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140 Andreas Eichler Individuelle Stochastikcurricula von Lehrerinnen und Lehrern Kurzfassung: Dieser Artikel bezieht sich auf ein Forschungsprojekt zu den Vorstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zum Stochastikunterricht. Die Arbeit hat zwei Schwerpunkte: die Be- schreibung des theoretischen Rahmens des qualitativen Forschungsansatzes sowie die Darstellung der empirischen Ergebnisse. Der Schwerpunkt in der Darstellung der empirischen Ergebnisse Iiegt auf der Beschreibung einer Einzelfallstudie. Die anschlieBende Fallkontrastierung, die in einer Ty- penbildung endet, wird im Uberblick diskutiert. Die entwickelten Typen individueller Stochastik- curricula werden wiederum in Beziehung zur allgemeinen didaktischen Diskussion gesetzt. Ein thesenartiger Ausblick beschlieBt diese Arbeit. Abstract: With respect to empirical results, the focus is on the description of individual case stud- ies. Subsequently, there is a brief discussion on how the cases are contrasted and classified. The different types of stochastics teaching identified are then related to the general debate concerning mathematics education. Finally, the article pinpoints issues that merit further research. 1 Warum individuelle Stochastikcurricula? "Die Bedeutung der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung fur aIle Ge- biete des wissenschaftlichen Lebens unserer Zeit [... ] verlangt wie in den rneisten auBerdeutschen Liindem auch bei uns, daB den deutschen SchUlem etwas von der Art dieses neuen Denkens verrnittelt wird." (Athen 1960) Uber 40 Jahre liegen zwischen diesem Zitat und heute. Dennoch hat sich in dieser Zeit- spanne die grundsatzliche Begriindung fur die Notwendigkeit der Stochastik als Unter- richtsfach kaum geandert. Da ist die Allgegenwartigkeit der Stochastik in wirtschaftli- chen, gesellschaftlichen oder politischen Entscheidungsprozessen, aber auch ein mittel- barer Nutzen, der im ErIemen der spezifisch stochastischen oder auch statistischen Denkweise besteht. 1 Wahrend so in den vergangenen 40 Jahren Konsens tiber die obers- ten Ziele des Stochastikcurriculums herrschte, hat die Stochastikdidaktik recht unter- schiedliche Mittel forrnuliert, urn diese Zie1e zu erreichen. 2 Diese Entwicklung zeigt sich in einer Ftille von didaktischen Arbeiten zum Sto- chastikcurriculum, die wiederum Rahmenplane und Schulbticher beeinflusst haben. Es gibt zahllose Vorschlage zu einzelnen Elementen des Stochastikcurriculums. Dariiber hinaus werden SchUlerschwierigkeiten erforscht und selbst m6gliche Abituraufgaben in einem eigens fur den Stochastikunterricht bestimmten Organ verOffentlicht. So scheint 2 V gl. zu den Begriffen stochastisches Denken Bea 1995 und statistisches Denken Pfann- kuchIWild 1999. V gl. dazu MU 12(4) 1966, Engel 1973, Riemer 1991, Kiltting 1994, oder NCTM 2000. (JMD 27 (2006) H. 2, S. 140-162)

Individuelle Stochastikcurricula von Lehrerinnen und Lehrern

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Page 1: Individuelle Stochastikcurricula von Lehrerinnen und Lehrern

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Andreas Eichler

Individuelle Stochastikcurricula von Lehrerinnen und Lehrern

Kurzfassung: Dieser Artikel bezieht sich auf ein Forschungsprojekt zu den Vorstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zum Stochastikunterricht. Die Arbeit hat zwei Schwerpunkte: die Be­schreibung des theoretischen Rahmens des qualitativen Forschungsansatzes sowie die Darstellung der empirischen Ergebnisse. Der Schwerpunkt in der Darstellung der empirischen Ergebnisse Iiegt auf der Beschreibung einer Einzelfallstudie. Die anschlieBende Fallkontrastierung, die in einer Ty­penbildung endet, wird im Uberblick diskutiert. Die entwickelten Typen individueller Stochastik­curricula werden wiederum in Beziehung zur allgemeinen didaktischen Diskussion gesetzt. Ein thesenartiger Ausblick beschlieBt diese Arbeit.

Abstract: With respect to empirical results, the focus is on the description of individual case stud­ies. Subsequently, there is a brief discussion on how the cases are contrasted and classified. The different types of stochastics teaching identified are then related to the general debate concerning mathematics education. Finally, the article pinpoints issues that merit further research.

1 Warum individuelle Stochastikcurricula?

"Die Bedeutung der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung fur aIle Ge­biete des wissenschaftlichen Lebens unserer Zeit [ ... ] verlangt wie in den rneisten auBerdeutschen Liindem auch bei uns, daB den deutschen SchUlem etwas von der Art dieses neuen Denkens verrnittelt wird." (Athen 1960)

Uber 40 Jahre liegen zwischen diesem Zitat und heute. Dennoch hat sich in dieser Zeit­spanne die grundsatzliche Begriindung fur die Notwendigkeit der Stochastik als Unter­richtsfach kaum geandert. Da ist die Allgegenwartigkeit der Stochastik in wirtschaftli­chen, gesellschaftlichen oder politischen Entscheidungsprozessen, aber auch ein mittel­barer Nutzen, der im ErIemen der spezifisch stochastischen oder auch statistischen Denkweise besteht. 1 Wahrend so in den vergangenen 40 Jahren Konsens tiber die obers­ten Ziele des Stochastikcurriculums herrschte, hat die Stochastikdidaktik recht unter­schiedliche Mittel forrnuliert, urn diese Zie1e zu erreichen.2

Diese Entwicklung zeigt sich in einer Ftille von didaktischen Arbeiten zum Sto­chastikcurriculum, die wiederum Rahmenplane und Schulbticher beeinflusst haben. Es gibt zahllose Vorschlage zu einzelnen Elementen des Stochastikcurriculums. Dariiber hinaus werden SchUlerschwierigkeiten erforscht und selbst m6gliche Abituraufgaben in einem eigens fur den Stochastikunterricht bestimmten Organ verOffentlicht. So scheint

2

V gl. zu den Begriffen stochastisches Denken Bea 1995 und statistisches Denken Pfann­kuchIWild 1999. V gl. dazu MU 12(4) 1966, Engel 1973, Riemer 1991, Kiltting 1994, oder NCTM 2000.

(JMD 27 (2006) H. 2, S. 140-162)

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1 nd ivid uelle Stochasti kcu rricu la 141

das Feld fur einen aktuellen, erfolgreichen, anwendungs- und problemorientierten Sto­chastikunterricht bestens bestellt zu sein. Doch wie sieht es in der Praxis aus?

Hier gibt es allein die traurige Gewissheit, dass Stochastik wenig und wenn;dann mit Inhalten unterrichtet wird, die nur sehr bedingt den Forderungen der Didaktiker entspre­chen. Welche Inhalte aber der Stochastikunterricht hat, wenn er stattfindet, und wie sol­che Inhalte begriindet werden, dariiber gibt es nur vage Anhaltspunkte.3 Welchen Sinn aber hat dann die zwar notwendige, doch allzu einseitige Ausrichtung auf die theoreti­sche Entwicklung von neuartigen Curriculums-Vorschlagen, wenn man kaum weiB, was davon in der Praxis umgesetzt wird und schon gar nicht, warum etwas umgesetzt wird?

Nicht zuletzt auf Grund der offenbaren Wirkungslosigkeit von Rahmenplanen, Erlas­sen, Bildungsoffensiven und Reformen scheint es nicht nur sinnvoll, sondern unumgang­lich zu sein, Lehrerinnen und Lehrer als Experten ihres Unterrichts in die Forschung ein­zubeziehen, denn "what teachers believe is a significant determiner of what gets thought, and what gets learned in the classroom" (Wilson/Cooney 2002, 128). Die Lehrerinnen und Lehrer, ihre Vorstellungen zum Stochastikunterricht stehen daher im Zentrum eines Forschungsprojekts (vgl. Eichler 2005). In dieser Arbeit werden der theoretische Rahmen und Ergebnisse dieses Forschungsprojekts ausgehend von folgen­den Forschungsfragen diskutiert:

1. Welche Inhalte und Begriindungszusammenhange haben individuelle Sto­chastikcurricula von Lehrerinnen und Lehrern?

2. Gibt es Klassifikationen individueller Stochastikcurricula?

2 Grundannahmen

Was auf die Planung eines individuellen Curriculums alles einwirken kann, wird hier durch ein einfaches Modell, ein didaktisches Dreieck strukturiert (vgl. Abb. 1).

Abb. 1 Didaktisches Dreieck

Da ist zunachst die Beschaftigung der Lehrerinnen und Lehrer mit didaktischen Cur­riculumsvorschlagen, d.h. ausgearbeiteten inhaltlichen Planen und deren Begriindung. Fur diesen Einfluss steht das I (Inhalt). We iter zahlt die Erfahrung der Lehrerinnen und Lehrer hinsichtlich der Wirkung ihres Curriculums auf die Schiilerinnen und SchUler da­zu (S). Schlief31ich wirken institutionelle Rahmenbedingungen (R), insbesondere die Rahmenplane und Schulbucher, auf individuelle Curricula. 1m Zentrum bleibt allerdings die Frage, welche Elemente solcher moglichen Einflussfaktoren fur die Auswahl und

Vgl. als Beispiel flir die wenigen fonnellen Studien Klieme 2000, 120ff. und flir eine Uber­sicht Eichler 2005, II ff.

