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BerWissGesch 5 (1982): Dokumentation und Information 237 Internationale BoUzmann-Tagung (Wien, 5.-8.9.1981) Ungeachtet seines polemischen Charakters und seiner außerordentlich sensiblen Wesensart genoß Ludwig Boltzmann höchstes Ansehen bei seinen Zeitgenossen. Der Göttinger Phy- siker Waldemar Voigt konnte von ihm sagen, daß seit dem Tode von Helmholtz Boltz- mann das unbestrittene Haupt der theoretischen Physik in Deutschland gewesen sei. Er gehörte auch zu den ersten Physikern, die man für den Nobelpreis ausersehen hatte, wenn es auch nicht mehr zu einer Verleihung kam. Der junge Einstein sandte ihm 1900 das Manuskript seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Begutachtung. Als er im September 1906 seinem Leben wegen eines unheilbaren Leidens ein Ende bereitete, hin- terließ er ein reiches wissenschaftliches Werk. Seine bedeutendste Leistung ist aber sein Eintreten fur den Atomismus der Materie und die darauf fußende theoretische Grund- legung der Statistischen Physik, die neben Mechanilc, Elektrodynamik und Quantentheo- rie jetzt als vierter Grundpfeiler das Gebäude der Theoretischen Physik stützt. Boltzmanns wissenschaftliche Abhandlungen wurden kurz nach seinem Tode im Auf- trage des Kartells der Wissenschaftlichen Akademien von Berlin, Göttingen, Leipzig, Mün- chen und Wien - nachdem Sommerfeld seine Zusage zur Herausgabe zurückgezogen hatte - schließlich durch seinen Schüler Fritz Hasenöhrl herausgegeben. Seine Vorlesungen über Maxwells Theorie, Gastheorie und über die Principe der Mechanik erschienen in mehreren Auflagen und haben die nachfolgenden Generationen inspiriert. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich noch immer die Populären Schriften, in denen Boltzmann sich als witziger und geistreicher Mensch mit einer ungewöhnlichen Vielseitigkeit auch außerhalb seines speziellen Fachgebietes erweist. In Anbetracht dieser einzigartigen Bedeutung scheint es um so erstaunlicher, wie wenig Boltzmann bisher von der wissenschaftshistorischen For- schung beachtet wurde. Als Grund dafür könnte der nahezu vollständige Verlust seines Nachlasses angeführt werden. Unter der Schirmherrschaft des Österreichischen Bundesministers für Wissenschaft und Forschung, Frau Dr. Hertha Firnberg, sowie unter Mitwirkung der Stadt und der Universi- tät Wien wurde im vergangenen Herbst von Roman Sex! eine Tagung einberufen, zu der Forscher aus aller Welt zusammenkamen, um hier in Wien Stellung zu Boltzmann, seinem Werk und seiner Ausstrahlung zu nehmen. Insgesamt 24 Wissenschaftler hielten während dreierTage Referate und diskutierten unter Beteiligung des anwesenden Publilmms. Der erste Vormittag wurde unter dem Vorsitz von R. Sexl mit biographischen Beiträ- gen eröffnet. Gleich der erste Vortrag begann mit einer Überraschung. Gerhard Fasol, ein junger Nachkomme Boltzmanns, referierte über bisher unbekannte Manuskripte und Notizbücher seines Großvaters. Damit entsteht die Hoffnung, daß nicht alles von Boltz- manns hinterlassenen Papieren verloren ist, wie man bisher befürchtete. Insbesondere kommentierte Fasol ein unvollendetes Manuskript des jungen Boltzmann über einen (wahrscheinlich zwischen 1866 und 1868 entstandenen) Versuch einer Theorie des festen Körpers vom Standpunkt der mechanischen Wärmelehre. Obwohl Boltzmann darin die periodische Gitterstruktur noch nicht berücksichtigt hat, kommt sein (unveröffentlicht gebliebener) Entwurf einer dynamischen Theorie der spezifischen Wärme fester Körper den heutigen Vorstellungen schon sehr nahe. Eine weitere Kostprobe aus seiner Schatz- kammer lieferte Fasol durch die Bekanntgabe, daß er Aufzeichnungen besitze, die Boltz- mann sich in den späten Jahren für seine reichbesuchten Vorträge über die Philosophie der Natur anfertigte. Bekannt davon ist bisher nur der (in den Populären Schriften enthal- tene) Eröffnungsvortrag, während Aufzeichnungen zu weiteren sechzehn Vorträgen vor- liegen. Insbesondere die Hinweise auf Untersuchungen zur nicht-euklidischen Geometrie lassen interessante Materialien zur Vargeschichte der Relativitätstheorie erwarten. Die in

