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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1873 Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen Bearbeitet von Otthein Rammstedt, Georg Simmel Originalausgabe 2008. Taschenbuch. 394 S. Paperback ISBN 978 3 518 29473 4 Format (B x L): 10,8 x 17,7 cm Gewicht: 312 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1873

Individualismus der modernen Zeit

und andere soziologische Abhandlungen

Bearbeitet vonOtthein Rammstedt, Georg Simmel

Originalausgabe 2008. Taschenbuch. 394 S. PaperbackISBN 978 3 518 29473 4

Format (B x L): 10,8 x 17,7 cmGewicht: 312 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Simmel, Georg

Individualismus der modernen Zeit

und andere soziologische Abhandlungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Otthein Rammstedt

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1873

978-3-518-29473-4

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1873

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Die vorliegende Auswahl der kleineren soziologischen Abhandlungen Sim-mels soll zum einen die Bandbreite der von Simmel angesprochenen Themenwiderspiegeln und zum anderen seine verschiedenen theoretischen Zug�nge –Simmel spricht in diesem Zusammenhang von »Soziologien« – aufzeigen:Die »Allgemeine Soziologie«, die sich mit Fragen der Gesellschaft und beson-ders mit den prinzipiellen Relationen zwischen den einzelnen und den ausihnen gebildeten sozialen Aggregaten besch�ftigt; die »Reine oder FormaleSoziologie«, die die Formen analysiert, mit denen die Individuen, um die In-halte (Triebe und Zwecke) umzusetzen, in Wechselwirkung mit anderen tre-ten m�ssen – und dadurch Gesellschaft konstituieren; und schließlich die»Philosophische Soziologie«, die einerseits die Erkenntnistheorie beinhaltet,andererseits durch Hypothese und Spekulation den unvermeidlich fragmen-tarischen Charakter jeder Empirie zu einem geschlossenen Gesamtbild zu er-g�nzen versucht.

Georg Simmel wurde 1858 in Berlin geboren. Er starb 1918 in Straßburg. DieGeorg Simmel-Gesamtausgabe (GSG) erscheint im Suhrkamp Verlag.

Otthein Rammstedt ist Professor em. der Universit�t Bielefeld und Heraus-geber der Georg Simmel-Gesamtausgabe.

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Georg SimmelIndividualismus dermodernen Zeit

und andere soziologische Abhandlungen

Ausgew�hlt und mit einem Nachwortvon Otthein Rammstedt

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet �ber

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1873� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyUmschlag nach Entw�rfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt

ISBN 978-3-518-29473-4

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Inhalt

Das Gebiet der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Allgemeine Soziologie

Das Problem der Sociologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31Persçnliche und sachliche Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem . . . 59Zur Psychologie und Soziologie der L�ge . . . . . . . . . . . . 83Soziologie der Mahlzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie . . . . . . . . 103

II. Formale Soziologie

Das Objekt der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Zur Soziologie der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Zur Soziologie der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Die Gesellschaft zu zweien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152Soziologie der Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Die Ueberstimmung. Eine soziologische Studie . . . . . . . . . 174Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze . . . . . . . 184Der Brief. Aus einer Soziologie des Geheimnisses . . . . . . . 190Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus einer Soziologie . 194Soziologie der Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Das Ende des Streits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch . . . . . . . . . . . . 236Psychologie des Schmuckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244Treue. Ein sozialpsychologischer Versuch . . . . . . . . . . . . 252Zur Soziologie des Adels. Fragment aus einer Formenlehre

der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Exkurs �ber den Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

III. Philosophische Soziologie

Soziologie der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275Soziologische Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Soziologische Aesthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

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Die Großst�dte und das Geistesleben . . . . . . . . . . . . . . 319Ueber Geiz, Verschwendung und Armut . . . . . . . . . . . . . 334Der Individualismus der modernen Zeit . . . . . . . . . . . . . 346Rosen. Eine soziale Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

IV. Anhang

Georg Simmel und die Soziologie. Nachwort vonOtthein Rammstedt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

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Das Gebiet der Soziologie

Die Aufgabe, �ber die Wissenschaft Soziologie Auskunft zu geben,findet ihre erste Schwierigkeit darin, daß ihr Anspruch auf den TiteleinerWissenschaft keineswegs unbestritten ist; und daß,wo ihr dieserselbst zugestanden wird, �ber ihren Inhalt und ihre Ziele sich einChaos von Meinungen ausbreitet, deren Widerspr�che und Unklar-heiten den Zweifel, ob man es hier �berhaupt mit einer wissenschaft-lich berechtigten Fragestellung zu tun hat, immer von neuem n�hren.Nun w�re der Mangel an einer unbestrittenen, grenzgesicherten Defi-nition zu verschmerzen, wenn wenigstens eine Summe einzelner Pro-bleme vorl�ge, die, in andern Wissenschaften nicht oder nicht er-schçpfend behandelt, die Tatsache oder den Begriff der »Gesellschaft«als ein Element enthielten und darin ihren gemeinsamen Ber�hrungs-punkt bes�ßen.W�ren sie dann auch in ihren sonstigen Inhalten, Rich-tungen, Lçsungsarten so verschieden, daß man sie nicht gut als ein-heitliche Wissenschaft behandeln kçnnte, so w�rde doch der BegriffSoziologie ihnen eine vorl�ufige Unterkunft gew�hren, es st�nde we-nigstens �ußerlich fest, woman sie zu suchen h�tte – wie etwa der Be-griff Technik durchaus legitim f�r einen ungeheuren Bezirk von Auf-gaben gilt, ohne daß es Verst�ndnis und Lçsung der einzelnen geradeviel fçrderte, daß ein gemeinsamer Charakterzug ihr an diesem Eigen-namen teilgibt. Allein selbst diese schmale Verkn�pfung mannigfal-tigster Probleme, die immerhin eine in tieferer Schicht aufzufindendeEinheit verspr�che, scheint an der Problematik des einzig zusammen-haltenden Begriffes zu zersplittern, des Begriffes Gesellschaft – an derProblematik, mit der jene prinzipielle Leugnung einer Soziologie �ber-haupt sich beweisenmçchte. Und es ist merkw�rdigerweise einerseitseine Abschw�chung, andrerseits eine �bersteigerung dieses Begrif-fes, an die solche Beweise gekn�pft wurden. Alle Existenz, so hçrenwir, komme ausschließlich den Individuen, ihren Beschaffenheitenund Erlebnissen zu, und »Gesellschaft« sei eine Abstraktion, unent-behrlich f�r praktische Zwecke, hçchst n�tzlich auch f�r eine vorl�u-fige Zusammenfassung der Erscheinungen, aber kein wirklicher Ge-genstand jenseits der Einzelwesen und der Vorg�nge an ihnen. Wennein jedes von diesen in seiner naturgesetzlichen und historischen Be-stimmtheit erforscht sei, so bliebe f�r eine davon gesonderte Wissen-schaft �berhaupt kein reales Objekt mehr �brig. Ist f�r diese Kritik

