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Leseprobe Irving, Washington Die Sage von Sleepy Hollow und andere unheimliche Geschichten Aus dem Amerikanischen von Erika Gröger © Insel Verlag insel taschenbuch 3451 978-3-458-35151-1 Insel Verlag

Insel Verlag · 2016. 7. 4. · insel taschenbuch 3451 Erste Auflage 2009 Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig Insel-Verlag Leipzig 1976 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere

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Leseprobe

Irving, Washington

Die Sage von Sleepy Hollow

und andere unheimliche Geschichten

Aus dem Amerikanischen von Erika Gröger

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3451

978-3-458-35151-1

Insel Verlag

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Washington Irving, auch als »Vater der amerikanischen Literatur« be-zeichnet, ist vor allem mit seinen Kurzgeschichten bekannt geworden.Seine unheimlichen Geschichten wieDie Sage von Sleepy Hollow undRip van Winkle sind bis heute �ußerst popul�r und wurden mehrfachverfilmt.Die Sage von Sleepy Hollow erz�hlt die Geschichte eines kopflosen

Reiters, der ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken versetzt. Sati-risch-humorvoll schildert Irving die Figur des abergl�ubischen Schul-meisters Ichabod Crane, der in seinem Werben um das schçnste M�d-chen im Dorf bald Bekanntschaft mit diesem Geist machen muß.Die vorliegende Sammlung enth�lt zudem die Geschichten Rip van

Winkle,Der Geisterbr�utigam,Die Sage vom arabischen Sterndeutersowie Die Sage vom Verm�chtnis des Mauren.

Washington Irving, geboren am 3. April 1783 in New York, ist am28. November 1859 in Sunnyside / New York gestorben.

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insel taschenbuch 3451Washington Irving

Die Sage von Sleepy Hollow

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Washington IrvingDie Sage vonSleepy Hollow

und andere unheimlicheGeschichten

Aus dem Amerikanischenvon Erika Grçger

Insel Verlag

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insel taschenbuch 3451Erste Auflage 2009

Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig� Insel-Verlag Leipzig 1976

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desçffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag nach Entw�rfen von Willy Fleckhaus

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-458-35151-1

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Inhalt

Die Sage von Sleepy Hollow9

Rip van Winkle54

Der Geisterbr�utigam82

Die Sage vom arabischen Sterndeuter104

Die Sage vom Verm�chtnis des Mauren129

Worterkl�rungen155

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Die Sage von Sleepy Hollow

Unter den Schriften des verstorbenenDiedrich Knickerbocker gefunden

F�r Schl�frige ist dies ein kçstlichLand, vor halbgeschlossnen AugenTr�ume wogen, Luftschlçsser blitzenauf am Himmelsbogen, der ewigheiter sich dar�ber spannt.

Schloß der Tr�gheit

Angeschmiegt an eine jener weitr�umigen Buchten, die dasOstufer des Hudsons bildet, der sich dort zum Tappan Zeeausweitet, wie ihn die alten holl�ndischen Schiffer nanntenund wo sie bei der �berfahrt stets vorsichtig die Segel reff-ten und den heiligen Nikolaus um Schutz anflehten, liegtein kleiner Marktflecken, eine Art Binnenhafen, den man-che Greensburgh nennen, der aber weit und breit viel tref-fender unter demNamenTarrytown, Stadt derHerumlunge-rer, bekannt ist. Diesen Namen soll er in fr�heren Zeitenvon den fleißigenHausfrauen dieser Gegend erhalten habenwegen der un�berwindlichenNeigung ihrer Ehem�nner, anMarkttagen im dortigen Wirtshaus herumzulungern. Ichkann nicht daf�r b�rgen, ob es sich wirklich so verhielt,aber ich erw�hne diese Tatsache der Genauigkeit undGlaub-w�rdigkeit halber. Nicht weit, ungef�hr zwei Meilen vondem Ort entfernt liegt zwischen hohen H�geln ein kleinesTal oder vielmehr ein Streifen Land, eines der friedlichstenPl�tzchen auf der ganzen Welt. Ein kleiner Bach fließt dort,dessen Murmeln gerade f�r ein Wiegenlied reicht; und das

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Pfeifen einerWachtel oder das H�mmern eines Spechts sindbeinahe die einzigen Ger�usche, von denen die lautloseStille hin und wieder unterbrochen wird.

