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Interkulturelle Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte von Heinz Kimmerle Für Kant und Hegel, aber auch für Nietzsche und Heidegger, für Whitehead und Russell, für Gadamer und Habermas sowie für Rorty und Putnam beginnt Philosophie in der griechischen Antike – in einem vorläufigen Sinn mit den Vorsokratikern und definitiv mit Platon und Aristoteles. 1 Philosophie wird damit für Europa und seine Geschichte reklamiert. Daß die Geschichte der Philosophie von Griechenland über das antike römische Reich ins Europa nördlich der Alpen verläuft, ist immer noch eine weit verbreitete Auffassung. Wie man häufig lesen kann, gibt es eine Vorgeschichte der Philosophie, die bis zu den Upanishaden in der indischen Tradition (750550 v.u.Z.) und Laozi in der chinesischen Tradition (geb. 604 v.u.Z.) zurückreicht. Und es werden Einflüsse anerkannt, auf die ursprünglich europäische Philosophie der Griechen aus dem Vorderen Orient mit seinen orphischen Geheimlehren sowie aus Ägypten mit seiner Mysterienreligion und den rechtlichen und moralischen Lehren der Ma’at. Daß im Mittelalter die Auffassungen von islamischen Gelehrten, besonders al1 Die folgenden Ausführungen bilden eine Neufassung des SchlußKapitels meines Buches: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002: Erweiterung und neue Präzisierung des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte (125140). Dabei wird neben einzelnen mehr stilistischen Verbesserungen ergänzend zu dem genannten Text der interkulturelle Philosophiebegriff und die zugehörige Konzeption der Philosophiegeschichte von der Position der Hermeneutik Gadamers abgesetzt, die er selbst als eine Weiterentwicklung der Auffassungen Heideggers versteht. Ferner wird die Bedeutung Afrikas als einer Kultur mit überwiegend mündlichen Formen der Kommunikation und Überlieferung für den Philosophiebegriff der interkulturellen Philosophie herausgestellt.

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Interkulturelle Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte 

von Heinz Kimmerle 

Für Kant und Hegel, aber auch  für Nietzsche und Heidegger,  für White‐head und Russell,  für Gadamer und Habermas sowie  für Rorty und Put‐nam beginnt Philosophie in der griechischen Antike – in einem vorläufigen Sinn mit den Vorsokratikern und definitiv mit Platon und Aristoteles.1 Phi‐losophie wird damit für Europa und seine Geschichte reklamiert. Daß die Geschichte  der  Philosophie  von  Griechenland  über  das  antike  römische Reich  ins  Europa  nördlich  der Alpen  verläuft,  ist  immer  noch  eine weit verbreitete Auffassung. Wie man  häufig  lesen  kann,  gibt  es  eine  Vorge‐schichte der Philosophie, die bis zu den Upanishaden in der indischen Tra‐dition  (750‐550 v.u.Z.) und Laozi  in der  chinesischen Tradition  (geb.  604 v.u.Z.) zurückreicht. Und es werden Einflüsse anerkannt, auf die ursprüng‐lich  europäische Philosophie der Griechen  aus dem Vorderen Orient mit seinen orphischen Geheimlehren sowie aus Ägypten mit seiner Mysterien‐religion und den  rechtlichen und moralischen Lehren der Ma’at. Daß  im Mittelalter  die  Auffassungen  von  islamischen  Gelehrten,  besonders  al‐

1   Die  folgenden Ausführungen bilden eine Neufassung des Schluß‐Kapitels mei‐

nes Buches: Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002: Erweite‐rung  und  neue  Präzisierung  des  Philosophiebegriffs  und  der  Philosophiege‐schichte  (125‐140). Dabei wird neben einzelnen mehr  stilistischen Verbesserun‐gen  ergänzend  zu  dem  genannten  Text  der  interkulturelle  Philosophiebegriff und die zugehörige Konzeption der Philosophiegeschichte von der Position der Hermeneutik Gadamers abgesetzt, die er selbst als eine Weiterentwicklung der Auffassungen Heideggers versteht. Ferner wird die Bedeutung Afrikas als einer Kultur mit überwiegend mündlichen Formen der Kommunikation und Überlie‐ferung  für  den  Philosophiebegriff  der  interkulturellen  Philosophie  herausge‐stellt. 

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Farabi, Avicenna und Averroes, in die europäische Theologie und Philoso‐phie aufgenommen werden, wird in der Geschichte der Philosophie durch‐aus berichtet. Das ändert aber nichts an der Annahme, daß die Philosophie einen  europäischen Charakter  hat.  Sofern  sich mit  der  Entwicklung  von Nordamerika seit etwa 1800 die europäische Zivilisation auf diesem Konti‐nent ausbreitet,  ist es dann angemessen, von einem nordatlantischen oder in einer etwas weniger geographisch orientierten Terminologie von einem europäisch‐westlichen Charakter d(ies)er Philosophie zu sprechen. Hegel hat die Philosophie von Platon und Aristoteles bis zu ihm selbst als 

die innere Linie der Weltgeschichte aufgefaßt, die er bekanntlich als »Fort‐schritt  im Bewußtsein der Freiheit« begreift. Auch Nietzsche sieht die Ge‐schichte der europäischen Philosophie unter einem einheitlichen Gesichts‐punkt. Für ihn ist sie freilich eher eine Geschichte des Verfalls als des Fort‐schritts. Den ›christlichen Platonismus‹ mit seiner zunehmenden Leibfeind‐lichkeit  und Abstraktheit  versteht  er  insgesamt  als  die  ›Heraufkunft  des europäischen Nihilismus‹. Heideggers Betrachtung der Geschichte der Phi‐losophie  als  anwachsende  ›Seinsvergessenheit‹  schließt  bei Nietzsche  an, geht aber einen entscheidenden Schritt weiter. Zum Verständnis des ›Seins des  Seienden‹ wird  in  dieser Geschichte  immer  nur  auf wechselnde Art und Weise auf ein  ›höchstes Seiendes‹ verwiesen, ohne an das Sein selbst zu  denken.  Diese  Denkweise  nennt Heidegger  ›Metaphysik‹,  so  daß  er auch  von  der Geschichte  der  europäischen  Philosophie  als  von  der Ge‐schichte der Metaphysik sprechen kann. Sofern er die diese Denkweise hin‐terfragt und das Sein selbst zum Thema macht, geht er zugleich zu dem äl‐testen Alten  zurück,  etwa  zu Anaximander, bei dem  es noch  ›eine  frühe Spur  des Unterschieds‹  von  Sein  und  Seiendem  gibt,  die  aber  auch  hier schon  ›ausgelöscht‹  ist. So scheint es, daß  ›die Vergessenheit des Seins  in das durch sie selbst verhüllte Wesen des Seins‹ gehört.2  Heidegger positioniert sich mit diesen Auffassungen nach der Geschichte 

der Metaphysik als der Geschichte der Seinsvergessenheit oder – besser ge‐sagt – dieser Seinsvergessenheit der europäischen Geschichte der Philoso‐phie. Diese Philosophie ist und bleibt für ihn freilich – und zwar in einem definitiven  Sinn  –  die  einzige  Philosophie,  die  es  gibt. Was  sich  in  der 

2   Martin Heidegger, Der  Spruch  des Anaximander,  in:  ders., Holzwege,  Frank‐

furt/M. 1952, S. 296‐343, s. bes. 336. 

