das lebend gelingen würde.

Sein Atem ging pfeifend, aber er verringerte seine Geschwindigkeit nicht.

Gegen Morgen sah er in der Ferne die Silhouette von Ossar auftauchen, und er wußte, daß er gerettet war.

Er hatte nicht daran geglaubt, daß es ihm gelingen würde, den schrecklichen Feinden von Shebar zu entkommen.

*

Im Gefühl irer sicheren Überlegenheit machten die fünf Hossas sich nicht die Mühe, die kleine Gruppe hinter dem Pferd von mehreren Seiten anzugreifen. Gemeinsam drangen sie auf das Pferd ein, um darüber hinweg zu gleiten und die Menschen dahinter zu töten.

Thamai, die hinter Dragon stand, zielte sorgfältig und traf genau in den aufgerissenen Rachen eines Hossas. Diesmal zeigte die Schlange eine Wirkung. Sie bäumte sich auf und fuhr herum, so daß sie vorübergehend Verwirrung in die Linie der Angreifer brachte. Dragon nutzte diesen Augenblick, indem er auf das Pferd sprang und mit zwei schnellen Hieben einen der Hossas köpfte.

Dabei konnte er nicht verhindern, daß Schlangentöter neben ihm auftauchte. Der Jüngling besaß keinen Schild, mit dem er sich schützen konnte. In Dragon löste diese Handlungsweise keine Bewunderung aus, er hätte lieber einen kühlen Kämpfer an seiner Seite gewußt, um den er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Seine Bedenken ob der Tollkühnheit des Padokas erloschen jedoch schlagartig, als er sah, wie geschickt Schlangentöter war.

Der Sohn des Weißen Elchs wich den vorstoßenden Fangzähnen eines Hossas aus und schmetterte dem Tier die Kampfaxt auf den Kopf. Der Hossa verlor das Gleichgewicht und glitt an dem Körper des Pferdes hinab.

Dragon hatte keine Zeit, sich länger um den Häuptlingssohn zu

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kümmern, denn seine Aufmerksamkeit wurde von den beiden Hossas in Anspruch genommen, die im Augenblick noch voll einsatzfähig waren. Trotz ihrer Blutgier und ihrer Wut hatten die Schlangen in Dragon den gefährlichsten der drei Gegner erkannt. Sie wußten, daß sie mit den beiden anderen leichtes Spiel haben würden, sobald sie den Mann mit dem achteckigen Schild ausschalteten.

Sie warfen sich gemeinsam auf den Atlanter. »Thamai, zurück!« rief Dragon dem Mädchen zu, denn er wußte

nicht, wie der Kampf ausgehen würde. Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, wie der Hossa, der

von Schlangentöter getroffen worden war, sich von dem Schlag erholte und wieder auf den Krieger eindrang, dann mußte er sich ganz auf die beiden Schlangen konzentrieren, die seinem Leben ein Ende bereiten wollten.

Diesmal waren die Hossas vorsichtiger. Sie hatten gesehen, daß zwei Schwerthiebe genügt hatten, um einen ihrer Artgenossen zu töten.

Dragon stemmte seinen muskulösen Körper hinter den Schild und riß ihn hoch. Es gab einen trockenen Knall, als der Kopf eines Hossas dagegen prallte. Der Stoß war in Richtung von Dragons Brust gegangen. Der zweite Hossa zielte nach Dragons Beinen, doch da war Almunir, an dessen breiter Doppelschneide es kein Vorbeikommen gab.

Der Atlanter wußte jedoch, daß er aus dieser Verteidigungsstellung herauskommen mußte, wenn er den Kampf für sich entscheiden wollte. Er machte einen Schritt zurück. Noch bevor er die Bewegung vollendet hatte, wußte er, daß er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Sein rechter Fuß verfing sich im Sattelgurt des Pferdes.

Dragon konnte das einmal verlorene Gleichgewicht nicht zurückgewinnen. Sein eigenes Körpergewicht ließ ihn nach hinten kippen. Im Fallen riß er den Schild vor den Kopf. Diese geistesgegenwärtige Bewegung rettete ihm das Leben, denn der

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Hossa, der den Stürzenden anspringen wollte, prallte erneut gegen den Schild.

Dragon hörte Thamais Entsetzensschrei. Das Mädchen hatte ihn stürzen sehen.

Sie war nur mit dem Blasrohr bewaffnet, aber Dragon sah vom Boden aus, wie sie damit auf eine der Schlangen eindringen wollte.

»Zurück!« krächzte er mühsam. Er zog die Beine an. Der mit harten Schuppen bedeckte Körper

eines Hossas schrammte über Dragons Oberschenkel. Hier unten auf dem Boden war er seinen beiden Gegnern hoffnungslos unterlegen.

Ein dunkler Schatten schoß von unten auf ihn zu. Er stieß die Beine wieder ab und traf den Hossa voll in die Seite. Die Wucht des Trittes schleuderte das Ungeheuer ein Stück davon. Das zweite Tier versuchte mit seinen krallenbewehrten Schwingen Dragon den Schild aus der Hand zu reißen. Gleichzeitig schlug es mit seinem Schwanz auf den Atlanter ein und wollte ihn in die Arme beißen.

Aus unmittelbarer Nähe drang Kampfeslärm an Dragons Gehör. Schlangentöter war noch immer mit seinem Gegner beschäftigt.

Da kam Thamai, ohne auf die eigene Sicherheit zu achten, auf Dragon zugestürzt und schlug mit dem Blasrohr auf die beiden Hossas ein. Ihr mutiger Angriff zeigte keine unmittelbare Wirkung, aber er führte dazu, daß die Kreaturen einen Augenblick unentschlossen zwischen Dragon und dem so plötzlich neu aufgetauchten Gegner hin und her schwankten.

Dragon nutzte die Gelegenheit, um blitzschnell wieder auf die Beine zu kommen.

Almunir zischte durch die Luft, aber der Hossa, gegen den der Hieb gerichtet war, zog den Kopf zurück. Der fürchterliche Schlag ging ins Leere. Dragon wurde von der eigenen Wucht nach vorn gerissen.

Für kurze Zeit war er ohne Deckung, aber keiner der Hossas kam dazu, diese Situation auszunützen, denn in diesem Augenblick flog ein schwarzer Körper heran und warf sich auf eine der beiden

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Schlangen. »Ubali!« stieß Dragon erleichtert hervor. Mit dem Auftauchen des Panthers war der Kampf entschieden. In wenigen Augenblicken war keiner der Hossas mehr am Leben. Die vier Freunde standen schweratmend neben den getöteten

Kreaturen. »Ist jemand gebissen worden?« fragte Dragon. »Nein«, sagte Thamai. »Ich wußte, daß sie uns nichts anhaben konnten«, sagte

Schlangentöter. »Es wird Zeit, daß du dich um die Gefangenen kümmerst«, schlug

Ubali vor. Er hatte wieder seine normale Gestalt angenommen. »Wir haben nicht viel Zeit, denn eine ganze Gruppe von Hossas ist hierher unterwegs.«

Bei Tagesanbruch griffen die Kanuks Mendos an. In kurzer Zeit war der Boden rund um die Burg vom Blut der tapferen Krieger gefärbt. Der Große Vogel war einer der ersten, die in die Blutburg eindrangen. Bevor die Sonne auf ihrer Wanderung den höchsten Punkt erreicht hatte, fiel Mendos.