Ich erinnere mich, daß ich als Gr�nschnabel dort beimEichhçrnchenschießen meine erste Heldentat vollbrachte,in einem Gehçlz mit hohen Walnußb�umen, das eine Seitedes Tales beschattet. Ich war zur Mittagszeit hinausgewan-dert, wenn es in der Natur besonders schweigsam ist, undwurde vom Knall meiner eigenen Flinte erschreckt, der diesonnt�gliche Stille ringsum unterbrach und vom zornigenEcho verl�ngert und wiederholt wurde. Sollte ich mich jeeinmal zur�ckziehen wollen, um die Welt mit ihrer Hastzu fliehen und den Rest meines Lebens still zu vertr�umen,so w�ßte ich keine geeignetere Gegend als dieses kleineTal.Wegen der beschaulichen Ruhe des Ortes und dem eigen-

artigen Charakter seiner Bewohner, die Nachkommen derersten holl�ndischen Ansiedler sind, war dieses abgelegeneTal unter dem Namen ›Sleepy Hollow‹, bekannt, und dieBauernburschen dort heißen �berall in der Nachbarschaftnur die Burschen von SleepyHollow. Die Gegendmacht tat-s�chlich einen schl�frigen, vertr�umten Eindruck, der dieganze Atmosph�re zu bestimmen scheint. Manche Leutesagen, daß der Ort in der ersten Zeit der Besiedlung voneinem ber�hmten deutschen Doktor verzaubert wordensei; andere wieder behaupten, ein alter Indianerh�uptling,ein Prophet oder Zauberer seines Stammes, habe dort sei-ne Beschwçrungen vorgenommen, bevorMeisterHendrickHudson das Land entdeckte. Gewiß ist, daß das Tal nochimmer von einer Zaubermacht in Bann gehalten wird, die�ber die Gem�ter dieser braven Leute dort herrscht und

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die Ursache daf�r ist, daß sie zeit ihres Lebens wie im Traumumherwandeln. Sie glauben an alle mçglichen Wunder, ge-raten in Verz�ckung und haben Visionen, sehen h�ufigmerkw�rdige Gesichte und hçren Musik und Stimmen ausder Luft. �berall im Tal werden Dutzende von Sagen er-z�hlt, gibt es zahlreiche St�tten,wo es spukt, und viele aber-gl�ubische Gewohnheiten. Sternschnuppen und Meteoreerstrahlen çfter �ber dem Tal als sonst im Lande, und derNachtmahr mit seiner neunfachen Kraft scheint es als Lieb-lingsplatz f�r sein Treiben auserkoren zu haben.

Das Hauptgespenst jedoch, das in dieser verzaubertenGegend am meisten umgeht und von allen Geistern derL�fte der Oberbefehlshaber zu sein scheint, ist ein Reiterohne Kopf. Es soll der Geist eines hessischen Soldaten sein,dem bei irgendeiner Schlacht im Revolutionskrieg eine Ka-nonenkugel den Kopf abgerissen hat und den das Landvolkhin undwieder imDunkel der Nacht wie aufWindesfl�gelndahinjagen sieht. Er geht nicht nur im Tal um, sondern er-scheint bisweilen auch auf den angrenzenden Landstraßenund besonders bei einer nahen Kirche. Einige sehr zuverl�s-sige Geschichtsschreiber dieser Gegenden, die sorgsam dieumlaufenden Ger�chte �ber diese Erscheinung gesammeltund ausgewertet haben, behaupten sogar allen Ernstes, daßder Soldat auf dem Friedhof begraben sei und sein Geistdes Nachts zum Kampfplatz reite, um seinen Kopf zu su-chen, und daß er deshalb so schnell wie ein mittern�cht-licher Sturm durch das Tal jage, weil er sich versp�tet habeund nun schleunigst noch vor Tagesanbruch zum Friedhofzur�ckkehren wolle.