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Nachgeschichte d(ies)er Philosophie geändert hat, ist nicht, daß Heidegger das Sein beziehungsweise die ›Wahrheit des Seins‹ unverhüllt zu sehen be‐käme, sondern daß er um die wesensgemäße Verhülltheit dieser Wahrheit weiß. Das  bringt  ihn  zu  einer Bescheidenheit, die der  Selbstbescheidung der interkulturellen Philosophie durchaus verwandt ist, sofern diese keiner der Philosophien, die durch eine bestimmte Kultur geprägt sind, die abso‐lute Wahrheit zuerkennt. Heidegger kann sich  jedoch von der Hegelschen Gleichsetzung von Philosophie und Europa nicht  lösen. Deshalb befindet er sich seiner eigenen Einschätzung nach in einer Zeitperiode nach der Ge‐schichte der  (mit Europa  identifizierten) Philosophie und bezeichnet  sich selbst nicht mehr  als Philosophen,  sondern  als Denker. Es  entbehrt nicht der  Ironie,  wenn  seine  denkende  Explikation  der  Seinsfrage  von  nicht‐europäischen,  vor  allem  japanischen  und  chinesischen  Philosophen  als verwandte Unternehmung zu  ihrer Philosophie erfahren wird. Man kann sagen,  daß Heidegger  interkulturelle  Philosophie wider Willen  betreibt, wenn er als Denker oder ›Fragender‹ Gespräche mit fernöstlichen Partnern führt, die sich selbst als Philosophen verstehen.3 Was als Philosophie verstanden wird, hängt also offenbar mit der Auf‐

fassung über  ihre Geschichte, wann und wo sie sich ereignet hat, auf das Engste zusammen. Die  interkulturelle Philosophie geht davon aus, daß es Philosophie nicht nur in einer Kultur gibt. Sofern mit dem Ernstnehmen der Philosophie  des  subsaharischen  Afrika  auch  Kulturen,  die  überwiegend mündlich  kommunizieren  und  ihr Wissen  überliefern,  Philosophie  zuer‐kannt wird, ist der Weg frei für die Auffassung, daß es für jede Kultur eine ihr zugehörige Philosophie gibt. Mit dieser Erweiterung des Philosophie‐begriffs wird es notwendig, in entsprechender Weise auch die Konzeption der Philosophiegeschichte zu verändern. Philosophie kann nicht länger ein Synomym für Europa sein. Auf dem Weg über die Entdeckung der Philo‐sophie  im Osten, wobei  Indien, China und  Japan nur Beispiele  sind  (be‐sonders wichtig scheint es mir, auch die tibetische Philosophie zu nennen), die Einbeziehung der arabisch‐islamsichen, der  latein‐ oder  iberoamerika‐nischen und der subsaharisch‐afrikanischen Philosophie hat sich der Hori‐zont geöffnet  für einen Begriff der Philosophie, nach dem diese mit dem 

3   Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und 

einem Fragenden, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 83‐155. 

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Menschsein und menschlicher Kultur als solcher in einem wesensmäßigen Zusammenhang steht.  Aber auch hier gibt es noch eine Verwandtschaft der interkulturellen Phi‐

losophie mit Heideggers angeblich nachphilosophischem Denken. In einer 1935 in Rom gehaltenen Rede »Europa und die deutsche Philosophie« kon‐statiert er, wenn auch im Kontext einer befremdlichen Deutschtümelei, daß im  ›Bereich der Kunst‹ etwas geschieht, das  für die Philosophie wegwei‐send ist. Diese Parallelität von Kunst und Philosophie wird auch in der in‐terkulturellen Philosophie herausgestellt. Ferner  sagt der Denker Heideg‐ger über die ›Vielfältigkeit der Standpunkte‹ und den ›Wechsel der Syste‐me‹  in der  (europäischen) Geschichte der Philosophie, über  ihre sich auf‐türmende Komplexität und ihre immer schwerer zugängliche Abstraktheit, daß  es darin  im Grunde um die  ›Einfachheit des Einzigen und Selbigen‹ gehe, nämlich die sich verbergende Wahrheit des Seins.4 Damit sucht Hei‐degger auch zu einer anderen Sprache zurück zu  finden, die er selbst als ›das  einfache Sagen‹  charakterisiert. Und  er weiß, daß das Einfachste oft das Schwerste  ist. Ebendies erfahren auch Philosophen, die von der euro‐päisch‐westlichen  Tradition  geprägt  sind  und  von  dieser Grundlage  aus Dialoge mit anderen philosophischen Traditionen angehen wollen. Die dialogische Form des Philosophierens, die sich in der bisherigen Pra‐

xis der interkulturellen Philosophie als die am meisten angemessene erwie‐sen hat, kann sich für ihre methodische Vergewisserung an Gadamer orien‐tieren,  der Heideggers Neuansatz  des  philosophischen Nachdenkens  für die Arbeit der Geisteswissenschaften und auch  für das Sichverstehen der Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit konkretisiert hat. Gada‐mer  legt Wert  darauf,  daß  seine  hermeneutische  Philosophie  oder  seine Konzeption der Philosophie als Hermeneutik eine Weiterentwicklung des Heideggerschen Ansatzes  ist, der die Hermeneutik von einer  technischen oder Hilfsdisziplin der historischen Geisteswissenschaften zu einer philo‐sophischen  Fundamentaltheorie  gemacht  hat. Daß  die Hermeneutik  eine ›Hermeneutik  der  Faktizität‹  ist,  die  das  Seinsverständnis  des menschli‐chen Daseins expliziert, das sein eigenes Sein als unterschieden vom Sein 

4   Heidegger,  Europa  und  die  deutsche  Philosophie  (1935),  in:  H.‐H.  Gander 

(Hrsg.), Europa und die Philosophie, Frankfurt/M. 1993, 31‐41, s. bes. 32‐34. 

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der  anderen Seienden  (des Zuhandenen und Vorhandenen)  erfaßt,5 wird von Gadamer aufgenommen,  indem er  für das Verstehen  in den Geistes‐wissenschaften  und  auch  im  alltäglichen  Lebenszusammenhang  eine ›Grenze‹ annimmt, die mit dem ›Geworfensein‹ des menschlichen Daseins zusammenhängt, das verstehend nicht eingeholt werden kann, so daß die‐se Grenze  ›immer weiter zurückweicht‹. Was  sich so dem Verstehen ent‐zieht,  im Leben und  im Denken dunkel oder  ›diesig‹ bleibt, bezeichnet er auch mit dem Ausdruck Schellings als ›das Unvordenkliche‹.6  Mit Heidegger und auch mit Derrida sucht die Hermeneutik Gadamers 

einen  Beitrag  zu  leisten  an  der  ›Destruktion‹  beziehungsweise  ›Dekon‐struktion‹ der Geschichte der europäisch‐westlichen Philosophie als Meta‐physik. Diese Unternehmungen gehen insgesamt ›gegen Verdeckung‹ und arbeiten an der ›Freilegung dessen, was zugedeckt war‹: das Sein selbst als das ganz Andere der Seienden beziehungsweise das  radikale Anderssein des/der Anderen. Dabei nimmt Gadamer auch den Vorzug für den Begriff ›Spur‹ auf, den er bei Derrida konstatiert und der – wie soeben bemerkt – auch schon bei Heidegger eine wichtige Rolle spielt. Ähnlich wie Derrida sieht Gadamer, daß von Levinas zu  lernen  ist, wie sehr  jede Spur  ›verge‐hende Spur‹ ist, nicht ›irgend etwas zurückrufen‹ will. Das gilt bei Levinas in besonderer Weise von den Spuren, die das Leben und das Leiden ›in ein Antlitz eingezeichnet‹ hat. Deshalb sieht Gadamer auch darin eine Grenze der Hermeneutik  und des Verstehens.  In dem Beitrag  ›Hermeneutik  auf der Spur‹ von 1994 sagt er erstaunliche Dinge darüber, wo ›das Verstehen zu  schweigen  hat‹,  die  den  früher  so  stark  hervorgehobenen Universali‐tätsanspruch der Hermeneutik doch in einem anderen Licht erscheinen las‐sen. Auf diese Weise wird auch klar, daß  ›Horizontverschmelzung‹ nicht das Entstehen einer neuen dritten Position bezeichnet,  in der die früheren Positionen  der  Gesprächspartner  ganz  und  gar  aufgenommen  und  zur Übereinstimmung  gebracht  sind.  Am  Ende  steht  Gadamer wieder  ganz nahe bei Plato, der im Siebenten Brief deutlich gemacht hat: ›Dialektik muß 

5   Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 19537, 5‐15. 6   Hans‐Georg Gadamer, Hermeneutik und ontologische Differenz (1989), in: ders. 