Internationale Boltzmann-Tagung (Wien, 5.-8.9.1981)

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BerWissGesch 5 (1982): Dokumentation und Information 237

Internationale BoUzmann-Tagung (Wien, 5.-8.9.1981)

Ungeachtet seines polemischen Charakters und seiner außerordentlich sensiblen Wesensart genoß Ludwig Boltzmann höchstes Ansehen bei seinen Zeitgenossen. Der Göttinger Phy­siker Waldemar Voigt konnte von ihm sagen, daß seit dem Tode von Helmholtz Boltz­mann das unbestrittene Haupt der theoretischen Physik in Deutschland gewesen sei. Er gehörte auch zu den ersten Physikern, die man für den Nobelpreis ausersehen hatte, wenn es auch nicht mehr zu einer Verleihung kam. Der junge Einstein sandte ihm 1900 das Manuskript seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung zur Begutachtung. Als er im September 1906 seinem Leben wegen eines unheilbaren Leidens ein Ende bereitete, hin­terließ er ein reiches wissenschaftliches Werk. Seine bedeutendste Leistung ist aber sein Eintreten fur den Atomismus der Materie und die darauf fußende theoretische Grund­legung der Statistischen Physik, die neben Mechanilc, Elektrodynamik und Quantentheo­rie jetzt als vierter Grundpfeiler das Gebäude der Theoretischen Physik stützt.

Boltzmanns wissenschaftliche Abhandlungen wurden kurz nach seinem Tode im Auf­trage des Kartells der Wissenschaftlichen Akademien von Berlin, Göttingen, Leipzig, Mün­chen und Wien - nachdem Sommerfeld seine Zusage zur Herausgabe zurückgezogen hatte - schließlich durch seinen Schüler Fritz Hasenöhrl herausgegeben. Seine Vorlesungen über Maxwells Theorie, Gastheorie und über die Principe der Mechanik erschienen in mehreren Auflagen und haben die nachfolgenden Generationen inspiriert. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich noch immer die Populären Schriften, in denen Boltzmann sich als witziger und geistreicher Mensch mit einer ungewöhnlichen Vielseitigkeit auch außerhalb seines speziellen Fachgebietes erweist. In Anbetracht dieser einzigartigen Bedeutung scheint es um so erstaunlicher, wie wenig Boltzmann bisher von der wissenschaftshistorischen For­schung beachtet wurde. Als Grund dafür könnte der nahezu vollständige Verlust seines Nachlasses angeführt werden.

Unter der Schirmherrschaft des Österreichischen Bundesministers für Wissenschaft und Forschung, Frau Dr. Hertha Firnberg, sowie unter Mitwirkung der Stadt und der Universi­tät Wien wurde im vergangenen Herbst von Roman Sex! eine Tagung einberufen, zu der Forscher aus aller Welt zusammenkamen, um hier in Wien Stellung zu Boltzmann, seinem Werk und seiner Ausstrahlung zu nehmen. Insgesamt 24 Wissenschaftler hielten während dreierTage Referate und diskutierten unter Beteiligung des anwesenden Publilmms.

Der erste Vormittag wurde unter dem Vorsitz von R. Sexl mit biographischen Beiträ­gen eröffnet. Gleich der erste Vortrag begann mit einer Überraschung. Gerhard Fasol, ein junger Nachkomme Boltzmanns, referierte über bisher unbekannte Manuskripte und Notizbücher seines Großvaters. Damit entsteht die Hoffnung, daß nicht alles von Boltz­manns hinterlassenen Papieren verloren ist, wie man bisher befürchtete. Insbesondere kommentierte Fasol ein unvollendetes Manuskript des jungen Boltzmann über einen (wahrscheinlich zwischen 1866 und 1868 entstandenen) Versuch einer Theorie des festen Körpers vom Standpunkt der mechanischen Wärmelehre. Obwohl Boltzmann darin die periodische Gitterstruktur noch nicht berücksichtigt hat, kommt sein (unveröffentlicht gebliebener) Entwurf einer dynamischen Theorie der spezifischen Wärme fester Körper den heutigen Vorstellungen schon sehr nahe. Eine weitere Kostprobe aus seiner Schatz­kammer lieferte Fasol durch die Bekanntgabe, daß er Aufzeichnungen besitze, die Boltz­mann sich in den späten Jahren für seine reichbesuchten Vorträge über die Philosophie der Natur anfertigte. Bekannt davon ist bisher nur der (in den Populären Schriften enthal­tene) Eröffnungsvortrag, während Aufzeichnungen zu weiteren sechzehn Vorträgen vor­liegen. Insbesondere die Hinweise auf Untersuchungen zur nicht-euklidischen Geometrie lassen interessante Materialien zur V argeschichte der Relativitätstheorie erwarten. Die in