Soviel allgemein zum Inhalt dieser abergl�ubischen Sage,die den Stoff f�r manche Schauergeschichte in jener d�ste-

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ren Gegend geliefert hat; und das Gespenst ist an allen Ka-minen im Land unter dem Namen des ›Kopflosen Reitersaus Sleepy Hollow‹ bekannt.

Eigenartig ist, daß sich die erw�hnte Neigung zu Gesich-ten nicht allein auf die Einheimischen beschr�nkt, sondernunbewußt auch von allen anderen angenommen wird, dieeine Zeitlang im Tal leben. So hellwach sie auch gewesensein mochten, bevor sie diese schl�frige Gegend betraten,so atmen sie sicherlich schon bald die verzauberte Luft einund lassen ihrer Einbildungskraft freien Lauf, haben Tr�u-me und sehen Gespenster.Trotzdem kann ich dieses friedliche Fleckchen Erde nicht

genug preisen, denn gerade in solchen kleinen, abgeschie-denen holl�ndischen T�lern,wie man sie hier und da im gro-ßen Staat New York noch findet, bleiben Bevçlkerung, Sit-ten und Gewohnheiten unver�ndert, w�hrend der großeStrom derWanderlustigen und des Fortschritts, der in allenanderen Teilen unseres ruhelosen Landes st�ndig Ver�nde-rungen bewirkt, unbemerkt an ihnen vorbeifließt. Sie sindwie kleine Buchten stillen Wassers am Ufer eines reißendenStroms, wo man Strohhalme und Wasserblasen langsamtreiben sieht oder sie sich ruhig in einem kleinen Miniatur-hafen drehen, gesch�tzt vor der heftigen Strçmung, die vor-�berrauscht. Obgleich viele Jahre verstrichen sind, seit ichzum letztenMal unter den einlullenden Schatten von SleepyHollow gegangen bin, frage ich mich doch, ob ich nichtnoch immer dieselben B�ume und dieselben Familien in ih-rem gesch�tzten Schoß finden w�rde.

In diesem abgelegenen Ort lebte in einer fr�hen Periodeder amerikanischen Geschichte, vor etwa dreißig Jahren,ein ehrenwerter junger Mann mit Namen Ichabod Crane,

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der sich in Sleepy Hollow aufhielt oder, wie er es nannte,dort verweilte, um die Kinder der Gegend zu unterrichten.Er stammte aus Connecticut, einem Staat, der die Unionmit Pionieren des Geistes wie mit solchen f�r denWald ver-sorgt und jedes Jahr Legionen vonWaldarbeitern und Dorf-schulmeistern auf die Wanderschaft schickt. Der Familien-name Crane, Kranich, paßte sehr gut zu ihm. Er war groß,sehr hager, hatte schmale Schultern, lange Arme und Beine,H�nde, die meilenweit aus seinen �rmeln herausbaumelten,und wahre Schaufeln von F�ßen, und seine ganze Gestalthing nur lose zusammen. Sein Kopf war klein und oben ab-geflacht, er hatte ungeheure Ohren, große, gl�serne gr�neAugen und eine lange Schnepfennase, so daß er einemWet-terhahn glich, der sich auf dem spindeld�rren Hals nieder-gelassen hatte, um anzuzeigen,woher derWindweht.Wennman ihn an einemwindigen Tag �ber einenH�gel gehen sahund seine Kleider sich flatternd um ihn bauschten, h�tteman ihn f�r das Gespenst der Not halten kçnnen, das aufder Erde umging, oder auch f�r eine aus einemKornfeld ent-flohene Vogelscheuche.

