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INFOS Magazin des nationalen Branchenverbands der Institutionen für Menschen mit Behinderung Nr. 42| Dezember 2013 Inklusion Das Paradigma Inklusion verändert die Sichtweise auf die Menschheit und beinflusst immer stärker die Arbeit der Institutionen. Seiten 3 - 14 Behinderung und Demenz Menschen mit Behinderung werden immer älter. Demenz wird damit auch für die Institutionen zu einem Thema, das sie herausfordert. Seite 18 IV - quo vadis? Nach dem Scheitern der IV-Revision 6b ist offen, wie es bei der IV weiter- geht. Nationalrat Christian Lohr wirft einen Blick in die Zukunft. Seite 15

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Mitgliedermagazin INSOS Schweiz, Dezember 2013

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INFOSMagazin des nationalen Branchenverbands der Institutionen für Menschen mit Behinderung Nr. 42 |Dezember 2013

Inklusion

Das Paradigma Inklusion verändert dieSichtweise auf die Menschheit undbeinflusst immer stärker die Arbeit derInstitutionen. Seiten 3 - 14

Behinderung und Demenz

Menschen mit Behinderung werdenimmer älter. Demenz wird damit auchfür die Institutionen zu einem Thema,das sie herausfordert. Seite 18

IV - quo vadis?

Nach dem Scheitern der IV-Revision6b ist offen, wie es bei der IV weiter-geht. Nationalrat Christian Lohr wirfteinen Blick in die Zukunft. Seite 15

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Editorial

Spare in der Zeit − und nicht in der NotEin altes, weises Sprichwort lautet: Spare in derZeit und nicht in der Not. Sparen ist an sich nichtsSchlechtes. In guten Zeiten soll für möglicheschlechte Tage gespart werden. Es macht durchausSinn, zur richtigen Zeit am richten Ort im richtigenAusmass zu sparen.

Doch was beobachten wir heute? In den USA bei-spielsweise wird die Sparschraube angezogen,wenn das Geld ausgeht. Erst wenn das Wasser biszum Hals steht, kommt der Ruf «es muss gespartwerden». Oder in der Schweiz: Wenn einzelne Kan-tone merken, dass es finanziell eng wird und dieErträge − etwa wegen Steuersenkungen − zurückge-hen, werden überstürzt Budgetposten gestrichen. Also erst dann, wenn die Notschon da ist. Das Sprichwort wird also verkehrt angewendet: Spare in der Not, sohast du in der Zeit. Oder anders ausgedrückt: so gewinnen die Kantone Zeit bis zurnächsten Budgetrunde.

Die Sparmassnahmen, die derzeit beispielsweise der Berner Regierungsrat im Be-reich erwachsene Menschen mit Behinderung dem Kantonsparlament vorschlägt (beiRedaktionsschluss stand der Beschluss des Parlaments noch aus), sind für die Be-troffenen mehr als schmerzhaft: Die Sparmassnahmen in der Höhe von insgesamt 45Millionen Franken würden bereits ab Anfang 2014 den Alltag, die Arbeitsmöglich-keiten, die Lebensqualität und die Menschenwürde vieler dieser Männer und Frauenmassiv einschränken. Die vorgesehenen Massnahmen sind weder gut geplant nochmit den betroffenen Kreisen besprochen – als wäre der finanzielle Engpass völligunerwartet eingetreten. Die möglichen Konsequenzen wurden kaum erörtert.

Grundsätzlich stellt sich die Frage: Können die vom Bundesrat genehmigten Be-hindertenkonzepte überhaupt noch umgesetzt werden, wenn Kantone im Behinder-tenbereich massiv sparen? Diese Behindertenkonzepte sollten für die Zeit nach derNeugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen(NFA) dafür sorgen, dass die NFA nicht zur Sparübung zu Lasten der Behindertenin-stitutionen bzw. der Menschen mit Behinderung verkommt. Und genau das droht beiSparmassnahmen, die in Zeiten der Not überstürzt verordnet werden. Die Forderungvon INSOS Schweiz ist klar: Bevor Kantone konkrete Sparbeschlüsse im Behinder-tenbereich fällen, müssen sie die Institutionen und betroffenen Menschen mit Be-hinderung in die Debatte einbeziehen – und zwar von Anfang an. Wir fordern Klar-heit darüber, in welcher Verantwortung die Behörden von Bund und Kantonen nachder Kantonalisierung des Behindertenbereichs (NFA) stehen.

Spare in der Zeit und nicht in der Not – dann hat man auch die nötige Zeit, dierichtigen Massnahmen für die Not zu evaluieren und zu planen. Und dann kann manvielleicht auf diese Weise sogar die Not verhindern.

Freundliche Grüsse

Peter SaxenhoferGeschäftsführer INSOS Schweiz

< Duo Gil & Jef: DerSänger und der Gitarristvon Eben-Hézer inLausanne begeistertenam INSOS-Kongress 2013mit ihren Imitationenvon französischenChansons.Bild | Annette Boutelier

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Im Fokus | Inklusion

Ein Horizont, der die Richtung vorgibt

Philosophisch betrachtet gibt es in ei-ner inklusiven Gesellschaft keine Hierar-chien mehr: kein «wir» und «die ande-ren», kein «besser» oder «schlechter»,kein «behindert» oder «nicht behin-dert», sondern schlicht eine einzigeMenschheit oder Gesellschaft.Das Paradigma der Inklusion ist visionär:Es beschreibt die Gleichwertigkeit allerMenschen und wirft gängige gesell-schaftliche Normen über Bord. Normalist in der inklusiven Gesellschaft dieVielfalt, die Einzigartigkeit, das Vorhan-densein von Unterschieden. Inklusionunterscheidet sich somit fundamentalvom Paradigma der Integration: Bei derIntegration geht es um den Einbezugvon etwas Anderem ins bestehende Sys-tem, wobei «das Andere» sich den Nor-men des Bestehenden anzupassen hat.

Normen sind ein kulturelles Produkt«Normen werden oft als universell be-trachtet», stellt Charles Gardou, Profes-sor an der Universität Lumière in Lyon,fest. «Doch Normen sind lediglich einkulturelles Produkt; sie ersticken dieEinzigartigkeit der Menschen.» Gardouforderte deshalb am INSOS-Kongress2013 in Bern: «Wir müssen aufhören,exklusiv sein zu wollen! Alles Schlechtekommt von Hierarchien, vom Wunsch,andere zu dominieren und Privilegien zuhaben.» Das kulturelle Erbe, so fährtGardou fort, gehöre allen gleicherma-ssen. «Alle Menschen sollen die Gesell-schaft als ihr Zuhause betrachten kön-nen.»

Inklusion als VisionEine inklusive Gesellschaft – ist dasdenn überhaupt möglich? Charles Gar-dou sagt: «Die inklusive Gesellschaft ist

Das Paradigma der Inklusion, wel-ches das gleichwertige Miteinanderverschiedenster Individuen bein-haltet, krempelt die Sichtweise aufdie Gesellschaft und damit auch aufdie Arbeit mit Menschen mit Behin-derung um. Eine Herausforderung,der sich Institutionen bereits heutemit Kreativität stellen.

eine Vision, ein Horizont, der uns eineRichtung vorgibt. Wir brauchen solcheVisionen: Die Demokratie konnte mansich einst auch nicht vorstellen und heu-te ist sie bei uns Realität.» Inklusion istauch einer der Leitsterne der UN-Kon-vention über die Rechte von Menschenmit Behinderung, welche diesen Sommervom Nationalrat gutgeheissen wurde. Soist in der Konvention unter anderem dieRede von einer «vollen und wirksamenTeilhabe» von Menschen mit Behinde-rung an der Gesellschaft, von ihrer «Ein-beziehung in die Gesellschaft» sowievon ihrer Akzeptanz als Teil der mensch-lichen Vielfalt und der Menschheit.

Kategorisierendes Denken aufgebenDoch was heisst das für die Institutio-nen für Menschen mit Behinderung? Be-deutet die Vision der Inklusion derenAbschaffung? «Institutionen spieleneine fundamentale Rolle in der Unter-stützung und Begleitung von Menschenmit Behinderung», betont Pierre Mar-got-Cattin, Dozent Fachhochschule fürsoziale Arbeit (HES-SO/Wallis) und Prä-sident des Schweizer Gleichstellungs-rats. Für ihn bedeutet Inklusion im ins-titutionellen Kontext vielmehr,Menschen mit Behinderung echte Wahl-möglichkeiten zu bieten. «Für mich geht

es um eine Partnerschaft zwischen Ins-titution und Menschen mit Behinde-rung.» Für Charles Gardou bedeutet dasParadigma für die Institutionen aberauch, das «kategorisierende Denken auf-zugeben, die Wünsche der Bewohnendenernst zu nehmen und gegenüber demLeben ausserhalb der Institution durch-lässiger zu werden».

Die Institutionen sind unterwegsIn einigen Institutionen wird genau dasbereits in unterschiedlichem Masse ge-leistet. Inklusion, Autonomie, Selbstbe-stimmung und Teilhabe sind zu festenDenkgrössen geworden. Beispiele dafürgibt es in der Schweiz zahlreiche (vgl. S.4 bis 16). Sie reichen von Institutionen,die ihr Wohnheim schrittweise abschaf-fen, über Betriebe, in denen die Bewoh-nenden über die Anstellung von Personalentscheiden können, bis hin zu Institu-tionen, in denen Menschen nicht in derWerkstätte, sondern als Teammitgliederin der freien Wirtschaft arbeiten. «Wich-tig ist», resümiert Pierre Margot-Cattin,«dass sich die Institutionen auf den Wegmachen und sich weiterentwickeln.»Und Gardou ergänzt: «Wir müssen nichtalles Alte vom Tisch fegen, sondern das,was wir täglich tun, neu betrachten.»| Barbara Lauber

«Inklusives» Duo: Bei Gil & Jef vonEben-Hézer in Lausanne spielt dasThema Behinderung keine Rolle.Bild | Annette Boutellier

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Inklusion | Friedemann Hesse, Experte für Inklusionsprozesse, über das Paradigma der Inklusion

«Die Institutionen sollen sich nun gemeinsam

INFOS INSOS: Friedemann Hesse, Handaufs Herz: Wie inklusiv denken undhandeln Sie in Ihrem Alltag?Friedemann Hesse: Bei meiner Arbeit istmir Inklusion und der inklusive Einbezugder Bewohnerinnen und Bewohner sowieder Mitarbeitenden sehr wichtig. Kon-kret versuche ich, Vielfalt und Lernen imHandlungsalltag zu fördern. Dies etwaindem ich auch Visionen wie Inklusioneine reale Chance gebe und die Mitarbei-tenden dabei unterstütze zu prüfen, wiedas Inklusions-Paradigma bei den ein-zelnen Bewohnerinnen und Bewohnernim Rahmen von Entwicklungsprozessenkonkret umgesetzt werden könnte.

Sie setzen sich seit mehreren Jahrenmit dem Thema Inklusion auseinander.Woher dieses frühe Interesse?Während meiner Erstausbildung interes-sierte ich mich erstmals fürs Thema In-klusion. Richtig greifbar wurde für michdas Thema schliesslich 2010, als ich am

15. Weltkongress von Inclusion Interna-tional in Berlin teilnahm. Mir wurde dortklar, wie wichtig die interinstitutionelle,nationale und internationale Vernetzungund der Austausch mit Menschen mit Be-hinderung zum Abbau von gesellschaft-lichen wie gedanklichen Barrieren ist.Gleichzeitig wurde mir bewusst, was

Beim Thema Inklusion steht dieSchweiz am Anfang. Laut Friede-mann Hesse gilt es in den Instituti-onen nun, Wissen aufzubauen,Partizipationsmöglichkeiten zuschaffen und in Haltungsfrageneinen Perspektivenwechsel einzu-läuten. Zentraler Orientierungs-punkt ist dabei die UN-Behinder-tenrechtskonvention.

echte, lebendig gelebte Inklusion grund-sätzlich bedeutet. Nämlich: Formen fürgemeinsame Begegnungen zu finden undBeziehungen aufzubauen, um die beste-henden Herausforderungen sowie Frage-stellungen im Dialog zu bearbeiten.