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Aussicht gestellte Veröffentlichung dieser Manuskripte wird Philosophen und Historikern allem Anschein nach reiche Arbeit bescheren.

Den zweiten Vortrag dieses Morgens hielt Paul Urban. Lange Zeit lehrte er in Graz am gleichen Institut wie Boltzmann. Er konnte deshalb als besonderer Kenner interessante Einzelheiten über dessen 25-jährigen Aufenthalt dort berichten. (Eine überarbeitete Fas­sung des Vortrags erschien kürzlich in: Physikalische Blätter 38 (1982), 259-264.) Einen überblick über das gesamte Leben Boltzmanns vermittelte Dieter Flamm, ebenfalls ein Nachkomme des großen Gelehrten, in seinem Vortrag über die Persönlichkeit Ludwig Boltzmanns. Die Beiträge von Kar! von Meyenn und Anne Kox stützen sich zum Teil auf bisher unveröffentlichtes Briefmaterial. (Insbesondere waren darunter zwölf Briefe von Boltzmann an Felix Klein, deren Originale in der Universitätsbibliothek in Göttingen und im Ehrenfestarchiv des Boerhaave-Museums in Leiden aufbewalut werden. Da der Emp­fänger dieser Briefe auf denselben nicht verzeichnet ist und die Briefe in Leiden unter Ehrenfests Papieren abgelegt waren, wurde auch Ehrenfest bisher irrtümlicherweise als Empfänger angesehen. Schrift und Inhalt weisen jedoch Felix Klein als den wirklichen Empfänger aus.) Während von Meyenn zu zeigen versuchte, daß Boltzmann öfters eine pointierte Darstellungsweise wählte und mit Absicht Polemik suchte, um seinen Auffas­sungen Anerkennung zu verschaffen, konnte Kox Inhaltliches aus der reichen wissen­schaftlichen Korrespondenz zwischen Boltzmann und Lorentz mitteilen und kommen­tieren. (Unter den insgesamt 17 Schriftstücken befinden sich fünf Schreiben von Lorentz an Boltzmann, die nur deshalb erhalten sind, weil Lorentz öfters die Entwürfe seiner Briefe aufbewahrte. Der vollständige Wortlaut dieser Korrespondenz wird durch A. Kox demnächst in der Lorentz-Briefedition publiziert.)

Die Vorträge des Nachmittags dieses ersten Tages galten der historischen Analyse von Boltzmanns statistischen Arbeiten. Den Vorsitz führte Paul Urban. Zuerst sprach Hiroshi Ezawa aus Tokio über die unterschiedliche Temperaturdeutung (aufgrund des Boltzmann­faktors) bei Boltzmann und Maxwell: Während dieser Falctor bei Maxwell ein Maß für die Anzahl der Teilchen in einem bestimmten Zustand ausdrücken soll, gibt er bei Boltzmann die Verweilzeiten in diesem Zustand an. Martin Curd aus Purdue, Ind., setzte sich kritisch mit Poppers Interpretation der Boltzmannschen Auffassung von Entropie und Zeitrich­tung auseinander. Anschließend sprachen Joel Pouthas, Orsay, über Entropie und den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und Steven French aus London über Boltzmann­Statistik und Individualität. Der erste Tag endete mit einem Empfang der Stadt in dem Festsaal des Wiener Rathauses.