Sein Schulhaus war ein niedriges Geb�ude mit einem ein-zigen großen Raum, grob aus Baumst�mmen zusammenge-f�gt; die Fenster waren teils verglast, teils mit Bl�ttern ausalten Schreibheften zugeklebt. In der schulfreien Zeit wares sinnvoll durch eine um den T�rgriff geschlungene Wei-denrute gesichert sowie durch Stangen, die gegen die Fen-sterl�den gestemmt waren, so daß ein Dieb zwar mit Leich-tigkeit hinein-, aber nur schwer wieder herauskommenkonnte – ein Einfall, den der Baumeister Yost van Houtenhçchstwahrscheinlich dem Geheimnis einer Aalreuse abge-schaut hatte. Das Schulhaus stand an einer ziemlich einsa-

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men, aber landschaftlich schçnen Stelle am Fuß eines be-waldeten H�gels, an dem in der N�he ein Bach vorbeifloß,und auf der anderen Seite stand eine m�chtige Birke. Vondort konnte man an manch einem schl�frigen Sommertagdas leise Murmeln seiner Sch�ler vernehmen, die ihre Lek-tionen aufsagten. Es klang wie das Summen eines Bienen-stocks, das nur ab und zu von der gebieterischen Stimmedes Lehrers mit einer Drohung oder einem Befehl unterbro-chen wurde, manchmal allerdings auch durch den schreck-lichen Knall einer Birkenrute, die einen s�umigen Faulen-zer wieder auf den blumigen Pfad des Wissens zur�ckwies.Um die Wahrheit zu sagen, der Lehrer war ein gewissenhaf-terMensch, der sich stets des goldenen Leitspruchs bewußtwar: ›Schonst du die Rute, verwçhnst du das Kind.‹ UndIchabod Cranes Sch�ler waren gewiß nicht verwçhnt.

Ichmçchte ihn aber keinesfalls als einen jener grausamenSchultyrannen hinstellen, die sich an der Qual ihrer wehrlo-sen Untertanen weiden. Im Gegenteil, er ließ Gerechtigkeiteher mit Nachsicht denn mit Strenge walten, nahm die Lastvon den Schultern der Schwachen und b�rdete sie den Star-ken auf. Ein zartes B�rschchen, das schon bei der gering-sten Bewegung der Rute zitterte, �berging er nachsichtig,w�hrend ein kleiner, z�her, dickkçpfiger, breitschultrigerHoll�nderjunge, der trotzte, sich widersetzte und stçrrischund verstockt unter der Rute wurde, als ausgleichende Ge-rechtigkeit eine doppelte Portion erhielt. Das alles nannteer ›seine Pflicht an ihrer Eltern Statt erf�llen‹, und er straftenie, ohne f�r den kleinenDulder die trçstlicheVersicherungfolgen zu lassen, daß ›er sich stets daran erinnern und ihmsein Lebtag daf�r dankbar sein werde‹.

Nach den Schulstunden war er sogar Gef�hrte und Spiel-

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kamerad der grçßeren Jungen, und an freien Nachmittagenpflegte er ein paar der kleineren heimzubegleiten, die zu-f�llig h�bsche Schwestern hatten oder deren M�tter t�ch-tige Hausfrauen und f�r die Leckerbissen in ihren Speise-kammern bekannt waren. Er mußte allerdings auch mitseinen Sch�lern auf gutem Fuß stehen. Die Eink�nfte ausseiner Lehrt�tigkeit waren k�rglich und h�tten kaum f�rdas t�gliche Brot gereicht, denn er war ein kr�ftiger Es-ser, und wenn er auch schm�chtig war, konnte er doch so-viel in sich hineinstopfen wie eine Riesenschlange. Als Bei-trag zu seinem Unterhalt erhielt er nach Landessitte Kostund Logis in den H�usern der Bauern, deren Kinder seineSchule besuchten. Bei diesen lebte er abwechselnd eine Wo-che lang undmachte so die Runde in der ganzen Umgebung,all sein Hab und Gut in ein baumwollenes Taschentuch ge-kn�pft.