Was bedeutet Inklusion für Sie alsMensch?Ich bringe mich ein, erlaube mir exklusiveine Meinung und respektiere inklusivdie des Anderen. Ich versuche den Men-

schen − ob mit oder ohne Behinderung− als individuelles Wesen zu sehen, wel-chem das gleiche Recht zu leben zustehtwie mir.

Inklusion ist das aktuelle Thema inder Arbeit mit Menschen mit Behinde-rung. Doch widersprechen sich Inklu-sion und das Leben in einer Instituti-on nicht fundamental?Der Prozess der Inklusion ist zu verste-hen als eine Form der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und alspermanenter Lernprozess. Er geschiehtnicht «aus heiterem Himmel», sondernwird durch alle Gesellschaftsmitgliedergeleistet, gelebt und mitgestaltet. ImVordergrund steht nicht die Frage, ob esInstitutionen braucht oder nicht. Viel-mehr geht es um die Frage, wie die Ins-titutionen Mitgestaltungsmöglichkeitenschaffen und ihre Dienstleistungen aninklusiven Prozessen ausrichten können.Ziel muss es sein, die Rechte der Men-schen zu respektieren und zu achten undihre Pflichten sowie die allgemeinenRahmenbedingungen gemeinsam zu be-wältigen. Letztlich liegt der konkreteZugang zum Thema in der eigenen Hal-tung und in der praktischen Umsetzungin den Alltagsstrukturen.

Sie leiten das Wohnheim Titlis derSSBL. Wie leben Sie und Ihr Team kon-

kret Inklusion und Teilhabe im insti-tutionellen Alltag?Ich möchte dies am Beispiel der Hausord-nung illustrieren: Wir haben in der SSBLfür die Bewohnerinnen und Bewohner dieHausordnung überarbeitet und diese spe-ziell in unterstützte Kommunikation über-setzt. Früher stand dort: «Der Bewohnerdarf nach Absprache mit dem Betreuungs-personal Besuch empfangen». Heute hin-gegen gilt im Sinne einer personenzent-rierten Haltung: «Die Bewohner habendas Recht, Besuch zu empfangen, undrespektieren das Zusammenleben.» Wirerlebten anschaulich, wie das Personal inder Auseinandersetzung mit der neuenHausordnung, die nun die Rechte der Be-wohner explizit nennt, einen Perspekti-venwechsel vollzog.

Früher stand in der Agogik der Fürsor-gegedanke im Vordergrund. Wie an-spruchsvoll ist es, Mitarbeitende fürsInklusionsthema zu begeistern?Der Grundgedanke, dass der Mensch imMittelpunkt unserer Arbeit steht, istheute wie damals derselbe. Menschen fürdie Vision der Inklusion zu begeistern,heisst in erster Linie, Ängste vor Begriff-lichkeiten durch Wissen abzubauen, sichgemeinsam auf den Weg zu machen unddas eigene Handeln immer wieder zu re-flektieren. Wichtig ist zudem, dass Mit-

arbeitende im Rahmen von konkretenProjekten und eines gemeinsamen Dia-logs sich das spannende Neuland inklu-siver Prozesse erschliessen können, dasssie aber auch Wertschätzung für ihrebisher geleistete Arbeit erfahren.

Einige Institutionen versuchen be-reits, Inklusion zu leben. Wo stehendie Schweizer Institutionen heute inBezug auf dieses Paradigma?Als Vertreter der Institutionen ist dies

Friedemann Hesse (37)gilt in der Schweiz als Experte fürInklusionsprozesse und istinternational gut vernetzt. Dergebürtige Deutsche arbeitet bei derStiftung für SchwerbehinderteLuzern (SSBL) als Institutionsleiterdes Wohnheims Titlis. Bild | zvg

«Inklusion ist einpermanenter Lern- undVeränderungsprozess, dernicht aus ‹heiterem Himmelgeschieht›.»

«Wir stehen in Sacheninklusiver Prozesse noch amAnfang. Nun braucht esKommunikation, Vertrauenund Austausch.»

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Von der Exklusion zurVision der Inklusion:«Wir sollten respektvollmit den Menschenrech-ten umgehen undVielfalt eine Chancegeben», sagt FriedemannHesse. Bild | Wikipedia

und seine Implikationen für die Arbeit der Institutionen

gemeinsam auf den Weg machen»

die bekannte «Gretchenfrage», die ichmit dem Aufruf beantworten möchte:«Zusammen erreichen wir mehr.» Damitmeine ich, dass wir in der Schweiz in Sa-chen inklusiver Prozesse noch immer amAnfang stehen und es nun Kommunikati-on, Vertrauen und gegenseitigen Aus-tausch braucht, um weiterzukommen.Auch Verbände wie INSOS sind hier inhoher Verantwortung. Wichtig erscheintmir eine aktive, konstruktive Auseinan-dersetzung mit der Thematik, welcheauch praktische Empfehlungen zur Pro-zessplanung und für die Qualitätsent-wicklung hervorbringen sollte. Ohne Pro-zesse gibt es keine Veränderung.

Welches sind für die Institutionen diegrössten Herausforderungen?Vielfach gibt es die Befürchtung, etwasvon aussen übergestülpt zu bekommenoder den Halt der institutionalisiertenAbläufe zu verlieren. Eine weitere Her-ausforderung liegt darin, dass Inklusionals Lern- und Veränderungsprozess nieabgeschlossen ist und jede Veränderung

am Anfang auch strukturelle Unterstüt-zung sowie finanzielle Mittel braucht.

In der Öffentlichkeit ist der Begriff In-tegration für viele verständlich. Docher hat nur wenig mit Inklusion zu tun.Wie gelingt es, in einer Gesellschaftinklusives Denken anzustossen?Die Gesellschaft wird sich mehr mit demeigenen inklusiven Kulturverständnis imSinne der UN-Behindertenrechtskonven-tion auseinandersetzen müssen, um dieUmsetzung von Inklusion zu prüfen.Hierfür ist die Bereitschaft erforderlich,respektvoll gegenüber dem Anderen undsensibel mit dem neuen Thema umzuge-hen. Jeder Einzelne entscheidet mit, obdas Thema der Inklusion und die Umset-zung im Alltag eine Chance bekommt.Die Institutionen können hier als Dienst-leister in der Begleitung und Assistenzvon Menschen mit Behinderung Sicher-heit und Orientierung geben. Denn inden letzten Jahren konnte in den Insti-tutionen gemeinsam Wissen aufgebautwerden. | Interview: Barbara Lauber

Rolf Maegli ist kein Gegner der UN-Behin-dertenrechtskonvention. Im Gegenteil:«In der Stiftung für SchwerbehinderteLuzern orientieren wir uns stark an denWerten der Konvention, also an Autono-mie, Selbstbestimmung, Teilhabe undInklusion. Die Konvention beinhaltet denAuftrag, sich auch als Institution ständigzu verbessern», betont der SSBL-Direk-tor. Auch deswegen lasse die SSBL in Rat-hausen 90 Plätze bauen. Davon werdenallerdings nur 21 frisch geschaffen; dieübrigen 69 Plätze ersetzen bestehende,die den heutigen Ansprüchen nicht genü-gen. «In Rathausen können die Bedürf-nisse von Menschen mit schwerer Behin-derung und zunehmender Pflegebedürf-tigkeit sowie mit profundem auto- oderfremdaggressivem Verhalten optimal be-rücksichtigt werden», betont Rolf Maegli.

Für eine differenzierte Debatte«Mit dem Neubau setzen wir uns Kritikaus», sagt Maegli. «Kritiker werfen unsSeparation vor.» Aber die SSBL führe auchweiterhin in 15 Gemeinden Wohngrup-pen. Er wehrt sich deshalb gegen eine«radikale, fundamentalistische Auslegungvon Inklusion» und fordert eine «diffe-renzierte Debatte», die auf die besondereSituation der Betroffenen Rücksichtnimmt. «Wenn die Umsetzung einer Ideewichtiger wird als die konkrete Situationder Betroffenen, wird aus einer Idee eineIdeologie. Dann besteht die Gefahr, dassman individuelle Bedürfnisse übergeht.»Bei Menschen mit schwerer Behinderunggehe es darum, sie zu befähigen, selberEntscheidungen zu fällen, und im Lebens-alltag Auswahlmöglichkeiten zu schaffen.«Ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen inEinzelanalysen systematisch erfasst wer-den und unser oberster Massstab sein»,betont Maegli. Die SSBL sei diesbezüglichu.a. mit einem Modell individualisierterLeistungsplanung gut unterwegs. | blbwww.ssbl.ch

Inklusion | Schwere Behinderung

SSBL setzt aufWahlmöglichkeitenSSBL-Direktor Rolf Maegliplädiert für eine differenzier-te Debatte über Inklusion beiMenschen mit schwererBehinderung.

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Inklusion | Peter Ettlin über ein Wohnheim ohne Betten für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung

«Das Thüringer 24-Stunden-Ambulatorium

INFOS INSOS: Dirk Bennewitz vom Trä-gerwerk Soziale Dienste in Thüringen(D) sagt, Inklusion sei der Horizont,auf den sie zusteuerten. Wie nah istdas Thüringer Ambulatorium diesemHorizont in Ihren Augen?Peter Ettlin: Ich finde, sie kommen demHorizont sehr nah. Sie haben es ge-schafft, die Menschen mit psychischerBeeinträchtigung stärker ins «normale»Leben zu integrieren. Diese wohnen ineiner gewöhnlichen Mietwohnung, unddie Tagesstrukturangebote erfolgen au-sserhalb der Institution, zum Beispiel ineinem Gemeinschaftsgarten im Quartier.

Was ist für Sie das Herausragende amThüringer Ambulatorium?Es ist in meinen Augen sehr umfassendund differenziert umgesetzt. Bei allerRadikalität der Forderung, das Wohn-heim abzuschaffen, haben die Betrei-ber/innen immer wieder die Klientinnenund Klienten sowie deren Bedürfnisseins Zentrum gestellt. Man hat zwar dieBetten abgeschafft, aber erkannt: esbraucht ein Notbett für Krisensituatio-nen, aufsuchende Hilfe vor Ort, ein Zen-trum, Tagesstrukturen und eine enge

Vernetzung mit der Liegenschaftsver-waltung. Man hat das Gefühl, die Träger-schaft verstehe, welche UnterstützungMenschen mit einer psychischen Beein-trächtigung brauchen.

Vom Heim zum 24-Stunden-Ambula-torium: Diesen Weg ging das Träger-werk Soziale Dienste in Thüringen(D). Am INSOS-Kongress wurde diesesinklusive Modell (vgl. Box) vorge-stellt. PSAG-Geschäftsführer PeterEttlin hat aufmerksam zugehört undsagt, was ihn daran fasziniert.

Was brauchen sie denn?Es ist ganz wichtig, mit jedem Menschenzu schauen, in welchem Bereich er sichöffnen und nach aussen treten möchte,und wo Ängste sind und er Schutzräumeund Unterstützung braucht. Das kannwie in Thüringen ein Notbett im Ambu-latorium sein, wenn die zwischen-menschliche Situation in der WG vorü-bergehend allzu schwierig wird.