Gesammelte Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, 58‐70, s. bes. 64‐65 und 70, auch zum Folgenden.  

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immer wieder Dialog werden, und Denken muß sich immer im Miteinan‐der des Gesprächs bewähren‹.7 Damit hat sich die Hermeneutik Gadamers in beträchtlichem Maß auf die 

interkulturelle Philosophie  zu  bewegt. Zugleich macht  es  ihm  seine Ver‐wurzelung  in  der  antiken  griechischen  Philosophie  offenbar  unmöglich, den entscheidenden Schritt zu tun und auch in anderen Kulturen Philoso‐phie anzunehmen. Er hält es für ›ganz gewiß richtig, daß die Philosophie ... ganz  und  gar  in  Europa  entstanden  ist‹.  Sein  Verhältnis  zu  den  nicht‐westlichen Kulturen behält  etwas Zwiespältiges. Einerseits gibt  es diesen schwerwiegenden Unterschied, daß Philosophie der europäisch‐westlichen Kultur vorbehalten ist und nirgendwo sonst, auch nicht in der ›indischen ... oder chinesischen Weisheit‹ zu finden ist.8 Andererseits ist es möglich, die Menschen  aller verschiedenen Kulturen prinzipiell  in der gleichen Weise zu verstehen. Denn sie alle haben Sprache und sind  (im) Gespräch. Dem‐gemäß kann mit  ihnen ein Dialog geführt werden, der zum gegenseitigen Verstehen  führt. Besondere Barrieren des Verstehens auf Grund größeren Fremdseins  der  Anderen  aus  anderen  Kulturen,  ›Steigerungsgrade  des Fremdseins‹, wie Waldenfels es nennt,9 braucht man nicht in Rechnung zu stellen.  Die  ›babylonische  Sprachverwirrung‹  bedingt  ›das  Ganze  der Fremdheit, das zwischen Mensch und Mensch sich auftut‹, und  ›darin  ist auch die Möglichkeit ihrer Überwindung eingeschlossen [...] Man muß das Wort  suchen und  kann das Wort  finden, das den  anderen  erreicht. Man kann  die  Fremde,  seine,  des Anderen  Sprache  lernen. Man  kann  in  die Sprache des Anderen übergehen, um den Anderen  zu  erreichen. All das vermag Sprache als Sprache.‹10 

7   Gadamer, Hermeneutik auf der Spur (1994), in: ders., Gesammelte Werke, Bd 10, 

a.a.O., 148‐174, s. bes. 160 und 172, vgl. ders. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer  philosophischen  Hermeneutik,  Tübingen  1961,  zur  ›Verschmelzung  der Horizonte‹ 359‐360, zum ›Universalen Aspekt der Hermeneutik‹ 449‐465. 

8   Gadamer, Europa und die Oikoumene (1993), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, a.a.O., 267‐284, s. bes. 267 und 284.  

9   Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt/M. 1997, 35‐37.  

10  Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion (1985), in: ders. Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, 361‐372, s. bes. 364. 

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Vorsprachliche  und  außersprachliche Kommunikationsformen des Dia‐logs werden nicht berücksichtigt. Der Blickkontakt, die Gestik, das Ausse‐hen mit seinem ethischen und ästhetischen Appell, einschließlich dem sex appeal, die Überzeugungskraft der Stimme und des Stils spielen für Gada‐mer keine Rolle. Wenn es besondere Schwierigkeiten des Verstehens gibt, etwa  bei Dialogen mit  Philosophen  und  Philosophien  anderer Kulturen, die nicht auf technischem Weg, durch das Erlernen der Sprache des Ande‐ren, zu bewältigen sind, gilt es, alle nur möglichen Mittel einzusetzen, die zu  einem  besseren Verstehen  führen  können, und  gewiß  auch die  extra‐diskuriven  und multisensorischen  Elemente  der Dialoge.11  Ferner  ist  im Miteinander‐sprechen der Aspekt des Hörens auf den Anderen wesentlich zu verstärken, so daß ich schon nach ersten Erfahrungen, Dialoge mit afri‐kanischen Philosophen anzugehen, eine ›Methodologie des Hörens‹ vorge‐schlagen und  später  näher  ausgearbeitet  habe.  ›Auch Hören will  gelernt sein: es erfordert Offenheit, Konzentration, Disziplin und eine methodisch geleitete Technik. Wie das Verstehen, das viel später kommt, ist es Kunst‹.12 Eine interkulturelle Hermeneutik wird schließlich im Ergebnis der Verste‐hensbemühung das  vorläufige und das definitive Nichtverstehen  stärker herausstellen müssen, als es bei Gadamer geschieht und als es in einer auf die  eigene Tradition bezogenen Verstehenslehre notwendig  ist. Das  steht deutlich im Vordergrund, auch wenn in Bezug auf bestimmte Sachgebiete, besonders  ästhetische  und  politische  Urteile,  die  umgekehrte  Erfahrung möglich ist, daß man mit Gesprächspartnern aus anderen Kuklturen zu ei‐nem besseren gegenseitigen Verständnis kommen kann als mit solchen aus der eigenen Umgebung.13 Die Erweiterung der Philosophie von Europa und seiner Geschichte auf 

die  gesamte Menschheit  und  ihre  Geschichte  verlangt wie  auch  andere  11  Heinz Kimmerle, Dialoge  als  Form  der  interkulturellen  Philosophie,  in:  ders., 

Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, Nordhausen 2005, 97‐117, s. bes. 111‐114.  

12  Kimmerle, Philosophie  in Afrika – afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen  interkulturellen  Philosophiebegriff.  Frankfurt/M.  1991,  8. Vgl.  ders., Die Dimension des Interkulturellen, Amsterdam/ Atlanta, GA 1994, 126‐128. 

13  Heinz Kimmerle/Henk Oosterling (Hrsg.), Sensus communis  in Multi‐ and  Inter‐cultural Perspective. On the Possibility of Common Judgments in Arts and Poli‐tics, Würzburg 2000, 11‐16. 

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Prozesse  der  Globalisierung  als  Gegenbewegung  eine  Regionalisierung. Die  eine Weltphilosophie gibt  es nur  im Chor der vielen Stimmen kultur‐spezifischer Philosophien.  Senghaas, der  von  kulturtheoretischen Überle‐gungen aus zur interkulturellen Philosophie kommt, sieht die ›große Chan‐ce  […]  für  interkulturelle  Philosophie‹  darin,  daß  ›alle Kulturen‹,  in  der Gegenwart ›mehr als je‹, und dies gilt dann nicht nur geographisch ›in der Welt von heute‹, sondern auch historisch in entsprechenden anderen Situa‐tionen der Geschichte der Menschheit, ›mit sich selbst  in Konflikt geraten und darüber selbstreflexiv werden‹.14 Eben dieses Selbstreflexiv‐werden in Konflikt‐ oder Notsituationen einer 

Kultur ist die Geburtsstunde der Philosophie in der Geschichte dieser Kul‐tur. Dasselbe gilt auch  für erneute Begründungsversuche der Philosophie innerhalb ihrer Geschichte, bei denen sie zu ihren Quellen zurückgeht oder zu den Sachen selbst vorzudringen sucht. So erwartet Heidegger in der an‐gegebenen Rede von der Philosophie (in dem erwähnten problematischen Kontext sagt er: ›von der deutschen Philosophie und damit von der Philo‐sophie überhaupt‹) durch eine ›schöpferische Auseinandersetzung mit der ganzen  bisherigen Geschichte‹  einen  Beitrag  zur  ›Rettung  Europas‹,  das sich 1935 wegen seiner  ›eigenen Entwurzelung und Zerplitterung‹  in  ›ge‐steigerter Bedrängnis‹ befindet.15 Und Hegel spricht 1801 in seinem ersten philosophischen Buch,  in dem er seine eigene Position gegenüber derjeni‐gen Fichtes und Schellings herauszustellen sucht, von der ›geschichtlichen Ansicht philosophischer Systeme‹. Er sagt dort: ›Entzweiung ist der Quell des  Bedürfnisses  der  Philosophie‹.16  Entzweiung  heißt  dabei,  daß  eine  Zeit oder eine Kultur in die Krise gerät, weil die Menschen mit sich selbst, mit dem was sie ›bewußtlos suchen‹, und den bestehenden, in sich verfestigten Strukturen und  Institutionen  ihrer Gemeinschaft,  ›dem Leben, das  ihnen 

14  Dieter Senghaas, Interkulturelle Philosophie in der Welt von heute, in: ders., Zi‐

vilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt/M. 1998, 27‐49, s. bes. 48. 