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die Gesellschaft sozusagen zu wenig, so ist sie f�r eine andere geradezu viel, um einen Wissenschaftsbezirk abzugrenzen. Alles, was Men-schen sind und tun, so heißt es nun andrerseits, geht innerhalb derGesellschaft, durch sie bestimmt und als ein Teil ihres Lebens vorsich. Es gebe also �berhaupt keine Wissenschaft von menschlichenDingen, die nicht Wissenschaft von der Gesellschaft sei. An Stelleder k�nstlich gegeneinander isolierten Einzelwissenschaften histori-scher, psychologischer, normativer Art habe also die Gesellschafts-wissenschaft zu treten und in ihrer Einheit zum Ausdruck zu brin-gen, daß alle menschlichen Interessen, Inhalte und Vorg�nge durchdie Vergesellschaftung zu konkreten Einheiten zusammengingen. Er-sichtlich aber nimmt diese Bestimmung, die der Soziologie alles ge-ben will, ihr ebensoviel fort wie die andere, die ihr nichts geben will.Denn da Rechtswissenschaft und Philologie, die Wissenschaft vonder Politik und die von der Literatur, die Psychologie und die Theo-logie und alle andern, die den Bezirk desMenschlichen unter sich auf-geteilt haben, ihre Existenz fortsetzen werden, so ist nicht das gering-ste dadurch gewonnen, daß man die Gesamtheit der Wissenschaftenin einen Topf wirft und diesem das neue Etikett: Soziologie – auf-klebt. Die Gesellschaftswissenschaft befindet sich also, unterschie-den von andern, wohlgegr�ndeten Wissenschaften, in der ung�nsti-gen Lage, zun�chst ihr Recht auf Existenz �berhaupt beweisen zum�ssen – freilich auch in der g�nstigen, daß dieser Beweis �ber diesowieso nçtige Aufkl�rung ihrer Grundbegriffe und ihrer besonde-ren Fragestellung gegen�ber der gegebenen Wirklichkeit f�hrt.

Es ist zun�chst ein Irrtum �ber das Wesen der Wissenschaft, ausder angeblich allein realen Existenz der »Individuen« zu folgern, daßjedes, auf deren Zusammenfassungen gehende Erkennen sich spe-kulative Abstraktionen und Irrealit�ten zum Objekt mache. UnserDenken faßt vielmehr allenthalben die Gegebenheiten zu Gebilden,als Gegenst�nden der Wissenschaft, in einer Weise zusammen, diein dem unmittelbar Wirklichen gar kein Gegenbild findet. Niemandscheut sich, von der Entwicklung z.B. des gotischen Stiles zu sprechen,obgleich es nirgends gotischen Stil als aufzeigbare Existenz gibt, son-dern nur einzelne Werke, in denen die Stilelemente doch nicht greif-bar gesondert neben den individuellen Elementen liegen. Der go-tische Stil als einheitlicher Gegenstand historischer Erkenntnis istein aus den Realit�ten erst herausgewonnenes geistiges Gebilde, aberselbst keine unmittelbare Realit�t. Wir wollen unz�hlige Male gar