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Begrundung stochastischer Stoffinhalte fur die Lehrerinnen und Lehrer (L) entscheidend sind.

Unter den noch ungeklarten und undefinierten Begriffen Curriculum und speziell in­dividuelles Curriculum wird in dieser Arbeit mit einem Vorschlag von Vollstadt et al. (1999) Folgendes verstanden:

Das Curriculum enthalt die Unterrichtsinhalte und deren Begrundung sowie alle weiteren Faktoren, die sich direkt in der Auswahl und Begrundung von Unterrichtsinhalten manifestieren.

Der Begriff des individuellen Curriculums orientiert sich ebenfalls an einem Modell von Vollstadt et al. (ebd.). Sie unterscheiden funf Ebenen: Die Lehrplanideen, die im gesell­schaftlichen Diskurs entstehen (Ebene 1) und aus der die offiziellen Lehrplane der'Lan­der abgeleitet werden (Ebene 2); die Planungen der Lehrerinnen und Lehrer, ihre indivi­duellen Curricula (Ebene 3), das im Unterricht beobachtbare, tatsachliche Curriculum (Ebene 4) und schlieBlich die transformierten Teile des realisierten Curriculums, die als Lemergebnis bei den Schiilerinnen und Schiilem festzustellen sind (Ebene 5). Zentraler Gedanke fur diese Arbeit ist dabei der Bezug auf individuelle, d.h. geplante Curricula.

Durch diesen Bezug ist eine prinzipielle Entscheidung fur einen qualitativen Ansatz im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie (vgl. Spohring 1989, 58ff.) be­dingt. So ist die Planung im psychologischen Verstandnis eine Handlungsintention und damit ein nicht direkt beobachtbarer innerer Prozess (vgl. Laucken 1999). Somit wird ein individuelles Curriculum als Abschluss eines gedanklichen Prozesses verstanden, der nicht beobachtbar ist, sondem allein durch Interpretation der AUJ3erungen (oder des tat­sachlichen Curriculums) der Lehrerinnen und Lehrer erschlossen werden kann.

Autbauend auf diesen Grundannahmen gilt es zunachst, das Vorverstandnis hinsicht­lich der individuellen Stochastikcurricula aus didaktischer Perspektive zu klaren.

3 Didaktische Perspektive

Ein individuelles Stochastikcurriculum ist lehrerspezifisch gepragt durch die aktive Ver­arbeitung aller Kenntnisse und Eindrucke, die die Lehrerinnen und Lehrer wahrend ihrer gesamten Lautbahn in Ausbildung und Beruf gewonnen haben. Das didaktische Dreieck (vgl. Abb. 1) leitet hier die Prazisierung des Vorverstandnisses zu moglichen Einfluss­faktoren auf individuelle Curricula aus der didaktischen Perspektive, bei der abschnitts­weise die verschiedenen Einfluss-Aspekte auf die individuellen Stochastikcurricula be­leuchtet werden (vgl. Abb. 2).

I~S I~S

R ".L~ '''.L,;' Abb. 2 Drei Einflussfaktoren auf individuelle Stochastikcurricula

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Individuelle Stochastikcurricula 143

Stoff-Inhalt und Ziele des Curriculums Die zentralen Aspekte in der Auswahl und Gewichtung des Stoff-Inhalts emes Sto­chastikcurriculums lassen sich durch folgende funf Leitfragen reprasentieren:

• Welchen Stellenwert und welche Funktion hat die beschreibende Statistik bzw. die Explorative Datenanalyse (EDA) im Stochastikcurriculum? Dazu gibt es in der didaktischen Literatur drei prinzipielle Ansatze. Die vorbereitende beschrei­bende Statistik umfasst einen abgeschlossenen Lehrgang, der den Verteilungs­begriff der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorwegnimmt (vgl. Ineichen 1980). Die begleitende beschreibende Statistik ist kein eigenstandiger Teil eines Sto­chastiklehrgangs, sondem dort werden statistische Daten in wahrscheinlichkeits­theoretische oder inferenzstatistische Problemstellungen integriert (vgl. Engel 1973). Der datenorientierte Lehrgang geht schlieBlich grundsatzlich von real en Datenreihen aus, ohne dass diese mit weiterfuhrenden Ideen der Wahrschein­lichkeitstheorie verbunden sein mussen (NCTM 2000).

• Verbunden mit diesem Stellenwert ist die Frage, ob die prinzipielle Ausrichtung des Stochastikcurriculums eher an einer Analyse realer Daten oder an wahr­scheinlichkeitstheoretischen Betrachtungen orientiert ist, d.h. der Forderung des so genannten stochastischen Denkens (vgl. Bea 1994) oder des so genannten statistischen Denkens (vgl. PfannkuchIWild 1999) verpflichtet ist (zu einer Ge­genuberstellung der beiden Denkstile siehe Eichler 2005, 24f.).

• Welcher Ansatz des Wahrscheinlichkeitsbegriffs steht im Zentrum des Curricu­lums der Wahrscheinlichkeitsrechnung? Hier sind die vier schulrelevanten Wahrscheinlichkeitsbegriffe, der axiomatische, der klassische, der frequentisti­sche und der subjektivistische zu betrachten (vgl. Schreiber 1979).

• Welche Stellung und Funktion hat der Themenkomplex bedingte Wahrschein­lichkeit und Unabhiingigkeit? Der Begriff bedingte Wahrscheinlichkeit ist fur ein Curriculum zentral, das den subjektivistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff und die Bayes-Statistik umfasst, wahrend sonst der Unabhlingigkeitsbegriff der entscheidende ist (vgl. Schreiber 1979).

• Welchen Grad der Formalisierung und der Anwendungsorientierung besitzt das Curriculum? Wahrend diese Fragen zentral fur den Wandel von der ,Neuen Ma­thematik' zu den nachfolgenden didaktischen Stromungen waren, konnen sie auch fur aktuelle Curricula ein trennendes Merkmal sein.

Ein Curriculum umfasst uber den Stoff-Inhalt hinaus stets die implizite oder explizite Formulierung von Zielen, die mit dem Stoff-Inhalt verbunden werden (vgl. Konig 1975, II, 94f). Die Ziele des Curriculums stellen damit eine weitere wesentIiche Kategorie zur Beschreibung des Aspekts Inhalt dar, wobei hier eine Trennung in Ziele des Stochastik­curriculums und allgemein des Mathematikcurriculums sinnvoll ist. HinsichtIich dieser Kategorie hat Winter (1995) eine allgemein anerkannte und verwendungsfahige Aus­formulierung geleistet. So umfassen drei Grunderfahrungen

• das mathematikspezifische Erkennen der Erscheinungen der Welt (G 1), • das Kennenlemen und Begreifen der abstrakten und deduktiv geordneten Ge­

genstande und Sachverhalte der Mathematik (G2) und • das Erwerben von heuristischen Fahigkeiten zum Losen von Problemen (G3).

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Zwei weitere Kategorien zum Aspekt Inhalt beziehen sich auf die historische Stellung didaktischer Curriculumsentwiirfe innerhalb der Entwicklung der Stochastikdidaktik. Das sind die Kategorien Zeit und Trend. Letztere basiert auf einer Arbeit von Borovcnik (1996), in der die letzten vier Jahrzehnte der Mathematik- und speziell der Stochastikdi­daktik in folgende ,Trends' eingeteilt werden:

Zeit I Trend I Beschreibung 60er Neue Mathematik Beschrankung auf den theorctischen Autbau der Mathematik 70er Anwendungen Theorie erhalt erst durch ihre Anwendung Lebendigkeit 1975 Phiinomenologie Aus realen Phanomenen entwickelt sich Mathematik 1980 Offene Mathematik Das modellbildende Subjekt bedient sich der Theorie, urn sich Model-

Ie der Wirklichkeit zu schaff en 1985 Intuitionen-Theorie Primar-Intuitionen des Subjekts werden mit Hilfe der Theorie, initi-

iert durch reale Phanomene, in Sekundar-Intuitionen liberfUhrt. 90er Konstruktivismus In Auseinandersetzung mit realen Phanomenen entwickelt das Indivi-

duum subjektiv besetzte Begriffe

Tab. 1 Trends der Mathematikdidaktik

Mit den Kategorien Stoff-Inhalt, Ziele, Zeit und Trend lassen sich sowohl didaktische Curriculumsvorschlage als auch individuelle Curricula beschreiben und vergleichen. Die Auspragung dieser Kategorien gelten damit hier fur die Einordnung individueller Curri­cula als zentrale trennende Merkmale.4

Der Aspekt institutionelle Rahmenbedingungen Versteht man das curriculare Handeln der Lehrerinnen und Lehrer prinzipiell als auto­nom, so gibt es dennoch Rahmenbedingungen, die diese Autonomie beschneiden. Dazu gehoren insbesondere die Rahmenplane und die darauf autbauenden Schulbiicher.

Die Rahmenpliine scheinen dabei im Allgemeinen fur die alltagliche Planung des Curriculums wenig bedeutsam zu sein:

"Die Meinungen iiber Lehrplane sind geteilt: Die einen empfinden sie als Fes­sel, die anderen erwarten Hilfe, die meisten empfinden sie als iiberfliissig" (Biehl 1996).