15  Heidegger, Europa und die deutsche Philosophie, a.a.O. (in Anm. 4), 31. 16  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen 

Systems  der  Philosophie  (1801),  in: Gesammelte Werke,  hrsg.  im Auftrag  der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Band 4: Jenaer Kritische Schriften, hrsg. von H. Buchner und O. Pöggeler, Hamburg 1967, 1‐92, s. bes. 9 und 12. 

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angeboten  und  erlaubt wird‹,  in  einen wachsenden  ›Widerspruch‹  gera‐ten.17 Solche Situationen, die Philosophie (in besonderer Weise) erfordern und 

hervorrufen, kommen in der Geschichte jeder Gemeinschaft immer wieder vor.  Eine Kulturgemeinschaft,  die  auf die  eine  oder  andere Art mit  sich selbst in Konflikt gerät, muß sich und wird sich über ihre eigenen Grund‐lagen, die Bedingungen ihres Bestehens und Fortbestehens inmitten ande‐rer Kulturen und der Natur vergewissern. Sie muß und wird in erster Linie artikulieren, daß sie sich in Frage gestellt sieht, und dabei auffächern, wel‐che Fragen sich in diesem Zusammenhang im Einzelnen stellen. Indem mit den Mitteln des Denkens, Hegel sagt: der ›Vernunft‹, der Zusammenhang dieser Fragen und die möglichen Antworten oder der Hinweis darauf,  in welcher Richtung die Antworten gesucht werden müssen, schrittweise ent‐faltet  werden,  entsteht  die  Philosophie  der  betreffenden  Kulturgemein‐schaft.  Aus diesen Aussagen Hegels zur Entstehung und zum Begriff der Philo‐

sophie  in  dem  soeben  angegebenen  Kontext,  ergibt  sich  seine  damalige Konzeption des Verhältnisses von Philosophie und Geschichte.18 Wie man leicht erkennen wird, unterscheidet sich diese Konzeption radikal von He‐gels späteren Auffassungen. Hegel geht davon aus, daß ›jede Vernunft, die sich auf sich selbst gerichtet und sich erkannt hat,‹ unter den jeweiligen be‐sonderen  Bedingungen  ›eine  wahre  Philosophie  producirt  und  sich  die Aufgabe gelöst hat, welche […] zu allen Zeiten dieselbe ist‹. Dies bedeutet, daß Philosophen auf Grund der  ›verwandten Kraft des Geistes‹ einander erkennen, daß sie in der Philosophie eines Anderen, auch wenn diese unter sehr  unterschiedlichen  historischen  Bedingungen  konzipiert  worden  ist, ›Geist von  ihrem Geist, Fleisch von  ihrem Fleisch‹  finden. Anders ausge‐

17  Hegel, Der  immer sich vergrößernde Widerspruch …  (1799/1800),  in: Werke  in 

zwanzig  Bänden,  hrsg.  von E. Moldenhauer  und K.M. Michel,  Band  1:  Frühe Schriften, Frankfurt/M. 1971, 457‐460, s. bes. 457. 

18  Vgl. zu dieser Passage Kimmerle, Das Verhältnis von Philosophie und Geschich‐te am Anfang der  Jenaer Periode des Hegelschen Denkens und dessen aktuelle Bedeutung, in: ders. (Hrsg.), Die Eigenbeudeutung der Jenaer Systemkonzeptio‐nen Hegels, Berlin 2004, 11‐24. 

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drückt: ›Der lebendige Geist, der in einer Philosophie wohnt, verlangt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist geboren zu werden‹.19 Auch dieser Gedanke Hegels, der sich auf die Philosophie – und übrigens 

auch auf die Kunst – aus früheren Perioden der eigenen Geschichte bezieht, bewährt sich in der Erfahrung der interkulturellen Philosophie. Auch wenn unter fremden geschichtlichen und geographischen Bedingungen eine Kul‐tur selbstreflexiv wird und sich über ihr Bestehen und Fortbestehen verge‐wissert, wird die Philosophie, die daraus hervorgeht, für Philosophen einer anderen Kultur  erkennbar  sein. Die Philosophien verschiedener Kulturen werden dann ebensosehr wie die Philosophien aus verschiedenen Perioden derselben Kultur bei allen inhaltlichen und den Stil des Philosophierens be‐treffenden Unterschieden dem Rang nach gleich, Hegel sagt: ›in sich voll‐endet‹, sein. Wie es  in der Philosophie  ›weder Vorgänger noch Nachgän‐ger‹ gibt, sofern jede Philosophie ihre Aufgabe unter den Bedingungen ih‐rer Zeit und Umgebung gelöst hat, so gibt es auch keine Rangunterschiede zwischen Philosophien verschiedener Kulturen. Entscheidend ist (im Blick auf die historischen und die kulturellen Unterschiede), daß die  jeweiligen Philosophien  die  Fraglichkeit  ihrer  Situation  sowie  den  Zusammenhang einzelner Fragen und möglicher Antwort(richtung)en mit den Mitteln der Vernunft, das heißt des Denkens und nur des Denkens, reflektieren. Für die Philosophie  innerhalb der  europäisch‐westlichen Tradition  läßt 

sich aus der hier herangezogenen Position Hegels von 1801 ableiten, daß es für das eigentlich Philosophische keine Geschichte  in dem Sinn gibt, daß die Späteren gegenüber den Früheren besser sind oder höher stehen. Das‐selbe  läßt sich, mit einer größeren Erwartung auf Zustimmung für das ei‐gentlich Künstlerische  in der Kunst  sagen. Was  sich ändert,  ist  ›das Bau‐zeug  eines Zeitalters‹,  sind  die  herrschenden Vorstellungen  und Auffas‐sungen, ist die Sprache einer Zeit. Auch die technischen Mittel sind wich‐tig,  in der Philosophie  sind dies vor allem die Medien der Sprachlichkeit und  Schriftlichkeit. Bei  ihnen  gibt  es Geschichte und  auch  geschichtliche Fortschritte, man denke  an Diskussionstechniken, Regelungen  für Debat‐ten, persönliche oder  telefonische  Interviews oder auch an handgeschrie‐bene Manuskripte, gedruckte Bücher oder digitalisierte Texte. Das eigent‐

19  Hegel, a.a.O. (in Anm. 16), S. 9‐10 und 12, s. auch zum Folgenden. 

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lich Philosophische, die Aufgabe der Philosophie und  ihre Lösungswege, wird von den technischen Mitteln nicht tangiert. Wir wagen es nun, die 1801 von Hegel so gefaßte ›geschichtliche Ansicht 

philosophischer  Systeme‹  auf  die  kulturellen  Unterschiede  der  Philoso‐phien zu übertragen. Dann ergibt sich: Die kulturellen Unterschiede betref‐fen  nicht  das  eigentlich Philosophische,  das  in  den  höchst  unterschiedli‐chen kulturellen Zusammenhängen dasselbe  ist und  für Philosophen aus anderen Kulturen als Philosophie erkennbar  ist. Deshalb können wir  fest‐halten, daß es für die Philosophien  in den verschiedenen Perioden der ei‐genen Geschichte und  in den verschiedenen Kulturen mit  ihrer  jeweiligen Ge‐schichte  prinzipiell  keine  Rangunterschiede  und  keine  Entwicklung  von weniger gut nach besser oder von tiefer stehend nach höher stehend gibt. Das soll indessen nicht heißen, in der Philosophie gäbe es überhaupt kei‐

ne Rang‐ oder Qualitätsunterschiede. Es ist lediglich gemeint, daß eine Phi‐losophie nicht deswegen geringeren Rang hat als eine andere, weil sie ge‐schichtlich gesehen  früher  ist oder weil  sie geographisch gesehen  aus  ei‐nem anderen Weltteil und einer anderen Kultur stammt. Innerhalb des ge‐schichtlichen Zusammenhangs einer bestimmten philosophischen Traditi‐on oder innerhalb des kulturellen Zusammenhangs einer bestimmten Form des Philosophierens gibt es durchaus Unterschiede des Rangs, der Qualität und des  sachlichen Gewichts. Und es gibt auch zeit‐ und kulturübergrei‐fende Höhepunkte philosophischer Arbeit. Die letzteren müssen jedoch mit besonderer  Vorsicht  beurteilt werden.  Es  darf  nicht  dazu  kommen,  daß dann doch eine Kultur als philosophisch prinzipiell höherstehend gegen‐über anderen angesehen wird. Die herausragende Bedeutung von Platon und Aristoteles, Descartes und 