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nicht wissen, wie individuelle Dinge sich im einzelnen verhalten, son-dern wir formen aus ihnen eine neue, kollektive Einheit, wie wir,nach dem gotischen Stil, seinen Gesetzen, seiner Entwicklung fra-gend, nicht einen einzelnen Dom oder Palast beschreiben, trotzdemwir den Stoff jener jetzt erfragten Einheit aus diesen Einzelheitengewinnen. So fragen wir weiterhin etwa, wie sich »die Griechen«und »die Perser« in der Schlacht bei Marathon benommen haben.H�tte die Auffassung recht, die nur Individuen als Wirklichkeitenanerkennt, so w�re die geschichtliche Erkenntnis dann und erst dannan ihrem Ziele, wenn wir das Verhalten jedes einzelnen Griechen undjedes einzelnen Persers kennten, somit seine ganze Lebensgeschichte,aus der sein Verhalten in der Schlacht psychologisch begreiflich wird.Allein selbst die Erf�llung dieses phantastischen Anspruchs w�rdeunserer Fragestellung nicht gen�gen. Denn deren Gegenstand ist �ber-haupt nicht dieser und jener Einzelne, sondern: die Griechen und diePerser – offenbar ein ganz anderes Gebilde, durch eine gewisse gei-stige Synthese zustande kommend, nicht aber durch die Beobach-tung der als einzelne betrachteten Individuen. Sicher ist jedes vondiesen durch eine von der jedes andern irgendwie abweichende Ent-wicklung zu seinem Verhalten gef�hrt worden, wahrscheinlich hatsich keines wirklich genau so wie das andere benommen; und in kei-nem liegt das mit dem andern Gleiche und das von ihm Abwei-chende in Sonderung nebeneinander, sondern beides bildet die un-zertrennliche Einheit des persçnlichen Lebens. Dennoch formen wiraus allen zusammen jene hçheren Einheiten: die Griechen und diePerser, und die k�rzeste Besinnung zeigt, daß wir fortw�hrend mitsolchen Begriffen die individuellen Existenzen �bergreifen. Wolltenwir, weil diese allein »Wirklichkeiten« w�ren, all jene geistigen Neu-bildungen aus unserem Erkenntnisbezirk ausschalten, so w�rde erseiner unbezweifeltsten und legitimiertesten Inhalte verlustig gehen.Die eigensinnige Behauptung: es g�be doch nun einmal nur mensch-liche Individuen, und sie allein seien deshalb die konkreten Gegen-st�nde einer Wissenschaft, kann uns nicht hindern, von der Ge-schichte des Katholizismus oder der Sozialdemokratie, von St�dtenund Reichen, von der Frauenbewegung und der Lage des Handwerksund tausend andern Gesamtereignissen und Kollektivgebilden zusprechen – und nicht anders von der Gesellschaft �berhaupt. So aus-gedr�ckt ist sie freilich ein abstrakter Begriff, aber jede der unz�h-ligen Ausgestaltungen und Gruppierungen, die er umfaßt, ist ein er-

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forschbares, erforschenswertes Objekt, das keineswegs aus den ein-zeln aufgewiesenen individuellen Existenzen besteht.

Doch kçnnte dies noch immer eine Unvollkommenheit unseresErkennens, eine nur vorl�ufige Unvermeidlichkeit sein, die ihren prin-zipiellen Abschluß, erreichbar oder nicht, in dem Wissen um die In-dividuen, als die endg�ltig konkreten Wesenheiten, suchen m�ßte.Allein, genau angesehen, sind auch die Individuen keineswegs letzteElemente, »Atome« der menschlichen Welt. Die allerdings vielleichtunauflçsbare Einheit, die der Begriff Individuum bedeutet, ist �ber-haupt kein Gegenstand des Erkennens, sondern nur des Erlebens;die Art, wie ein jeder sie an sich und am Andern weiß, ist keiner son-stigen Art des Wissens vergleichlich. Was wir wissenschaftlich amMenschen erkennen, sind einzelne Z�ge, vielleicht nur je einmal vor-handen, vielleicht auch in gegenseitiger Beeinflussung stehend, einjeder aber relativ isolierte Betrachtung und Herleitung fordernd.Diese Herleitung f�hrt f�r einen jeden auf unz�hlige Einfl�sse derphysischen, kulturellen, personalen Umwelt, von �berall her ange-sponnen, in unabsehliche Zeitweiten reichend. Nur indem wir dieseElemente so herauslçsen und begreifen und sie auf immer einfachere,tiefer und weiter zur�ckliegende reduzieren, n�hern wir uns dem wirk-lich »Letzten«, d.h. im strengen Sinne Realen, das aller hçheren gei-stigen Zusammenfassung erst zugrunde liegen soll. Denn f�r dieseBetrachtungsweise »existieren« die Farbenmolek�le, die Buchstaben,die Wasserteilchen; aber das Gem�lde, das Buch, der Fluß sind nurSynthesen, als Einheiten bestehen sie nicht in objektiver Realit�t,sondern nur in einem Bewußtsein, das sie sich treffen l�ßt. Ersicht-lich aber sind auch jene angeblichen Elemente hochzusammenge-setzte Gebilde. Und wenn nun wahrhafte Realit�t nur den wahrhaftletzten Einheiten zukommt, nicht aber den Erscheinungen, in denendiese Einheiten eine Form finden, alle Form vielmehr, die immer eineVerbindung ist, nur von einem verbindenden Subjekt hinzugef�gtwird, – so liegt auf der Hand, daß die anzuerkennende Realit�t unsin vçllige Unfaßbarkeit entgleitet; und dann ist es ein ganz willk�r-licher Grenzstrich, der diese Zur�ckgliederung am »Individuum« be-endet, da doch auch dieses der immer weiterstrebenden Analyse alseine Zusammensetzung aus einzelnen Qualit�ten und Schicksalen,Kr�ften und historischen Hergeleitetheiten erscheinen muß, die imVerh�ltnis zu ihm ebenso die elementaren Wirklichkeiten sind, wiedie Individuen selber im Verh�ltnis zur »Gesellschaft«.