Um seinen b�uerlichen Gçnnern nicht zu sehr auf derTasche zu liegen, weil diese dazu neigten, Schulkosten alsdr�ckende Last und Schulmeister nur als Drohnen anzu-sehen, machte er sich auf verschiedene Arten n�tzlich undangenehm. Er ging den Bauern hin und wieder bei leichtenHofarbeiten zur Hand, half bei der Heumahd, besserteZ�une aus, brachte die Pferde zur Tr�nke, trieb die K�hevon derWeide heim und hackte Holz f�r denWinter. Dabeiverzichtete er auf alle seine Herrscherall�ren und die unum-schr�nkte Macht, womit er sonst in seinem kleinen Reich,der Schule, regierte, und wurde �berraschend sanft undfreundlich. Er fand Gnade vor den Augen der M�tter, weiler ihre Kinder, vor allem die j�ngsten, verh�tschelte; undgleich dem k�hnen Lçwen, der einst großm�tig das L�mm-lein gewiegt, saß er geduldig mit einem Kind auf den Knien

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da und schaukelte dabei stundenlang mit dem Fuß eineWiege.

Abgesehen von seinen anderen Funktionen war er auchnoch der Gesangslehrer der Gegend und verdiente man-chen blanken Schilling damit, daß er den jungen Leutendas Psalmensingen beibrachte. Es schmeichelte seiner Eitel-keit nicht wenig,wenn er an Sonntagen vor einemChor aus-erw�hlter S�nger auf der Empore stand und seinerMeinungnach einen �berw�ltigenden Sieg �ber den Pfarrer errang.Fest steht jedenfalls, daß seine Stimme die ganze Gemeinde�bertçnte, und an stillen Sonntagmorgen kann man in derKirche und eine halbe Meile entfernt auf der anderen Seitedes M�hlteiches noch sonderbare Triller vernehmen, dieohne Zweifel aus Ichabod Cranes Kehle stammen sollen.So schlug sich unser w�rdiger P�dagoge mit verschiedenenNotbehelfen leidlich mit H�ngen und W�rgen, wie manso sagt, durchs Leben, und wer nichts von den Anstrengun-gen geistiger Arbeit verstand, mußte annehmen, daß er eing�nzlich unbeschwertes Leben f�hrte.Auf dem Land ist der Schulmeister in den Kreisen der

weiblichen Bevçlkerung f�r gewçhnlich eine gewichtigePersçnlichkeit. Er wird als feiner Herr betrachtet, der imVergleich zu den rohen Bauernburschen �berragenden Ge-schmack und Bildung besitzt und an Wissen eigentlich nurdem Pfarrer nachsteht. Kommt er daher zumTee in ein Bau-ernhaus, so verursacht er dort einen kleinen Aufruhr, und eswerden noch ein Teller mit Kuchen oder S�ßigkeiten undvielleicht auch eine silberne Teekanne zus�tzlich auf denTisch gestellt. Unser Gelehrter erfreute sich deshalb be-sonderer Gunst bei allen Landm�dchen. Und wenn er anSonntagen zwischen den Gottesdiensten mit ihnen auf dem

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Kirchhof hin- und herpromenierte, war er so recht derHahn im Korb! Er pfl�ckte ihnen Trauben von den wildenWeinreben, die sich �ppig an den B�umen emporrankten,erfreute sie mit dem Vorlesen der Inschriften auf den Grab-steinen oder schlenderte mit einem ganzen Schwarm vonihnen amUfer des angrenzendenM�hlteiches entlang,w�h-rend die linkischen Bauerntçlpel sch�chtern zur�ckbliebenund ihn um seine �berlegene Eleganz und Lebensart benei-deten.