Spinoza, Kant und Hegel, Heidegger und Wittgenstein  in der europäisch‐westlichen philosophischen Tradition soll ebensowenig  in Abrede gestellt werden wie etwa diejenige Laozis und Kongzis in der chinesichen oder der Upanishaden, der Bhagavadgita und der Brahma‐Sutras  in der Vedanta‐Tradition  der  indischen  Philosophie.  Andere  wichtige  Strömungen  sind weniger allgemein anerkannt. Der Deutsche Idealismus oder die im angel‐sächsischen Bereich entstandene Ordinary language philosophy, zwei heraus‐ragende Richtungen der europäisch‐westlichen Philosophie, werden schon innerhalb dieser Tradition durchaus unterschiedlich beurteilt. Dabei ist die 

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Bedeutung Kants am wenigsten umstritten. Gerade Kant genießt indessen in nicht‐westlichen Philosophien häufig relativ geringere Anerkennung. Was sich am Beispiel der indischen Philosophie zeigt, tritt im Kontext der 

afrikanischen und anderer nicht primär schriftlich überlieferter philosophi‐scher Traditionen noch stärker in den Vordergrund, daß nämlich maßgeb‐liche oder herausragende Beiträge nicht immer mit den Namen ihrer Urhe‐ber verknüpft sind und wie im Fall afrikanischer philosophischer Traditio‐nen nicht als bestimmte benennbare und als solche zugängliche Texte oder Textsammlungen anweisbar sind. Vielfach ist hier auch die heutige Kennt‐nis  zu  begrenzt, weil  die  Traditionslinien  primär mündlich  überlieferter Philosophien mit und  seit der Alphabetisierung und Modernisierung der enstprechenden Kulturen abgerissen sind. Wo überhaupt viel philosophi‐sches Wissen der Menschheit verloren gegangen ist, müssen wir auch den Verlust der Kenntnis besonderer Höhepunkte  in diesen Traditionszusam‐menhängen beklagen. Daß (a) spätere Philosophien prinzipiell nicht besser sind als frühere oder 

(b) solche der eigenen Tradition prinzipiell nicht besser sind als solche aus anderen Traditionen soll dann auch nicht heißen, daß  (a) spätere Philoso‐phen sich nicht auf  frühere zu beziehen brauchen und daß sie nicht nach einer neuen Philosophie streben sollen, in der die positiven Aspekte der äl‐teren mit aufgenommen werden, oder (b) die Philosophien des einen Kul‐turraumes nicht kritisiert und bereichert werden können und sollen durch Dialoge mit Philosophien anderer Kulturräume.  Im ersteren Fall (a) gibt es so etwas wie einen tragenden Anfang, bei dem 

von den Früheren  für die Späteren der Möglichkeitsspielraum abgesteckt wird,  der  von  diesen  durchmessen werden  kann  oder muß.  Das meint Heidegger, wenn er auf den Anfang der europäisch‐westlichen Philosophie bei den Griechen verweist, der die Grundlage für die philosophischen Be‐mühungen von Platon und Aristoteles bis zu Hegel und Nietzsche bildet und dem gegenüber  im 20.  Jahrhundert an der Vorbereitung eines  ›ande‐ren Anfangs‹ gearbeitet werden soll. Vergleichbares ließe sich auch hier für die  chinesischen  und  indischen  philosophischen  Traditionen  sagen,  die durch  Jahrtausende  bestimmte  anfänglich  umgrenzte Möglichkeiten  aus‐messen.  Eine besondere Situation ist dabei für einige religiös gebundene Philoso‐

phien gegeben, wie die buddhistische, jüdische, christliche oder islamische 

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Philosophie.  Sie  berufen  sich  auf  einen  tragenden Anfang, dem  zugleich eine nicht einholbare oder ersetzbare Autorität zukommt. Die Religionsstif‐ter  und  ihre  Lehren  behalten  für  die  sich  darauf  berufenden Religionen und die im Kontext dieser Religionen konzipierten Philosophien diese Art von Autorität: Buddha Gautama für den Buddhismus, Moses und die Pro‐pheten für das Judentum, Jesus und die Apostel für das Christentum, und Mohammed als  letzter und maßgebender Prophet  für den  Islam. Philoso‐phien, die  sich  für den  sie konstituierenden Begründungszusammenhang auf den Hinduismus oder den Animismus beziehen, wie bestimmte  fern‐östliche,  ozeanische  oder  afrikanische philosophische Traditionen,  stehen den nicht religiös gebundenen Philosophien näher, sofern sie nicht von ei‐nem Religionsstifter ausgehen oder einem solchen die beschriebene Form von Autorität zuerkennen. Der tragende Anfang kann für die Späteren, die sich in dem davon eröff‐

neten Möglichkeitsspielraum ansiedeln, nur von Bedeutung sein, sofern er bei ihnen bekannt ist. Und bestimmte auszumessende Möglichkeiten erhal‐ten in dem Maß ihre Kontur, wie sie sich von anderen im Allgemeinen und im Einzelnen absetzen. Bei den religiös gebundenen Philosophien, die sich auf Religionsstifter und deren Lehren berufen,  ist mit dem tragenden An‐fang  ein  in  sich  unendlicher,  aber  prinzipiell  nicht  zu  überschreitender Möglichkeitsspielraum gegeben. Der Rückbezug auf den jeweiligen Anfang ist  bei  ihnen  immer  notwendig  und  besonders  intensiv.  Bei  philosophi‐schen Traditionen, die primär mündlich überliefert worden sind, ist es oft schwer  auszumachen, wann und wo der  tragende Anfang  zu  suchen  ist und welche darauf aufbauenden oder diesen variierende Möglichkeiten be‐reits  vorliegen.  Im  Fall  der  subsaharisch‐afrikanischen  Philosophie wird von einigen Autoren auf das alte Ägypten verwiesen,20 dessen Bevölkerung vor der Arabisierung und Islamisierung der Hautfarbe und dem Phänoty‐

20  Für die religiöse und philosophische Tradition des Ma’at im alten Ägypten gibt 

es mündliche und schriftliche Überlieferungen. Das wichtigste Zeugnis der letz‐teren ist das Ägyptische Totenbuch, eine um 1550 v.u.Z. verfertigte Sammlung von zum Teil viel älteren Sprüchen, die bis zu den Pyramiden‐Texten von 2500 v.u.Z. zurückreichen. S. die Einleitung von B. van der Meer in: Het Egyptische doden‐boek, aus dem Altägyptischen  ins Niederländische übers. von M.A. Geru, De‐venter 1992, 25‐26. 