Kriegsgesang der Kanuks

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7.

Dragon und Schlangentöter befreiten die zwölf Kanuks von ihren Ketten und führten sie an einen von der Kampfesstätte weiter entfernten Platz. Erst dort nahmen der Atlanter und der Jüngling sich Zeit, um mit den Kanuks zu sprechen.

Einer der Gefangenen war ein Häuptlingssohn vom Stamm der Padokas. Er kannte Schlangentöter.

»Der Geist des Großen Vogels hat mich zu euch geführt«, sagte der Sohn des Weißen Elchs zu den Freigelassenen.

Die Morgendämmerung zog über den Horizont herauf, so daß die Krieger und Frauen das Emblem auf Dragons Schild und auf seinem Umhang erkennen konnten.

»Ich habe diesen hellhäutigen Krieger kämpfen sehen«, fuhr Schlangentöter fort. »Nur der Geist des Großen Vogels kann über soviel Geschicklichkeit und Kraft verfügen.«

Dragon sah, daß die Kanuks beeindruckt waren. Schlangentöter stieg auf einen kleinen Hügel. Die siegreich

bestandenen Kämpfe hatten sein Selbstvertrauen noch verstärkt. »Der Geist des Großen Vogels ist gekommen, um mir den Auftrag

zu geben, die Stämme der Kanuks wieder zu vereinen. Wie einst Häuptling Großer Vogel werden wir gegen die Blutburgen kämpfen.« Er rief den Padoka-Krieger zu sich. »Ich habe die Tat begangen und nenne mich Schlangentöter. Der Geist des Großen Vogels soll von meiner Tat sprechen.«

Dragon sah keinen Grund, dieser Aufforderung auszuweichen. »Komm zu mir, Weiße Feder!« rief Schlangentöter. Weiße Feder war der befreite Häuptlingssohn von den Padokas. »Sie haben zwei Gefangene getötet und ihr Blut getrunken«,

berichtete Weiße Feder. Die schmerzliche Erinnerung veränderte sein Gesicht.

Dragon sah einen schrecklichen Verdacht bestätigt. Blutburgen und Blutjäger trugen ihre Namen nicht umsonst.

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Die Nachkommen der Atlanter waren zu Blutsaugern geworden. Diese Eigenschaft hatte man im alten Atlantis dem geheimnisvollen Volk der Vampire nachgesagt.

In seiner Erinnerung fühlte Dragon sich nach dem ehemaligen Atlantis zurückversetzt. Eigentlich war nie bewiesen worden, daß die Vampire Blutsauger waren. Dragon verdankte ihnen sogar sein Leben. Als er an Bord eines kleinen Sternenschiffs bewußtlos durch den Raum getrieben war, hatten die Vampire ihn gerettet.

Dragon konnte sich nicht vorstellen, daß diese Wesen der Ursprung für die Handlungsweise der Neuatlanter waren. Viel wahrscheinlicher erschien es ihm, daß diese Entwicklung einmal von Cnossos ausgelöst worden war.

»Deshalb also holen sie immer wieder Kanuks aus unseren Lagern und bringen sie in ihre Blutburgen«, sagte Schlangentöter voller Entsetzen. »Wir unterstützen sie noch bei ihren Untaten, indem sich die Stämme unseres Volkes gegenseitig überfallen.«

»Sie haben euch verblendet!« rief Dragon. »Die Wurzeln des Verderbens wurden in das Volk der Kanuks gepflanzt. Wenn dieser Entwicklung kein Einhalt geboten wird, müssen die Kanuks sterben.«

»Hört, was der Geist des Großen Vogels spricht!« forderte Schlangentöter die befreiten Gefangenen auf. »Der Häuptling schickt uns eine Botschaft aus Talahassets Reich.«

Dragon hatte längst erkannt, daß es wenig Sinn haben würde, die Kanuks über die tatsächlichen Hintergründe seiner Herkunft aufzuklären. Das Bild, das Schlangentöter von Dragon zeichnete, paßte auch besser zu den Plänen des Atlanters.

Nur ein geeintes Kanukvolk konnte den Blutjägern von Neuatlantis widerstehen. Die einzelnen Stämme waren viel zu schwach und wurden außerdem von den Neuatlantern gegeneinander ausgespielt.

Dragon traute dem jungen Krieger zu, daß er einmal eine ähnliche Rolle spielen konnte wie Großer Vogel. Schlangentöter war mutig und klug, außerdem besaß er das Charisma, das den wirklichen

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Häuptling auszeichnete. Die Vorstellungen und Handlungen des Padokas mußten jedoch

in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Schlangentöter mußte begreifen, daß er letztlich auf sich allein gestellt sein würde. Dragon konnte ihm zwar beistehen, aber die wundersamen Kräfte, die der Padoka ihm zuschrieb, besaß er in Wirklichkeit nicht.

Wenn es Dragon nicht gelang, Schlangentöter die Augen für die Wahrheit zu öffnen, würde der Häuptlingssohn sich überschätzen und im Überschwang seiner Gefühle Fehler begehen, die schließlich zu einer Niederlage führen mußten.

Die Kriegsgesänge der Kanuks, die er von Schlangentöter kannte, sagten viel über den Charakter von Großer Vogel aus. Der legendäre Häuptling war ein Mann von großer Weitsicht gewesen.

»Hört die Botschaft des Großen Vogels!« sagte Dragon zu den Kanuks. »Der Häuptling sieht mit Trauer, daß die Stämme der Kanuks uneins sind, daß sie sich gegenseitig überfallen, um im Auftrag der Neuatlanter Frauen, Kinder und Krieger zu entführen. Das ist nicht das Erbe des Großen Vogels.«

Sie hingen an seinen Lippen, als sähen sie in ihm Talahasset selbst. »Es ist euer Kampf, den ihr führen müßt, nicht der Kampf des

Großen Vogels«, fuhr Dragon fort. »Wenn sich die Stämme wieder vereinen, können sie gemeinsam die Hellhäutigen besiegen. Dazu ist es jedoch nötig, daß jeder Kanuk erfährt, was die Hellhäutigen in Wirklichkeit tun.«

Dragon verließ den kleinen Hügel und trat unter die befreiten Kanuks.

»Geht zu den Stämmen der Kanuks!« forderte er die Waldbewohner auf. »Berichtet den Häuptlingen, was ihr gesehen habt.«

»Wir werden zu den Kanuks sprechen!« Weiße Feder trat auf Dragon zu und berührte den Umhang des Atlanters. »Unsere Augen werden klar sein, unsere Zungen stark. Man wird erkennen, daß wir mit Talahassets Stimme sprechen.«

Dragon zweifelte keinen Augenblick daran, daß diese zwölf

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Menschen die richtigen Missionare waren, um die Botschaft Dragons und Schlangentöter bei den Stämmen der Kanuks zu verkünden. Sie alle standen noch unter dem Eindruck des Erlebten. Man würde ihnen ansehen, daß sie die Wahrheit sagten.