Nach den Ergebnissen der padagogischen Forschung gelten Lehrplane besonders fur den Berufseinstieg als Orientierungshilfe, wahrend danach die Wirksamkeit emeuerter Lehr­plane gering zu sein scheint. Deutlich wirksamer ist die legitimierende Funktion der Lehrplane, d.h. die Sanktionierung des eigenen Unterrichts durch die Lehrplane im nachhinein (vgl. Vollstadt et al. 1999, 20f). Aus diesem Grund sind die Rahmenplane und ihre Entwicklung fur die Betrachtung moglicher Einflussfaktoren auf individuelle Curricula bedeutend und in die Analyse der individuellen Curricula eingegangen.5

Eine wichtige, aber mittelbare Wirkung der Rahmenplane besteht in der Aufnahme ihrer Setzungen durch die Curricula der auf der Basis der jeweiligen Rahmenplane kon­zipierten Schulbiicher. Nach der Untersuchung von Biehl et al. (1999, 5) verwenden Lehrerinnen und Lehrer primar das eingefuhrte Schulbuch fur die Planung des Unter-

4 V gl. fUr eine Einordnung didaktischer Curriculumsvorschlage Eichler (2005). Zu einer inhaltlichen Einordnung der niedersachischen Rahmenrichtlinien vgl. Eichler (2005).

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Individuelle Stochastikcurricula 145

richts. Gleiches konstatiert Tietze (1988, 58) fur den Bereich der Mathematik. Der Ein­satz eines Schulbuches als "wesentliches Strukturierungsmittel" fur die Unterrichtsvor­bereitung und gar als "heimlicher Lehrplan" (Biehl et al. 1999, II, 47f.) fur den Unter­richt kann auf der selbststandigen Entscheidung der Lehrerinnen und Lehrer oder aber auf ministeriellen Vorgaben oder Beschliissen der Fachkonferenz beruhen. Ob die Aus­wahl des Schulbuches eher auf autonomer oder institutioneller Basis geschieht, der we­sentliche Unterschied zu didaktischen Curriculumsvorschlagen ist, dass bei letzteren prinzipiell keine Notwendigkeit besteht, den Rahmenplanen eines Bundeslandes zu ge­nugen. Schulbucher konnen sich via Rahmenrichtlinien zwar nach didaktischen Curricu­lums-Ansatzen richten, sind aber einschrankenden Anforderungen ausgesetzt und wer­den daher hier unter den institutionellen Rahmenbedingungen eingeordnet. 6

Der Aspekt Schiilerinnen und Schiiler Dieser Aspekt wird hier auf Schwierigkeiten von Schiilerinnen und Schiilem im Zu­sammenhang mit der Durchfuhrung eines Curriculums beschrankt. Dabei lassen sich in der Ursachenzuschreibung dieser Schwierigkeiten zwei Aspekte, die inhaltsbezogene Ursachenanalyse und die Analyse von Personlichkeitsmerkmalen, unterscheiden (vgl. Tietze 2002, 74). Unmittelbar kann hier allein die inhaltsbezogene Ursachenanalyse auf ein Curriculum einwirken, wenn namlich zu der Behebung von Lemschwjerigkeiten "gezielte curriculare MaBnahmen" (ebd., 74) vorgenommen werden. Schwierigkeiten von SchUlerinnen und Schiilem konnen dernnach als bedingender Komplex innerhalb der curricularen Entscheidungen von Lehrerinnen und Lehrem angesehen werden.

Zur systematiSchen Einordnung von Schwierigkeitsfeldem in der Stochastik sowie der Denkweisen, die den stochastischen Fehlschlussen zu Grunde liegen, existierten zum Zeitpunkt der empirischen Erhebung fur diese Arbeit wenige Untersuchungen (vgl. etwa Scholz 1987 oder Bea 1995, Gigerenzer/Krauss 2001 und Wolpers 2002), in denen an­hand von ausgewahlten Problemaufgaben die Struktur von Fehlschlussen erorterl sowie eine Diskussion der Forschung zu dies en Fehlschliissen und schliel3lich didaktische Hinweise zu deren Behebung gegeben werden.

4 Theoretischer Rahmen

Einordnung in die didaktische Forschung Der Mittelpunkt des Forschungsinteresses besteht in der Wirkung der im vergangenen Abschnitt diskutierten EintlussgroBen auf die individuellen Curricula der Lehrerinnen und Lehrer (vgl. Abb. 3).

I\7S R \LI

Abb. 3 Lehrerinnen und Lehrer im Fokus

6 Zu einer Charakterisierung der Schulbiicher vgl. Eichler (2005), 62ff. und l53ff.

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1m Rahmen der englischsprachigen Mathematikdidaktik liisst sich die Untersuchung in­dividueller Curricula unter dem Schlagwort teachers' beliefs einordnen, das den gesam­ten Bereich des schulbezogenen professionellen Handelns umfasst (vg1. Thompson 1992, 135). Innerhalb dieser Forschungsrichtung, die zum Teil stark divergierende theoretische und methodische Ansiitzen in sich vereine, entsprechen individuelle Curricula drei grundsiitzlichen Aspekten, die sich als verbindende Glieder der belief-Forschung kenn­zeichnen lassen (vg1. Furinghetti/Pehkonen 2002):

• Beliefs umfassen Kognitionen (und mit diesen verbundene Emotionen) eines Individuums zu einem Gegenstandsbereich (vg1. auch Pehkonen 1994, 180).

• Beliefs sind der nicht beobachtbare Teil der Handlung, der das beobachtbare Verhalten steuert (vg1. LederlForgasz 2002, 96).

• Beliefs bzw. belief-Systeme sind relativ uberdauemd und priigen sich wiihrend der gesamten gegenstandsbezogenen Sozialisation (vg1. Cooney et 'li1. 1998, 306)

Die innere Trennung im Rahmen der belief-Forschung ensteht durch methodologische Ansiitze, die eher dem normativen Paradigma oder eher dem interpretativen Paradigma (vg1. dazu Spohring 1989, 58f.) zuzuordnen sind. Diese Trennung zeigt sich auch in der lehrerbezogenen Unterrichtsforschung der deutschsprachigen Mathematikdidaktik.8 Die prinzipielle Entscheidung fUr einen Forschungsansatz auf der Grundlage des interpretati­yen Paradigmas (vg1. Kap. 2) bedingt daher die im Folgenden priizisierte Festlegung des Begriffs der individuellen Curricula als Teilaspekt der curricularen Begrundungsmuster nach Tietze (1990) und die darauf aufbauende Konstruktion des Forschungsrahmens.

Konstruktion des theoretischen Forschungsrahmens Grundlage des theoretischen Rahmens ist der psychologische Handlungsbegriff, dessen Kemmerkmale mit den Eigenschaften absichtlich, zielgerichtet, zweckbestimmt be­schrieben werden konnen (vg1. Laucken 1999, 62). Wesentliche Aspekte einer auf. die Beseitigung einer Ist-Soll-Diskrepanz gerichteten Handlung sind:

• die ZieIe als Triebkraft und Regulativ des Handelns, • die Handlungsintention als Mittlerin zwischen Motiv und Verhalten und • die Situation, die wesentlich die Ausbildung bzw. Auswahl von Zielen und In-

tentionen bedingt (vg1. Hacker 1994, 275ff.). Auf dieser Grundlage werden die beiden mathematikdidaktischen Konstrukte der curri­cularen Begrundungsmuster und der individuellen Curricula mit dem sozialpsychologi­schen Konstrukt der Subjektiven Theorien (vg1. Groeben et a1. 1988) sowie dem piidago­gischen Konstrukt der Ziel-Mittel-Argumentation (vg1. Konig 1975) verbunden:

Vgl. etwa Thompson (1992). So zielt etwa der in der Mathematikdidaktik populare Ansatz der Untersuchung mathemati­scher Weltbilder (vgl. Grigutsch et al. 1998) auf das Erklaren von Handlungen unter Ausblen­dung der Subjektivitat und Situativitat, wahrend etwa der Ansatz von Tietze dem interpretati­ven Paradigma, d.h. dem Verstehen subjektiven Handlungssinns, zuzuordnen ist. Vgl. fur eine Gegenuberstellung der beiden Forschungsansatze Eichler 2005, 78ff.

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Individuelle Stochastikcurricula

Cuniculare Begriindungsmusmr (Tiet7.e)

Individuelle Cunicula

Subjektive Theorien (Groeben et aI.)

I Ziel-Mittel-Argmnentation (Konig) I

Abb. 4 Theoretischer Rahmen

Curriculare Begriindungsmuster und individuelle Curricula: "Unter 'curricularen Begrundungsmustem' verstehe ich aile Uberlegungen und Festlegungen, die sich auf die Erstellung einer Unterrichtssequenz oder eines curricularen Entwurfs beziehen. Zu ihrer Beschreibung geh6rt die Er­fassung bzw. Rekonstruktion wichtiger diesen ProzeB beeinflussender Kog­nitionen des Lehrers bzw. des Schulbuchautors wie Ziele, Praferenzen, Ziel­Mittel-Uberlegungen und Subjektive Theorien." (Tietze 1990,206)

147

Diese zunachst sehr weite Begriffsdefinition umfasst aile Gedanken und Entscheidungen von Lehrerinnen und Lehrem zu ihren Curricula. So fallen unter den Begriff des curricu­laren Begrundungsmusters etwa die Uberlegungen von Lehrerinnen und Lehrem zu Lemschwierigkeiten oder die Analyse von Schulbiichem (vgl. Tietze 1990).

Das Konstrukt der individuellen Curricula stellt eine Einschrankung der curricularen Begrundungsmuster dar. Diese besteht in der Fokussierung auf die Auswahl und Be­grundung von Stoff-Inhalten, d.h. auf ein individuelles Curriculum (vgl. Kap. 1). Aspek­te der curricularen Begrundungsmuster wie Schulbuchpraferenzen, Lemschwierigkeiten oder auch das Bild von der Mathematik (vgl. dazu Grigutsch et al. 1998) werden nur dann in die Uberlegungen mit einbezogen, wenn sie einen direkten Einfluss auf die Auswahl und Begrundung von Stoff-Inhalten haben.