Wäre das Modell 1:1 in der Schweizumsetzbar?Ich würde davor warnen, irgendein Mo-dell 1:1 zu übertragen. In meinen Augengeht das Thüringer Modell einen Schrittweiter als unsere Modelle und ist deshalbals Vision wertvoll. Aber die Umsetzungdieser Vision muss überall anders sein,weil die räumlichen oder finanziellen Vo-raussetzungen oder die Situation der Kli-entinnen und Klienten verschieden sind.In der PSAG betreuen wir in der RegionBasel etwa 800 Menschen im Jahr, dasmacht es organisatorisch komplexer alsin Thüringen mit 20 betreuten Personen.

Inwiefern geht das Thüringer Modellweiter als Schweizer Institutionen?

Es ist stärker personenzentriert, weil esauf die bei uns wohlzementierte Tren-nung von Wohnen und Tagesstrukturverzichtet. In der Schweiz gibt die ge-

trennte Finanzierung von Wohnen, Ta-gesstruktur oder Arbeit oft auch das Or-ganigramm einer Institution vor. Wasein Klient gesamthaft braucht, drohtdabei unterzugehen. In Thüringen hin-gegen gliedert man das Organigrammnach den Klientinnen und Klienten,denn finanziell ist die Art der Betreuungnicht relevant. Die INSOS-Fachkommis-sion Psychische Beeinträchtigung, derich vorstehe, wird diesen Finanzierungs-ansatz sicher weiterverfolgen.

Das Personal war in Thüringen anfangsunzufrieden mit der De-Institutiona-lisierung. Für sie änderte sich der Ar-beitsort, das Team, das Selbstver-

«Bei aller Radikalität derForderung, das Wohnheimabzuschaffen, standen dieKlienten stets im Zentrum.»

Peter Ettlin ist Präsident derINSOS-Fachkommission PsychischeBeeinträchtigung und Geschäftsführerder Psychosozialen Arbeitsgemein-schaft PSAG in Basel. www.psag.chBild | zvg

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ächtigung

geht noch einen Schritt weiter»

De-Institutionalisierung in Thüringen

Mobil: Der Arbeitsplatzder Mitarbeitendenverlagerte sich inThüringen vom Heim indezentrale Wohnungen– wie das für dieWohnbegleiter der PSAGin Basel (im BildSozialpädagogeHans-Ruedi Herbener)ebenfalls der Fall ist.Bild | zvg

ständnis. Worauf muss man achten,um das Personal ins Boot zu holen?Als Leitungsperson braucht es die klareVision, wo man hin will, aber auch dieOffenheit, in der Praxis zu schauen, wasmöglich ist. Ich weiss aus eigener Erfah-rung: Wenn man stundenweise und inkleineren Teams bei den Klientinnen undKlienten zuhause arbeitet, kann derDruck und die Belastung für die einzel-nen Mitarbeitenden zunehmen.

Wie kann man dem begegnen?Es ist wichtig, die Unterstützung durchdas Team sicherzustellen. Man muss sichim Team austauschen können, sich amMöglichen orientieren und nicht anWunschvorstellungen, und auch einenguten Umgang erleben mit Misserfolgen,Rückschlägen, allfälligen Fehlern. ZuThüringen möchte ich noch anmerken,dass die Zufriedenheit des Personals mitder Zeit wieder deutlich gestiegen istund es offensichtlich geglückt ist, dasPersonal immer wieder mitzunehmenund zu motivieren.

Inklusion kann zu mehr Konfliktenmit der Umgebung führen. In Thürin-

gen verursachte eine Frau bei einemSelbstverbrennungsversuch Russschä-den im ganzen Wohnblock. Nachbarnmonierten, das hänge mit der psychi-schen Krankheit der Frau zusammen.Es ist ein Reflex, bei einem Unfall, einerStraftat oder einem Suizidversuch einerpsychisch kranken Person allein ihreKrankheit dafür verantwortlich zu ma-chen. Wichtig ist sicher eine gute undoffene Information der involvierten Per-sonen, um Verständnis zu schaffen. An-dererseits müssen die Wohnbegleiter/innen mögliche Gefahren im Blick habenund die Klientinnen und Klienten mitden gesellschaftlichen Grenzen ihresVerhaltens konfrontieren.

Der Impuls für das «Heim ohne Bet-ten» ging in Thüringen vom staatli-chen Geldgeber aus, der nur noch in-klusive Projekte unterstützte. Wäredas in der Schweiz wünschenswert?Ich erachte das als eine Möglichkeit. Sooder so ist INSOS als Branchenverbandsowie jede einzelne Institution aufge-fordert, aus eigenem Antrieb inklusivereWege zu gehen. Und das wird auch ge-macht. Die Entwicklung geht vom Heimzu Wohngruppen und zum ambulanten

Wohnen, auch die Tagesstruktur wirdvermehrt ausserhalb der Institution, ineinem «normalen» Rahmen angeboten.

Dirk Bennewitz sagt: «Wir verzichtenaufs Trockenschwimmen im Wohn-heim, um auf das Leben danach vorzu-bereiten.» Erachten Sie das in jedemFall als richtig?Ich finde es im Grundsatz richtig, so wiedas neue Paradigma in der Arbeit: Firstplace, then train. Vor jeder Aufnahme indie Wohnbegleitung braucht es aber

eine gute Abklärung der individuellenSituation. In einzelnen Fällen kann esbesser sein, dass jemand im Heim wohnt.In der PSAG hatten wir nie ein stationä-res Wohnangebot, aber wir stellen fest,dass bei Übergängen oder in Krisensitu-ationen stationäre Plätze sinnvoll wä-ren. Wir machen uns Gedanken, wie wirdiese schaffen können.| Interview: Barbara Spycher

«Es ist stärker personenzentriert,weil es auf die Trennung von Woh-nen und Tagesstruktur verzichtet.»

Als das Trägerwerk Soziale Dienste Thü-ringen 2005 beim Staat Fördergelderfür die Sanierung des Wohnheims bean-tragte, hiess es, in Zeiten der Inklusionunterstütze man nur noch «ein Heimohne Betten». Also schaffte das Träger-werk 2008 das Wohnheim für 20 psy-chisch beeinträchtigte Menschen ab.Diese zogen in Einzelwohnungen oderWGs in gewöhnlichen Miethäusern.Gleichzeitig wurde ein ambulantes psy-chosoziales Zentrum mit einer 24-Stun-den-Erreichbarkeit aufgebaut.Dieses beinhaltet einen offenen Treffmit fakultativem Frühstück und Mittag-essen, Arzt- und Therapiepraxen sowiezwei Notfallbetten. Letztere sind fürkurzfristige Entlassungen aus einerpsychiatrischen Klinik gedacht oder alstemporäre Entlastung bei Überforde-rung. Beschäftigungen werden in Ko-

operation mit externen Anbietern an-geboten, um Inklusion zu ermöglichen:Wer etwa Waldarbeiten mag, kann demForstamt unter die Arme greifen.Die Klientinnen und Klienten erhaltennach wie vor Unterstützung, doch diesewird neu in ihrer Wohnung erbracht.Folglich hat sich der Arbeitsplatz desBetreuungspersonals vom Heim in de-zentrale Wohnungen verlagert. Auchsonst änderte sich fürs Personal sehrviel (Zeitmanagement, beruflichesSelbstverständnis, Teamstruktur, Pla-nungshorizont). Zu Beginn war einDrittel der Mitarbeitenden unzufrieden– heute ist dem nicht mehr so. Für denGeldgeber wiederum haben sich dieKosten halbiert. | spywww.insos.ch > Veranstaltungen> Dokumentation > Kongress 2013www.twsd.ch

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Inklusion | In der Vereinigung Alchemilla Oberhofen (BE) haben die Menschen mit Behinderung das

«Jeder Mensch kann ein ‹Ja› oder ‹Nein› äussern

Die ungewöhnliche Geschichte der Verei-nigung Alchemilla beginnt 1983. Damalsbeschliesst eine Klasse der HeimschuleSt. Michael in Oberhofen (BE), gemein-sam mit ihrem Lehrer Urs Thimm einekleine, für alle überschaubare Wohn-,Arbeits- und Lebensgemeinschaft zugründen. Die fünf Schülerinnen undSchüler haben, so verschieden sie auchsind, zwei Dinge gemeinsam: eineschwierige, bewegte Vergangenheit undden Wunsch, nach der Sonderschule aneinem Ort leben und arbeiten zu können,an dem sie nicht funktionieren müssen,sondern mitbestimmen können – und sosein dürfen, wie sie sind.

An der Konferenz wird entschieden1987 zieht die Gemeinschaft aus derHeimschule aus und gründet in Thun dieWohngemeinschaft Alchemilla. Bereitsein Jahr zuvor hat sie in Oberhofen einePflanzenfärberei in Betrieb genommenund verkauft ihre Meterware mit Erfolg.Die Vereinigung wächst nur langsam:Heute gehören ihr zusätzlich die Woll-färberei und Filzwerkstatt Ariadne inSpiez, die WG Ariadne in Thun und derHof Rutschiweid in Kaltacker an.24 Menschen mit Beeinträchtigung (vgl.Seite 19) wohnen, leben und arbeitenheute in überschaubaren Gruppen vonacht Personen bei Alchemilla. Sie sindes, die das Steuer in der Hand haben –egal ob es um die Anstellung eines neuenMitarbeiters, um eine neue Mitbewohne-rin oder um die nächsten Ferien geht. DieFragen werden – wie in einer Demokratieüblich – vom Gesamtleiter, den Bereichs-leitenden und Mitarbeitenden so bear-beitet, dass die Bewohnerinnen und Be-wohner die Entscheide im Rahmen ihrerwöchentlichen Konferenzen gemeinsamfällen können. | Barbara Lauberwww.alchemilla.ch

In der Vereinigung Alchemillahaben 24 Menschen mit Behinde-rung das Steuer in der Hand undentscheiden etwa über die Anstel-lung neuer Mitarbeitender. Gesamt-leiter Urs Thimm wird gerne alsIdealist belächelt. Doch das Systemfunktioniert − seit 26 Jahren.

Urs Thimm (60) ist Mitbegründer und Gesamtleiterder Vereinigung Alchemilla mit Sitz in Oberhofen amThunersee. Bild | Barbara Lauber

«IN WELCHEN STRUKTUREN fühlt sichder Mensch wohl? Oder anders gefragt:Wie entwickelt man in einer Gemein-schaft Wohn- und Arbeitsstrukturen, indenen sich der einzelne Mensch verwirk-lichen kann? Wir kamen bei der Gründungvon Alchemilla zum Schluss: Es müssenStrukturen sein, die Beziehungen fördernund die vom Schwächsten einer Gemein-schaft noch überblickt werden können.Sonst fühlt sich der Mensch verloren. Zu-dem müssen die Strukturen es jedem Ein-zelnen erlauben, teilzuhaben, mitzube-stimmen und einzigartig zu sein. Denneine Gemeinschaft funktioniert nur dankunterschiedlichen Menschen mit unter-schiedlichen Fähigkeiten.

1983 SPRACH NOCH NIEMAND von In-klusion. Doch für die Heimschüler von St.Michael war klar: ‹Wir wollen keine Heim-eltern mehr! Wir wollen selber für unsentscheiden.› Also haben wir von An-fang an wöchentliche Konferenzendurchgeführt, an denen die gemeinsa-men Entscheide gefällt wurden – sogarder Menuplan wurde dort ausgehandelt.Das dauerte manchmal mehrere Stun-den. Nach zwei Jahren konnten wir

nicht mehr: Wir führten eine kleineKonferenz ein, welche – wie ein Ge-meinderat – die Traktanden vorbereitetund dann der grossen Konferenz vor-legt. Diese entscheidet dann – wie dieGemeindeversammlung auch.