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Der angebliche Realismus also, der jene Kritik am Begriff derGesellschaft und demnach auch an dem der Soziologie �bt, l�ßt ge-rade alle erkennbare Realit�t verschwinden, weil er sie ins Unend-liche hinausr�ckt, im Ungreifbaren sucht. Tats�chlich muß das Er-kennen nach einem ganz andern Strukturprinzip begriffen werden,nach einem, das dem gleichen �ußeren Erscheinungskomplex eineganze Anzahl verschiedenartiger, aber gleichm�ßig als definitiv undeinheitlich anzuerkennender Objekte des Erkennens entnimmt. Manwird dies am besten mit dem Symbol der verschiedenen Distanzvon jenem Komplex bezeichnen, in die sich der Geist stellt. Wennwir einen r�umlichen Gegenstand in zwei Meter, in f�nf, in zehn Me-ter Abstand vor uns sehen, so gibt das jedesmal ein anderes Bild,jedesmal ein solches, das in seiner bestimmten Art und nur in dieser»richtig« sein kann, und gerade innerhalb dieser auch FalschheitenRaum gew�hrt. W�rde z.B. ein ganz detailliert gesehener Ausschnitteines Gem�ldes, wie ihn die grçßte Augenn�he gibt, in diejenige An-schauung eingef�gt, die einer Entferntheit von ein paar Metern ent-spricht, so w�rde diese letztere dadurch vçllig verwirrt und gef�lschtwerden – obgleich man aus oberfl�chlichen Begriffen heraus ebendiese Detailanschauung f�r »wahrer« als das Fernbild halten kçnnte.Allein auch die ganz nahe Wahrnehmung hat noch irgendeine Di-stanz und deren untere Grenze ist gar nicht festzulegen. Das voneinem Abstand aus, welcher er auch sei, gewonnene Bild hat seinRecht f�r sich, es kann durch kein von einem andern her entstehen-des ersetzt oder korrigiert werden. So nun sehen wir, an einen ge-wissen Umfang menschlicher Existenz »nahe« herantretend, jedes In-dividuum in seinem genauen Sich-Abheben vom anderen; nehmenwir den Blickpunkt aber weiter, so verschwindet das einzelne alssolches, und es entsteht uns das Bild einer »Gesellschaft« mit eige-nen Formen und Farben, mit der Mçglichkeit, es zu erkennen undzu verkennen, in keinem Fall aber geringer berechtigt als jenes, indem die Teile sich gegeneinander absetzen, oder ein bloßes Pr�limi-narstadium dieses. Der bestehende Unterschied ist nur der zwischenverschiedenen Erkenntnisabsichten, denen verschiedene Distanznah-men entsprechen.

Ja, man kçnnte das Recht der gesellschaftswissenschaftlichen Be-trachtung in seiner Unabh�ngigkeit davon, daß alles reale Geschehensich nur an Einzelwesen vollzieht, noch radikaler begr�nden. Es istnicht einmal wahr, daß mit der Erkenntnis der individuellen Ereig-

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nisreihen die unmittelbare Wirklichkeit ergriffen w�re. Diese Wirk-lichkeit n�mlich ist zun�chst als ein Komplex von Bildern gegeben,als eine Oberfl�che von kontinuierlich aneinandergesetzten Erschei-nungen. Wenn wir dieses allein wirklich prim�re Dasein in Schick-sale von Individuen gliedern, die einfache Tats�chlichkeit der Erschei-nungen auf einzelne Tr�ger zur�ckbeziehen und gleichsam in ihnenals in Knotenpunkten sammeln, so ist auch dies eine nachtr�glichegeistige Formung des unmittelbar vorliegenden Wirklichen, die wirnur aus fortw�hrender Gewohnheit wie ganz selbstverst�ndlich undmit der Natur der Dinge selbst gegeben vollziehen. Sie ist, wenn manwill, genau so subjektiv, aber auch, da sie ein g�ltiges Erkenntnisbildergibt, genau so objektiv, wie die Zusammenfassung des Gegebenenunter der Kategorie der Gesellschaft. Nur die besonderen Zweckedes Erkennens entscheiden, ob die unmittelbar erscheinende odererlebte Realit�t auf ein personales oder auf ein kollektives Subjekthin befragt werden soll – beides sind gleichm�ßig »Standpunkte«,die sich nicht wie Wirklichkeit und Abstraktion zueinander verhal-ten, sondern die, als Arten unserer Betrachtung, beide von der »Wirk-lichkeit« abstehen – von der Wirklichkeit, die als solche �berhauptnicht Wissenschaft sein kann, sondern erst vermittels solcher Kate-gorien die Form der Erkenntnis annimmt.

Noch aber ist von einem ganz andern Standpunkte her zuzugeben,daß die menschliche Existenz nur an Individuen wirklich ist, ohnedaß die G�ltigkeit des Gesellschaftsbegriffes darunter litte. Faßt mandiesen in seiner weitesten Allgemeinheit, so bedeutet er die seelischeWechselwirkung zwischen Individuen. An dieser Bestimmung darfnicht irre machen, daß gewisse Grenzerscheinungen sich ihr nichtohne weiteres f�gen: wenn zwei Personen sich fl�chtig anblickenoder sich an einer Billettkasse gegenseitig dr�ngen, so wird man siedarum noch nicht vergesellschaftet nennen. Allein hier ist die Wech-selwirkung auch eine so oberfl�chliche und vor�berfliegende, daßman in ihrem Maße auch von Vergesellschaftung reden kçnnte, be-denkend, daß solche Wechselwirkungen nur h�ufiger und intensiverzu werden, sich mit mehreren, generell gleichen zu vereinen brau-chen, um diese Bezeichnung zu berechtigen. Es ist ein oberfl�ch-liches Haften an dem – f�r die �ußere Praxis freilich ausreichenden –Sprachgebrauch, wenn man die Benennung als Gesellschaft nur derdauernden Wechselbeziehung vorbehalten will, nur derjenigen, diesich zu einem bezeichenbaren Einheitsgebilde objektiviert hat: zu