Subjektive Theorien zur Erfassung individueller Curricula: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) ist ein aus der Psychologie stam­mender qualitativer Forschungsansatz, der sich selbst als "post-behavioristisch" versteht (Groeben/Scheele 1988, 1). Dem behavioristischen Menschenbild wird ein epistemologi­sches Subjekt-Modell entgegengestellt. Darunter verstehen Groeben et al. (1988), dass der Mensch plan-, absichtsvolle und bewusste kognitive Aktivitaten gegeniiber seiner Umwelt entfaltet und reflektiert sowie prinzipiell in Parallelitat der Handlung eines For­schers Hypothesen tiber seine Umwelt generiert und tiberpruft.

Subjektiven Theorien werden damit im FST und eben so in dieser Arbeit als zeitlich stabiles, komplexes Syst~m von Kognitionen verstanden, die eine zumindest implizite Argumentations-Struktur aufweisen und die parallel zu wissenschaftlichen, 'objektiven' Theorien aufgebaut sind. (vgl. Groeben et al. 1988, 19). Bezogen auf individuelle Curri­cula haben die Subjektiven Theorien der Lehrerinnen und Lehrer drei Bestandteile:

• Subjektive Konzepte in Form von subjektiven Zielen eines Curriculums, • Subjektive Definitionen der Konzepte bzw. Ziele

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• Subjektive ErkHirungen, Prognosen und Technologien als Relationen zwischen den Zielen - etwa in Form eines Wenn-Dann-Satzes - durch die erst ein struktu­riertes System von Einzelkognitionen entsteht.

In einer verscharften Festlegung postulieren Groeben et al. (1988, 76ff.) die Rekon­struierbarkeit subjektiver Theorien im Dialog-Konsens sowie ihre Uberpriifbarkeit durch Beobachtung. Wah rend die Dialog-Konsens-Methode zur Untersuchung individueller Curricula gehort, ist deren beobachtende Uberpriifung faktisch ausgeschlossen.9

Das Ziel der Dialog-Konsens-Methode ist der Zugang zu der "privilegierten Innen­welt", das Schaffen einer "Sinnkonstanz" (Obliers 1992, 213) zwischen Forschungs­Subjekt und -Objekt. Die Dialog-Konsens-Methode stellt damit eine konsequente Wei­terfiihrung der Annahmen zum epistemologischen Menschenbild dar. So wird hier den Lehrerinnen und Lehrem <:lie Fahigkeit zugesprochen, angemessene Introspektion betrei­ben und die Rekonstruktionsergebnisse zu den individuellen Curricula beurteilen zu konnen.

Individuelle Curricula und Ziel-Mittel-Argumentationen: Die offensichtliche Verbindung von individuellen Curricula und den Subjektiven Theo­rien wird mit der Verwendung des Konstrukts der Ziel-Mittel-Argumentationen deutlich. Das Konstrukt entstammt einer Arbeit von Konig (1975), der ,objektive' Curricula durch Ziel-Mittel-Argumentationen aufgebaut versteht. Dort werden die Ziele als normative Sdtze bezeichnet, die durch desktiptive Sdtze (Wenn-Dann-Satze) verbunden sind.

1m Sinne der Parallelitatshypothese von GroebeniScheele wird hier davon ausgegan­gen, dass sich individuelle (subjektive) Curricula in gleicher Weise durch Ziel-Mittel­Argumentationen beschreiben lassen. Dernnach entsprechen die Konzepte im Sinne des FST hier den (subjektiven) normativen Satzen mit ihren (subjektiven) Definitionen und Relationen zwischen den Konzepten, den subjektiv begriindeten deskriptiven Satzen, durch die die Ziele miteinander verbunden sind.

5 Methodik

Modalstrukturen

Elnzelfall

Erb.ebllllg molWlog. Hennereutik

Rekon­struktion

T

Validierllllg

Abb. 5 Methodik der Untersuchung

Modal­strukturen,

Typenbildllllg

Tb.eorie­bildllllg

Auf der Basis der theoretischen Konstrukte hat sich eine fiinfschriUige Methodik erge­ben (vgl. Abb. 5). Hintergrundtheorie des methodischen Ansatzes ist die Einzelfallstudie (vgl. Stake 2000). Als Fall wird hier eine Lehrerin bzw. ein Lehrer und deren individuel-

9 Individuelle Stochastikcurricula konnen sich zeitlich auf die Spanne einer gymnasialen Schul­lautbahn erstrecken. V gl. zu dieser Problematik Steinke 1998.

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Individuelle Stochastikcurricula 149

Ie Curricula bezeichnet. Die Fallauswahl orientiert sich am theoretical sampling, das im Rahmen der grounded theory (vgl. Glaser/Strauss 1967) beschrieben wird. Ais Faile wurden in dieser Untersuchung 8 niedersachsische Gymnasiallehrerinnen bzw. -Iehrer erhoben. Die Erhebung selbst ist als halbstrukturiertes Leitfadeninterview gestal­tet (vgl. Witzel 1982). Die Saulen des Leitfadeninterviews genugen den Aspekten des didaktischen Dreiecks (vgl. Kap. 3).

Fur die Analyse der Interviewdaten, der transkribierten Interviews mit einer Lange von 30 bis 40 Seiten, dienen die Prinzipien der klassischen Hermeneutik als Grundlage (vgl. Danner 1998), auf die spater noch eingegangen wird. Die zweite Phase der Analyse umfasst die Rekonstruktion der individuellen Curricula. Diese Konstruktionen bzw. Re­konstruktionen der Ziel-Mittel-Argumentationen wurden den Lehrerinnen und Lehrem zur Korrektur zugesandt und in der Phase der kommunikativen Validierung im Dialog zum Konsens geflihrt. Die fallubergreifende Analyse orientiert sich einerseits am Vor­schlag zur Entwicklung von Modalstrukturen von Scheele/StOssel (1992). Zum anderen werden hier die Prinzipien der Typenbildung nach Kelle/Kluge (1999) angewendet, die wesentlich auf der grounded theory (Glaser/Strauss 1967) basieren.

6 Individuelle Curricula - eine Einzelfallstudie

Die personenzentrierten Fallstudien sind der erste Schritt zur Analyse und Rekonstrukti­on individueller Curricula. Ergebnis sind Ziel-Mittel-Argumentationen zu flinf Aspekten individueller Curricula: dem Stoff-Inhalt des Stochastikcurriculums (Aspekt 1), den Zie­len des Stochastikcurriculums (Aspekt 2) und des Mathematikcurriculums (Aspekt 3), Zieluberlegungen, die sich auf den Nutzen des Mathematikunterrichts flir die Schulerin­nen und SchUler beziehen (Aspekt 4) und schlieBlich Zieluberlegungen hinsichtlich eines erfolgreichen Unterrichts (Aspekt 5).

1m Folgenden sollen das hermeneutische Vorgehen und die Entwicklung von Ziel­Mittel-Argumentationen am Beispiel des individuellen Curriculums eines Lehrers, der Herr A genannt wird, skizziert werden. Herr A war zur Zeit des Interviews 55 Jahre alt und unterrichtete an einem Gymnasium einer niedersachsischen Kleinstadt, in dem drei von elf Lehrem Stochastik in ihr Mathematikcurriculum eingebunden haben.

Hermeneutik als Interpretationsprinzip Das hermeneutische Vorgehen lasst sich in verkiirzter Form am Stoff-Inhalt (Aspekt 1) des Curriculums von Herrn A verdeutlichen. Herr A auBert sich folgendermaBen zur Einflihrung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Sekundarstufe II: 10

Herr A (Episode 1): "Gerade im Leistungskurs kommt man also nicht urnhin, auch so ein bisschen diese Haufigkeit mit einzubinden [ ... J man versucht, den Schiilem irgendwie klar zu machen, dass die Wahrscheinlichkeit nicht so [ ... J gesetzt ist. Das ist ja nichts, was schon da ist, sondem aus der Haufigkeit ist es abgeleitet. Und das ist, glaube ich, ein ganz schwieriger Punkt, diesen Ober-

10 Die Interviews konnen auf der Homepage des Autors innerhalb der Institutsseite der TU Braunschweig (www.tu-braunschweig/idm) eingesehen werden. Zu den Transkriptionsregeln vgl. Eichler (2005, 139f.).

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150 Andreas Eichler

gang zu schaffen, denn beim Laplace-Experiment ist es klar, da hat man die Gleichverteilung, aber in der Oberstufe mac he ich das genau umgekehrt. Die sollen erst einmal darauf kommen, was ist tiberhaupt Wahrscheinlichkeit, und dann kommt man von der relativen Haufigkeit an diese Sache ran, und dann ist es jetzt notwendig da, dass man da sehr viele Versuche mal macht."