MANCHMAL HÖRE ICH Leute aus derBranche sagen, so viel Selbstbestim-mung funktioniere nur in unseren klei-nen Strukturen. Ich höre daraus dieAngst der Institutionsleitenden, siekönnten Macht verlieren oder alles wer-de komplizierter. Doch das stimmtnicht, es wird nur anders. Natürlich istes eine Herausforderung herauszufin-den, was Menschen, die nicht über dieSprache kommunizieren, wollen. Dochjeder Mensch kann ein Ja oder Nein äu-ssern – wir müssen nur aufmerksam da-rauf achten. Meine Aufgabe ist es nicht,Entscheide zu fällen, sondern hinzuhö-ren, wachsam zu sein und Teil des Gan-zen zu bleiben. Die Gefahr, in Verwal-tungsarbeit abzugleiten, droht immerwieder. Um meine eigene Inklusion inder Gemeinschaft muss ich mich deshalbaktiv bemühen. | Aufgezeichnet vonBarbara Lauber

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das Sagen

äussern»

«Inklusion heisst nicht nur teilhaben,sondern auch einen Teil geben und Teileiner Gemeinschaft sein», sagt HubertHürlimann, Leiter des Lukashauses inGrabs (SG). Weil dies mitten im Dorf leich-ter gelingt als in der Institution, reduziertdas Lukashaus sukzessive seine Wohn-heimplätze und schafft im Herzen vonGrabs und der Region neuen Wohnraum.Heute leben 25 der 65 Bewohner in einerWG oder Einzelwohnung. «Unsere Visionist es, bis in zehn Jahren möglichst keineHeimplätze mehr zu haben und das Ge-bäude umzunutzen», sagt Hürlimann. Bisdahin gelte es, die Wohnungen wie dieHeiminfrastruktur parallel zu finanzieren.

«Unsere Präsenz im Dorf ist zentral»Hürlimann erzählt stolz, dass in Grabsniemand mehr von den «Lukashäuslern»spreche. «Heute werden die Bewohnerdes Lukashauses als Teil der Dorfgemein-schaft wahrgenommen», betont er. Siegehörten wie selbstverständlich dazu:Die Grabser treffen sie in der Beiz, beimEinkaufen, im Dorfverein oder beimGrümpelturnier. «Ihre Präsenz ist zent-ral», sagt Hürlimann. Auch die Mitarbei-tenden und er hätten die Aufgabe, so oftals möglich den Kontakt zur Bevölkerung,zu Vereinen, zum Gewerbe und zur Politikzu pflegen und über ihre Arbeit zu infor-mieren. «Nur so gelingt es, im Dorf einBewusstsein für Teilhabe und Inklusionzu schaffen. Davon profitieren alle.»Die Menschen mit Behinderung, betontHürlimann, müssten mittendrinn stehenund für die Bevölkerung sichtbar sein.Aus dieser Überzeugung heraus hat dasLukashaus den Bereich Beschäftigungkürzlich ins Industriegebiet in ein Fabrik-gebäude verlegt, das gleichzeitig voneiner Firma genutzt wird. «Hier kommenMenschen mit und ohne Behinderungganz selbstverständlich in Kontakt», sagtHubert Hürlimann. «Das ist gelebte Nor-malisierung.» | Barbara Lauberwww.lukashaus.ch

Inklusion| Weg vom Wohnheim

Leben mittenim Dorf Grabs

Das Lukashaus in Grabs (SG)reduziert seine Wohnheim-plätze schrittweise. Davonprofitiert das ganze Dorf.

Samuel Abbühl (30) arbeitet im Atelier Ariadne inSpiez und wohnt in einer WG in Thun, die wie dasAtelier zu Alchemilla gehört. Bild | Barbara Lauber

«ICH BIN FÄRBER, FILZER, SPRINGERund Wäscher. Seit 2000 arbeite ich imAtelier Ariadne in Spiez. Dort färben wirWolle und filzen Schnüre, Etuis, Bettfla-schenhüllen und vieles mehr. Am liebs-ten filze ich mit roter Wolle, weil ich dieFarbe so mag. Die Arbeit macht mir sehrFreude. Wir können unsere Sachen direktin unserem Laden in Spiez, über unserenInternetshop oder an Märkten und Mes-sen verkaufen.

VOR 13 JAHREN bin ich von meinen El-tern in die Wohngemeinschaft Ariadnein Thun gezügelt. Das Haus ist gross undschön. Es hat mir sofort gefallen. Unddie Leute in der WG sind sympathisch. Zumeinen Eltern habe ich nach der Besich-tigung gesagt: ‹Hier will ich einziehen.›Ich habe den Umzug nicht bereut, mirist es wohl hier. Jeder darf beim Zügelndie Farbe und die Einrichtung seinesZimmers selber bestimmen. Das finde ichgut. Ein paar Leute in der WG sind jetztmeine Freunde. Wir gehen zusammen inden Ausgang, an Konzerte, manchmalauch aufs Schiff. Diesen Sommer warenwir in Elba in den Ferien. Dort gingen wiroft alleine in die Beiz.

JEDEN MITTWOCHNACHMITTAG ist Kon-ferenz. Dann treffen sich alle WG-Be-wohner und Mitarbeier im Esszimmer.Die Konferenz ist etwas Wichtiges. Dortorganisieren und entscheiden wir alles.Zum Beispiel, wohin wir am Wochenendewollen. Einmal habe ich über eine Lampereden wollen, an der ich immer den Kopfanschlug. Sie hat mich gestört, ich woll-te sie nicht mehr. Zuerst waren einigedagegen, sie wegzunehmen. Doch dannhaben alle Ja gesagt. Jetzt haben wirdort eine neue, schöne Lampe.

AN DER KONFERENZ ENTSCHEIDEN wirauch, ob wir einen bestimmten neuenBetreuer oder Mitbewohner haben wol-len oder nicht. Die Betreuer kommenimmer einen Tag zu uns schnuppern. Solernen wir sie besser kennen. Undabends, nach dem Schnuppertag, kön-nen wir ihnen so viele Fragen stellen wiewir wollen. An der nächsten Konferenzkönnen dann alle ihre Meinung sagen.Ein Betreuer wird nur dann angestellt,wenn alle einverstanden sind. Sonst dis-kutieren wir nochmals darüber. Die Mei-nung jedes Einzelnen wird respektiert.»| Aufgezeichnet von Barbara Lauber

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Inklusion | In der TV-Sendung «Singularités» machen Betroffene Behinderung zum Thema

Menschen mit geistiger Behinderung machen F

Die Kameramänner und der Aufnahme-leiter stehen im Dunkeln. Nur die beidenModeratoren und der Studiogast sindhell ausgeleuchtet. Es ist so still, alskönnte man ein Streichholz fallen hö-ren, als einer der Moderatoren demBuchautor und Psychiater Nicolas deTonnac die Frage stellt: «Wie kann mansich als Mensch mit Behinderung selberannehmen?» Der grauhaarige Mann imrosa Hemd nimmt sich Zeit mit der Ant-wort. «Es gibt kein Rezept. Wir nehmenuns an, weil es um uns Menschen gibt,die uns darin unterstützen.»

Bis zu 40'000 ZuschauerNicolas de Tonnac, der kürzlich die Au-tobiografie «Chacun porte en soi uneforce insoupçonné» publiziert hat,spricht in der «Wir»-Form, denn seit ei-nem Unfall mit 13 Jahren sitzt er imRollstuhl. Und auch die beiden Modera-toren sprechen nicht über «die ande-ren», sondern haben selber eine Behin-derung. Diese hindert sie nicht daran,für eine monatliche Sendung im GenferLokalfernsehen «Léman Bleu» Inter-

views mit prominenten und anderenGästen zu führen. «Singularités» heisstdie halbstündige Sendung, welche dasThema Behinderung aus der Sicht vonBetroffenen aufgreift. «Nicht über siesprechen, sondern sie selber das Wortergreifen lassen», heisst die Devise vonJean-Christophe Pastor, Leiter vonEx&Co, der Videoausbildungs- und pro-duktionsfirma der Genfer Stiftung ClairBois, welche die Sendung produziert.

Wie können Menschen mit geisti-ger Behinderung technisch undintellektuell komplexe Arbeiten fürdie Produktion einer TV-Sendung,die höchsten Qualitätsansprüchengenügen muss, bewältigen? DieProduktionsfirma Ex&Co der Stif-tung Clair Bois in Genf macht's vor.

Das Resultat spricht für sich: 10'000 bis40'000 Menschen sehen sich die Sen-dung jeden Monat an. Das Interview,das heute Morgen aufgezeichnet wird,ist interessant und berührend, die Fra-gen sind klar und direkt, die Antwortenoffen und persönlich, die Atmosphäreist frei von Hektik. Vielleicht ist es auchdiese angenehm ruhige Atmosphäre, diedazu führt, dass sich der Gast öffnet undviel Persönliches preisgibt? Der Aufnah-meleiter Jean-Christophe Pastor, der oftsolche Feedbacks bekommt, sagt: «Ichdenke, dass es damit zusammenhängt,dass unsere Moderatoren keine Rollespielen. Und damit, dass wir alle uns an-ders verhalten, wenn wir einem Men-schen mit Behinderung gegenübersit-zen. Es kommt vor, dass etwa VIPs beiuns Dinge erzählen, die sie noch niezuvor gesagt haben.»

Es geht weiter. «Ça tourne!», heisst esim abgetrennten Regieraum. Im Gegen-satz zum Set geht es hier hektisch zuund her. «4 4», «3 3», «1 1», ertönen inkurzen Abständen die Befehle des Re-gisseurs. Damit weist er den Lernendenam Regiepult an, welche der vier Kame-raeinstellungen aufgezeichnet werdensoll. Es wechselt ständig.