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Staat und Familie, Z�nften und Kirchen, Klassen und Zweckver-b�nden usw. Außer diesen aber besteht eine unermeßliche Zahl vonkleineren, in den einzelnen F�llen geringf�gig erscheinenden Bezie-hungsformen und Wechselwirkungsarten zwischen den Menschen,die, indem sie sich zwischen die umfassenden, sozusagen offiziellensozialen Formungen schieben, doch erst die Gesellschaft, wie wir siekennen, zustande bringen. Die Beschr�nkung auf jene gleicht derfr�heren Wissenschaft vom inneren menschlichen Kçrper, die sichauf die großen, festumschriebenen Organe: Herz, Leber, Lunge, Ma-gen usw. beschr�nkte und die unz�hligen, popul�r nicht benanntenoder nicht bekannten Gewebe vernachl�ssigte, ohne die jene deut-licheren Organe niemals einen lebendigen Leib ergeben w�rden.Aus den Gebilden der genannten Art, die die herkçmmlichen Ge-genst�nde der Gesellschaftswissenschaft bilden, ließe sich das in derErfahrung vorliegende Leben der Gesellschaft durchaus nicht zu-sammensetzen; ohne die Dazwischenwirkung unz�hliger, im einzel-nen weniger umf�nglicher Synthesen w�rde es in eine Vielzahl un-verbundener Systeme auseinanderbrechen. Fortw�hrend kn�pft sichund lçst sich und kn�pft sich von neuem die Vergesellschaftung un-ter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Indi-viduen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationenaufsteigt. Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken und daß sieaufeinander eifers�chtig sind, daß sie sich Briefe schreiben oder mit-einander zu Mittag essen, daß sie sich ganz jenseits aller greifbarenInteressen sympathisch oder antipathisch ber�hren, daß die Dank-barkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Wei-terwirkung bietet, daß einer den andern nach dem Wege fragt unddaß sie sich f�reinander anziehen und schm�cken – all die tausendvon Person zu Person spielenden momentanen oder dauernden, be-wußten oder unbewußten, vor�berfliegenden oder folgenreichen Be-ziehungen, aus denen diese Beispiele ganz zuf�llig gew�hlt sind, kn�p-fen uns unaufhçrlich zusammen. Hier liegen die Wechselwirkungenzwischen den Elementen, die die ganze Z�higkeit und Elastizit�t, dieganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so r�t-selhaften Lebens der Gesellschaft tragen. Alle jene großen Systemeund �berindividuellen Organisationen, an die man bei dem Begriffvon Gesellschaften zu denken pflegt, sind nichts anderes als die Ver-festigungen – zu dauernden Rahmen und selbst�ndigen Gebilden –von unmittelbaren, zwischen Individuum und Individuum st�nd-

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lich und lebenslang hin und her gehenden Wechselwirkungen. Siegewinnen damit freilich Eigenbestand und Eigengesetzlichkeit, mitdenen sie sich diesen gegenseitig sich bestimmenden Lebendigkeitenauch gegen�ber- und entgegenstellen kçnnen. Aber Gesellschaft inihrem fortw�hrend sich realisierenden Leben bedeutet immer, daßdie Einzelnen vermçge gegenseitig ausge�bter Beeinflussung und Be-stimmung verkn�pft sind. Sie ist also eigentlich etwas Funktionelles,etwas, was die Individuen tun und leiden, und ihrem Grundcharak-ter nach sollte man nicht von Gesellschaft, sondern von Vergesell-schaftung sprechen. Gesellschaft ist dann nur der Name f�r einenUmkreis von Individuen, die durch derartig sich auswirkende Wech-selbeziehungen aneinander gebunden sind und die man deshalb alseine Einheit bezeichnet, gerade wie man ein System kçrperlicherMassen, die sich in ihrem Verhalten durch ihre gegenseitigen Einwir-kungen vollst�ndig bestimmen, als Einheit ansieht. Nun kann mansich dem letzteren gegen�ber darauf versteifen, nur die einzelnen ma-teriellen St�cke seien die echte »Realit�t«, ihre wechselseitig erregtenBewegungen undModifikationen seien als etwas nie Handgreiflichesgewissermaßen nur Realit�ten zweiten Grades; sie h�tten ihren Orteben nur in jenen Substanzst�cken, die sogenannte Einheit sei nurdie Zusammenschau dieser stofflichen Sonderexistenzen, deren emp-fangene und ausgeteilte Impulse und Formungen doch in einer jedenverblieben. In demselben Sinne kann man freilich dabei bleiben, dieeigentlichen Realit�ten seien doch immer nur die menschlichen Indi-viduen. Gewonnen wird dadurch nichts. Gesellschaft ist dann aller-dings sozusagen keine Substanz, nichts f�r sich Konkretes, sondernein Geschehen, ist die Funktion des Empfangens und Bewirkens vonSchicksal und Gestaltung des einen von seiten des andern. Nachdem Greifbaren tastend, f�nden wir nur Individuen, und zwischenihnen gleichsam nur leeren Raum. Die Folgen dieser Betrachtungwerden uns sp�ter besch�ftigen; aber wenn sie die »Existenz« in einemengeren Sinne auch wirklich nur den Individuen �brig l�ßt, so mußsie doch auch das Geschehen, die Dynamik des Wirkens und Lei-dens, mit der diese Individuen sich gegenseitig modifizieren, alsetwas »Wirkliches« und Erforschbares stehen lassen.

Jede Wissenschaft zieht aus der Totalit�t oder der erlebten Unmit-telbarkeit der Erscheinungen eine Reihe oder eine Seite unter F�h-rung je eines bestimmten Begriffes heraus, und nicht weniger als alleandern handelt die Soziologie legitim, wenn sie die individuellen Exi-

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stenzen zerlegt und nach einem nur ihr eigenen Begriff wieder neuzusammenfaßt, und also fragt: Was geschieht mit den Menschen,nach welchen Regeln bewegen sie sich, nicht insofern sie die Ganz-heit ihrer erfaßbaren Einzelexistenzen entfalten, sondern sofern sievermçge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch dieseGruppenexistenz bestimmt werden? So darf sie die Geschichte derEhe behandeln, ohne das Zusammenleben einzelner Paare zu analy-sieren, das Prinzip der �mterorganisation, ohne einen Tag auf demBureau zu schildern, die Gesetze und Resultate des Klassenkampfesergr�nden, ohne auf den Verlauf eines Streiks oder die Verhandlun-gen �ber einen Lohntarif einzugehen. Gewiß sind die Gegenst�ndesolcher Fragen durch Abstraktionsprozesse zustande gekommen; aberdamit unterscheiden sie sich nicht von den Wissenschaften wie Lo-gik oder theoretische Nationalçkonomie, die gleichfalls unter der An-leitung durch bestimmte Begriffe – dort des Erkennens, hier derWirtschaft – zusammenh�ngende Gebilde aus der Wirklichkeit zu-stande bringen, und Gesetze und Evolutionen an ihnen entdecken,w�hrend diese Gebilde als isolierte Erfahrbarkeiten gar nicht be-stehen.