Der erste Schritt des Verstehensprozesses im Sinne der Hermeneutik besteht in der Ent­wicklung einer ersten Interpretationshypothese. In diese geht zwangslaufig das gesamte Vorwissen einerseits tiber Herrn A, andererseits tiber die theoretisch entwickelten Ein­flussfaktoren auf ein individuelles Curriculum ein. 11

Herr A deutet hier die Problematik einer objektiven Wahrscheinlichkeit an, die "nicht so [ ... J gesetzt ist". Er stellt den frequentistischen Ansatz von Wahrscheinlichkeit heraus, die sich hier implizit auf die Stabilisierung der relativen Haufigkeiten in langen Ver­suchsreihen bezieht. Der klassische Ansatz bzw. die Laplace-Wahrscheinlichkeit scheint als Modell verstanden zu werden, das die Haufigkeitsbetrachtung eriibrigt, bei dem die Gleichverteilung auf Grund hier nicht genannter Uberlegungen offensichtlich ist. Herr A scheint hier zwischen den beiden Ansatzen abzuwagen und dabei eher den frequentisti­schen zu favorisieren, womit er den Anspruch eines Leistungskurses ein16sen mochte. Andererseits deutet die Formulierung "da kommt man also nicht umhin, auch so ein bisschen diese Haufigkeit mit einzubinden" darauf hin, dass der frequentistische Ansatz keine allbeherrschende Stellung im Curriculum hat, sondem eine (vielleicht sogar lasti­ge) Notwendigkeit ist, urn die man eben nicht herum kommt. Trotz dieser Einschrankung bleibt zunachst folgende einfache Hypothese:

Hypothese 1: Der frequentistische Ansatz ist im Stochastikcurriculum der Se­kundarstufe II zentral und erfullt den Anspruch des Leistungskurses.

1m Sinne eines sequentiellen Vorgehens ist diese erste Interpretation Grundlage fur das Verstehen aller weiteren Episoden, deren Interpretation zu einer Erganzung, Erweiterung oder auch Modifikation des bisherigen Verstandnisses fuhren kann. 1m weiteren Verlauf des Interviews auBert sich Herr A folgendermaBen:

Herr A (Episode 2): "Ich hab schon vorhin gesagt, also es ware ganz gut, wenn man jetzt noch eine sehr groBe Anzahl von Versuchen hatte, das lasst sich aber nur simulieren. Dann nallirlich auch tiber Laplace-Experimente letzt­lich, da haben wir uns aber begntigt also mit, was weiB ich, 100 Versuchen, und mal hat einer eine Skizze gemacht, die dann auch schon am Anfang, da war nallirlich noch keine Stabilisierung, und da haben die schon gesagt, na ja, was passiert dann spater, und dann war das den Schiilem eigentlich klar."

Hier zeigt sich sehr viel deutlicher, welche Stellung der frequentistische Ansatz im Cur­riculum von Herrn A hat. Die Betrachtung der relativen Haufigkeiten beschrankt sich auf Laplace-Experimente (mit dem Laplace-Wtirfel als Zufallsgenerator). Dort ware zwar eine Simulation schOn, es ist fUr die Schiilerinnen und Schtiler allerdings auch ohne lan­ge Versuchsreihe offensichtlich, was als Ergebnis des Experiments dienen soll, namlich die Gleichverteilung. Herr A scheint hier selbst keine rechte Notwendigkeit einer Prob-

II Bei Gadamer (1986) wird diese Grundlage des Verstehens als neutral zu wertendes "Vorurteil" bezeichnet. In der Grounded Theory bezeichnet man diese Grundlage als theoretische Sensibi­litat (vgl. KellelKluge 1999, 16ff.).

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Individuelle Stochastikcurricula 151

lematisierung zu empfinden. Die Stabilisierung bzw. deren Visualisierung in einer Skiz­ze wird abgebrochen, noch bevor uberhaupt das Phanomen sichtbar wird. Der frequen­tistische Ansatz scheint demnach lediglich eine empirischen Begrundung des klassischen Ansatzes zu sein. Die modifizierte Hypothese lautet demnach:

Hypothese 2: Der frequentistische Ansatz ist eine Moglichkeit, im Leistungs­kurs das fur das Stochastik-Curriculum zentrale Modell der Gleichwahr­scheinlichkeit empirisch zu begrunden.

Mit diesem Beispiel kann das prinzipielle Verfahren des hermeneutischen Verstehens­prozesses deutlich gemacht werden. So setzt sich die Gesamt-Interpretation StUck fur StUck aus den Einzel-Interpretationen zusammen. Die Gesamt-Interpretation, die in die­sem Beispiel aus der Hypothese 2 besteht, kann auf die vorangegangenen Einzelinterpre­tationen vertiefend, erganzend oder wie hier auch modifizierend zuruckwirken. Dadurch ergibt sich das Vorgehen im Sinne der hermeneutischen Spirale.

Episode 3

Episode 2

Episode 1 Texterweiterungen

Hypothese 1

Hypothese 2

Hypothese 3

Abb. 6 Hermeneutische Spirale

Zwei Episoden reichen in der Regel nicht aus, urn eine endguitige Interpretationshypo­these zu erzeugen. In diesem Fall gibt es im gesamten Interview mehr Indizien, die die genannte Hypothese stUtzen. So nennt Herr A nahezu ausschlieBlich Unterrichtsbeispie­Ie, die auf der Verwendung des klassischen Ansatzes von Wahrscheinlichkeiten beruhen. Ein weiteres wichtiges Indiz ist die in Abbildung 6 aufgenommene Texterweiterung (des Interviewtranskripts). Diese besteht in diesem Fall aus der Analyse des von Herrn A verwendeten Schulbuchs (Kuypers/Lauter 1989).12 Dessen von Herrn A verwendeten Passagen enthaiten wiederum nahezu ausschlieBlich Aufgaben, die mit dem klassischen Ansatz bearbeitet werden konnen. Damit erhait die Analyse der Texterweiterung eine den Interpretationen einzelner Episoden ahnliche Funktion der Erweiterung, Vertiefung und eventuellen Modifikation der bis dahin geleisteten Gesamtinterpretation.

Insgesamt enthait der Stoff-Inhalt die in Abb. 7 aufgelisteten Themenbereiche. Die Stochastik ist bei Herrn A urn die Statistik reduziert. Der axiomatische Ansatz von Wahrscheinlichkeit wird ebenso wie der Themenkomplex bedingte Wahrscheinlichkeit und Unabhangigkeit ausfuhrlich behandelt. Beide Bereiche wirken aber in dem Stoffka­non gleichsam wie Exkurse, die nur sehr lose mit dem Hauptstrang des Curriculums ver­bunden sind, der bei der Behandlung der Binomialverteilung endet.

12 Andere Fonnen der Texterweiterung konnen beispielsweise in der Analyse von Klausuren, Arbeitsblattem, der Schulsituation oder Ahnlichem bestehen.

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152 Andreas Eichler

Bernoulli-Experiment, Binomialverteilung

Systematische Kombinatorik Bedingte Wahrscheinlichkeit, Unabhangigkeit

K1assischer Ansatz (frequentistischer) Ansatz Axiomatik, axiomatischer Ansatz

Ereignisalgebra, Zufall, Zufallsexperiment

Abb. 7 Stoff-Inhalt des Stochastikcurriculums von Herrn A

Ziel-Mittel-Argumentation Die interpretative Erschlief3ung der Ziel-Mittel-Argumentationen basiert wie im voran­gegangenen Abschnittexemplarisch dargeste11t auf der Anwendung der hermeneutischen Spirale. Die Ziele, die tiber die Behandlung spezie11er Stoff-Inhalte hinausgehen, sind zumeist aus der Interpretation einer ganzen Anzahl von Episoden rekonstruiert worden. 1m Folgenden wird diese Rekonstruktion a11ein anhand von Episoden, die einen Schliis­sel fUr das Verstandnis des individue11en Curriculums von Herrn A darste11en, i11ustriert.

In der strukturierten Darste11ung der Ziel-Mittel-Argumentationen sind die Ziele, d.h. von den Lehrerinnen und Lehrem als positiv erachtete Kompetenzen oder Eigenschaften des Curriculums mit einem ! versehen, das als "sol1 erreicht werden" gelesen werden kann. Sowohl die Ziele, als auch deren Definition, die unter den Zielen formuliert sind, sind sprachlich an der Ausdrucksweise der Lehrerinnen und Lehrer orientiert.

!Beschriinkung auf Wahrscheinlichkeitsrechnung !breite Anlage !ernsthafter Charakter (Beschrankung = Nichtbehandlung deT besehreibenden und beurteilenden Statistik. Breite Anlage = Thematisierung versehiedener Bereiche, die nieht unbedingt aufein­ander aufbauen miissen. Ernsthafter Charakter = zeigt sieh im streng wissensehaftliehen Aufbau mit Axiomen als Grundlage und darauf aufbauenden Satzen und Beweisen.)

Abb. 8 Ziele des Stochastikcurriculums von Herrn A

Die in diesem Beispiel (Abb. 8) aufgenommenen Ziele sind themenorientiert. D.h., sie gehen zwar tiber konkrete Inhalte hinaus, sind aber eng mit solchen verbunden. Die Beschrankung des Stochastikcurriculums bzw. die Definition der Stochastik als Wahr­scheinlichkeitsrechnung ist eine direkte Folgerung aus der Analyse des Aspekts Stoff­Inhalt und lasst sich mit folgender Episode i11ustrieren.

Herr A: "Ich lasse das weg, was ich jetzt fUr meinen Kurs jetzt [ ... J fUr nicht unbedingt notwendig erachte, und das sind jetzt bei diesem Buch zum Beispiel gewesen, dass alles, was man mit Haufigkeiten gemacht hat, das geht tiber 50 Seiten im Umfang, und ich denke, wenn man das der Reihenfolge nach macht, dann kommen die SchUler nach vier W ochen ungefahr zum Wahrscheinlich­keitsbegriff und haben dann keine Chance mehr, Wahrscheinlichkeitsrech­nung eigentlich in dem engeren Sinne zu machen."