Höchste Konzentration trotz HektikDie Bildschnitte der vier Kameras kannder Regisseur auf vier kleinen Bildschir-men überprüfen. Über das Headset er-teilt er den Kameramännern draussenAnweisungen: «Guillaume, du schnei-dest ihm den Kopf ab!» oder «Die Händedes Mannes, nur die Hände!». Heute istes einer der TV-Profis und Ausbildner,der als Regisseur den Überblick wahrenmuss. Aber manchmal ist es auch ein

Auf Sendung: Die beiden Moderatoren (rechts: AdrienZurflüh) im Gespräch mit dem Psychiater NicolasTonnac (links). Bild | zvg

«Es reicht, wenn jemand Ja oderNein sagen kann.»Jean-Christophe Pastor, Leiter Ex&Co

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Fernsehen für ganz Genf

Mitarbeiter mit Behinderung, welcherdiese Aufgabe, welche höchste Konzen-tration erfordert, übernimmt.Es ist nur eine von mehreren intellektu-ell und technisch komplexen Aufgabenim vielschichtigen Produktionsprozessder TV-Sendung «Singularités». Wie ist

es möglich, dass Menschen mit geistigeroder Mehrfachbehinderung diese Aufga-ben erfüllen können?Jean-Christophe Pastor verhehlt nicht,dass es zu Beginn ein Abenteuer war.Sie hätten manche Geräte technisch an-gepasst, damit Mitarbeitende mit kör-perlichen Einschränkungen sie bedienenkonnten. Es brauche auch eine andereVision der Arbeit, man müsse die Aufga-ben neu überdenken und aufteilen. Und:«Man darf nicht die Einschränkungenoder aktuellen Kompetenzen der Mitar-beitenden im Blick haben, sondern mussauf ihr Potenzial fokussieren.» Letztlichhätten sie festgestellt: «Eigentlichreicht es, wenn jemand Ja oder Nein sa-gen kann.»1992 hat die Stiftung Clair Bois mit ei-nem Videoworkshop für Menschen mit

Mehrfachbehinderung begonnen. Diesehätten schliesslich für einen internenTV-Kanal Beiträge produziert. Mit denJahren tauchte der Wunsch auf, den in-stitutionellen Rahmen zu verlassen undeiner grösseren Öffentlichkeit zu zei-gen, dass Menschen mit Behinderungunsere Gesellschaft mit ihrer Sichtweisebereichern. Clair Bois rief die Produkti-onsfirma Ex&Co ins Leben, welche ju-gendliche IV-Bezüger zu polyvalentenVideoassistenten auszubilden begann.Der Genfer Lokalsender «Léman Bleu»wurde angefragt – und war offen füreine Kooperation. So wurde 2005 dieerste Ausgabe von «Singularités» aus-gestrahlt.Die Sendung, deren Aufzeichnung indiesem Moment zu Ende geht, ist bereits

die 79.: Der erfolgreiche Dreh wird be-klatscht, die Kameramänner erhaltenvom Regisseur ein Sonderlob, und eheman sich's versieht, ist alles abgebautund die Mitarbeitenden sind in die Mit-tagspause entschwunden, bevor sie amNachmittag dann mit dem Schneidenbeginnen. Nur Adrien Zurflüh undFrédéric Kessler, zwei der Moderatoren,sind noch im Studio.

Moderatoren auf der Strasse erkanntAdrien Zurflüh ist noch ein bisschenaufgewühlt. «Es hat mich sehr berührt,als Nicolas de Tonnac gesagt hat, manmüsse sich selbst lieben. Ich bin nochnicht soweit, dass ich mich mit meinerBehinderung annehmen kann», sagt der29-Jährige, der eine geistige Behinde-rung mit autistischen Zügen hat. Dochzufrieden sei er schon, wie immer nacheiner gelungenen Sendung. Er wie auchFrédéric Kessler, der eine cerebrale Be-wegungsbehinderung hat, können aufeine jahrelange Moderationserfahrungzurückblicken. Zurzeit absolvieren sieeine Weiterbildung. In Genf sind siedurch ihre Sendung bekannt und werdenregelmässig auf der Strasse angespro-chen. Frédéric Kessler, der früher in ei-ner Werkstätte Kuverts geklebt hat, ge-niesst das, doch sein Ziel ist ein anderes:«Ich will erreichen, dass die Leute unsmit anderen Augen sehen.»| Barbara Spycherwww.lemanbleu.ch

Ex&Co Videoproduktion

Die Videoausbildungs- und Produktions-firma Ex&Co gehört zur Genfer StiftungClairbois. Bei Ex&Co arbeiten dreizehnMitarbeitende mit IV-Rente und vierTV-, Video- und Grafikspezialisten, wel-che fünf Jugendliche zu polyvalentenVideoassistenten ausbilden. Nebst derSendung «Singularités» fürs Genfer Lo-kalfernsehen produziert Ex&Co Doku-mentarfilme, Werbung, Filme über Insti-tutionen oder Aufzeichnungen vonVorträgen für externe Kunden. | spywww.clairbois.ch

Sie alle tragen zum Gelingen einer Sendung bei: Der Moderator Frédéric Kessler,ein Kameramann und ein Regieassistent. Bilder | Barbara Spycher

«Ich will erreichen, dass die Leuteuns mit anderen Augen sehen.»Moderator Frédéric Kessler

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Inklusion | Inklusive Berufsbildung

Sie schaffte mit Trisomie 21 die Attestausbildung

Am 5. Juli 2013 war ein grosser Tag fürdie 19-jährige Nicole Wicki und all die-jenigen, die sie auf dem Weg dorthin imHintergrund unterstützt hatten: Siekonnte ihr Attest als Hauswirtschafts-praktikerin EBA entgegennehmen. Damithatten ihre Eltern nicht gerechnet, alssie vor vielen Jahren den Wunsch äu-sserten, dass ihr Kind mit Down-Syn-drom den Regelkindergarten besucht.Doch es funktionierte gut, und so ver-suchten sie es mit der Einschulung in derRegelklasse, im Bewusstsein: «Wenn dieerste Woche gut über die Bühne geht, istschon mal gut.» Mit der Zeit begannensie in Jahren zu denken, und als es in derOberstufe um die Berufswahl ging, ab-solvierte Nicole Wicki Praktika in Insti-tutionen für Menschen mit Behinderung,aber auch in gewöhnlichen Lehrbetrie-ben. Man wollte für beide Wege offenbleiben. Es stellten sich viele Fragen,etwa: Darf man einer Jugendlichen mit

Down-Syndrom zutrauen, in der fordern-den freien Wirtschaft eine Ausbildung zumachen? Findet man einen Lehrbetrieb?Wie läuft es mit der Gewerbeschule?

Support via Telefon-HotlineDoch von Beginn weg stösst die Idee ei-ner inklusiven Berufsbildung für Nicolebei den Beteiligten auf eine grosse Be-reitschaft: Der Rektor des Gewerblich-in-dustriellen Berufsbildungszentrums Zugsieht darin eine Chance, zukunftsgerich-tete, inklusive Strukturen zu erarbeiten;das Roche Forum Buonas bietet Nicoleeine Lehrstelle an, und das Heilpädagogi-sche Zentrum Hagendorn, welches Nicole

Nicole Wicki hat Trisomie 21. Dashinderte sie nicht daran, diesenSommer die Ausbildung als Haus-wirtschaftspraktikerin EBA erfolg-reich abzuschliessen. Möglichgemacht wurde das durch offeneund lernbereite Lehrkräfte undBerufsbildner.

Wicki durch die Schulzeit begleitet hatte,stellt Projektgelder aus einem Spenden-fonds zur Verfügung (siehe Box).Nicole Wicki und ihre Eltern entschei-den: «Wir machen es!» Und so kann diejunge Frau nach den Sommerferien 2010im Roche Forum Buonas, dem internenWeiterbildungszentrum von Hoffmann-La-Roche am Zugersee, mit ihrer Lehreals Hauswirtschaftspraktikerin begin-nen. An ihren ersten Arbeitstag erinnertsie sich so: «Es war ein verrückter Tag.Ich hatte starkes Herzklopfen. Ich habedie Kollegin aus Versehen im Kühl-schrank eingesperrt.»Auch wenn sich Nicole Wicki schnell guteinfügt und dazulernt, so gibt es dochimmer wieder Situationen, in denen dieBerufsbildnerin Anja Berg, welche sichaus dem Bauch heraus auf diese Heraus-forderung eingelassen hatte, nicht mehrweiter weiss. «Wieso sitzt Nicole jetztweinend auf dem Boden?» «Was macheich, wenn sie die Arbeit verweigert?» Insolchen Situationen zögert die Berufs-bildnerin nicht lange und nutzt die Tele-fon-Hotline zu Ursula Scherrer – damalsGeschäftsleiterin des HeilpädagogischenZentrums –, um sich fachlichen Rat zuholen. Denn im Hintergrund wirkt unter

der Leitung von Ursula Scherrer ein Pro-jektteam aus Vertreterinnen und Vertre-tern des Heilpädagogischen Zentrums,der Gewerbeschule, des Lehrbetriebs unddes kantonalen Amtes für Berufsbildung.Sie alle teilen die Überzeugung: NicoleWicki wird den Lehrabschluss schaffen!Die Leitfragen, die sie an ihren Treffenbesprechen, lauten: «Inwiefern behin-dert die Umgebung Nicole beim Lernen?

«Inwiefern behindert die UmgebungNicole Wicki beim Lernen?» Das Projektteam im Hintergrund

Ein halbes Jahr vor Nicole Wickis Lehr-beginn formierte sich ein Projektteamaus Vertreterinnen und Vertretern desHeilpädagogischen Zentrums, der Ge-werbeschule, des Lehrbetriebs und deskantonalen Amtes für Berufsbildung.Ziel war, an allen Lernorten den not-wendigen Support zu bieten, damit dieLernende ihr Potenzial entfalten kann.Die Kosten wurden aus einem Fonds derStiftung Kinderheim Hagendorn und ei-nem Beitrag der IV gedeckt. Eine neuformierte Projektgruppe möchte weite-ren Jugendlichen mit einer geistigenBehinderung den Weg zu einer inklusi-ven Berufsbildung ebnen. | spy

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Nicole Wicki (Foto oben) strahlt nach bestandenerLehrabschlussprüfung als HauwirtschaftspraktikerinEBA. Ihre Ausbildung hat sie im Roche Forum Buonasgemacht (Foto links). Bilder | zvg

ttestausbildung in der freien Wirtschaft

Welchen Support brauchen die Lehrkräf-te und die Berufsbildnerin, um Nicoledie Lerninhalte zu vermitteln?»

Grössere Klasse mit zwei LehrkräftenAls sich herausstellt, dass Nicole Wickiin der Gewerbeschule von den Mitschü-lern ausgegrenzt und übers Ohr gehauenwird, entscheidet das Projektteam, fürsie eine Lehrzeitverlängerung zu bean-tragen, so dass sie das erste Jahr wieder-holen kann. Gleichzeitig wird die Klassefürs neue Schuljahr von 8 auf 14 Lernen-de vergrössert und kann somit durch-wegs von zwei Lehrpersonen unterrich-tet werden. Denn, so Scherrer: «Manweiss, dass grössere Klassen mit zweiLehrpersonen für einen inklusiven Un-terricht förderlich sind.»Von da an gehört Nicole Wicki in ihrerKlasse selbstverständlich dazu, und Ur-sula Scherrer meint rückblickend: «Ni-cole hat gelernt, wie sie sich in einersolchen Situation verhalten kann.» Dankder Unterstützung eines privaten Nach-hilfelehrers sind auch Nicole Wickisschulische Leistungen gut. Und soschafft sie, woran ihr Umfeld stets ge-glaubt hatte: Sie besteht den prakti-schen und den schulischen Teil der Lehr-

abschlussprüfung.«Einemega-Leistung»,weiss Anja Berg, die sich nachträglichversichert, dass man mit Nicole Wicki ge-nauso streng war wie mit den anderen.«Man hat sogar die strengsten Expertin-nen zu ihr geschickt, weil man sich denVorwurf der Bevorteilung nicht leistenkann.» Die einzige Abweichung war: Ni-cole Wicki durfte die schriftliche Prüfungmündlich ablegen – das ist auf Antragmöglich, beispielsweise auch für Legas-theniker.

Die Suche nach einer ArbeitsstelleNun folgt der nächste Übergang – dieSuche nach einer Arbeitsstelle – mit un-gewissem Ausgang. Bis Ende Jahr kannNicole Wicki noch beim Roche Forum Bu-onas arbeiten – wo sie 80 Prozent zueinem normalen Lohn angestellt ist –,danach muss sie anderswo eine Stellefinden. Sie wünscht sich, künftig mehrim Haushalt und weniger in der Küche zuarbeiten – «weil ich nicht zunehmenwill». Ihre Eltern wiederum sind offen,ob es für die Tochter im 1. Arbeitsmarkt

oder in einer Institution für Menschenmit Behinderung weitergeht. Bei der IVwird nun auch die Frage nach einer Ren-te geklärt. «Vielleicht wäre es für Nicoleauch mal schön, unter ihresgleichen zusein, und nicht immer diejenige, die haltdoch anders ist», sagt ihre Mutter, Chris-tine Wicki, nachdenklich.Eines aber hat Christine Wicki auch wei-terhin nicht vor: Sich selber oder ihreTochter unter Druck zu setzen. «AndereJugendliche gehen nach der Ausbildungmonatelang reisen. Wenn Nicole nicht so-fort eine Anschlusslösung findet, kann sieFerien machen oder mir im Haushalt hel-fen.» Das liesse sich gut mit Nicole Wickisprivaten Zukunftswünschen vereinbaren,denn sie möchte «häufiger ins Tennistrai-ning gehen». | Barbara Spycher

«Welchen Support brauchenLehrkräfte und die Berufs-bildnerin, um NicoleWicki die Lerninhalte zuvermitteln?»