Steht so die Soziologie auf einer Abstraktion aus der vollen Wirk-lichkeit – hier unter F�hrung des Begriffes Gesellschaft vollzogen –und ist dennoch der Vorwurf der Irrealit�t hinf�llig, der von derbehaupteten alleinigen Realit�t der Individuen herkam, so sch�tztdiese Einsicht sie auch vor der �berspannung, die ich zuvor als einenicht geringere Gef�hrdung ihres Bestandes als einer Wissenschafterw�hnte. Da der Mensch in jedem Augenblick seines Seins undTuns durch die Tatsache, daß er ein gesellschaftliches Wesen ist, be-stimmt sei, so schienen alle Wissenschaften vom Menschen sich indie Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben zur�ckzuschmelzen:alle Gegenst�nde jener Wissenschaften seien nur einzelne, besondersgeformte Kan�le, durch die das gesellschaftliche Leben, einziger Tr�-ger aller Kraft und alles Sinnes, rinne. Ich zeigte, daß damit nichtsanderes erlangt sei, als ein neuer, gemeinschaftlicher Name f�r alldie Erkenntnisse, die in ihren besonderen Inhalten und Benennun-gen, Richtungen und Methoden ganz ungestçrt und selbstgesetzlichweiterbestehen werden. Ist dies also auch eine irrige Dehnung derVorstellung von der Gesellschaft und der Soziologie, so liegt ihr docheine an sich bedeutsame und folgenreiche Tatsache zugrunde. Die Ein-sicht: der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen �ußerungen

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dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit andern Menschenlebt – muß allerdings zu einer neuen Betrachtungsweise in allen so-genannten Geisteswissenschaften f�hren.

Die großen Inhalte des geschichtlichen Lebens: die Sprache wiedie Religion, die Staatenbildung wie die materielle Kultur wußteman noch im 18. Jahrhundert wesentlich nur auf die »Erfindung« ein-zelner Persçnlichkeiten zur�ckzuf�hren, und wo Verstand und Inter-essen des Einzelmenschen dazu nicht auszureichen schienen, bliebnur der Appell an transzendente M�chte �brig – zu denen �bri-gens das »Genie« jener einzelnen Erfinder eine Mittelstufe bildete:denn mit dem Geniebegriff dr�ckte man eigentlich nur aus, daßdie bekannten und begreiflichen Kr�fte des Individuums zu der Pro-duktion der Erscheinung nicht zulangten. So war die Sprache ent-weder die Erfindung Einzelner oder ein gçttliches Geschenk, die Re-ligion – als geschichtliches Ereignis – die Erfindung schlauer Priesteroder gçttlicher Wille, die sittlichen Gesetze entweder von HeroenderMasse eingepr�gt oder von Gott verliehen, oder von der »Natur« –einer nicht weniger mystischen Hypostasierung – denMenschenmit-gegeben. Aus dieser ungen�genden Alternative hat der Gesichtspunktder gesellschaftlichen Produktion erlçst. All jene Gebilde erzeugensich in den Wechselbeziehungen der Menschen, oder manchmal auchsind sie derartige Wechselbeziehungen, die also aus dem f�r sich be-trachteten Individuum freilich nicht herleitbar sind. Neben jene bei-den Mçglichkeiten ist eben nun die dritte gestellt: die Produktionvon Erscheinungen durch das gesellschaftliche Leben, und zwar imzweifachen Sinne, durch das Nebeneinander wechselwirkender In-dividuen, das in jedem erzeugt, was doch aus ihm allein nicht erkl�r-bar ist, und durch das Nacheinander der Generationen, deren Ver-erbungen und �berlieferungen mit dem Eigenerwerb des Einzelnenunlçsbar verschmelzen, und es bewirken, daß der gesellschaftlicheMensch, im Unterschied gegen alles untermenschliche Leben, nichtnur Nachkomme, sondern Erbe ist. Durch das Bewußtwerden dersozialen Produktionsart, die sich zwischen die rein individuelle unddie transzendente einschiebt, ist eine genetische Methode in alle Gei-steswissenschaften gekommen, ein neues Werkzeug zur Lçsung ihrerProbleme – mçgen diese den Staat oder die Kirchenorganisation, dieSprache oder die sittliche Verfassung betreffen. Die Soziologie istnicht nur eine Wissenschaft mit eigenen, gegen alle andern Wissen-schaften arbeitsteilig abgegrenzten Objekten, sondern sie ist eben