Wie alle Naturvölker besaßen auch die Kanuks ein feines Gespür dafür, was Wahrheit und Lüge war.

»Ich gebe euch unsere gesamten Nahrungsvorräte mit, damit ihr ohne Schaden euer Waldland erreichen könnt«, versprach Dragon. »Geht zu allen Stämmen der Kanuks.«

»Ich bleibe an der Seite unseres starken Freundes«, sagte Schlangentöter. »Wir werden gemeinsam gegen die Blutjäger kämpfen. In einem Mond werden wir uns wieder an dieser Stelle treffen. Bringt soviel Krieger mit, wie ihr überzeugen könnt.«

»Sie werden alle kommen!« prophezeite Weiße Feder. »Die Hellhäutigen werden vor unserem Kriegsgeschrei erzittern!«

sagte Schlangentöter. Dragon hätte es lieber gesehen, wenn der junge Krieger mit den

anderen Kanuks ins Waldland gezogen wäre, aber er wollte seinen neuen Freund nicht enttäuschen. Deshalb erhob er auch keine Einwände. Es gab auch keine schwerwiegenden Gründe gegen eine Teilnahme Schlangentöters an dem Marsch nach Shebar.

»Ihr wißt, was zu tun ist«, sagte der Sohn des Weißen Elchs zu den Kanuks. »Brecht nun auf, der Weg wird beschwerlich sein. Geht allen Gefahren aus dem Weg und laßt euch nicht in Kämpfe mit Hossas oder Blutjägern ein. Meidet auch die Quesas.«

Die Kanuks brachen auf. Schlangentöter rief noch einmal Weiße Feder zu sich. »Du wirst die Padokas aufsuchen«, sagte er. »Geh in das Zelt des

Weißen Elchs und berichte ihm, daß ich die Tat vollbracht habe.«

*

Die wilden Hossas, die von ihrem gezähmten Artgenossen aus dem Tal in die Wüste gelockt worden waren, stießen bei

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Tagesanbruch auf das tote Pferd und die gefallenen Quesas. Diese leichte und unverhoffte Beute ließ sie ihr ursprüngliches

Vorhaben aufgeben. Sie nahmen das, was ihnen ohne Gefahren zufiel, und vergaßen

die Spuren, die in verschiedenen Richtungen in die Wüste führten: Die der Kanuks nach Norden ins Waldland – und die von Dragon und seinen Freunden nach Süden in Richtung der Blutburg Shebar.

Die Krieger der Kanuks feierten den Sieg gegen Mendos. Sie fanden den Großen Vogel abseits sitzen. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht.

»Es gibt einen Häuptling für den Krieg und einen Häuptling für den Frieden«, sagte er. »Ich kann nicht länger Häuptling sein, denn der Krieg ist vorbei, und ich weiß nicht, was ich euch sagen soll. »

Kriegsgesang der Kanuks

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8.

Die Sonne versengte das Land, und die Hügel waren so flach und langgezogen, daß sie keinen Schatten mehr spendeten.

Die vier Menschen bewegten sich mit schleppenden Schritten und hinterließen lange Spuren im Sand. Hier, wo die Wüste am mörderischsten war, begann der letzte Teil des Weges nach Shebar.

Dragon wunderte sich über die Ausdauer seiner Begleiter. Weder Thamai noch der Padoka zeigten Anzeichen von Schwäche. Ubali verwünschte zwar die Hitze und die Trostlosigkeit der Umgebung, aber er war kräftiger, als er gegenüber seinen Freunden den Anschein erweckte.

Dragon wußte, daß sie nicht mehr weit von der Blutburg entfernt sein konnten. Er hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt, wie er bei seinem Auftauchen gegenüber den Bewohnern der Burg auftreten wollte. Er würde sich als hoher Besucher von Neuatlantis ausgeben, der in Begleitung seiner Leibsklaven durch das Land reiste. Sein Amulett und sein Aussehen würden ihn als das ausweisen, was er zu sein vorgeben wollte.

Sein gleichmäßiger Schritt, mit dem er an der Spitze der kleinen Gruppe von Hügel zu Hügel wanderte, wurde jäh unterbrochen, als in der Ferne ein paar Gestalten auf einer Hügelkuppe auftauchten.

Es waren Berittene, in wallende schwarze Tücher gehüllt. Auch ihre Gesichter waren von diesen Tüchern bedeckt. Dragon zählte sieben Reiter, die auf der Anhöhe haltmachten und offenbar zu ihnen herübersahen.

Unwillkürlich griff der Atlanter nach Almunir. »Kennst du diese Menschen?« wandte er sich an Schlangentöter. Der Padoka schüttelte den Kopf. »In einer alten Legende unseres Volkes wird von den Schwarzen

Reitern berichtet«, sagte er. »Ich glaube aber nicht, daß diese Fremden etwas mit ihnen zu tun haben.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Dragon. »Vielmehr glaube ich, daß

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diese Reiter von Shebar kommen. Denkt daran, was ich euch gesagt habe. Spielt eure Rollen gut.«

Er wußte, daß es vor allem Schlangentöter nicht leichtfallen würde, einen Diener darzustellen.

Die so unerhofft aufgetauchten Reiter bewegten sich nicht. Sie wirkten wie zu Stein erstarrt.

Um diese Tageszeit bewegte sich kein Windhauch, so daß die weiten schwarzen Tücher schlaff an ihren Trägern herabhingen.

»Was sollen wir tun?« fragte Thamai. »Wir gehen weiter«, entschied Dragon. »Wenn sie auf einen

Zusammenstoß aus sind, wird es sowieso dazu kommen, denn sie sind auf ihren Pferden in jedem Fall schneller als wir.«

Er wandte sich an den Padoka. »Obwohl ich glaube, daß es Menschen aus Shebar sind, würde ich

gern die Legende der Schwarzen Reiter hören«, sagte er zu dem Jüngling.

Der hagere Kanuk sah ihn an. »Die Legende berichtet, daß diese Reiter geradewegs von einem

Platz unter der Erde kommen«, sagte er. »Von dort aus führen sie ihre Raubzüge aus. Es heißt, daß aus den Nüstern ihrer Pferde Flammen schlagen und daß sie ihre Gesichter verbergen müssen, weil sie den Anblick des Tages nicht ertragen.«

»Das ist alles?« »Ja«, sagte der Padoka. »Es ist eine sehr alte Legende, und sie wird

von den Schamanen nur noch selten erzählt. Ich habe sie nur einmal gehört.«

Dragon sah, daß die Reiter jetzt ihre Pferde antrieben und den Hügel herabkamen. An der Art, wie die Tiere sich bewegten, war deutlich zu erkennen, daß sie den Ritt im lockeren Wüstenboden gewöhnt waren.

»Sie kommen auf uns zu!« stellte Thamai fest und griff nach ihrem Blasrohr. Sie schob einen Pfeil in das Mundstück.

»Warte!« befahl Dragon. »Es kann sein, daß sie keine feindlichen Absichten verfolgen.«

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»Wenn sie von Shebar kommen, sind sie unsere Gegner«, meinte Ubali.