Kurz notiert

INSOS Schweiz wehrt sich gegenden Spareifer einzelner KantoneINSOS Schweiz stellt in einer Medien-mitteilung besorgt fest, dass einzelneKantone – darunter der Kanton Bern– zunehmend versuchen, auf dem Rü-cken der Menschen mit Behinderungzu sparen. Damit schränken die Kanto-ne das Recht dieser Menschen auf Teil-habe und Selbstbestimmung schmerz-lich ein (vgl. auch Editorial). Diessteht für INSOS im Widerspruch zu denkantonalen Behindertenkonzepten,die der Bundesrat 2011 gutgeheissenhat. INSOS lässt nun u.a. abklären, obdie Kantone im Falle von Sparmass-nahmen ihr Behindertenkonzept, dasBehiG und das IFEG noch vollumfäng-lich einhalten können.www.insos.ch > Publikationen > Me-dienmitteilungen

Fall H.S.: Die Staatsanwaltschafterhebt Anklage in 33 FällenDie Staatsanwaltschaft hat gegen den57-jährigen Sozialtherapeuten H.S.Anklage erhoben. Der Mann soll wäh-rend 29 Jahren in verschiedenen Ins-titutionen an 124 Kindern und Pflege-befohlenen sexuelle Handlungenbegangen haben. Bedingt durch dieVerjährungsfrist können nur 33 Fällestrafrechtlich verfolgt werden. Dieverbandsübergreifende ArbeitsgruppePrävention, der auch INSOS Schweizangehört, hält in ihrer Medienmittei-lung fest: «Nulltoleranz und Hin-schauen sind ein Muss.» Und weiter:«Prävention ist eine Daueraufgabe,die nicht nur die Institutionen, son-dern die ganze Gesellschaft wie auchdie Politik fordert.»www.charta-praevention.ch

Website und «Alle Downloads»laden ein zum SurfenMit der neuen Website von INSOSSchweiz wurde nicht nur der Webauftrittattraktiver gestaltet, sondern auch derNavigationspunkt «Alle Downloads» neugeschaffen. Hier sind sämtliche Doku-mente zu finden, die INSOS Schweiz fürseine Verbandsmitglieder erarbeitet undauf dem Web aufgeschaltet hat. Herum-surfen lohnt sich.www.insos.ch > Publikationen > AlleDownloads

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Inklusion | Umfrage am INSOS-Kongress 2013 zum Thema «Teilhabe und Inklusion»

Und was bedeutet Inklusion für Sie?

Inklusion bedeutet: Lebensräume zu schaf-fen, so nah wie möglich an den Bedürfnissenund den Projekten der Menschen und in Ver-bindung mit der sozialen Umgebung. Eskann sich um Orte handeln, die All-Inclusive-Dienstleistungen anbieten wieein Heim, oder um Angebote «à la carte» fürPersonen, die alleine wohnen – ohne dabeiangepasste Arbeitsplätze zu vergessen,die Kontakt zur Öffentlichkeit bieten.Christiane Gaud,Association Thaïs – La Maison des Champs, Bernex (GE)

Ziel unserer Stiftung ist die Integrationim Wohn- und Arbeitsbereich.Inklusion bedeutet für unsere Jungsselbständiges, selbstbestimmtes Lebenin der eigenen Wohnung, am Arbeits-platz und in der Freizeit, Übernahmevon Selbstverantwortung sowie eingegenseitiges Geben und Nehmenzwischen allen Bevölkerungsschichten.Susanne Niederhauser,Stiftung Freier Leben, Thierachern (BE)

Ist das Risiko so gross, wie in sozialen

Institutionen getan wird? Kann man denn

wirklich scheitern? Ich kenne keine

Behinderteninstitution, die wegen

Inklusionsbewegungen bankrott ging.

Dr. Johannes Schädler,

Zentrum für Planung undEvaluation Sozia

ler Dienste (ZPE),

Universität Siegen (D)

Für mich ist Inklusion wie die Suchenach dem Glück: Wenn du es suchst,findest du es nicht.Deshalb geht’s bei uns um Teilhabe.Inklusion geschieht dabei jeweils«aus Versehen».Thomas Weber,Imbodehuus, St. Gallen

Wir müssen unsere Sicht-weise ändern: Es gibt keinestarken und schwachenMenschen, keine richtigenund falschen. Es gibt ein-fach eine Menschenheit.Prof. Charles Gardou,Universität Lumière, Lyon (F)

Jeder einzelne Mensch gehört zur

Menschheit, ja, er bildet erst mit den

anderen zusammen diese Mensch-

heit.Prof. Dr. paed. Andreas Fröhlich,

Kaiserslaute

rn (D)

Mit der UN-Behindertenrechts-

konvention werden Menschen mit

Behinderung von einem Objekt,

das die Gesellschaft belastet und von

ihr unterstützt werden muss, zu einem

Subjekt mit Rechten und einer Wahl-

freiheit.Pierre Margot-Cattin,

Fachhochschule

für soziale Arbei

t (HES-SO/Wallis

) und

Präsident Schwe

izer Gleichstellu

ngsrat

Inklusion ist in der Cité Radi-euse ein tägliches Abenteuer,um jedem Bewohner oder jederKlientin zu erlauben, einfachzu SEIN – statt zu machen, zusagen, zu fragen, zu versuchen,zu motivieren, zu überzeugen,zu integrieren... Utopie oderDogma? Eine spannendeHerausforderung!Nicolas Gremaud,Cité Radieuse, Echichens (VD)

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Nach intensiver, zweijähriger Parlamentsarbeitist die IV-Revision 6b in der Sommersession durcheine unheilige politische Allianz fast auf der Zielli-nie versenkt worden. Die Rückkehr zum Status Quoist für niemanden eine wirklich gute Lösung. DieGründe, warum diese bedeutende Vorlage auf dieseunwürdige Art und Weise gescheitert ist, sind viel-fältig und verdeutlichen gleich mehrere Problem-kreise.

Zum einen hätten die Befürworter früher erkennenmüssen, dass es sich bei einer Revision der Invali-denversicherung nie allein um eine finanzpolitischeMassnahme handelt. Denn werden – wie dies vomBundesrat und von vielen Politikerinnen und Poli-tikern recht undifferenziert gefordert wurde – mitdem Sanierungsargument Rentenkürzungen einge-leitet, so müssen auch sozialpolitische Überlegun-gen mit einbezogen werden, etwa die unsinnigeVerlagerung der Kosten auf andere Sozialsysteme.Diese innere Verkettung zu ignorieren, erwies sichals ebenso fatal, wie die fehlende Bereitschaft, dienachhaltige finanzielle Sicherung der Invalidenver-sicherung genauer zu beleuchten.

Die Fronten verhärteten sich im Verlauf der De-batte offenkundig. Die Einführung eines linearenRentensystems wäre ein wichtiger Schritt gewesen,um positive Anreize für die Integration von Men-schen mit Behinderung in die Arbeitswelt zu schaf-fen. Eine Verschärfung der Situation für stärkerbehinderte Menschen hingegen wäre eine absolutverantwortungslose Entscheidung gewesen. Kleins-te Jobpensen sind für Menschen mit einem schwe-reren Handicap auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhan-den – das ist einfach die Realität.

Man fand sich in der parlamentarischen Diskussionaber auch in der Frage der Schuldenbremse nicht.Ein Interventionsmechanismus mit einer Opfersym-metrie hätte durchaus Sinn gemacht. Er wäre selbstvon den Behindertenorganisationen akzeptiertworden. Spätestens bei diesem Punkt ist einembeim genaueren Analysieren der fadenscheinigen

Aus dem Bundeshaus | IV-Revision

Die Invalidenversicherung istnoch längst nicht gerettet

Begründungen für das vorzeitige Begräbnis der IV-Revision bewusst geworden, wie sehr bereits dasVorgeplänkel für die in Aussicht stehende AHV-Re-vision läuft.

Die IV gedankenlos abstürzen zu lassen, ist auchein bedenkliches politisches Signal an die Bevölke-rung. Das Parlament hat die Aufgabe, sich für poli-tisch tragfähige Konzepte einzusetzen. Dazubraucht es kreative und konstruktive Kräfte, diebereit sind, ethische Verantwortung zu tragen.

Was ist nun die Folge dieses unüberlegten Spielsmit dem Feuer? Die IV ist ja noch längst nicht ge-rettet, obschon die vom Bundesamt für Sozialversi-cherungen vorgelegten Zahlen optimistische Aus-sichten vermuten lassen. Doch allein das PrinzipHoffnung genügt nicht; das muss allen bewusstsein.

Neue politische Vorstösse, die in den letzten Wo-chen und Monaten eingereicht wurden, erweckenden Eindruck, dass zuletzt bloss Ruhe vor demnächsten Sturm herrschte. Der politische Druck,überall partout sparen zu müssen, ist ja schonlängst als Flächenbrand spürbar – gerade auch beiInstitutionen für Menschen mit Behinderung. DieForderung, jene Punkte bald umzusetzen, die in derzurückliegenden Revisionsdebatte unbestritten wa-ren, erachte ich als durchaus sinnvoll. Kein Ver-ständnis hätte ich für Vorschläge, die nur unsinnigeKostenverlagerungen im Sozialbereich bewirken.

Zweifellos gilt es im Zusammenhang mit der IV ei-niges zu hinterfragen. Wird dieses grosse Sozialwerkin der jetzigen Form seinem ursprünglichen Einglie-derungsauftrag gerecht? Sind die Aufgaben, die derIV aktuell übertragen sind, die richtigen? Ist eineFinanzierung unter den gegebenen Voraussetzungenüberhaupt noch möglich? Dies sind nur drei Aspekte,die man näher beleuchten müsste. Vom Bundesratwünsche ich mir, dass er zumindest in ersten Ansät-zen eine kohärente Behindertenpolitik mit Entwick-lungsperspektiven definiert. | Christian Lohr

CVP-Nationalrat (TG)Christian Lohr wurdemit einer Contergan-Behinderung geborenund setzt sich für dieAnliegen von Menschenmit Handicap ein.

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FABE-Förderpreis 2013| Mirjam Helg-Santschi (Brühlgut Stiftung) über ihr Siegerprojekt «Yoga für

«Hier gibt es keine Verlierer und Gewinner

INFOS INSOS: Die Förderpreis-Jury hatIhre Arbeit «Yoga für Menschen mitBeeinträchtigung – Hatha Yoga inleichter Sprache» als «echte Innovati-on» gelobt. Woher kommt es, dassYoga bislang Menschen mit Behinde-rung nicht erreicht hat?Mirjam Helg-Santschi: Das ist mir auchunerklärlich. Es gibt zwar heute sicher-lich schon Leute, die Yoga für Menschenmit Behinderung im kleinen Rahmen an-bieten. Doch es ist sehr erstaunlich,dass Yoga nicht eine viel grössere Be-

deutung hat. Zumal es ganzheitlichwirkt und das heutige Verständnis vonBetreuungs- und Begleitungsarbeit wi-derspiegelt. Vielleicht trauen einzelneLeute den Menschen mit BehinderungYoga auch nicht ganz zu. Oder sie sindselber unsicher, was Yoga genau ist.