Am Sonntag stand das philosophische Vermächtnis des Gelehrten im Brennpunkt. Engelbert Broda, der bisher einzige Biograph Boltzmanns, führte den Vorsitz bei den Vormittagsvorträgen. Der Philosoph Hans Götschl aus Graz versuchte sich an einem Ent­wurf zu Boltzmanns Wissenschaftstheorie und wies auf die Bedeutung hin, die Boltzmann der Interdependenz von Philosophie und Wissenschaft beimaß. Sehr umstritten war ein Beitrag von Dirich Hoyer aus Münster, der hier nochmals vergeblich nach Zustimmung für seine Auffassungen über den unmittelbaren Zusammenhang von Boltzmann-Statistilc und Quantentheorie suchte. Der amerilcanische Machforscher John Blackmore wies in sehr anschaulicher Weise Machsehe Einflüsse bei Boltzmann nach. Der Nachmittag dieses Tages war Vorträgen von Engelbert Broda, Herbert Hörz aus Berlin-Ost und Friedrich Wallner aus Theresienfeld vorbehalten. Boltzmanns große Bewunderung für Darwin kommt mehr­fach in seinen Reden und Ansprachen zum Ausdruck. Die näheren Hintergründe und die Auswirkungen auf seine naturphilosophischen Ansichten behandelte Broda in seinem Vor­trag über Boltzmann und Darwin. Boltzmann, der zweimal einem Ruf an deutsche Univer­sitäten (München und Leipzig) gefolgt war, hatte 1888 seine Zusage zur Berufung auf die Nachfolge von Kireilhoff in Berlin nach längerem Zögern zurückgezogen. Trotz einiger

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Vorbehalte, die er gegenüber den Berliner Physikern hegte, war sein Verhältnis zu dem angesehendsten Physiker des Deutschen Reiches, Hermann von Helmholtz, jedoch von Hochachtung geprägt. Zwölf Briefe von Boltzmann an Helmholtz aus der Zeit zwischen 1872 und Helmholtz' Tod 1894, die Hörz in seinem Vortrag auswertete, geben jetzt nähere Auskünfte über dieses Verhältnis. (Diese Briefe werden im Rahmen einer Helm­holtz-Edition durch die Akademie der Wissenschaften der DDR demnächst veröffent­licht.) Friedrich Wallner suchte dagegen anhand von Textanalysen Beziehungen zwischen Boltzmann, Hertz und Wittgenstein auszumachen. - Die Ministerin, die an diesem Tage anwesend war, gab bei einer kurzen Ansprache die Gründung einer Boltzmann-Professur bekannt.

Die Vormittagssitzung des letzten Tages leitete Dieter Flamm, während am Nachmittag Abraham Pais den Vorsitz übernahm. Während der Mittagsstunden fand ein Besuch des Grabes von Boltzmann auf dem Wiener Zt:ntralfriedhof statt. Arthur Miller von der Har­vard Universität widmete seine Ausführungen der Boltzmannschen Mechanik, während Walter Kaiser aus Mainz die Bedeutung der mechanischen Modelle in Boltzmanns gesam­ter Physik herausstellte. Die Entwicklung des Entropiebegriffes seit Boltzmann bis hin zu den neuesten quantentheoretischen Erweiterungen und die dabei auftretenden Schwierig­keiten erläuterte der Wiener theoretische Physiker Alfred Wehrl. Hans Motz (aus Oxford) begann die Frage zu erörtern, inwiefern Boltzmann bereits die Idee der allgemeinen Relativität vorweggenommen und möglicherweise Einstein Anregung gegeben haben könne. Ähnliches suchte Siegfried Wagner für die spezielle Relativitätstheorie mit Hilfe von zahlreichen Textauszügen zu erreichen. Mit den Beiträgen von Trevor W. Marshall (Manchester) über Brownsche Bewegung und zweiten Hauptsatz und von M. Bozic (Bel­grad) über Zufall und Determinismus bei Clausius und Boltzmann war das Ende der Vorträge erreicht. (Eine Auswahl der Vorträge dieser Tagung wird in Band 8 der von R. Sexl geleiteten Boltzmann-Gesamtausgabe publiziert werden'.) In einer glänzenden Rede faßte Abraham Pais die Ergebnisse der Tagung, insbesondere der letzten Sitzung, zusammen.

Die Abschlußfeier fand nach Wiener Tradition in einem Heurigen statt. - Parallel zu der Tagung organisierte die Wiener Zentralbibliothek für Physik unter der Leitung von Dr. Kerber eine hübsche ldeine Ausstellung, in der Manuskripte, Briefe, Sonderdrucke und Bildnisse von Boltzmann und seiner Zeit gezeigt wurden.

1 [Hierzu siehe unten, S. 263 f., die Besprechung der ersten Bände.]

Dr. Kar! von Meyenn Universität Stuttgart Lehrstuhl ftir Geschichte der Naturwissenschaften und Technik Seidenstraße 36 D-7000 Stuttgart 1