Sand stiebte auf, als die Reiter ihre Tiere unmittelbar vor der kleinen Gruppe zügelten. Dragon sah, daß die Reiter groß und breitschultrig waren, an ihren Hüftgürteln hingen breite Krummschwerter.

Einer der sieben Männer, vermutlich der Anführer, schwang sich vom Pferd.

Er hob einen Arm. »Shtmun«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Keros ghen Hmunka!« Dragon sah sich ratlos um. »Versteht ihn jemand?« »Ich«, sagte Schlangentöter. »Er benutzt unsere Sprache. Er sagt,

daß er mächtige Medizin hat, die ihn all seinen Feinden überlegen macht.«

»Mit dieser Prahlerei will er uns einschüchtern«, sagte Dragon. »Sicher weiß er nicht, daß wir allein sind. Frage ihn, woher er kommt und was er hier will?«

Der Padoka redete auf den Fremden ein, dessen Gesicht unter dem um den Kopf geschlungenen Stoffetzen nicht zu sehen war. Man sah nur die Andeutung dunkler Augen.

Der Mann gab sofort Antwort,, seine Stimme bekam einen drohenden Unterton.

»Es sind Händler aus dem hohen Norden«, sagte Schlangentöter. »Wenn ihre Angaben stimmen, kommen sie aus dem Eisland.«

»Was hältst du davon?« wollte Dragon wissen. »Er lügt«, sagte Schlangentöter lakonisch. Der Atlanter überlegte, wie er sich verhalten sollte. Offensichtlich

kamen diese Reiter nicht von Shebar, aber sie stammten auch nicht aus dem Norden, wie sie behaupteten.

Dragon glaubte auch nicht, daß es Händler waren, dazu wirkten sie zu kriegerisch.

»Ich nehme an, daß es Nomaden sind«, sagte Ubali. »Ihr Schiff liegt wahrscheinlich irgendwo an der Küste. Sie sind zu einem

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Raubzug aufgebrochen.« Inzwischen hatte Schlangentöter die Verhandlungen mit den

Reitern wieder aufgenommen. »Sie fordern uns auf, ihre Gäste zu sein und ihre starke Medizin

kennenzulernen«, sagte der Sohn des Weißen Elchs. »Das hört sich ganz nach einer Gefangennahme an«, sagte Dragon

grimmig. »Soll ich ihre Pferde scheu machen?« fragte Ubali lauernd. Dragon lehnte diesen Vorschlag ab. Er war sicher, daß sie die

sieben Männer besiegen konnten, wenn es darauf ankam, aber er wollte das Lager der Reiter sehen, um mehr über diese Fremden zu erfahren.

»Sag ihm, daß wir sie gern begleiten. Shebar kann noch einen Tag warten.«

Schlangentöter übersetzte. Die Bereitwilligkeit, mit der Dragon und seine Freunde auf die mit viel Nachdruck vorgebrachten Vorschläge eingingen, ließ den Verschleierten sanfter sprechen.

Die Unbekannten wendeten ihre Pferde und ritten langsam voraus.

Nach einer Weile schien ihnen das zu langsam zu gehen, denn sie hielten an und machten den Vorschlag, daß die vier Freunde sich auf die vier stärksten Pferde setzen sollten.

Dragon hatte nichts dagegen einzuwenden, er selbst schwang sich hinter dem Anführer auf den Sattel und hielt sich an dessen Gürtel fest.

Jetzt, da er unmittelbar hinter dem Mann saß, roch er den süßlichen Duft, der von diesem Reiter ausging. Durch das wallende Gewand konnte er die harten Muskelstränge des Unbekannten fühlen.

Trotz der zusätzlichen Last kamen die Pferde gut voran. Zunächst ritten sie in südlicher Richtung weiter, so daß Dragon

argwöhnte, die Reiter könnten doch von Shebar kommen. Als sie jedoch in eine Senke in westlicher Richtung einbogen, sah Dragon, daß sein Verdacht grundlos war.

Page 84: In Der Hungerwüste

Wenig später sahen sie eine Gruppe hoher Zelte auftauchen, die ringförmig aufgebaut waren.

Der Mann, der vor Dragon im Sattel hockte, sagte etwas zu Schlangentöter.

»Das ist ihr Lager«, übersetzte der Padoka. »Sie wollen weiter nach Süden vordringen, weil sie hoffen, dort auf fruchtbares Land zu stoßen, und auf Völker, mit denen sie Tauschgeschäfte durchführen können.«

Der Atlanter war jetzt endgültig überzeugt davon, daß der Mann log. Wenn die Fremden tatsächlich aus dem Norden gekommen wären, hätten sie das Waldland der Kanuks durchqueren müssen. Dort hätten sie genügend Gelegenheit zum Handeln gefunden. Merkwürdig war nur, daß der Anführer der Reitergruppe die Sprache der Kanuks kannte.

Ihre Annäherung wurde vom Lager aus bemerkt. Ein paar verschleierte Gestalten kamen zwischen den Zelten hervor. Zwischen hochgewachsenen Männern erkannte Dragon auch zierliche Frauen und kleine Kinder. Alle trugen schwarze Kleidung und hatten das Gesicht verschleiert.

»Frag ihn, warum sie ihre Gesichter nicht zeigen!« forderte Dragon den Sohn des Weißen Elchs auf.

Der Padoka richtete eine entsprechende Frage in seiner Sprache an den Anführer der Reiter.

Er bekam eine knappe, unfreundliche Antwort. »Es ist wegen der Sonne«, übersetzte Schlangentöter. Dragon sagte: »Das würde gut zu eurer Legende passen!« Aber im Grunde genommen glaubte er nicht an die Geschichte der

Kanuks. Vielleicht hatten sie früher einmal Kontakt mit den Unbekannten gehabt. In der Erinnerung hatten sich Wirklichkeit und Phantasie zu einer Legende vermischt.

Als sie näher an das Lager herankamen, stellte der Atlanter fest, daß im Zentrum ein besonders großes Zelt stand. Im Gegensatz zu allen anderen, die mit dem schwarzen Stoff gefertigt waren, aus dem auch die Kleider der Fremden bestanden, leuchtete dieses Zelt

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in weithin sichtbarem Weiß. Ein Dutzend Wächter mit langen Lanzen stand davor. »Es muß wirklich eine sehr starke Medizin sein, wenn sie sie auf

diese Weise bewachen«, sagte Dragon zu Ubali. »Was, glaubst du, befindet sich in diesem Zelt?«

Der Schwarze lächelte breit und entblößte dabei seine ebenmäßigen Zähne.

»Vielleicht schleicht in der kommenden Nacht ein Schwarzer Panther durch das Lager, um Nachforschungen anzustellen!«meinte er.

»In der kommenden Nacht möchte ich weiter im Süden sein – in Shebar«, verwies ihn Dragon.

Ubali sah enttäuscht aus, wie immer in solchen Augenblicken erwachte seine Abenteuerlust.

An der Art, wie der Anführer der Reiter empfangen wurde, erkannte Dragon, daß dieser Mann auch in diesem Lager die bestimmende Persönlichkeit war.

Als er vor den ersten Zelten abstieg, wurde ihm sofort ein Lederschlauch mit Wasser gereicht. Die anderen warteten geduldig, bis er getrunken hatte, und sie an die Reihe kamen.