Und was ist Yoga genau?Für mich ist Yoga eine Lebenseinstel-lung. Man lernt etwa, offen und liebevollauf sich und andere zuzugehen, Vertrau-en in sich und andere Menschen zu ha-ben, und man lernt seinen Körper, Geistund seine Emotionen besser kennen.Dies wird im Hatha Yoga durch Meditati-on, Asanas (Körperstellungen) und Pra-nayama (Atemtechnik) erreicht.

Wie kamen Sie selber als Fachfrau Be-treuung auf die Idee, in der Brühlgut-Stiftung einen Yoga-Kurs anzubieten?Für mich war das naheliegend. Ich prak-tiziere schon lange Yoga. Als ich be-

Mit ihrer Arbeit «Yoga für Menschenmit Beeinträchtigung» hat MirjamHelg-Santschi den FABE-Förderpreis2013 gewonnen. Ihre Vision sind«inklusive» Yoga-Kurse, die allenoffen stehen und in denen «keinernach Behinderung fragt».

«Den Teilnehmenden ist es wohlin den Stunden. Hier gibt es keineFörderziele, keine Erwartungen,kein ‹besser› oder ‹schlechter›.»

FABE-Förderpreis

Jedes Jahr zeichnen INSOS Schweiz,Agogis und der Berufsverband Fach-person Betreuung mit dem FABE-För-derpreis innovative Projekte aus, wel-che die Autonomie, Selbstbestimmungund Integration von Menschen mitBeeinträchtigung fördern. Dieses Jahrgewann Mirjam Helg-Santschi (Brühl-gut Stiftung). Die 28-Jährige lässt sichderzeit nebenberuflich zur Yoga-Leh-rerin ausbilden. Mehr zum Preis unter:www.insos.ch > Themen > FABE-Förderpreis

schloss, mich zur Yoga-Lehrerin ausbil-den zu lassen, war für mich auch klar,dass Yoga zu einem Teil meines Alltagswerden soll. Denn meine Arbeit als Fach-person Betreuung hat mit Yoga vielesgemeinsam: Bei beidem steht der ganzeMensch mit all seinen Bedürfnissen undRessourcen im Mittelpunkt. Und es gehtbei beidem darum, den Menschen bis zurvollkommenen Selbstbestimmung zu be-gleiten. Mich hat es deshalb sehr ge-freut, dass meine Vorgesetzte meineIdee sofort gutgeheissen hat.

Sie hatten mit Ihrem Yoga-Kurs vonAnfang an Erfolg: Den ersten Kurs ha-ben sechs Personen mit Beeinträchti-gung besucht, den zweiten bereits elf.Haben Sie mit Ihrem Angebot offeneTüren eingerannt?Die Teilnehmenden wussten wahrschein-lich anfänglich nicht, was sie in einerYoga-Stunde erwartet. (lacht) Sie habenwohl einfach aus Neugier und aus Sym-pathie zu mir die erste Stunde besucht.Doch das Schöne ist: Sie sind wiederge-kommen, jede Woche.

Was unterscheidet Ihre Yoga-Stundevon einem ähnlichen Angebot fürMenschen ohne Beeinträchtigung?Menschen mit einer kognitiven Beein-trächtigung brauchen in der Regel etwaslänger, um bestimmte Abläufe zu verste-hen. Doch in den Yoga-Stunden war diesüberraschenderweise nicht der Fall! DieTeilnehmenden haben von Anfang an in-tuitiv verstanden, was sie tun sollen; esherrschte sehr schnell eine grosse Kon-zentration und Ruhe.

Wie erklären Sie sich das?Yoga ist am Körper ganz unmittelbar er-fahrbar und sehr konkret. Indem sich dieTeilnehmenden auf ihren Körper und ihreEmotionen konzentrieren, wird es ihnenmöglich, sich mit sich selber auseinan-derzusetzen. Somit stehen sie ihren ei-genen Begrenzungen und Hindernissenanders gegenüber als sonst. Dies hilft,Blockaden zu lösen. Sie finden Abstandund können einer bestimmten Aufgabegelöst und entspannt begegnen - ohneErwartungsdruck, ohne Verlierer und Ge-winner. Im Yoga sind deshalb wirklich

alle Menschen gleich! Wichtig für Men-schen mit Beeinträchtigung ist jedoch,dass ich ausführlich und möglichst an-schaulich anleite. Dafür ist oft auch Hu-mor und vor allem Phantasie notwendig.

Wie erleben Sie die Teilnehmendenmit Beeinträchtigung während derYoga-Stunde?Sie werden ruhig, sind konzentriert, aberdoch gelöst. Ihnen ist es wohl beimYoga: Hier gibt es keine Förderziele, kei-ne Erwartungen, kein «besser» oder«schlechter». Das entspannt.

In welcher Hinsicht profitieren dieTeilnehmenden von den Yoga-Stun-den?Mit Yoga verändert sich einiges undkommt vieles in Gang. Oft höre ich, dassdie Teilnehmenden besser schlafen kön-nen und sich im Alltag ruhiger und ent-spannter fühlen.

Würden Sie jeder Institution empfeh-len, Yoga ins Angebot aufzunehmen?Auf jeden Fall! Yoga ist unser Ursprung.Es sollte deshalb neben den heute übli-chen Therapieformen ebenfalls angebo-ten werden. Allerdings ist wichtig, dasseine qualifizierte Yoga-Lehrerin mit denMenschen mit Beeinträchtigung arbei-tet. Unter www.swissyoga.ch sind aner-kannte Yoga-Lehrer in der Schweiz auf-gelistet.

Noch ist Ihr Yoga-Kurs exklusiv resp.nur für Menschen mit Beeinträchti-

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gung. Im Hinblick auf Normalisierungund Inklusion wäre es aber wün-schenswert, wenn Menschen mit undMenschen ohne Beeinträchtigung ge-meinsam üben würden. Haben Sie Plä-ne in diese Richtung?In der Brühlgut Stiftung gibt einen Kursfür Menschen mit Beeinträchtigung so-wie separat einen für die Betreuenden.Das hat seinen Grund: Würden alle den-selben Kurs besuchen, blieben die Be-treuenden in ihrer Betreuerrolle, und dieMenschen mit Beeinträchtigung würdensich «betreut» fühlen. Aber meine Visi-

Menschen mit Beeinträchtigung»

− alle Menschen sind gleich»

on ist es, ausserhalb der Stiftung Kurseanbieten zu können, in denen nichtnach Beeinträchtigung gefragt wird unddie allen offen stehen. Das wäre im Yogasehr gut möglich, denn in den Stundenlernen die Teilnehmenden eben gerade,sich und anderen mit Achtung zu begeg-nen. Im Yoga sind sie auf sich selberkonzentriert – dabei verschwindet dasVerlangen nach sozialem Vergleich.| Interview: Barbara Lauber

www.bruehlgut.chwww.hathayogahelg.ch

Ihre Vision sind inklusive Yoga-Kurse: MirjamHelg-Santschi, Gewinnerin des FABE-Förderpreises2013, leitet eine Kursteilnehmerin an. Bild | zvg

In eigener Sache

«Ich jage nie zwei Hasen auf einmal»,lautete das Erfolgsrezept von Fürst Ottovon Bismark. Und dem preussischen Ge-neralfeldmarschall von Moltke wird fol-gender Leitsatz zugeschrieben: «Vier Gdürfen einem Feldherrn nicht fehlen:Geld, Geduld, Genie und Glück.» Die bei-den Männer waren erfolgreiche Militär-strategen. Der Begriff «Strategie» fanderst Ende der 1950er Jahre auch Eingangin die Führungsetagen der Geschäfts-und Wirtschaftswelt. Militär- und Ge-schäftsstrategien ähneln sich deshalb inKonzepten und Prinzipien.Zur Durchsetzung der Visionen, Leitbilderund Ziele von INSOS Schweiz benötigenwir Strategien. Sie dienen der Erreichungziel- und zweckgerichteten Arbeitens, derOptimierung einer effektiven, effizientenRessourcenverteilung und der Koordina-tion einzelner Entscheidungsströme.Noch vor nicht allzu langer Zeit jagten wirim Zentralvorstand mindestens zwei Ha-sen: Zum einen suchten wir nach der zeit-gemässen, schlanken Verbandsstrukturund standen gleichzeitig in der schwieri-gen Fusionsverhandlung mit unseremPartnerverband. Nachdem die Fusion nunder Klärung eines Allianzmodells gewichenist und die Delegiertenversammlung dieneue Strategie gutgeheissen hat, kannsich der Vorstand auf die Strukturreformdes Verbandes konzentrieren.Dafür bin ich zutiefst dankbar. Mit Elanhaben wir nun mit dem Experten PeterMascadri einen Strukturvorschlag erarbei-tet und ihn zu Handen der Regions- undKommissionsgremien verabschiedet. IN-SOS packt damit die Chance, das Zusam-menspiel von Verbandsstruktur, Gremien,Arbeitsbereichen, Institutionen und Ab-läufen zu optimieren. Mit Geduld, Genie,den nötigen Finanzen und einem Quänt-chen Glück wird es gelingen.

Herzlich,Marianne StreiffPräsidentin INSOS Schweiz

INFOS INSOS | Dezember 2013

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Behinderung und Demenz | Fachtagung

Wichtig ist eine frühe Abklärung

Ein dementer Mann steht oben auf demBerg, im Skianzug, die Skier ange-schnallt. Der Weg dorthin war für alleBeteiligten anstrengend und mühsam,doch als er losfährt, zeigt sich: Sein Kör-per hat die Bewegungsabläufe nicht ver-gessen. Als er anhält, fragt ihn seineBegleiterin: «Wie geht es dir im Mo-ment?» «Ich bin topfit, aber im Kopf istes hohl.» «Wie spürst du dieses «Hohl-im-Kopf»?» «Es tut nicht weh, es ist vorallem mühsam für die anderen.»

Frühere und häufigere ErkrankungenDiese Episode erzählte Andrea Mühlegg-Weibel vom Sonnweid-Campus, einemKompetenzzentrum für Demenz, um zuillustrieren: Was diesen Mann im Laufeseiner Demenzerkrankung in Krisen ge-stürzt hat, waren vor allem die Reaktio-nen und Korrekturen des Umfelds. Umdiesen Stress zu verringern und die Le-bensqualität zu erhöhen, sind eine früh-zeitige Erkennung und eine angepassteBetreuung wichtig: Darin waren sich die

Referentinnen und Referenten – darunteretwa ein Ethiker, eine Ärztin oder einPflegeheim-Direktor – an der FachtagungBehinderung und Demenz vom 18. Sep-tember 2013 in Olten einig. Der interdis-ziplinäre Anlass war von INSOS Schweizzusammen mit der Alzheimer-Vereini-gung, Procap, Pro Infirmis, Curaviva undinsieme organisiert worden.Doch wie diagnostiziert man Demenz beiMenschen mit Behinderung? Und inwie-

Menschen mit geistiger Behinde-rung erkranken früher undhäufiger an Demenz als die Durch-schnittsbevölkerung. Es brauchteine frühzeitige Diagnose und eineangepasste Betreuung, wie eineinterdisziplinäre Fachtagung deut-lich machte. Alle sind gefordert.

fern unterscheidet sich eine Demenz beiMenschen mit und ohne Behinderung?Die Antworten darauf sind gar nicht soeinfach, denn Demenz im Zusammen-hang mit Behinderung steht noch nichtlange im Fokus der Forscherinnen undForscher. Klar ist, dass Demenzen beiMenschen mit geistiger Behinderungfrüher und häufiger auftreten, und dassdie Diagnose komplexer ist. Denn dieje-nigen Kompetenzen, welche bei De-menzkranken abnehmen und als Indika-tor gelten, sind bei Menschen mitgeistiger Behinderung oft bereits durchdie Behinderung beeinträchtigt.