Da er viel unterwegs war, stellte er auch eine Art wan-delnder Zeitung dar und verbreitete den Dorfklatsch im-mer von Haus zu Haus, so daß er �berall gern gesehenwar. Dar�ber hinaus wurde er von den Frauen als hochge-bildeter Mann gesch�tzt, hatte er doch mehrere B�cherganz durchgelesen und kannte CottonMathers ›Geschichteder Hexerei in Neuengland‹, an die er �brigens felsenfestglaubte, in- und auswendig.

Bei ihm mischten sich in Wahrheit ein Anflug von Klug-heit und blinde Leichtgl�ubigkeit auf sonderbare Weise.Sein Interesse an �bersinnlichem und seine F�higkeit, es insich zu verarbeiten, waren in hohem Maße ungewçhnlich,und beides war durch seinen Aufenthalt in dieser verzauber-ten Gegend noch gesteigert worden. Er war so davon ein-genommen, daß ihm keine Geschichte zu unglaubhaft oderzu schauerlich war. Einen Hochgenuß bereitete es ihm,wenn er sich am Nachmittag nach dem Schulunterricht inein �ppiges Kleefeld am Ufer des kleinen Baches legte, deram Schulhaus vorbeipl�tscherte, und in den gruseligen Ge-schichten des alten Mather las, bis die Schatten immer l�n-ger wurden und die Schrift vor seinen Augen verschwamm.Machte er sich dann durch denMorast neben dem Fluß und

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durch furchterregende W�lder auf den Heimweg zu demBauernhaus, wo er gerade einquartiert war, erregte jedesnoch so leise Ger�usch in jener Zauberstunde seine erhitztePhantasie – der klagende Ruf des Ziegenmelkers vom H�-gel, das unheilverk�ndende Quaken der Laubfrçsche, dieSturm prophezeiten, der d�stere Schrei einer Eule oder dasplçtzliche Rascheln aufgescheuchter Vçgel im Geb�sch.Auch dieGl�hw�rmchen,die an den dunkelsten Stellen ganzhell leuchteten, erschreckten ihn von Zeit zu Zeit, beson-ders wenn ihm ein sehr gl�nzendes �ber den Weg flog, undstieß zuf�llig ein dicker plumper K�fer auf seinem blindenFlug gegen ihn, so war der arme Bursche beinahe soweit,seinen Geist aufzugeben, weil er glaubte, eine Hexe h�tteihm ihr Brandmal aufgedr�ckt. Um in solchen Augenblik-ken die Gedanken zu verscheuchen oder die bçsen Geisterzu bannen, stimmte er als einzigen Ausweg einen Psalman, und die braven Leute aus dem Schlummertal, die abendsvor ihren T�ren saßen,wurden oft von ehrf�rchtiger Scheuergriffen,wenn sie seine n�selndeMelodie, lieblich und lan-ge ausgehalten, von einem fernen H�gel oder die staubigeLandstraße entlangschweben hçrten.Auch bereitete es ihm ein angenehm schauerliches Ver-

gn�gen, die langen Winterabende bei den alten holl�ndi-schen Frauen zu verbringen, wenn diese beim Feuer saßenund spannen, w�hrend ein paar Brat�pfel auf dem Herdzischten. Er lauschte ihren wunderbaren Erz�hlungen vonGeistern, Kobolden und Feldern, auf denen es spukte, vonverwunschenen B�chen und Br�cken und verhexten H�u-sern und besonders gern vom Reiter ohne Kopf oder vomgaloppierenden Hessen aus Sleepy Hollow, wie man ihnmanchmal nannte. Er wiederum machte ihnen die gleiche