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pus  nach  zu  Schwarzafrika  gehört  haben  soll.21 Die  lateinamerikanische Philosophie konzentriert sich bislang sehr viel mehr auf Dialoge mit euro‐päisch‐westlichen Partnern,  insbesondere mit den Vertretern der Diskurs‐ethik, als auf die Zuwendung zu einheimischen philosophischen Traditio‐nen.22 Für die methodische Seite des Umgangs  späterer mit  früheren Philoso‐

phien  in  einer  bestimmten  Tradition möchte  ich mich  bei  dem  oben  er‐wähnten von Gadamer vorgeschlagenen Modell von ›Dialogen mit der Ge‐schichte‹ anschließen, obgleich ich – wie oben gesagt – in Bezug auf das Er‐gebnis solcher Dialoge und das Maß der  jeweils zu erreichenden Verstän‐digung  vorsichtiger  sein  und  ein  mögliches  bleibendes  Nichtverstehen stärker  in Rechnung stellen möchte.23 Wer der  jeweilige Dialogpartner  ist, ergibt  sich  aus den Besonderheiten und den Bedürfnissen der  jeweiligen Gegenwart. Daraus konstituiert sich auch das in einer Gegenwart relevante Bild  der  Geschichte,  nicht  als  eines  Kontinuums  von  Vorgängern  und Nachgängern, sondern eher als eine Art Lostrommel, aus der, freilich nicht blindlings, bestimmte Lose gezogen werden. So  ist auch  in dem Fall  (b)  für das Umgehen von Philosophen verschie‐

dener Kulturen mit einander von europäisch‐westlicher Seite aus das Mo‐dell  von Dialogen  vorzuschlagen. Das  habe  ich  in  anderem Zusammen‐hang genauer begründet.24 Die Probleme der Gegenwart bedürfen zu ihrer 

21  Die These von der schwarzafrikanischen Bevölkerung des alten Ägypten ist von 

dem  senegalesischen  Philosophen,  Historiker,  Physiker  und  Politiker  Cheikh Anta Diop (in Texten von 1959 bis 1981) aufgestellt und näher ausgearbeitet und vielfach sowohl bestritten als auch verteidigt worden. Die altägyptische Philoso‐phie  soll nicht nur  für Afrika,  sondern  auch  für das  antike Griechenland und über die Griechen  für Europa  eine  konstituive Bedeutung haben.  S. Leonhard Harding/Brigitte  Reinwald  (Hrsg.), Afrika  – Mutter  und Modell  der  europäi‐schen Zivilisation. Zur Rehabilitierung des Schwarzen Kontinents durch Cheikh Anta Diop, Berlin 1990.   

22  Raoul Fornet‐Betancourt, Philosophie und Theologie der Befreiung, Frankfurt/M. 1988; ders., Lateinamerikanische Philosophie zwischen  Inkulturation und  Inter‐kulturalität, Frankfurt/M. 1997. 

23  Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O. (in Anm. 7), S. 344‐360. 24  Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie, in: ders. Afrikani‐

sche Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, a.a.O. (in Anm. 11). 

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adäquaten Behandlung der Zuwendung  zu bestimmten  Instanzen, Auto‐ren, Textkonstellationen oder Perioden der jeweils eigenen Geschichte. Das ist  indessen nicht  genug. Diese Probleme  sind  so  schwierig und  in  ihrer Zuspitzung für große Teile der Welt oder den Planeten Erde im Ganzen so bedrohlich,  daß  zu  ihrer  Lösung  oder  – was  von  der  Philosophie  redli‐cherweise erwartet werden kann – zum Aufweis der Richtung, in der diese Lösungen  zu  suchen  sind,  die  philosophischen  Potentiale  aller  Kulturen  ge‐nutzt werden müssen. Die Vorräte an atomaren Waffen ermöglichen noch immer,  nach  verschiedenen Abrüstungsabkommen,  einen  overkill der  ge‐samten Menschheit. Und die Gefahr, daß diese Waffen  in die Hände von Fanatikern und/oder gewissenlosen Verbrechern geraten, ist in der letzten Zeit sehr gewachsen. Aber auch die Risiken der so genannten  friedlichen Nutzung der Atomenergie  sind  in  ihren Ausmaßen  kaum  abzuschätzen. Schließlich soll hier noch auf die ungeklärten möglichen Folgen der Gen‐technologie  hingewiesen  werden.  Die  wissenschaftlich‐technische  Erfor‐schung  und Erprobung  der  genetischen Manipulation,  einschließlich des Klonens von Menschen, wird  sich nicht  aufhalten  lassen. Es wird darauf ankommen, daß die Philosophen aller Länder und Weltteile ihre Potentiale und Kräfte zusammenfassen, um wenigstens gesagt zu haben, wo die ethi‐schen  und  vernünftigen  Grenzen  des  Gebrauchs  solcher  Energien  und Technologien verlaufen. Es  ist  leicht  ersichtlich, daß  im  bisherigen Diskurs  zum Philosophiebe‐

griff und zur Philosophiegeschichte primär von den Voraussetzungen der kontinentalen  europäischen Philosophie und den  von  hier  aus  geführten Dialogen mit den Philosophien anderer Kulturen ausgegangen worden ist. Ergänzend hierzu möchte ich den afrikanischen Philosophen Odera Oruka zu Wort kommen lassen, der sich in seinem Philosophieverständnis einer‐seits  innerhalb  der  europäisch‐westlichen  Philosophie  auf  die  angelsäch‐sisch geprägte Ausübung dieses Faches beruft, wie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis  in die  80er  Jahre des  20.  Jahrhunderts dort vor‐herrschend ist, und andererseits auf die Traditionen der afrikanischen Phi‐losophie,  besonders  auf  die  Philosophen  der  traditionellen  afrikanischen Gemeinschaften, die  er  sages nennt. Er  steht  also  für  einen  im bisherigen Diskurs weniger  herangezogenen  Traditionszusammenhang  der  europä‐isch‐westlichen Philosophie und für den Versuch, von diesem aus oder auf diesen  hin  die  Relevanz  der  afrikanischen  philosophischen  Traditionen 

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sichtbar zu machen. Die Erörterung  seines Philosophieverständnisses bil‐det  eine  Fallstudie,  die  den  bisherigen  Überlegungen  zur  Seite  gestellt werden soll, die vor allem von kontinental‐europäischen philosophischen Richtungen und der darin sich begründenden interkulturellen Philosophie ausgehen. Nun hat es  in der europäisch‐westlichen Ausübung des Faches Philoso‐

phie  vierzig  Jahre  gedauert,  bis  das  Schisma  zwischen  kontinental‐europäischer  und  britisch‐nordamerikanischer  Philosophie  überwunden worden  ist, das nach dem Zweiten Weltkrieg von Ausnahmen abgesehen in  den  philosophischen  Diskussionen  dieses  Traditionszusammenhangs geherrscht hat. Seit den  1980er  Jahren beschäftigt man  sich  in der  angel‐sächsischen Philosophie auch  sehr viel mit Kant und Hegel, Husserl und Heidegger, Sartre und den Differenzphilosophen. Umgekehrt werden von der europäisch‐kontinentalen Philosophie Peirce und Russell, Austin und Searle, Wittgenstein  und Putnam  intensiv  rezipiert  und diskutiert. Dem‐entsprechend wird vermutlich  auch  eine  längere Zeitperiode  erforderlich sein,  bevor  die  europäisch‐westliche  Philosophie  sich  in  ihren  offiziellen Vertretern und Wortführern und in ihrer Breite für die Philosophien ande‐rer  Kulturen  öffnet. Orukas  Bestimmung  der  Philosophie  und  des  Um‐gangs mit  ihrer Geschichte, die  in Hinsicht auf  ihre Orientierung an einer spezifisch  angelsächsischen Ausübung  der  Philosophie  bereits  einer  ver‐gangenen  Periode  angehört,  kann  indessen  für  die Zukunftsaufgabe  der Öffnung der Philosophien verschiedener Kulturen  für einander durchaus von Bedeutung sein. Was den Umgang mit der Geschichte der eigenen Phi‐losophie betrifft, steht Oruka mit der ihm eigenen Entschiedenheit auf der Seite der hier vertretenen interkulturell philosophischen Position, wobei er in Bezug auf die eigenen Traditionen auch durchaus kritisch urteilt.25 In der Bestimmung dessen, was Philosophie ist, betont Odera Oruka zu‐

nächst  ihre  enge Verbindung mit  den Wissenschaften,  insbesondere  den exakten Naturwissenschaften.  Er  stimmt  dem  Argument  zu,  es  sei  ›die Hauptaufgabe  der  Philosophie  […]  die Natur  und  die  Bedingungen  der Möglichkeit von Wissenschaft zu bestimmen‹. Später präzisiert und modi‐

25  Henry  Odera  Oruka,  Mythologies  as  African  Philosophy  (1972),  in:  A. 

Graness/K. Kresse (Hrsg.), Sagacious Reasoning. Henry Odera Oruka in memo‐riam, Frankfurt/M. u.a. 1997, 23‐34. 