Jeder Mensch ist seine eigene NormErfahrungen mit solchen Demenz-Diag-nosen hat Maryll Fournet, welche in derWaadtländer Institution Lavigny neuro-psychologische Tests bei Menschen mitgeistiger Behinderung durchführt. Fürdiese Personengruppe seien die Stan-dard-Tests nur bedingt geeignet. Zudemfehle eine Norm, mit der man die Resul-tate vergleichen könne. «Daher verglei-chen wir jeden Menschen mit Behinde-rung mit sich selber – er selber ist dieNorm.» Entscheidend sei nicht, ob je-mandem zum Beispiel Worte «nicht»einfallen, sondern ob ihm die Worte«nicht mehr» einfallen. Viel wichtigerals bei Menschen ohne Behinderung seidaher eine systematische, schriftlichfestgehaltene Beobachtung des Verhal-tens durch das Betreuungspersonal.«Holen Sie sich bei uns Neuropsycholo-ginnen Unterstützung», appelliert Four-net an die Institutionen, und auch diePsychiaterin Gabriela Stoppe empfiehltfür diese Personengruppe regelmässigeScreenings bereits ab 35 Jahren.

Andere Anforderungen ans PersonalDie Wichtigkeit einer systematischenBeobachtung und einer frühzeitigen Di-agnose unterstreicht auch die deutscheDiplom-Gerontologin Sinikka Gusset-Bährer. Erste Studien hätten gezeigt,dass Menschen mit geistiger Behinde-rung, die an Demenz erkranken, die Ein-bussen ihrer Leistungsfähigkeit durch-aus wahrnehmen und Strategienentwickeln, wie etwa das Leugnen oderVerniedlichen ihrer Probleme. Es sei

«Entscheidend für die Diagnose istnicht, ob jemandem Worte 'nicht'einfallen, sondern ob ihm die Worte'nicht mehr' einfallen.»Maryll Fournet, Psychologin in Lavigny

wichtig, diesen Menschen Erfolgserleb-nisse zu verschaffen, um ihr Selbstver-trauen zu stärken. Auch beim Personalkann die Krankheit Demenz Stress her-vorrufen. Mögliche Massnahmen könn-ten sein: Kürzere Schichten, geteilteVerantwortung, eine Nachtwache, Su-pervision sowie Schulungen.Erforderlich ist auch ein Paradigmen-wechsel in der Betreuungsarbeit: «VomTun ins Sein kommen», wie es GerlindePotz vom Werkheim Uster formuliert.Oder, um es in den Worten von RenateMüller zu sagen, welche in der Brühlgut-

Stiftung eine Demenzwohngruppe mitaufgebaut hat: «Es geht nicht mehr umdie agogische, kognitive Förderung,sondern um die Aufrechterhaltung derRessourcen – das stellt andere Anforde-rungen an die Mitarbeitenden.»

Räumliche Umgebung anpassenAuch baulich hat die Brühlgut-StiftungVeränderungen vorgenommen: So wur-den etwa Spiegel entfernt, da sie verwir-ren können, der Essbereich wurde orangegestrichen, weil das appetitanregendwirkt. Inspirationen holten sich die Ver-antwortlichen in der Sonnweid, welcheseit 25 Jahren Erfahrungen sammelt imUmgang mit Menschen mit Demenz. So,wie die Sonnweid ihrerseits vor 25 Jah-ren von Institutionen für Menschen mitBehinderung lernte, «weil es dort üblichwar, dass man gemeinsam mit den Be-treuten etwas gestaltet», wie AndreaMühlegg-Weibel beobachtet hatte.Und dieser Austausch und diese Zusam-menarbeit muss sich intensivieren beider Herausforderung Behinderung undDemenz – das bekräftigten die Referen-tinnen und Organisatoren der Tagung.| Barbara SpycherDie Referate der Tagung finden Sie unter:

www.insos.ch > Veranstaltungen > Do-kumentation > Behinderung & Demenz

«Es geht nicht mehr um dieagogische Förderung,sondern um die Aufrecht-erhaltung der Ressourcen.»Renate Müller, Brühlgut-Stiftung

INFOS INSOS | Dezember 2013

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Ich kann mit meiner Behinderung gut leben. Dashabe ich als sinnvolles Schicksal anerkannt. Aberich bin auf Menschen angewiesen, die mich unter-stützen und begleiten. Ich kann dann das meisteim Alltag selber. Dabei zählt für mich in erster Liniedas «Wie» und weniger das «Was» der Unterstüt-zung. Ich kann mit dem gut gemeinten Fürsorge-Denken, -Fühlen und -Handeln gar nichts anfangen.Für mich entspringt das dem Nicht-Ernstnehmenund ist oft übergriffig. Ich kann mit Assistentenbeim Zahnarzt gut leben, aber nicht bei mir selbst.

Also, was brauche ich? Und vielleicht auch ihr?Menschliche Beziehung. Damit meine ich: Interessean mir als menschliche Individualität. Nicht nur anmeiner Behinderung. Professionalität in allen Eh-ren, aber das reicht nicht, selbst mit staatlich an-erkanntem Diplom nicht. Ich setze voraus, dass ihrwas könnt. Aber ich brauche vor allem ein Gegen-über.

Ein Gegenüber, das bereit ist, sich einzulassenauf mich, das bereit ist, verbindlich und verlässlichzu sein. Das mich immer wieder als Mensch an-spricht und mich nicht bloss als Autistin fachge-recht behandelt. Das bereit ist, mit mir ein StückLebensweg zu teilen und zu gehen. Das von sichselber weiss, dass auch ein Sozialpädagoge nichtalles weiss und wissen kann. Das zu seiner eigenenEntwicklung und zu den damit verbundenen Schwie-rigkeiten steht.

Mir etwas vorzumachen führt unweigerlich zu Ir-ritationen. Ich brauche und wünsche mir Mitmen-schen, die den Mut haben, sich auf ihr Gegenüberauf respektvolle und wertschätzende Art, auf Au-genhöhe, einzulassen. Ich sehe nicht ein, warummit uns behinderten Menschen nicht gesprochenwird, wie ihr das für euch selbst verlangt. Nur weilwir oft nicht gleich euren Vorstellungen gemässantworten und reagieren können, heisst das nochlange nicht, dass wir dumm sind. Und auch nicht,dass wir nicht sehr wohl verstehen. Aber wenn ihruns nichts zutraut und auch zumutet, so bleiben

Kolumne | Nelli Riesen

Ihr müsst begreifen, dass vorallem ihr inklusiv werden müsst

wir separiert und ausgegrenzt. Da hilft keine Feierund keine Therapie, auch kein gesundes Essen, usw.

«Wollen hätt’ ich schon mögen, aber dürfen hab’ich mich nicht getraut.» Diese Aussage des deut-schen Komikers, Liedermachers und Autors Karl Va-lentin ist sehr treffend. Aus meiner Sicht aber füruns alle. Da spielt die Behinderung wirklich keineRolle. Ihr dürft euch getrauen. Wir warten darauf.Selbstbestimmung und Autonomie muss über langeZeit geübt und gepflegt werden. Die Zeit hattet undhabt ihr. Jetzt lasst uns bitte teilhaben an der Zu-kunft. Wir brauchen uns gegenseitig, sonst kannniemals Inklusion entstehen.

Und Inklusion ist ja so etwas Schwieriges. Diekönnt ihr uns lange zusprechen. Damit ist abernoch keine neue Kultur lebendig geworden. Ihrkönnt uns nur helfen, wenn ihr begreift, dass vorallem ihr inklusiv werden müsst. In der Tat ist esdoch oft immer noch so, dass ihr uns liebevoll undkompetent begleitet. Ist das aber das gleiche, wiezusammen einen Weg zu gehen, auf dem jeder sichentwickelt und den andern daran teilhaben lässt?Gerne dürft ihr euch Notizen über unsere Entwick-lung machen, Kardexe führen, usw. Macht ihr dasüber euch auch?

Ich erlebe so viel Gutes und Engagiertes, abereben auch immer dieses leicht Abgesetzte. Diesesleicht Draussen-Bleibende. Inklusiv ist aber drin-nen. Ich hoffe, ihr versteht meinen Gedanken. In-klusiv ist ein so schnell vergehender Zustand, denwir immer wieder neu erschaffen müssen. Das kannman nicht haben, sondern nur in jeder Begegnungneu erzeugen. Inklusiv kann kein einzelner Menschsein. Dazu braucht es zwei oder mehr Menschen.Ich kann nicht inklusiv sein, das können nur wirzusammen.

Ich bitte euch, dies alles wohlwollend zu bedenkenund lade euch ein, an einer neuen Kultur mitzuar-beiten, die menschlicher ist, die niemanden aussenvor lässt. Zusammen schaffen wir das.

Nelli Riesen,1966, ist Mitbegründerin der VereinigungAlchemilla in Oberhofen (BE), wo sie alsFärberin arbeitet. Sie ist Autistin und kannnicht sprechen. Seit 10 Jahren kommuniziert siemit FC und referiert regelmässig an Tagungen.Der Inhalt dieser Kolumne stammt aus einemReferat, das sie im April in Wien gehalten hat.

INFOS INSOS | Dezember 2013

ImpressumHerausgeberINSOS Schweiz3000 Bern 14Erscheint 3x jährlichRedaktionBarbara Lauber (Leitung);Barbara SpycherAbopreisCHF 30.– (im Mitgliederbei-trag enthalten),Einzelnummer CHF 15.–

AdressenINSOS SchweizZieglerstrasse 53Postfach 10103000 Bern 14

Tel 031 385 33 00Fax 031 385 33 [email protected]. 80-28082-2

INSOS SuisseAvenue de la Gare 171003 Lausanne

Tél 021 320 21 70Fax 021 320 21 [email protected]

Gestaltungsatzart, Bern

Layout und DruckUD Medien AG, Luzern

Auflage1700 deutsch550 französisch

Abdruck mit Quellenangabe erlaubt

P.P.3007

Bern

INSOS-Veranstaltungen 2014INSOS Schweiz organisiert jedesJahr verschiedene nationaleFachtagungen, Workshops undForen sowie den INSOS-Kongress.Für 2014 stehen bereits diverseVeranstaltungen fest.

23.01.2014INSOS-Workshop in Zürich«Wie funktioniert eine interneVertrauens- und Meldestelle?»

12.03.2014INSOS-Fachtagung in Olten«Inklusion und Tagesstätten: keinWiderspruch!»

28.03.2014Fachtagung in Olten«Weshalb (k)eine Karriere? Verläufeim Arbeitsleben von Menschen mitBehinderung»

14.05.2014Symposium Behinderung und Alterin Freiburg«Zwischen Selbst- und Fremdbestim-mung»

17.06.2014INSOS-Forum in ZürichThema: Gastronomie undHotellerie

17.06.2014 – 21.06.2014INSOS-Studienreise nach Belgien

26.06.2014INSOS-Delegiertenversammlungin Bern

26.08.2014 – 28.08.2014INSOS-Kongress in Lausanne

24.09.2014INSOS-Fachtagung in SolothurnThema: Arbeit

Mehr Informationen unter:www.insos.ch > Veranstaltungen