Inzwischen war ein zweiter Schlauch herbeigeschafft worden, den man Dragon und seinen Freunden reichte.

Der Atlanter ließ sich vom Pferd gleiten. Er stellte fest, daß er die Aufmerksamkeit der Vermummten in

weit größerem Maße erregte, als das bei Ubali, Thamai oder gar Schlangentöter der Fall war.

Dragon schloß daraus, daß der Anblick der beiden Schwarzhäutigen für die Fremden nicht ungewohnt war – ein weiteres Indiz für die Theorie, daß sie mit einem Schiff in dieses Land gekommen waren.

Trotz der großen Hitze brannten zwischen den Zelten einige Lagerfeuer. Ein paar Dutzend Pferde standen im Schatten unter den Vorzelten und dösten vor sich hin.

Dragon schätzte, daß sich etwa siebzig bis achtzig Menschen in

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diesem Lager aufhielten. Ihm fiel die ungewöhnliche Stille auf. Man hätte glauben können,

alle Vermummten würden gespannt auf irgend etwas warten. »Wir sollen zu seinem Zelt gehen«, übersetzte Schlangentöter die

nächsten Worte des Fremden. »Wir sind seine Gäste.« Dragon folgte dieser Einladung mit gemischten Gefühlen, denn

der Mann, der sie ausgesprochen hatte, machte alles in allem keinen sehr gastfreundlichen Eindruck.

Vor dem größten der schwarzen Zelte machte der Anführer halt. Er sagte etwas zu Schlangentöter, was den Padoka offenbar verärgerte, denn er gab eine heftige Antwort.

»Er will, daß wir unsere Waffen ablegen!« sagte Schlangentöter wütend. »Ich habe ihm gesagt, daß wir uns nicht von ihnen trennen werden.«

Dragon stützte sich auf sein Schwert. Es war eine demonstrative Geste, die ringsum Unwillen auslöste. Der Atlanter konnte beobachten, daß einige Männer nach ihren Krummsäbeln griffen.

Der Anführer der Nomaden löste die Spannung, indem er seine Krieger mit herrischen Worten zurücktrieb. Er selbst trat unter das Sonnendach seines Zeltes, wo auf einem Teppich fremdartige Früchte ausgebreitet waren.

Dragon, der in den letzten Tagen von den Vorräten aus Danilas Welt gelebt hatte, lief das Wasser im Mund zusammen. Doch sein stets wacher Verstand meldete Bedenken an. Es war möglich, daß einige dieser Früchte vergiftet waren. Er wollte nur das Essen anrühren, das auch von den Vermummten verzehrt wurde.

Der Atlanter wartete voller Ungeduld auf den Augenblick, da das gemeinsame Essen beginnen würde: Spätestens dann mußten die Nomaden ihre Schleier lüften.

Nur Dragon und seine drei Begleiter durften sich neben dem Nomadenhäuptling rund um den Teppich niederlassen, alle anderen Männer umstanden das Sonnenzelt in respektvollem Abstand. Aus dem Zelteingang drang Dragon der gleiche süße Duft entgegen, den er bereits an dem Fremden festgestellt hatte.

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Der Nomade hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen am Kopf des Teppichs im Sand.

Dragon legte Almunir griffbereit neben sich, ebenso seinen Schild. Ubali und Thamai verfuhren ebenso mit ihren Waffen. Der Padoka ließ seine Axt nicht aus den Händen, mißtrauisch beobachtete er die Nomaden, die das Vorzelt umringten.

Der Mann, der sie hierher geführt hatte, sagte ein paar Worte zu dem Padoka.

»Sein Name ist Grephim«, erklärte Schlangentöter. »Er sagt, daß wir mit dem Essen anfangen sollen.«

Grephim ging mit gutem Beispiel voran. Er lüftete seinen Schleier und begann zu essen.

Grephim hatte eine weiße, durchsichtig wirkende Haut, unter der man deutlich die feinen Äderchen sehen konnte. Ein Haarwuchs war nicht zu erkennen.

Dragon konnte sich vorstellen, daß Menschen mit einer solchen Haut sich nicht der Sonne aussetzen konnten.

Nachdem sie gegessen hatten, führte Grephim sie zu dem großen Zelt im Zentrum des Lagers. Er erklärte Schlangentöter, daß er seinen Gästen nun die große Medizin zeigen wollte.

Dragon war gespannt, was sie zu sehen bekommen würden. Grephim machte sich umständlich am Zelteingang zu schaffen

und klappte dann eine Seite des weißen Tuches zur Seite. Es dauerte eine Zeitlang, bis Dragons Augen sich vom grellen

Sonnenlicht an das Halbdunkel im Zelt gewöhnt hatten. Mitten im Zelt stand eine Art Bahre. Darauf lag eine mumifizierte Gestalt. Dragon sah auf den ersten Blick, daß es ein Kanuk war. Der Große Vogel wandte sich von seinem Volk ab und wanderte

über das Westgebirge bis zum Endlosen Meer. Dort wartete Talahasset mit einem großen Kanu auf ihn. Die Krieger, die dem Großen Vogel gefolgt waren, sahen das Boot mit dem Häuptling darin im Endlosen Meer verschwinden.

Kriegsgesang der Kanuks

Page 88: In Der Hungerwüste

9.

Dragons abenteuerliches Leben hatte ihm gelehrt, ungewöhnliche Dinge unvoreingenommen zu akzeptieren. Der Anblick der Mumie stellte für ihn eine Überraschung dar, aber sein Verstand begann sofort zu arbeiten und suchte nach einer Erklärung für das Vorhandensein der Mumie.

Sein Blick fiel auf Schlangentöter, denn er wollte die Reaktion des Padokas sehen.

Der Jüngling machte einen schockierten Eindruck, er war einen Schritt zurückgewichen und stand in abwehrender Haltung da.

Grephim sagte irgend etwas, aber Schlangentöter übersetzte seine Worte nicht.

»Ein Kanuk«, stellte jetzt auch Ubali fest. »Sie haben ihn samt seiner spärlichen Kleidung mumifiziert und ihm auch alle Waffen gelassen.«

»Ich glaube, daß es ein Häuptling war«, fügte Thamai hinzu. Dragon wußte, daß Ubali schon viele Mumien gesehen hatte. »Wie alt ist dieses Ding?« fragte er den Panther. »Das ist schwer zu schätzen«, erwiderte der Krieger von Shi-but.

»Auf jeden Fall scheint sie schon ziemlich alt zu sein. Es gibt Spuren des Zerfalls, die wahrscheinlich davon herrühren, daß diese Nomaden die Mumie ständig mitschleppen.«

Dragon trat an die Seite des Padokas und ergriff ihn am Arm. »Sprich mit Grephim!« forderte er ihn auf. »Sage ihm, daß wir

seine Medizin gesehen haben und daß wir beeindruckt sind. Wir wollen höflich zu ihm sein. Du mußt ihm aber gleichzeitig klarmachen, daß wir ebenfalls über starke Medizin verfügen. Er darf nicht glauben, daß wir ihn und seine Kanukleiche fürchten.«

Der Padoka zögerte. Er machte einen völlig verwirrten Eindruck. Schließlich begann er mit leiser Stimme in der Sprache seines

Volkes zu reden. Grephim hörte ihm einen Augenblick zu, dann riß er sich mit einer

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unbeherrschten Geste den Schleier vom Gesicht. Für Dragon kam diese Entwicklung überraschend, aber er ahnte, daß die Bewegungen des Nomadenhäuptlings nichts Gutes bedeuteten.