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fiziert er diesen Standpunkt dahingehend, daß es die Aufgabe der Philoso‐phie ist, die Grundlagen der Wissenschaften zu klären. Das kann nach der Auffassung Orukas die Philosophie nur leisten, wenn sie auch ihre eigenen Annahmen immer wieder in Frage stellt.26 Grundsätzlich gilt: ›Im exakten Sinn  ist Philosophie  eine  rationale und  kritische Reflexion  auf den Men‐schen, die Gesellschaft und die Natur‹. Wenn er sagt, eine ›Beschreibung‹ sei deshalb nicht genug, läßt er offensichtlich die spezifischen Möglichkei‐ten der auf das Wesen gerichteten phänomenologischen Beschreibung au‐ßer Acht. Wenn es sich um die Philosophie einer bestimmten Gemeinschaft handelt,  die  nicht  von  einem  individuellen  Philosophen  konzipiert  ist, handelt  es  sich  seiner Meinung  nach  allenfalls  um Philosophie  in  einem herabgesetzten Sinn (in a debased sense). Dieser einseitig am angelsächsisch geprägten Philosophieverständnis der 

Zeit bis  etwa  1985 orientierte Philosophiebegriff Orukas  führt  zu  einigen recht problematischen Positionen. Dazu gehört, daß er religiös gebundene Philosophien nicht als solche anerkennt. Zwischen Mythologie und Philo‐sophie sieht er eine tiefe Kluft. Das sicher mit einigen nicht adäquaten Vor‐aussetzungen belastete, aber  im Ergebnis  für die afrikanische Philosophie positive Unternehmen von Placide Tempels, der als Europäer die Philoso‐phie  der  Bantu  aus  der  Sprache, Mythologie  und  den Gebräuchen  eines Bantu‐Volkes rekonstruiert, kann Oruka nur rundheraus ablehnen. Und im Blick auf die von  ihm entdeckte Philosophie der sages sieht er sich veran‐laßt, einen nicht  sehr überzeugend durchgeführten Unterschied zwischen folk  sages und philosophical sages einzuführen, wobei nur die Letzteren sei‐nem  einseitigen  Kriterienkatalog  für  das, was  ›Philosophie‹  ist,  entspre‐chen.  Indessen  erreicht Oruka auf diesem Weg durchaus  ein  strategische Ziel: wer selbst bei der Anwendung dieser äußerst eng gefaßten Kriterien als Philosoph  ›im  exakten  Sinn‹  klassifiziert wird, dem wird dieser Titel von niemandem mehr streitig gemacht werden können. Schließlich gibt Oruka seinem Philosophieverständnis eine Wendung, die 

das entschiedene ethische Engagement für die armen Länder innerhalb der Weltgesellschaft erklärt, das sich in seinen späteren Schriften findet. Indem 

26  Odera  Oruka,  Philosophy  and  other  Disciplines  (1974),  in:  Graness/Kresse 

(Hrsg.),  Sagacious Reasoning  a.a.O  (vorige Anm.),  35‐45,  s.  bes.  42‐43,  s.  zum Folgenden den in Anm. 25 genannten Aufsatz 28‐31.  

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er die Philosophie von den Wissenschaften abgrenzt, betont er gerade für die  afrikanischen  Länder,  daß  sie  neben  ihrer  Aufgabe,  Grundlagenfor‐schung  zu betreiben,  zum Entstehen und  zum Ausbau  einer  ›kulturellen Plattform‹ Wichtiges beitragen kann.  Sie kann mithelfen, daß  einem  rein technologisch  orientierten Entwicklungsbegriff  eine  kulturelle Dimension hinzugefügt wird, so daß ein ›besseres‹ Leben sich nicht nur auf den mate‐riellen  Lebensstandard  bezieht,  sondern  auch  darauf,  daß  die Menschen ›glücklicher, würdiger,  im Umgang mit einander  freundlicher,  friedlicher und wohlhabender‹ werden.27 Das sind Ziele, die nicht nur durch eine Mo‐dernisierung und Verwestlichung nicht‐westlicher Länder erreicht werden können, sondern die Einflüsse  in beide Richtungen, eine gemeinsame Ar‐beit der Philosophen aus verschiedenen Kulturen, voraussetzen. Es  wird  deutlich  geworden  sein,  daß  sich  interkulturelle  Philosophie 

nicht ausschließlich am Schreibtisch oder vor dem PC entwickeln läßt. Aus diesem Grund  habe  ich  in meinem Artikel  ›Afrikanische Philosophie  als Weisheitslehre?‹ von einer ›Methodologie der Tat‹ gesprochen.28 Für euro‐päisch‐westliche Philosophen  ist es wichtig, daß sie sich der anderen Kul‐tur aussetzen, mit deren Philosophie sie  in einen Dialog kommen wollen, indem sie längere Zeit am Ort und in der Umgebung der dortigen Kollegen am Prozeß der Forschung und Lehre teilnehmen sowie umgekehrt mit die‐sen Kollegen am eigenen Ort und in der eigenen universitären Umgebung zusammen  arbeiten. Das müßte  auf  die Dauer  zu  einem Austausch  von Professoren, Dozenten und Studenten  führen. Die Arbeit der Gesellschaf‐ten  und  Stiftungen  für  interkulturelle  Philosophie mit  ihren Kongressen und Symposien sowie den bisher bestehenden Buchreihen und Zeitschrif‐ten, die zum Teil auch  im  Internet präsent sind, bilden  in dieser Hinsicht einen Anfang. Die offiziellen, auch mit entsprechenden Mitteln ausgestatteten europä‐

isch‐westlichen Wissenschaftsinstitutionen  geben  der  interkulturellen Di‐mension der Philosophie nur wenig Raum.  In den Ländern des  europäi‐schen Kontinents ist dies in noch weitergehendem Maß der Fall als in den 

27  Odera Oruka, a.a.O. (vorige Anm.), 43‐45. 28  Kimmerle, Afrikanische Philosophie  als Weisheitslehre?,  in: R.A. Mall/D. Loh‐

mar  (Hrsg.),  Philosophische  Grundlagen  der  Interkulturalität,  Amster‐dam/Atlanta, GA 1993, 159‐180, s. bes. 159 und 178 Anm. 1. 

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angelsächsischen Ländern, besonders in den USA. Es hat zur Folge, daß die Beschäftigung mit buddhistischer und hinduistischer Philosophie zwar auf breiter Front, aber überwiegend in außeruniversitären Kontexten geschieht. Das gilt noch mehr für islamischer Philosophie, obwohl aktuelle Ereignisse, in denen der  islamische Fundamentalismus unübersehbar vor der Weltöf‐fentlichkeit  präsent  ist,  zu  einer  gründlicheren  Beschäftigung  herausfor‐dern. Die Dialoge mit lateinamerikanischer Philosophie bleiben am Rande offizieller  akademischer Arbeit. Das  Schlusslicht  bilden  afrikanische  und andere traditionell primär mündlich überlieferte Philosophien.  Sofern gerade auch die  letzteren zu einer Neubesinnung auf den Philo‐

sophiebegriff und die Philosophiegeschichte Anlaß geben, kann  ihre Ein‐beziehung  einen  Umschlag  herbeiführen.  Weil  mündliche  Formen  der Kommunikation und Überlieferung  im Vorgerund  stehen,  ergibt  sich die Frage, was  die  besonderen Möglichkeiten  und Ausdrucksformen  primär mündlichen  philosophischen Denkens  sind  und wie  sie  sich  zur  primär schriftlich  betriebenen  Philosophie  verhalten. Odera Oruka weist  für  die oben erwähnte Philosophie der sages darauf hin, daß sie in wesentlich grö‐ßerem Maß  als  schriftlich betriebene Philosophien von der Kapazität des Gedächtnisses Gebrauch machen.29 Damit  hängen  bestimmte  sprachliche Ausdrucksformen zusammen wie die Wiederholung bestimmter charakte‐ristischer Wendungen und die Zusammenfassung in kondensierten Formu‐lierungen. Die Weitergabe  des Wissensvorrats  geschieht  im  Zusammen‐hang gemeinsamen Lebens und Philosophierens älterer und  jüngerer Phi‐losophen. Bindung an die Tradition und kritische Weiterbildung des Über‐lieferten spielen zugleich eine Rolle. In seiner Habilitationsschrift, in der er die Besonderheiten primär münd‐

lichen philosophischen Denkens gegenüber schriftlichen Formen der Philo‐sophie thematisch behandelt, hebt Mabe, der aus Kamerun stammt und in Deutschland lehrt, drei ›Methoden der Oralität‹ besonders hervor: Media‐tion,  Inspiration  und  Initiation,  die  sich  spezifisch  auf  die  mündlichen Formen  des  philosophischen  Denkens  im  subsaharischen  Afrika  bezie‐