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Freude mit seinen Geschichten �ber Hexerei, furchteinflç-ßende Zeichen und unheilverk�ndende Erscheinungen undGer�usche in der Luft,wie es sie fr�her so h�ufig in Connec-ticut gab, und jagte ihnen mit seinen Spekulationen �berKometen und Sternschnuppen und mit der be�ngstigendenTatsache, daß sich die Erde wirklich imKreise drehe und sieihr halbes Leben lang auf dem Kopfe st�nden, einen argenSchrecken ein.Aber wenn es f�r ihn auch ein Vergn�gen war, sich in

einem vom rçtlichen Schein des prasselnden Holzfeuers er-f�llten Zimmer gem�tlich in eine Ofenecke zu kuscheln,wo sich nat�rlich kein Gespenst von Angesicht sehen ließ,so war es doch durch die Angst auf dem Heimweg teuer er-kauft. Welch schreckliche Gestalten und Schatten belager-ten im tr�ben und gespenstischen Licht einer Schneenachtseinen Weg. Wie furchtsam blickte er auf jeden zitterndenLichtstrahl, der aus einem fernen Fenster �ber die kahlenFelder fiel! Wie oft erschrak er vor einem schneebedecktenStrauch, der wie ein verh�lltes Gespenst am Weg lauerte.Wie oft durchfuhr ihn l�hmendes Entsetzen beim Klangseiner eigenen Schritte auf dem verharschten Schnee, under f�rchtete sich, �ber die Schulter zur�ckzuschauen, umnicht ein unheimliches Wesen zu erblicken, das ihm dichtauf den Fersen folgte. Und wie oft versetzte ihn ein heftigerWindstoß, der durch die �ste fegte, in panische Angst beidem Gedanken, daß es vielleicht der galoppierende Hesseauf einem seiner n�chtlichen Ritte sein kçnne.Aber das alles waren nur Schrecken der Nacht, in der

Dunkelheit wandelnde Hirngespinste; und obgleich er sei-nerzeit viele Gespenster gesehen hatte und auf seinen einsa-men Streifz�gen dem Satan in verschiedenen Gestalten be-

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gegnet war, setzte das Tageslicht doch diesem ganzen Trei-ben ein Ende, und er w�rde, dem Teufel und allen seinenWerken zum Trotz, ein angenehmes Leben gef�hrt haben.Doch da wurde sein Pfad von einem Wesen gekreuzt, daseinem Mann mehr die Sinne verwirrt als alle Geister, Ko-bolde und Hexen zusammen, und das war – ein Weib.

Unter den Sch�lern, die an einem Abend in der Wochezusammenkamen, um von ihm im Psalmensingen unterwie-sen zu werden, war Katrina van Tassel, Tochter und ein-ziges Kind eines wohlhabenden holl�ndischen Bauern. Siewar ein bl�hendes M�dchen von knapp achtzehn Jahren,prall wie ein Rebhuhn, reif und schmelzend und rosenwan-gig wie ein Pfirsich aus ihres Vaters Garten und �berall be-kannt nicht nur wegen ihrer Schçnheit, sondern auch dergroßen Erbschaft wegen, die sie zu erwarten hatte. Oben-drein war sie auch ein wenig kokett,was man sogar an ihrerKleidung bemerken konnte, die ein Gemisch aus alter undneuer Mode war, dergestalt, daß ihre Reize am besten zurGeltung kamen. Sie trug Schmuck aus purem gelbem Gold,den ihre Ururgroßmutter aus Saardam mitgebracht hatte,das verf�hrerischeMieder der alten Zeit und dazu einen un-gewçhnlich kurzen Rock, der die h�bschesten F�ße undFesseln in der ganzen Gegend frei ließ.

Ichabod Cranes Herz war dem zarten Geschlecht gegen-�ber weich und tçricht, und es ist nicht verwunderlich,daß ein so verlockender Bissen bald Gnade vor seinen Au-gen fand, besonders, nachdem er das M�dchen in ihremv�terlichen Hause besucht hatte. Der alte Baltus van Tasselwar das vollkommene Bild eines wohlhabenden, zufriede-nen und großz�gigen Bauern. Es stimmt zwar, daß seine Au-gen oder Gedanken selten �ber die Grenzen seines Hofes

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