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auch eine Methode der historischen und der Geisteswissenschaften�berhaupt geworden. Um sie auszunutzen, brauchen diese Wissen-schaften ihren Standort durchaus nicht zu verlassen, sie brauchennicht, wie jene phantastische �berspannung des Soziologiebegriffesforderte, zu Teilen der Soziologie zu werden. Diese vielmehr akklima-tisiert sich jedem besonderen Forschungsgebiet, dem national-çko-nomischen wie dem kulturgeschichtlichen, dem ethischen wie demtheologischen. Damit aber verh�lt sie sich nicht wesentlich andersals seinerzeit die Induktion, die als neues Forschungsprinzip in allemçglichen Problemgruppen eindrang und den darin feststehendenAufgaben zu neuen Lçsungen verhalf. So wenig aber daraufhin In-duktion eine besondere Wissenschaft ist oder gar eine allbefassen-de, so wenig ist es, auf diese Momente hin, die Soziologie. Soweitsie sich darauf st�tzt, daß der Mensch als Gesellschaftswesen verstan-den werden muß, und daß die Gesellschaft der Tr�ger alles histo-rischen Geschehens ist, enth�lt sie kein Objekt, das nicht schon ineiner der bestehenden Wissenschaften behandelt w�rde, sondern nureinen neuen Weg f�r alle diese, eine Methode der Wissenschaft, diegerade wegen ihrer Anwendbarkeit auf die Gesamtheit der Problemenicht eine Wissenschaft mit eignem Inhalt ist*.

Und eben weil die Methode diese Allgemeinheit besitzt, bildet sieein gemeinsames Fundament f�r einzelne Problemgruppen, die zu-vor gewisser Aufkl�rungen entbehrten, die der einen nur von derandern kommen kçnnen; der Gemeinsamkeit des Vergesellschaftet-seins, das die Kr�fte der Individuen sich gegenseitig bestimmen l�ßt,entspricht die Gemeinsamkeit der soziologischen Erkenntnisweise,vermçge deren dem einen Problem eine Lçsungs- oder Vertiefungs-mçglichkeit mit einem inhaltlich ganz heterogenen Erkenntnisgebietzukommt. Ich erw�hne nur einige Beispiele, die von dem Allersingu-l�rsten zu dem Allerallgemeinsten auff�hren. Der Kriminalist kannetwa �ber das Wesen der sogenannten »Massenverbrechen« mancher-lei von einer soziologischen Untersuchung �ber die Psychologie desTheaterpublikums lernen. Denn hier ist der Gegenstand eines kol-lektiv-impulsiven Verhaltens noch jederzeit genau feststellbar, unddieses verl�uft in der sozusagen abstrakten, genau umgrenzten Sph�re

* Ich entnehme die letzten S�tze, sowie noch einige andere meinem grçßeren Werke:Soziologie; Untersuchungen �ber die Formen der Vergesellschaftung (1908), dasmanche der auf diesen Bl�ttern ber�hrten Gedanken ausf�hrlicher und namentlichmit breiterer Begr�ndung auf geschichtliche Tatsachen behandelt.

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der Kunst; damit wird – sehr bedeutsam f�r jenes Schuldproblem –die Bestimmbarkeit des Einzelnen durch eine aktuell zusammenbe-findliche Masse, das Ausschalten der individuellen und der objekti-ven Werturteile durch das »Mitgerissenwerden« so rein experimentellund beweiskr�ftig beobachtbar, wie kaum je sonst. – Der Religions-forscher wird vielfach geneigt sein, das Leben der religiçsen Ge-meinde, die Opferwilligkeit innerhalb ihrer auf Grund der Hingebungan ein allen gemeinsames Ideal, die Formung des gegenw�rtigen Le-bens durch die Hoffnung auf einen vollkommenen, �ber das Lebender aktuellen Individuen hinausliegenden Zustand – er wird geneigtsein, dieses auf die Kraft des religiçsen Glaubensinhaltes zu schie-ben. Wenn ihm nun nahegebracht wird, daß etwa eine sozialdemo-kratische Arbeiterschaft dieselben Z�ge des gemeinsamen und desgegenseitigen Verhaltens ausbildet – so kann diese Analogie ihn einer-seits lehren, daß das religiçse Verhalten nicht ausschließlich an diereligiçsen Inhalte gebunden, sondern eine allgemein menschlicheForm ist, die sich nicht nur an transzendenten Gegenst�nden, son-dern an manchen andern Gef�hlsveranlassungen ganz ebenso reali-siert. Andrerseits aber wird er das f�r ihn Wesentliche einsehen, daßauch das in sich geschlossene religiçse Leben Momente enth�lt, dienicht spezifisch religiçs, sondern sozial sind, bestimmte Arten dergegenseitigen Gesinnung und Praxis, die freilich mit der religiçsenStimmung organisch verwachsen, aber erst, indem sie soziologischherausanalysiert werden, erkennen lassen, was denn an dem religiç-sen Verhalten als die rein religiçsen – und als solche gegen alles So-ziale gleichg�ltigen – Elemente gelten d�rfe. – Endlich ein letztesBeispiel f�r die gegenseitige Befruchtung der Problemgruppen durchdas gemeinsame Anteilhaben ihrer Gegenst�nde an demmenschlichenVergesellschaftetsein. Der Historiker der politischen oder der allge-meinen Kulturgeschichte ist jetzt vielfach geneigt, die Konfiguratio-nen z.B. der inneren Politik auf die entsprechenden wirtschaftlichenVerfassungen und Vorg�nge als auf ihre zureichende Ursache zur�ck-zuf�hren. Wird dies nun etwa auf den starken Individualismus inden politischen Konstitutionen der italienischen Fr�hrenaissance an-gewandt, derart, daß diese aus der Befreiung desWirtschaftsverkehrsvon z�nftigen und kirchenrechtlichen Fesseln erkl�rt werden, so wirder einer Beobachtung des Kunsthistorikers eine neue Wendung die-ser Auffassung verdanken kçnnen. Der Kunsthistoriker stellt schonam Anfang der hier fraglichen Epoche die ungeheure Ausbreitung