Die breite Anlage des Curriculums, zu dem hier kein Beleg angefUhrt werden sol1, ist in der Darste11ung des Aspekts Stoff-Inhalt bereits enthalten und bezieht sich auf die ex-

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1 nd ivid uelle Stochastikcu rricu la 153

kursartige Behandlung von fUr das Kemcurriculum irrelevanten Themenbereichen wie der Axiomatik und der bedingten Wahrscheinlichkeit. Den emsthaften Charakter, des sen Gegensatz ein "lapidarer" Charakter ist, beschreibt Herr A folgendermaBen:

Herr A: "Dass man da sagt, da steckt eine Axiomatik dahinter, und ich kann streng beweisen und Forderungen daraus, dass man letztlich sieht, dass ist also auch Mathematik, die ist ganz nach streng logischem Muster aufgebaut und so weiter, ist genau wie Analysis auch (.) Definition, Behauptung, Beweis.

Die Verkettung und die damit einhergehende Hierarchisierung von Zielen ist ein Rekon­struktionsprodukt, das zwar von der Interpretation des Interviewtexts ausgeht, aber den­noch uber diesen hinausgeht. Die Verknupfung der Ziele geschieht mit Hilfe eines Wenn-Dann-Satzes (vgl. Abb. 9), dessen Begrundung - wenn diese von den Lehrem explizit geleistet wurde - auf der gesammelten Unterrichtserfahrung beruht.

!theoretische Grundlage zur Wahrscheinlichkeits­rechnung (=Kenntnisse tiber den forrnalen Aufbau der Stochastik mit dem Anspruch, eine Grundlage zur spateren Vertiefung zu erhalten und ohne den Anspruch, reale Probleme mit dieser Grundlage 16-sen zu k6lnnen.

Wenn man diese Aspekte beachtet ~ Dann kann man eine theoretische Grundlage zur Wahrschein-lichkeitsrechnung schaffen

!Beschriinkung auf Wahrscheinlichkeits-rechnung !breite Anlage !ernsthafter Charakter

Abb. 9 Verkniipfung zweier Ziele

1m folgenden Zitat wird einerseits die Definition des Ziels "theoretische Grundlage" und andererseits die Verbindung der beiden dargestellten Ziele deutlich:

Herr A: "Es muss denen klar sein, das, was man in der Schule machen kann [ ... ] fUr Probleme aus der Statistik vollig unzureichend ist. Letztlich wissen sie, dass, wenn sie mit der Stochastik was machen wollen, was jetzt irgendwie einen Anwendungsbezug hat, dann muss man eine ganze Menge draufsatteln. [ ... ] Wenn sie jetzt eine Grundlage mitbringen, die dazu fUhrt, sich mit dem Stoff weiter zu beschaftigen, es sind ja viele, die was studieren, was mit Ma­thematik zu tun hat. Dass man also sagt, ok, da weiB ich schon ein bisschen, und dann muss ich das halt noch ein bisschen vertiefen. Ich denke, dann sind sie zumindest besser dran, als wenn sie uberhaupt nie etwas gebOrt hatten."

Die theoretische Grundlage soli die Schiilerinnen und Schuler nicht dazu beHihigen, rea­Ie Probleme losen zu konnen. Sie soli vielmehr als Basis fUr eine spatere, intensivere Be­schaftigung dienen. In dies em Sinne werden im Ruckbezug das Konzept der "breiten Anlage" und auch die Abfolge von Stoff-Inhalten verstandlicher. So ist die Behandlung von Exkursen nicht ziellos, sondem erfUlIt den Anspruch, in einem moglichst breiten Be­reich erweiterungsfahige Grundlagen zu leg en, ohne eine stringente Richtung vor­zugeben. Dieses Ziel oder Konzept ist zentral fUr das Verstandnis des individuellen Cur­riculums von Herrn A.

Zusammen mit weiteren, nicht themenorientierten Zielen, die hier nicht diskutiert werden, ergibt sich zu den Zielen des Stochastikcurriculums mr Herrn A folgende, hier

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154 Andreas Eichler

stark verkurzte Ziel-Mittel-Argumentation: 13

r!t"'''''''''' Gm"""" r-__ -I.~!Motivation

!8eschriinkung

~!breite Anlage I !ernsthafter Charakter

!8ehandlung der ge-nannten Stoff-InhaIte

!Anschaulichkeit !8eherrschung von Re-+ !Nachvollziehbarkeit + chenverfahren und AI­

gorithmen

Abb. 10 Ziel-Mittel-Argumentation zu den Zielen des Stochastikunterrichts

Der Einzelfall im Uberblick Wie fUr den Aspekt Ziele des Stochastikcurriculums sind in gleicher Weise Ziel-Mittel­Argumentationen fUr die weiteren Aspekte eines individuellen Curriculums, Ziele des Mathematikcurriculums, Nutzen des Mathematikunterrichts fUr die Schiilerinnen und Schuler sowie erfolgreiches Unterrichten rekonstruiert worden. Diese Aspekte sollen hier nur im Oberblick diskutiert werden.

Bei Herrn A ist wiederum das Erlemen der theoretischen Grundlage der Mathematik das primare Ziel des Mathematikunterrichts und begriindet durch

• den gymnasialen Anspruch, • die Moglichkeit, Mathematik nachhaltig erlemen zu konnen, • die Moglichkeit, im Rahmen des Erlemens der theoretischen Grundlage Strate­

gien des problem16senden Lernens bzw. des logischen Denkens zu erhalten und • das "Wesen der Mathematik" zu verstehen.

Die Beschreibung des "Wesens der Mathematik" ermoglicht einen tiefen Einblick in das Verstandnis der Mathematik von Herrn A:

Herr A: "Was ist denn uberhaupt das Wesen dieses Faches. [ ... ] Man erschrickt davor, man hat Beriihrungsangste, wahrscheinlich auf Grund der Komplexitat und dieser reinen formalen Sache, das ist was nicht Greitbares, was mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. [ ... ] Ich glaube, ich habe eine Definition mal ge­lesen, die bringt die Sache unheimlich gut auf den Punkt, von Hilbert, die Wis­senschaft von den formalen Systemen, Punkt, zack."

Die Abfolge von Ziel-Mittel-Argumentationen zum Stoff-Inhalt sowie den Zielen des Stochastik- und des Mathematikcurriculums war bereits in der Anlage des Leitfadens fUr die Interviews intendiert. In der Analyse der Interviewtranskripte haben sich aber uber die genannten Bereiche von themenorientierten Zielen solche Ziele identifizieren lassen, die die Perspektive der Schiilerinnen und Schuler bzw. der Lehrperson mit Blick auf die individuellen Curricula beleuchten und die nicht im Leitfadeninterview intendiert waren.

Der erste Perspektivwechsel enthalt Oberlegungen, die aus Sicht des Lehrers den Nutzen des Mathematikunterrichts fUr die Schulerinnen und Schuler beschreiben (As­pekt 4). Diese Oberlegungen stehen bei einigen Fallen, zu denen auch Herr A gehort, im Kontlikt mit den themenorientierten Zielen und dort insbesondere mit dem Ziel des Ma-

13 Die vollstandigen Ziel-Mittel-Argumentationen zu allen fiinf Aspekten des Stochastikcurricu­lums sind auf cler Homepage des Autors unter www.tu-braunschweig.de/idm einsehbar.

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Individuelle Stochastikcurricula 155

thematikunterrichts, die formale und abstrakte Struktur der Mathematik zu lehren. Der Schulemutzen besteht dagegen - aus der Sicht von Herrn A ~ darin, durch das Erlemen von Rechenfertigkeiten das Abitur bestehen zu konnen und damit formal die Studierfa­higkeit zu erlangen. Diesen Zielkonflikt beschreibt Herr A folgendermaBen:

Herr A: "Dann sieht man halt, dass die Mathematik recht, auf jeden Fall so, wie wir sie betreiben, sehr stark auf Anwendung von Algorithmen hinauslauft. [ ... J Und das ware jetzt auch eine Moglichkeit, [ ... J wenn man so das, was rei­ne Rechnerei ist, nun den Computem zu iiberlassen, dann wird die Mathema­tik anspruchsvoller. Das gelingt nicht bei allen Schulem, das weiB man erfah­rungsgemaB. Manchen muss man aber die Chance geben, dass er zumindest uber so einen gewissen FleiB noch flinf Punkte schreibt und Ende."

Das primare Ziel aus der Sicht seiner SchUler besteht flir Herrn A in der nachtraglichen Zufriedenheit mit dem Mathematikunterricht, die sich dann einstellt, wenn man in der spateren Laufbahn auf der theoretischen Grundlage der Mathematik aufbauen kann.

Der zweite Perspektivwechsel umfasst Uberlegungen, die aus der Sicht der Lehrer er­folgreiches Unterrichten ermoglichen (Aspekt 5). Bei Herrn A basiert auch die Ziel­Mittel-Uberlegung auf dem Konzept, den Schiilerinnen und Schiilem ausreichend Gele­genheit zum Erwerb algorithmischer Fertigkeiten zu geben. Daraus gezogenen Erfolgser­lebnisse bedingen aus der Sicht von Herrn A zusammen mit dem Aufbau einer allgemein positiven Lematmosphare, dass sich die SchUlerinnen und SchUler auf die Mathematik einlassen und einen Lemzuwachs erreichen konnen. Auch in dieser Argumentation ist der genannte Zielkonflikt enthalten, der sich aus der folgenden Episode entwickeln lasst:

Herr A: "Allerdings, ich sag mal so, das funktioniert so, wenn man das macht. Wenn man mir jetzt ein Modell vorstellen wiirde, was ich noch nicht kenne (lacht), dann wiirde ich mich geme iiberzeugen lassen. Aber wie gesagt, was da so ist, das funktioniert eigentlich, ob es nun sinnvoll ist, das ist die andere Frage. Ja, fUnktionieren muss ja nicht unbedingt sinnvoll sein."