29  Odera Oruka, Sage Philosophy. Indigenous Thinkers and Modern Debate on Af‐

rican Philosophy, Leiden u.a. 1990, 27‐32. 

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hen.30 ›Mediation‹ meint, daß jemand ein Medium sein kann und Botschaf‐ten  aus  einer übersinnlichen Welt  erhält. Dabei  grenzt Mabe philosophi‐sche Mediation ausdrücklich ab von dem ›mystischen Medium der Magier, Hexen, Heiliger und (wie er sagt) sonstiger Scheinpropheten‹. Es geht ihm vielmehr um ›mediatisierte oder mediative Vernunft‹, durch die eine ›syn‐thetische Verbindung von Geist und Körper oder Seele und Leib‹ entsteht. Der Geist oder die Seele hat nicht nur Verbindung zur übersinnlichen Welt der  Ideen, er oder sie kann auch von den Geistern Verstorbener  Informa‐tionen empfangen. ›Inspiration‹ und  Intuition sind auch beim primär schriftlichen Philoso‐

phieren unverzichtbar. Als Methode der Oralität wird  sie von Mabe we‐sentlich  weiter  gefaßt.  Traum, Musik,  Tanz,  rhetorisches  Sprechen  sind nach  seiner Darstellung Ausdrucksformen der  Inspiration. Sie ermöglicht Zugang  zur  ›unsichtbaren  Seite des Universums‹. Die  ›Initiation‹ bezieht sich  auf  die  rituelle  Einweihung  nicht  nur  in  bestimmte  Lebensphasen, sondern auch  in ein anders nicht ohne weiteres zugängliches Wissen. Als Beispiel erwähnt Mabe den ›Regenmacher‹, der auf Grund einer Initiation über ein Wissen der ›dem Klima zugrunde liegenden Gesetze‹ verfügt, das es ihm ermöglicht, diese zu beeinflussen. Dem Projekt einer Konvergenzphilosophie gemäß, an dem Mabe arbeitet, 

sucht er orales und schriftliches Philosophieren zusammen zu bringen und zu  harmonisieren.  Den Methoden  der  Oralität  ordnet  er Methoden  des primär schriftlichen Philosophierens zu. So will er Mediation mit  ›Analy‐se‹, Inspiration mit ›Experiment‹ verbinden. Für Initiation findet sich kein methodisches Äquivalent im schriftlichen Philosophieren, obwohl das Sich‐berufen‐fühlen (›Vokation‹) auch hier eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Beide Grundtypen philosophischen Denkens können sich nach Mabes Dar‐stellung ergänzen, so daß ein sehr viel stärkeres  Instrumentarium  für die weltweite philosophische Arbeit entsteht. 

30   Jacob Emmanuel Mabe, Schriftliche und mündliche Formen des philosophischen 

Denkens  in Afrika, Diss. habil., TU Berlin  2004,  196‐213.  (Einfügung  in Klam‐mern  im  Zitat  von mir, HK.) Die  Zusammenfassung  dieser  Passage  aus  dem Werk Mabes  und  die  daran  anschließenden Überlegungen machen  Gebrauch von dem Schluß‐Abschnitt meines Buches: Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, a.a.O. (in Anm. 11), 119‐122. 

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Es  ist zweifellos wichtig und zukunftsweisend, Möglichkeiten der Kon‐vergenz primär schriftlichen und primär mündlichen Philosophierens auf‐zuweisen. Daneben  scheint  es mir  auch  sinnvoll,  nicht  nur  eine  Vermi‐schung und Harmonisierung beider Formen philosophischen Denkens an‐zustreben, sondern auch jede für sich weiter zu entwickeln und auszubau‐en.  Jedenfalls sollte die Möglichkeit bestehen, schwerpunktmäßig mit den Methoden der Oralität oder denen der Schriftlichkeit zu arbeiten. Bei den interkulturell philosophischen Dialogen, die sich beider Formen des Philo‐sophierens bedienen und die auf diesen Wegen inhaltliche Ergänzung und Bereicherung durch die Kombination und das Auf‐einander‐Beziehen der Philosophien verschiedener Kulturen zustande zu bringen suchen, ergeben sich Gemeinsamkeiten  und Divergenzen.  So  sind  zum  Beispiel  afrikani‐scher Gemeinschaftssinn und europäisch‐westlicher Individualismus beide in Bewegung, teils durch wechselseitiges Kennenlernen und Dialogisieren, teils  auch  in  anderen Zusammenhängen. Aus den  interkulturell philoso‐phischen Dialogen zu diesem Thema ergibt sich schließlich: einerseits wird im afrikanischen Denken das Ich im Wir verstärkt, andererseits gewinnt im europäisch‐westlichen Denken das Eingebettetsein des  Ich  ins Wir an Be‐deutung. Aber es bleiben unterschiedliche Akzentuierungen beider Instan‐zen. Häufig geht es nicht darum, die Position des Anderen, soweit es gelingt 

sie zu verstehen, ganz oder teilweise zu übernehmen. Die Erweiterung des Verstehenshorizonts,  auch wenn  dieser  nicht mit  dem Horizont  des Ge‐sprächspartners ›verschmilzt‹, hat als solche bereits eine nicht unerhebliche wissensmäßige und ethische Bedeutung. So kann die ganz andere Behand‐lung der Wahrheitsfrage durch  afrikanische Philosophen, um dieses Bei‐spiel hier heran zu ziehen, dabei helfen, in der eigenen Tradition und aktu‐ellen  Denksituation  weniger  Beachtetes  oder  Vergessenes  ans  Licht  zu bringen.  Eine  allgemeine  Sensibilisierung  für  Unterströmungen,  bewußt oder unbewußt Ausgeschlossenes  in den eigenen Diskursen  ist als  solche bereits wertvoll und von Nutzen. Das Streben nach Gemeinsamkeiten und Konvergenzen steht  in der heutigen Welt an erster Stelle. Zur Lösung der weltweiten Probleme auf den Gebieten des Umweltschutzes, der Friedens‐sicherung und des Umgangs mit gefährlichen Möglichkeiten gentechnolo‐gischer Manipulation  sind  alle verfügbaren Mittel des Denkens und  klä‐render Reflexion einzusetzen. Aber auch das Festhalten von Diversität und 

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(noch) nicht harmonisierbaren Unterschieden ist wichtig. Auf diesem Weg bleibt ein dynamisches Reservoir an Denkmitteln und Denkmöglichkeiten erhalten, aus dem auch  in Zukunft geschöpft werden kann, wenn es gilt, neuen Herausforderungen zu begegnen und an der Lösung jetzt noch nicht bekannter Probleme zu arbeiten.  

Literaturangabe: Kimmerle, Heinz:  Interkulturelle Konzeptionen des Philosophiebegriffs und der Philosophiegeschichte, in: Wege zur Philosophie. Grundlagen der Interkultu‐ralität, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer und Ina Brau, Nordhau‐sen 2006 (239‐260).