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der Portr�tb�sten und ihren naturalistisch-individuellen Charakterfest und zeigt damit, wie die çffentliche Wertung ihren Akzent vondem, was den Menschen gemeinsam ist und was deshalb leicht in et-was abstraktere und ideellere Sph�ren r�ckt, auf das geschoben hat,was dem einzelnen zukommt, auf die Bedeutung der persçnlichenKraft, auf das �bergewicht des Konkreten vor dem allgemeinen,kaq˚ olon geltenden Gesetz. Dies legt den Gedanken nahe, daß jenewirtschaftliche Wendung ihrerseits schon eine �ußerungsweise einerfundamentalen, soziologischen sei, die ihre Ausgestaltung auch alseine bestimmte Kunst und als eine bestimmte Politik gefunden hat,ohne daß eine von diesen unmittelbar die andere verursachte. So ver-helfen diese soziologischen Analogien �berhaupt vielleicht zu einertieferen, den historischen Materialismus �berwindenden Auffassung:vielleicht sind die Wandlungen der Geschichte, ihrer eigentlich wirk-samen Schicht nach, solche der soziologischen Formen: wie sich dieIndividuen und die Gruppen zueinander verhalten, wie das Indivi-duum zu seiner Gruppe, wie die Wertbetonungen, die Akkumulie-rungen, die Pr�rogativen unter den sozialen Elementen als solchehin und her r�cken – das ist vielleicht das eigentliche epochale Ge-schehen, und wenn die Wirtschaftsart alle andern Kulturprovinzennach sich zu bestimmen scheint, so ist die Wahrheit dieses verlocken-den Scheines die, daß die Wirtschaft selbst durch soziologische Ver-schiebungen bestimmt ist, die von sich aus ebenso alle andern kul-turellen Gestaltungen bestimmen; daß auch die Wirtschaftsformnur ein »�berbau« �ber den Verh�ltnissen und Wandlungen der reinsoziologischen Struktur ist, die die letzte historische Instanz bildetund alle andern Lebensinhalte freilich in einem gewissen Parallelis-mus mit dem wirtschaftlichen gestalten muß. –Von diesen Erw�gungen aus çffnet sich, �ber den bloßen Begriff

der Methode hinaus, der Blick auf den ersten prinzipiellen Problem-kreis der Soziologie. Aber wenn er auch fast das ganze Feld mensch-licher Existenz umfaßt, so verliert er dadurch nicht den Charakterjener immerhin einseitigen Abstraktion, den keine Wissenschaft ab-streifen kann. Denn so sozial bestimmt, gleichsam von Gesellschaft-lichkeit durchdrungen jeder Punkt der wirtschaftlichen und geisti-gen, der politischen und rechtlichen, ja der religiçsen und allgemeinkulturellen Sph�re sei, so verwebt sich doch diese Bestimmung aneinem jeden innerhalb des vollen Erlebens mit andern, die aus andernDimensionen stammen. Vor allem mit denen der reinen Sachlichkeit.

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Es ist immer irgendein Sachgehalt, technischer oder dogmatischer,intellektueller oder physiologischer Art, der die Entwicklung der so-zialen Kr�fte tr�gt und der durch seinen eigenen Charakter, seine Ge-setze und seine Logik diese Entwicklung in bestimmten Richtungenund Schranken h�lt. Jede gesellschaftliche Arbeit, die sich an irgend-einer Materie vollzieht, muß sich deren Naturgesetzlichkeit f�gen,jede intellektuelle Leistung bindet sich, mit welchen Schwankungenauch immer, an Denkgesetze und Verhalten von Objekten, jede Reihevon Schçpfungen auf k�nstlerischem oder politischem, rechtlichemoder medizinischem, philosophischem oder �berhaupt erfinderischemGebiet h�lt eine gewisse Ordnung ein, die uns aus den sachlichenVerh�ltnissen ihrer Inhalte – Steigerung, Ankn�pfung, Differenzie-rung, Kombination usw. – verst�ndlich wird. Hier ganz beliebigeSchritte zu tun, beliebige Abst�nde zu �berspringen, beliebige Syn-thesen zu vollziehen vermag kein menschliches Wollen und Kçn-nen, sondern dieses folgt einer gewissen inneren Logik der Dingeselbst. So kçnnte man die Kunstgeschichte als eine durchaus ver-st�ndliche Entwicklung aufbauen, indem man die Kunstwerke f�rsich allein und g�nzlich anonym in ihrer Zeitordnung und stilisti-schen Evolution vorf�hrte, entsprechend die Rechtsentwicklung alsdas Nacheinander der Institutionen und Gesetze, die wissenschaft-liche Produktion durch die bloße Aufreihung, eine historische odereine systematische, der in ihr gewonnenen Resultate usw. Und hierebenso, wie wenn man ein Lied auf seinen musikalischen Wert, einephysikalische Theorie auf ihre Wahrheit, eine Maschine auf ihreZweckm�ßigkeit hin ansieht, zeigt es sich, daß jeder menschlicheLebensinhalt, auch wenn er nur innerhalb der Bedingtheit und durchdie Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert wird, eine vondiesem ganz unabh�ngige Betrachtungsweise gestattet. Innerhalb derReihe der Sachen selbst und gemessen an ihrer eigenen Idee habensie einen Sinn, ein Gesetz, ein Wertmaß, das jenseits des sozialenwie des individuellen Lebens steht und eine eigene Feststellung, eineigenes Verst�ndnis ermçglicht. Der vollen Wirklichkeit gegen�berist freilich auch dies eine Abstraktion, da kein Sachgehalt sich durchseine eigene Logik verwirklicht, sondern es nur durch die geschicht-lichen und seelischen Kr�fte vermag; was dasteht, ist eine dem Er-kennen unmittelbar gar nicht erfaßbare Einheit, und was wir Sachge-halt nennen, ist eine Aufnahme von einer einseitigen Kategorie her.

Unter der Leitung einer entsprechenden erscheint die Mensch-

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