Das weiße Gesicht Grephims war vor Zorn entstellt, er schrie ein paar Beschimpfungen, für die Dragon keinen Übersetzer brauchte. Der Atlanter fragte sich, auf welche Weise Schlangentöter diesen Mann verärgert hatte.

»Ich glaube, wir sollten uns jetzt vorsichtig zurückziehen«, schlug Ubali vor. »Es sieht so aus, als würde unser blasser Freund bald seine Krieger alarmieren.«

Dragon winkte seinen Freunden zu. »Kommt!« sagte er. »Wir gehen.« Sie verließen das Zelt. Grephim schien überrascht zu sein, denn er

folgte ihnen nicht sofort. Fast alle Angehörigen des Nomadenvolks hatten sich inzwischen um das weiße Zelt versammelt. Die Männer und Frauen konnten das Gebrüll ihres Anführers im Innern des Zeltes hören, aber sie schienen es glücklicherweise nicht als Aufforderung zum Angriff anzusehen.

Eine Gasse bildete sich für die vier Fremden. »Bleibt dicht zusammen!« befahl Dragon. »Und achtet auf jede

verdächtige Bewegung.« Die Nomaden schienen unschlüssig zu sein, was sie tun sollten.

Als Dragon schon glaubte, daß sie das Lager unangefochten verlassen konnten, sorgte ausgerechnet Schlangentöter für einen Zwischenfall, der die Lage mit einem Schlag veränderte.

Als sie an einem Lagerfeuer vorbeikamen, blieb der Padoka stehen und zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Er steckte die Spitze des Pfeiles in das Feuer und wartete, bis sie brannte.

»Was soll das?« fuhr Dragon ihn an. »Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«

Zu spät erkannte er, was Schlangentöter vorhatte. Der Jüngling entfernte sich ein paar Schritte von seinen Begleitern

und legte den Pfeil in die Sehne seines Bogens. »Haltet ihn auf!« rief Dragon bestürzt.

Page 90: In Der Hungerwüste

Er stürmte auf Schlangentöter zu, doch der Padoka hatte den Bogen schon gespannt und den Pfeil abgeschossen.

Dragon blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete den Flug des Pfeiles. Auch die Blicke der Nomaden verfolgten den Feuerstab.

In diesem Augenblick trat Grephim vor das weiße Zelt. Er erfaßte die Situation sofort und stieß eine Verwünschung aus.

Der Pfeil senkte sich auf das Zelt hinab. Schlangentöter hatte genau gezielt und einen guten Schuß abgegeben. Für Dragon war das jedoch kein Anlaß, den Häuptlingssohn zu bewundern.

»Dieser Narr!« schrie Ubali aufgebracht »Was hat er getan?« Schlangentöter stand wie versteinert neben dem Feuer und starrte

zum Zelt hinüber. Im Widerschein der Flammen leuchtete seine Haut rotgolden.

Der brennende Pfeil schlug in das Zelt ein, die Flammen begannen sich sofort auszubreiten. Innerhalb weniger Augenblicke brannte fast das gesamte Zeltdach. Das Feuer breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus.

Grephim brüllte Befehle. Einige Nomaden kamen mit Wasserschläuchen angestürzt und

spritzten Wasser auf das Zelt. Ihre Rettungsversuche waren völlig sinnlos.

Angesichts des brennenden Zeltes schien man die vier Besucher, die für den Brand verantwortlich waren, völlig vergessen zu haben.

»Kommt!« rief Dragon seinen Begleitern zu. »Vielleicht können wir jetzt entkommen.«

Inzwischen kamen einige Nomaden zu Besinnung. Sie stiegen auf ihre Pferde und schleuderten vom Sattel aus Seilschlingen um die Zeltmasten. Indem sie die Masten niederrissen, versuchten sie, das Zelt zum Einsturz zu bringen, um es dann besser löschen zu können.

Dragon sah das Zelt in sich zusammenfallen. Funken stoben in die Luft, und an einigen Stellen loderten die Flammen noch höher auf als zuvor. Grephim stand so dicht am Zelt, daß man glauben konnte, er wolle sich in die Flammen stürzen, um sie mit den Händen zu

Page 91: In Der Hungerwüste

ersticken. Grephim schrie noch immer, aber seine Befehle gingen in dem sich

ausbreitenden Chaos unter. Dragon konnte erkennen, daß die Bahre mit der Kanukmumie sich

unter einer Zeltwand abzeichnete. Auch unter dem Zelt schien es zu brennen. Die Gegenstände im Innern des Zeltes wurden ebenfalls ein Opfer der Flammen. Alles, was sich dort befunden hatte, war trockenes, gut brennbares Material. Auch die Mumie besaß keinen Schutz vor dem Feuer.

Der heiße Aufwind trieb brennende Stoffetzen hoch. Dragon und seine Begleiter waren unwillkürlich stehengeblieben,

der Gedanke an eine schnelle Flucht war im Augenblick vergessen. Es war deutlich zu erkennen, daß die Mumie Feuer fing. Sie

loderte auf. Dann geschah etwas Unheimliches. Der Oberkörper der Leiche richtete sich auf. Die Arme bewegten

sich. Die Nomaden benahmen sich, als hätten sie den Verstand

verloren. Dragon beobachtete, daß schreiende Frauen sich in das Feuer stürzten, um die Mumie zu retten. Ihre Umhänge wurden von den Flammen erfaßt. Aber selbst dann rannten sie weiter auf das Zentrum der Brandstelle zu. Sie sahen aus wie tanzende Feuerpuppen. Ihre Schmerzensschreie gellten in Dragons Ohren.

Grephim stand noch immer an seinem Platz und ruderte hilflos mit den Armen.

Aus den Augenwinkeln sah Dragon, daß Schlangentöter sich bewegte. Der Padoka legte einen zweiten Pfeil in die Sehne. Er zielte kurz und ließ ihn davonschnellen.

Der Pfeil bohrte sich in Grephims Brust. Der Nomadenführer torkelte rückwärts in die Flammen und

stürzte zu Boden. Noch einmal machte er einen Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, doch das gelang ihm nicht.

Dragon packte Schlangentöter am Arm und zog ihn mit sich davon.

Page 92: In Der Hungerwüste

Ubali und Thamai folgten den beiden. Als Dragon noch einmal zurückblickte, sah er Nomaden in das

Feuer springen. Die Vernichtung der Mumie und das Ende ihres Häuptlings hatte diese Menschen offenbar völlig um den Verstand gebracht.

Unangefochten erreichten die vier Freunde die Hügel auf der anderen Seite des Lagers. Auch hier waren die Flammen noch zu sehen, konnte man den Lärm der Nomaden hören.