Ein wesentliches Kriterium flir erfolgreichen Unterricht ist flir Herrn A die aus Erfolgs­erlebnissen gespeiste Motivation der Schulerinnen und SchUler, sich mit der Mathematik zu beschaftigen. 1st dieses Kriterium erflillt, so ist der Unterricht unabhangig yom Inhalt funktionierend. Der Mathematikunterricht wird aber erst dann sinnvoll, wenn die Inhalte einen Baustein zur Erkenntnis des "Wesens der Mathematik" enthalten. Eine Uberbeto­nung dieses Aspekts ist aber aus der Sicht von Herrn A nicht funktionsfahig. Die Ver­knupfung eines funktionierenden und zugleich sinnvollen Vorgehens benennt Herr A als lohnenden Unterricht, der das primare, aber nicht immer erreichbare Ziel darstellt.

Die Ziel-Mittel-Argumentationen zu den flinf Aspekten individueller Stochastikcur­ricula sind in allen acht erhobenen Fallen mitsamt des zu Grunde liegenden Regelwerks den Lehrerinnen und Lehrem zur Verfligung gesteUt worden und waren Basis des zwei­ten Interviews bzw. der kommunikativen Validierung. In dieser Phase wurden die Inhal­te und Struktur der Ziel-Mittel-Argumentationen im Dialog zu einem Konsens geflihrt. 1m Sinne des Forschungsprogramms Subjektive Theorien liegen mit Abschluss der kommunikativen Validierung die individuellen Stochastikcurricula rekonstruktionsada­quat - d.h. getreu den V orstellungen der Lehrerinnen und Lehrer rekonstruiert - vor. Auf Grund ihrer engen Bindung an konkrete Unterrichtbeispiele, ihrer inneren Konsistenz und ihres Grades der Ausarbeitung, ihrer zentralen Bedeutung bezogen auf die Gesamt-

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interviews und ihrer Passung mit den Texterweiterungen wird hier davon ausgegangen, dass sie zumindest potenziell handlungsrelevant sind.

7 Fallkontrastierung und Typenbildung

Mit den Einzelfallanalysen ist ein authentischer und praziser Einblick in die Vielfalt der Einheit individueller Curricula moglich. Fur nahezu jede qualitative Studie stellt sich aber ebenso die Aufgabe, die Einheit in der Vielfalt, d.h. das Typische im Individuellen aufzuzeigen (Forschungsfrage 2). Diesem Zweck dient die Entwicklung von Modalstruk­turen und darauf aufbauend von Typen. Die Prinzipien beider methodischer Schritte ba­sieren auf dem Herausarbeiten von Identitaten, Mustem oder Aquivalenzen von Eigen­schaften oder auch ganzer Strukturelemente der Ziel-Mittel-Argumentationen.

Ein erstes Ergebnis der Fallkontrastierung sind Modalstrukturen zu den runf Aspek­ten eines individuellen Curriculums. Diese fassen in yom Einzelfall abstrahierender Form die Konzepte der individuellen Ziel-Mittel-Argumentationen zusammen. In Abbil­dung 11 ist exemplarisch die gemeinsame Modalstruktur zu den Zielen des Stochastik­curriculums dargestellt, wobei die Ziele von Herrn A kursiv gekennzeichnet sind. Ein Charakteristikum der Modalstrukturen ist ihre Einteilung in die drei Grunderfahrungen Winters (vgl. Kap. 3).

Abb. 11 Modalstruktur zu den Zielen des Stochastikcurriculums

In einem weiteren Abstraktionsschritt kann man nun Typen individueller Stochastikcur­ricula entwickeln, die durch zumindest annahemd identische Teile der gemeinsamen Modalstrukturen aller runf Aspekte individueller Stochastikcurricula reprasentiert wer­den. Aus dieser abschlieBenden falIkontrastierenden Analyse haben sich folgende vier Typen individueller Stochastikcurricula ergeben:

• Die Traditionalisten (z.B. Herr A) beschranken ihr Curriculum auf die Wahr­scheinlichkeitsrechnung und dort auf den klassischen Ansatz der Wahrschein­lichkeit. Exkurse umfassen die Behandlung der Axiomatik und der bedingten Wahrscheinlichkeit. Das primare Ziel der Traditionalisten im Stochastik- wie auch im Mathematikunterricht ist das Vermitteln einer theoretischen Grundlage, die im Einblick in den formalen Aufbau der Stochastik bzw. der Mathematik be­steht. Das Lemen von Mathematik basiert rur dies en Typus wesentlich auf der Vermittlung algorithmischer Fertigkeiten, die zum Bewaltigen des Abiturs und der damit verbundenen formalen Studierfahigkeit notwendig sind. Die Betonung der algorithmischen Fertigkeiten ermoglicht einen Unterricht, der von den Schu-

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Individuelle Stochastikcurricula 157

lerinnen und Schiilem angenommen wird und steht im Konflikt mit dem prima­ren Ziel, den formalen Autbau der Mathematik zu vermitteln.

• Die Anwendungsvorbereiter behandeln aBe drei Teilbereiche der Stochastik, wobei die beschreibende Statistik vorbereitenden oder begleitenden Charakter hat. Sie behandeln primar den frequentistischen und als Zusatz den klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Inhaltliches Ziel ist das Erreichen der beurteilenden Statistik. Das primare Ziel der Anwendungsvorbereiter ist das Vermitteln des Wechselspiels von Mathematik und Realitat, wobei das Verstehen der mathema­tischen Begriffe und Methoden Voraussetzung fur deren Anwendung ist. So­wohl der Schiilemutzen als auch der erfolgreiche Unterricht aus Sicht der Lehrer baut zentral auf diesem Aspekt auf.

• Die Alltagsvorbereiter behandeln alle drei Teilbereiche der Stochastik, wobei die beschreibende Statistik begleitenden Charakter hat. Sie behandeln den fre­quentistischen und als Zusatz den klassischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Das primare Ziel der Alltagsvorbereiter ist es, elementare mathematische Begriffe und Methoden anhand von realitatsorientierten Problemen einzufuhren und im Prozess die mathematischen Methoden zu erweitem, urn eine bessere Modellie­rung der Realitat zu erm6glichen. Obergeordnetes Ziel ist es, reale Probleme bewaltigen zu k6nnen und KritikHihigkeit zu erreichen. Wahrend die Anwen­dungsorientierung ein wesentliche Kriterium des erfolgreichen Unterrichts ist, ist im Erlangen der KritikHihigkeit der primare Nutzen des Mathematikunter­richts fur die Schulerinnen und Schuler zu verstehen.

• Die Strukturalisten behandeln aile drei Teilbereiche der Stochastik, wobei die beschreibende Statistik vorbereitenden Charakter hat. Sie behandeln gleichbe­rechtigt den frequentistischen, den klassischen und als formale Grundlage den axiomatischen Wahrscheinlichkeitsbegriff. Das primare Ziel der Strukturalisten ist es, ausgehend von realitatsorientierten Problemen in einem Abstraktionspro­zess die formale Struktur der Stochastik bzw. der Mathematik aufzudecken. Der Nutzen des Mathematikunterrichts fur die Schiilerinnen und SchUler besteht primar in einer Denkdisziplinierung, die die AbstraktionsHihigkeit sowie die Fa­higkeit, in formalen Strukturen operieren zu k6nnen, umfasst.

In den vier Typen werden unterschiedliche Gewichtungen von Stoff-Inhalten, insbeson­dere aber der Grunderfahrungen von Winter deutlich. Diese vier Typen individueller Stochastikcurricula werden als wesentlich fur die Beschreibung der Schulpraxis angese­hen, wobei sie nicht notwendig alle individuellen Curricula erfassen mussen. Sie leisten einen authentischen und prazisen Einblick in die Planungsgedanken der Lehrerinnen und Lehrer und offenbaren die Strukturen hinter der sehr groben Typisierung wie "anwen­dungsorientiert" oder "formalismusorientiert" oder quasi die beliefs hinter den sehr all­gemeinen beliefs (vgl. auch Cooney et al. 1999).

8 Schulpraxis uod uoiversitare Didaktik

Die Einzelfallanalysen und deren mit der Typenbildung abgeschlossene Fallkontrastie­rung sind wesentliche Ergebnisse dieser Arbeit, die zunachst fur sich stehen. Bezieht man diese Ergebnisse wieder zurUck auf die allgemeine Diskussion der Stochastik- und

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Mathematikdidaktik, so erhalt man eine neu strukturierte Zusammenfassung der Ergeb­nisse, die einen Einblick in das Verhaltnis der Schulpraxis - bezogen auf die acht be­trachteten Falle - und der universitaren Didaktik ermoglichen.

Der Stoff-Inhalt Zu den funf zentralen Fragen eines Stochastikcurriculums (vgl. Kap. 3) ergibt sich, dass

• die beschreibende Statistik eine untergeordnete Rolle in der Ausrichtung der in­dividuellen Stochastikcurricula spielt. Eine Orientierung im Sinne der Explora­tiven Datenanalyse ist nicht festzustellen.