Dragon blieb schweratmend stehen. »Niemand folgt uns!« stellte er fest. »Ich glaube, daß sie so sehr

mit sich selbst beschäftigt sind, daß sie alles andere vergessen haben.«

»Sie suchen den Tod«, fügte Thamai hinzu. »Sie wollen mit ihrem Anführer sterben.«

Ubali wandte sich an Schlangentöter. »Warum hast du das getan?« wollte er wissen. Doch die Blicke des Padokas schienen ihn nicht wahrzunehmen.

Sie waren in die Ferne gerichtet. Das Gesicht des Jünglings wirkte steinern.

»Warum?« wiederholte Ubali drohend und machte einen Schritt auf Schlangentöter zu.

»Halt!« rief Dragon. »Wir dürfen ihm keine Vorwürfe machen. Für ihn bot sich eine andere Situation als für uns. Wir müssen die Dinge von seinem Standpunkt aus betrachten.«

»Was heißt das?« fragte Ubali verwirrt. »Er hat uns die Antworten, nach denen wir suchen, bereits

gegeben«, sagte Dragon nachdenklich. »Seit wir unterwegs sind, hat er uns die Kriegsgesänge der Kanuks erzählt.«

»Richtig!« stimmte der Panther zu. »Aber das hat für uns keine Bedeutung.«

»Erinnerst du dich nicht?« fragte Dragon. »Nachdem der legendäre Kriegshäuptling Großer Vogel Mendos bezwungen hatte, verschwand er. Krieger, die ihm folgten, sahen ihn angeblich in einem Schiff verschwinden.«

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Ubali stöhnte auf. »Die Zusammenhänge!« rief er. »Ja«, bestätigte Dragon. »Die Schwarzen Reiter sind

wahrscheinlich mit einem Schiff an der Küste gelandet, bevor sie in dieses Land eindrangen. Sie beherrschten die Sprache der Kanuks. Von wem sollten sie sie gelernt haben?«

»Die Mumie«, sagte Thamai erschüttert, »war die Leiche des Großen Vogels.«

*

Dragon kehrte noch einmal auf einen der größeren Hügel zurück, um zu beobachten, was sich im Lager der Nomaden abspielte. Er sah, daß jetzt alle Zelte brannten. Wahrscheinlich waren sie von den Nomaden selbst in Brand gesteckt worden. Zwischen den Flammen sah der Atlanter ein paar brennende Gestalten. Das waren die letzten Nomaden, die noch am Leben waren.

Der gesamte Stamm hatte sich in kürzester Zeit selbst vernichtet. Es gelang dem Atlanter, eines der ausgebrochenen Pferde

einzufangen. Damit kehrte er zu seinen Freunden zurück. Sein Gesicht war verschlossen und abweisend, niemand stellte

ihm eine Frage. Sie luden ihre gesamte Ausrüstung auf das Pferd. Thamai durfte

sich im Sattel niederlassen. Schlangentöter hatte sein Schweigen noch immer nicht gebrochen,

aber Dragon war sicher, daß der Padoka den Schock der Ereignisse schnell überwinden würde.

Ihr Ziel war Shebar. Bevor sie diese Blutburg erreichten, mußte Schlangentöter zu sich selbst finden, denn dort warteten mit Sicherheit neue Schwierigkeiten auf die kleine Gruppe.

Schlangentöter sah sich als der Erbe des Großen Vogels. Dragon war entschlossen, den Jüngling in jeder Beziehung zu

unterstützen. Der schrecklichen Herrschaft der Blutjäger mußte

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endlich ein Ende gemacht werden. Das jedoch konnte nur erreicht werden, wenn sich die Stämme der

Kanuks noch einmal zusammenschlossen. Unser Volk hat keine Männer mehr, keine Äxte und keine Pfeile. Und unser Volk spricht mit den Stimmen von hundert Kriegern. Großer Vogel ist gegangen. Kriegsgesang der Kanuks

Page 95: In Der Hungerwüste

10.

Das sind die Kanuks, die aufbrachen, um die Botschaft Schlangentöters beim Waldvolk zu verkünden:

Schneller Fuß beim Stamm der Nauzukas. Windblume beim Stamm der Pewnihs. Bärenkralle beim Stamm der Zumotas. Gelbes Pferd beim Stamm der Sath-Mu. Stumme Zunge beim Stamm der Verdikas. Stumpfer Pfeil beim Stamm der Karnoks. Der-immer-im-Regen-läuft beim Stamm der Santukos. Kleiner Vogel beim Stamm der Aitranks. Donnerstimme beim Stamm der Santikos und beim Stamm der

Mainocks. Zwei Zähne beim Stamm der Oketos. Adlerfeder beim Stamm der Zonacks. Weiße Feder beim Stamm der Pakokas.

*

Weißer Elch hatte lange gefastet und ins Feuer gestarrt, um seine Trauer über den verlorenen Sohn zu überwinden. Er blieb allein in seinem Tipi und wollte niemand sehen.

Die Schamanen zündeten große Feuer an und beklagten den Verlust, den der Häuptling erlitten hatte.

Insgeheim jedoch dachten die Medizinmänner bereits an die Zukunft des Stammes. Ein Häuptling, der trauerte, und darüber vergaß, seinen Stamm zu führen, war für die Padokas eine Belastung.

Gehender Falke hörte zuerst davon, daß die Schamanen über einen Nachfolger für Weißer Elch sprachen.

Er trat an eines der großen Feuer und sagte zornig: »Der Häuptling der Padokas ist Weißer Elch. Dabei wird es bleiben, bis

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Talahasset ihn ruft.« Das Verhältnis zwischen Gehender Falke und den

Medizinmännern war noch nie frei von Ärgernissen gewesen, denn der Kriegshäuptling war ein aufrechter Mann und liebte eine klare Sprache. Seine Popularität unter den Kriegern war groß.

Gehender Falke hielt treu zu Weißer Elch und handelte nie auf eigene Faust, wie es bei vielen anderen Stämmen der Fall war, wo Kriegshäuptlinge und Schamanen sich zusammenschlossen, um gegen den Willen der Häuptlinge mit den Neuatlantern Geschäfte zu machen.

Die Schamanen erkannten, daß Gehender Falke ärgerlich war, und luden ihn ein, sich mit ans Feuer zu setzen.

»Wir hoffen, daß Talahasset zu dir sprechen wird!« sagten sie. Der Kriegshäuptling ließ sich mit mürrischem Gesichtsausdruck

am Feuer nieder. Aber die Erleuchtung, mit der die Medizinmänner gerechnet hatten, wollte sich nicht einstellen.

So saßen sie da und starrten schweigend in die Flammen, als sich am Rand des Lagers plötzlich das Geschrei von Weibern und Kindern erhob. Hunde begannen zu kläffen, und aus den Zelten traten die Padokas hervor, um zu sehen, was die Ursache für diesen Lärm war.

Gehender Falke unterbrach die Zeremonie am großen Feuer abrupt und erhob sich, um seinerseits festzustellen, was sich ereignet hatte.

Zu seiner Überraschung erblickte er Weiße Feder, den Sohn eines Unterhäuptlings. Weiße Feder war schon lange verschwunden gewesen. Es hieß, daß er von einer Gruppe Mainock-Krieger geraubt und an die Hellhäutigen verkauft worden war.