• die Auswahl eines oder mehrerer Wahrscheinlichkeitsbegriffe das Stochastik­curriculum hinsichtlich des stoff-inhaltlichen Autbaus, des Grades der Anwen­dungsorientierung sowie des Grades der Formalisierung bestimmt. Wesentlich fur die betrachteten individuellen Curricula ist es ebenso, dass der subjektivisti­sche Wahrscheinlichkeitsbegriff keine bzw. eine nur sehr randstandige Bedeu­tung hat. Kern des Wahrscheinlichkeitscurriculums ist stets der als klassischer Block der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu bezeichnende Stoff-Kanon, dessen Geriist aus den Begriffen Zufallsexperiment, Wahrscheinlichkeitsbegriff, Kom­binatorik, ZufallsgroBen und Binomialverteilung besteht. Insbesondere dem Themenkomplex bedingte Wahrscheinlichkeit fehlt, wenn er eingesetzt wird, die Bindung zu diesem klassischen Block.

• die beurteilende Statistik sich eben so auf einen klassischen Block beschrankt, der in der Behandlung von Konfidenzintervallen und Hypothesentests auf der Basis der Binomialverteilung besteht. Die Bayes-Statistik spielt nur in einem Fall eine untergeordnete Rolle.

In der Stochastikdidaktik bestehen zwei der wesentlichen Neuerungen der letzten beiden lahrzehnte in der Forderung, die Explorative Datenanalyse sowie die Bayes­Statistik in den Stochastikunterricht aufzunehmen, welche durch zahlreiche mathematik­didaktische Publikationen transportiert wurden. Der zentralen Stellung der beiden The­mengebiete in der Didaktik steht in der Schulpraxis, wenn iiberhaupt, nur ein sehr gerin­ger Stellenwert gegeniiber.

Ziele des Stochastik- und Mathematikcurriculums Einen Uberblick zu den Zielen des Stochastik- und des Mathematikcurriculums in Ver­bindung mit den vier Typen gibt die folgende Zusammenstellung:

Typen individueller Stochastikcurricula

Traditionalisten Strukturalisten

Grunderfahrungen nach Winter (vgl. Kap.3) Mathematik als:

fonnale Struktur (G2) fonnale Struktur (G2) und Pool von Heuristiken (G3)

Anwendungsvorbereiter Mittel zur Beschreibung der Realitiit (G 1) und fonnale Struktur (G2) Alltagsvorbereiter Mittel zur Beschreibung der Realitiit (G 1) und Pool von Heuristiken (G3)

Tab. 2 Zusammenhang von Typen und Zielen des Stochastik- und Mathematikcurriculums

Herauszuheben ist, dass eine auf Grund des unmittelbaren Anwendungsbezugs der Sto­chastik theoretisch gut denkbare Verbindung zwischen der Aufnahme der Stochastik in das Mathematikcurriculum und der Praferenz fur die Grunderfahrung G 1 nicht besteht.

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Individuelle Stochastikcurricula 159

1m Zusammenhang mit dem Aspekt Stoff-Inhalt Hisst sich weiter feststellen, dass es offenbar einen geringen Zusammenhang zwischen der Auswahl von Stoff-Inhalten und den damit verbundenen Zielen gibt. So orientiert sich jeweils ein Reprasentant der Struk­turalisten, der Anwendungs- und der Alltagsvorbereiter - bezogen auf die Abfolge von Themen und die Auswahl von Aufgaben - stark an dem Lehrgang von Strick (1998). Insbesondere die Curriculumsausrichtung der Strukturalisten macht hier deutlich, dass ein durchweg anwendungsorientiertes Schulbuch nicht notwendig zu einer Anwen­dungsorientierung im Mathematikunterricht flihren muss.

Mathematikdidaktische Trends in der Schulpraxis Ein weiteres interessantes Forschungsergebnis ergibt der Vergleich der Typen mit den Trends der Mathematikdidaktik (vgl. Kap. 3):

Typen individueller Stochastikcurricula Trends der Mathematikdidaktik

Traditionalisten moderate Form der Neuen Mathematik Anwendungsvorbereiter Anwendung Alltagsvorbereiter Phanomenologie Strukturalisten Mischung der drei genannten Trends'

Tab. 3 Zusammenhang zwischen Typen und Trends

Auffallend bei dies em Vergleich ist die Ubereinstimmung von Typen und Trends, die vor gut 20 lahren endet. Weiterhin ist eine Entsprechung des Ausbildungsendes der Leh­rerinnen und Lehrer mit den Hoch-Zeiten der jeweiligen Trends festzustellen. Allein die Verbindung zwischen den Strukturalisten, die nach diesen Trends die Ausbildung abge­schlossen haben, ist nicht direkt m6glich, es gibt aber bei diesem Typ auch keine Ver­bindung zu einem der neueren Trends.

Rahmenrichtlinien und Schulbiicher in der Schulpraxis Hinsichtlich der Funktion der Rahmenrichtlinien fur die Planung kann man iiberein­stimmend mit den Ergebnissen der padagogischen Forschung feststellen, dass diese we­nig Einfluss auf die individuellen Curricula haben. Ihnen wird, wenn iiberhaupt, eine le­gitimierende Funktion zugebilligt.

Betrachtet man die Orientierung an Schulbiichem, dann hat die Stochastik sicherlich eine Sonderrolle. So gibt es in den Schulen von vier Lehrerinnen und Lehrem kein ein­gefuhrtes Schulbuch und auch dort, wo eines eingefiihrt ist, ist die Orientierung nicht sehr stark. Eine Ausnahme ist das Lehrwerk von Strick (1998), dessen Vorziige von den entsprechenden Lehrem mit der Konzeption des Buchs begriindet werden, das eine fest umrissene, elementare und zeitlich in einem Semester entwickelbare Einheit umfasst.

Rezeption mathematikdidaktischer Forschung in der Schulpraxis Die Begriindung fur die Angemessenheit der deskriptiven Satze bzw. fur die Wenn­Dann-Satze zwischen den curricularen Zielen k6nnen auf theoretischen Uberlegungen, Ergebnissen der empirischen Forschung oder der Unterrichtserfahrung beruhen. Bei den hier betrachteten Fallen haben sich ausschlieBlich auf Erfahrung beruhende Begriindun­gen - eng verbunden mit dem Konzept des funktionierenden Unterrichts - ergeben. Ins­besondere gehen Erkenntnisse der empirischen didaktischen Forschung, etwa zu Lem­schwierigkeiten, nicht in die Planungen der Lehrerinnen und Lehrer ein.

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160 Andreas Eichler

9 Riick- UDd Ausblick

All die genannten Ergebnisse erwecken den Eindruck, dass sich die Schere zwischen der allgemeinen didaktischen Diskussion und der Schulpraxis weiter Offnet. So scheinen grundlegende, revolutioniire Anderungen des Stochastikcurriculums in Bezug auf didak­tische VorschHige und ebenso die durch letztere beeinflussten Rahmenplane keine bzw. kaum Wirkung auf die durch Erfahrung entwickelten individuellen Curricula zu haben.

Ein moglicher Ansatz, wie die Mathematikdidaktik auf Lehrerinnen und Lehrer zu­gehen und ihre Ideen wirkungsvoll evolutioniir umsetzen kann, ist die Verbindung ma­thematikdidaktischer Kernaufgaben, der Forschung und Beratung in den Schulen, wie sie etwa in den Projekten 'IMST2" 'SINUS' oder 'ELM' angelegt iSt. 14 Der Kern einer evolu­tionaren Anderung bestehender Schulpraxis lasst sich salopp durch eine altbekannte Lehrmaxime beschreiben, die besagt, dass der Lehrer die Schuler da abholen soil, wo diese sich bezogen auf ihren Wissensstand befinden. Entsprechend mussen auch didakti­sche Ansatze zur Curriculumsentwicklung auf dem Stand der individuellen Curricula in ihrer gesamten Vielfalt ansetzen, indem sie das schulbezogene, professionelle Wissen der Lehrerinnen und Lehrer nutzen, das nach Hofer (1981,5) we it gehend die Realitat in den Klassenzimmern bestimmt.

Die Untersuchung individueller Curricula ist ein Ansatzpunkt, urn dieses professio­nelle Wissen nutzbar zu machen. Eine einzelne Arbeit kann dabei zwar eine ganze Reihe von Forschungsfragen der Didaktik klaren und einen theoretischen sowie methodischen AnstoB fur eine Klasse von Forschungsprojekten geben. Sie kann dennoch nur ein Mosa­ikstein fur die Kernaufgabe der Mathematikdidaktik sein, durch Forschungsergebnisse fundierte Ansatze fur die optimale Anpassung des Mathematikunterrichts an die sich an­dernden Rahmenbedingungen einer sich andernden Welt zu konstruieren und in die Schulpraxis einzubinden.

Der Erfolg der Einbindung der vielen wichtigen und fruchtbaren Vorschlage zur Entwicklung des Stochastik- oder auch des Mathematikcurriculums beginnt und endet mit der Akzeptanz durch die Lehrerinnen und Lehrer. Sie, die Experten ihres Unter­richts, und ihre individuellen Curricula gilt es zu verstehen. Daher ist das hermeneuti­sche Prinzip, das Verstehen prinzipiell mit dem Anwendungsgedanken zu verbinden, das als Pladoyer zu verstehende Resumee dieser Arbeit:

"Darum sollte es selbstverstandlich sein, daB man das, was man verandern will, erst verstanden hat." (Danner 1998, 114)

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Adresse des Autoren: Andreas Eichler TV Braunschweig Institut fur Didaktik der Mathematik und Elementarmathematik Bienroder Weg 97 38106 Braunschweig [email protected]

Manuskripteingang: 1. Juli 2005

Typoskripteingang: 17. Mai 2006