Die Weiber führten Weiße Feder im Triumphzug zum Zelt des Häuptlings, aber selbst ihr Geschrei vermochte den Weißen Elch nicht ins Freie zu locken.

Da trat Gehender Falke zu der Gruppe und begrüßte Weiße Feder. Weiße Feder sah sich um, seine Blicke suchten nach seinem Vater,

der gerade auf der Jagd war. Der Jüngling war jedoch viel zu stolz,

Page 97: In Der Hungerwüste

um nach seinem Vater zu fragen. »Ich bringe eine Botschaft von Schlangentöter«, sagte Weiße Feder. Gehender Falke hatte niemals zuvor von einem Krieger solchen

Namens gehört und er fragte Weiße Feder, wer dieser Padoka sei. »Der Sohn des Weißen Elchs hat die Tat vollbracht und sich

Schlangentöter genannt«, erwiderte der Ankömmling. »Seine Medizin ist stark, und seine Stimme ist so laut wie die des Großen Vogels.«

Gehender Falke war ein viel zu nüchtern denkender Mann, um sich durch solche Worte aus der Fassung bringen zu lassen.

»Warte!« bestimmte Gehender Falke. Er schlug den Eingang des Häuptlingstipis auf und trat ins Innere. Weißer Elch lag nackt neben dem Feuer am Boden. Er hatte sich

wieder mit Asche eingerieben. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, sein Körper schien geschrumpft zu sein.

Gehender Falke sah, daß da kein Mann lag, den man mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurückholen konnte.

So hockte er sich ruhig neben das Feuer und wartete, bis die Blicke des Häuptlings sich auf ihn richteten.

Als das geschah, führte er eine Hand an die Stirn, um den Häuptling zu grüßen.

»Was willst du?« fragte Weißer Elch matt. Gehender Falke sah, daß die Trauer um den geliebten Sohn diesen

Mann zu vernichten drohte. Unwillkürlich schreckte er davor zurück, die Nachricht von Weiße Feder weiterzugeben, denn sie erschien ihm angesichts des flackernden Feuers und des aschebeschmierten Freundes doch ziemlich ungewiß.

»Weiße Feder ist zurückgekehrt!« sagte er deshalb nur. »Ja«, sagte Weißer Elch. »Ich höre seine Stimme durch das Zelt.« Gehender Falke gab sich einen Ruck. »Er berichtet von einem tapferen Krieger.« »Er soll hereinkommen«, sagte Weißer Elch. Er griff nach einer

Decke und zog sie über seinen Körper, denn er wollte nicht, daß der Jüngling ihn so sah. Gehender Falke wertete das als Zeichen, daß

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der Lebenswille des Häuptlings noch nicht völlig erloschen war. Der Kriegshäuptling rief Weiße Feder herein. »Ich habe den Sohn des Weißen Elchs gesehen«, sagte Weiße

Feder. »Seine Stimme hat mich berührt, und ich habe ihn verstanden. Es ist eine mächtige Stimme, mächtiger noch als die des Großen Vogels.«

Er wiederholte die Botschaft, die Schlangentöter ihm aufgetragen hatte.

Gehender Falke sah, daß der Häuptling unter der Decke zu zittern begann, seine Augen bekamen wieder Glanz.

Mit einem Ruck schleuderte Weißer Elch die Decke zurück und stand auf.

Er wankte und wäre fast gestürzt, aber weder Gehender Falke noch Weiße Feder hätten gewagt, ihn in diesem Augenblick zu stützen.

»Die Schamanen sollen die Farben des Krieges bringen«, sagte er. Er rieb sich die Asche vom Körper und begann sich anzukleiden. »Wir werden zum vereinbarten Treffpunkt reiten und die Stimme

Schlangentöters hören«, sagte er. Er trat vor das Zelt, und die Krieger der Padokas sahen, daß der

Häuptling seine Trauer beendet hatte.

*

Die Botschaft Schlangentöters wurde bei allen Stämmen gehört. Es war, als hätten die Bewohner des Waldlands nur darauf

gewartet. In den Lagern der Kanuks beschmierten sich die Krieger mit den

Farben des Krieges. Die Raubzüge und Streitigkeiten unter den Stämmen waren mit einem Schlag vergessen. Selbst die Schamanen, die den Handel mit den Hellhäutigen zum Teil aus Egoismus gefördert hatten, stellten sich hinter die neue Bewegung.

Zwischen den einzelnen Stämmen ritten Botschafter hin und her, und die Häuptlinge beschlossen, sich im Lager der Padokas zu

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treffen. Sämtliche Kriegshäuptlinge würden an diesem großen Rat teilnehmen.

Das Ergebnis der Verhandlungen zeichnete sich bereits ab, kaum daß sie richtig begonnen hatten: Die meisten Kanukstämme würden Krieger zu dem mit Schlangentöter vereinbarten Treffpunkt schicken.

Nach vielen Sommern sprachen die Kanuks wieder mit einer Sprache.

Im Lager der Padokas ging es besonders lebhaft zu, denn hier trafen sich die Botschafter vieler Stämme.

Sogar die Mainocks, die von allen Stämmen den besten Kontakt zu den Hellhäutigen gepflegt hatten, schickten Krähenschrei, ihren Kriegshäuptling.

Weißer Elch erholte sich schnell und strafte all jene Lügen, die das Ende seiner Herrschaft vorhergesagt hatten.

Unermüdlich warb der Häuptling der Padokas für die neue Bewegung.

Die Kriegstrommeln dröhnten rund um die großen Feuer, sie verstummten weder bei Tag noch bei Nacht.

Die Medizinmänner der Padokas machten neue starke Medizin für die Krieger des Stammes.

Obwohl ihn niemand vom Volk der Kanuks seit Verlassen des Padokalagers gesehen hatte, wurde der junge Schlangentöter innerhalb kurzer Zeit zu einer Legende.

Die Schamanen schrieben neue Kriegsgesänge für den Sohn des Weißen Elchs.

In dem sonst so stillen Waldland ritten die Krieger der Kanuks in immer größeren Gruppen umher, um sich auf den Augenblick des Treffpunkts vorzubereiten.

Gehender Falke war diese Entwicklung unheimlich, denn sie wurde schließlich von der Botschaft eines Jünglings ausgelöst, der noch nicht wieder zu seinem Volk zurückgekehrt war.

Der Kriegshäuptling der Padokas erhob jedoch keine Einwände, denn ein Aufstand gegen die Hellhäutigen war auch in seinem Sinn.

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Und als er neben Weißer Elch am großen Feuer stand, zerbrach er den Stiel der Axt, die der Häuptling ihm reichte: Für die Padokas hatte der Krieg gegen die Hellhäutigen in diesem Augenblick begonnen.

ENDE

Dragon ist mit seinen Begleitern in einen Teil der Welt gelangt, der weitab von Myra liegt.

Dragon befindet sich im Land der Blutjäger, den Erben des alten Atlantis ndash und sein weiterer Weg führt ihn in DIE BLUTBURG …

DIE BLUTBURG so heißt auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes. Verfasser des Romans ist Ernst Vlcek.