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Nr. 4/2012 Juli/August € 4,– INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Die Zukunft der europäischen ArbeiterInnen steht in Griechenland auf dem Spiel Frankreich Spanischer Staat Algerien Pakistan Quebec Brasilien

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Nr. 4/2012 Juli/August € 4,–

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Die Zukunft der europäischen ArbeiterInnen steht in Griechenland auf dem Spiel

Frankreich Spanischer Staat Algerien Pakistan Quebec Brasilien

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2 inprekorr 4/2012

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Die sprunghafte Entwicklung der Systemkrise und der systemkonformen Lösungs-versuche lässt einige der hier veröffentlichten Beiträge, etwa zu Griechenland oder Spanien, überholt erscheinen – ein unvermeidbares Resultat der Erscheinungswei-se von IPK. Daher mögen Leserinnen und Leser über einzelne nicht mehr aktuel-le Daten hinwegsehen, die Artikel verlieren dadurch (fast) nichts an ihrer grund-sätzlichen Bedeutung.

Eure Redaktion

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

IMPRESSUM

Inprekorr ist das Organ der IV. Interna-tionale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internationale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammen-arbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politi-schen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internationale.

Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich ge-kennzeichnete Artikel geben nicht unbe-dingt die Meinung des herausgebenden Gremiums wieder.

Konto: Neuer Kurs GmbH, 25761 BüsumPostbank Frankfurt/M. 60320 Frankfurt a.M.(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604IBAN = DE97 5001 0060 0036 5846 04BIC = PBNKDEFF

Abonnements: Einzelpreis: € 4,–Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–Solidarabo: ab € 30,–Sozialabo: € 12,–Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–Auslandsabo: € 40,–

Website:http://inprekorr.de

Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Al thaler, Daniel Berger, Wilfried Dubois, Jochen Herzog, Paul Kleiser, Björn Mertens, Ursi UrechE-Mail: [email protected]

Satz: Grafikkollektiv Sputnik

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34,25761 Büsum, E-Mail: [email protected]

Kontaktadressen:RSB / IV. InternationaleEigenstr. 5247053 Duisburg

isl, internationale sozialistische linkeRegentenstr. 75–59, D-51063 Köln

SOAL, Sozialistische [email protected]

Sozialistische AlternativePostfach 4070, 4002 Basel

Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen per-sönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung im Sinne des Eigentums-vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehän-digt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung um-gehend zurückzusenden.

GriechenlandDie Zukunft der europäischen ArbeiterInnen steht in Griechenland auf dem Spiel,

Erklärung des Exekutivbüros der Vierten Internationale ..................................................3Erwiderung der OKDE auf die Erklärung des Exekutivbüros der IV. Internationale ...........4Antwort an das Zentralkomitee von OKDE-Spartakos (griechische Sektion

der IV. Internationale) ........................................................................................................6Für ein Kampfprogramm gegen den Kapitalismus und für eine unabhängige

antikapitalistische und revolutionäre Partei .......................................................................8

FrankreichFront de Gauche: wie weiter?, François Sabado ................................................................10

Spanischer StaatDie Macht der Banken und deren Vasallen in der Regierung am Beispiel der Bankia,

Charles-André Udry ........................................................................................................12

AlgerienAlgerien: Erklärung zu den Parlamentswahlen, Nationales Sekretariat der

Sozialistischen Arbeiterpartei (PST) ...............................................................................15

Pakistan„Die LPP ist eine sozialistische Partei, die die Alltagsprobleme der Leute aus

der Nähe kennt.“, Interview mit Farooq Tariq .................................................................16Karatschi: Unternehmer terrorisieren Webereiarbeiter, Pierre Rousset ..............................18

QuebecDer „Streik der Studierenden“ in Quebec – Ein Ahornfrühling voller roter Quadrate

Louis Gill .........................................................................................................................33

BrasilienBilanz unserer Beteiligung an der brasilianischen PT von 1979 bis zur ersten

Regierung Lula, João Machado ......................................................................................38

NachrufGerry Foley – ein Leben für die sozialistische Revolution, Jeff Mackler ...........................49

die internationaleDie Krise der Linkspartei, B. B. ..........................................................................................21DIE LINKE NRW nach zwei Jahren Präsenz im Landtag, Manuel Kellner .......................23Worum geht es in der Diskussion über Griechenland? Andreas Kloke ...............................25Das Pendel, Manos Skoufoglou ...........................................................................................28

InhAlt

InhAlt

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GrIechenlAnD

GrIechenlAnDDie Zukunft der europäischen ArbeiterInnen steht in Griechenland auf dem Spielerklärung des exekutivbüros der Vierten Internationale

Seit zwei Jahren kämpft das griechi-sche Volk gegen die Sparpolitik, die ihm von der „Troika“ (dem Interna-tionalen Währungsfonds, der Euro-päischen Kommission und der Euro-päischen Zentralbank) aufgezwungen wird. Nach siebzehn Tagen General-streiks, nach den massiven Demons-trationen und den Platzbesetzungen der aganaktismeni (Empörten), nach den Betriebsbesetzungen hat das grie-chische Volk bei den Wahlen vom 6. Mai die Parteien, die den Griechen-land aufgezwungenen „Memoranden“ zugestimmt haben, mit über 60 % der abgegebenen Stimmen zurückgewie-sen und den Parteien links vom antiso-zialen Liberalismus der PASOK 37 % gegeben.

Seit zwei Jahren ist Griechenland, das von der öffentlichen Verschul-dung, die der Überakkumulation des Finanzkapitals als Absatzmöglich-keit gedient hat, an die Wand gedrückt wird, zum Laboratorium für die Poli-tik geworden, die darauf abzielt, die Bevölkerung für die kapitalistische Krise zahlen zu lassen. Die Griechen-land aufgezwungenen „Rettungsplä-ne“ haben nur ein Ziel: die Zahlung der Schulden des griechi schen Staats an die Banken sicherzustellen, um das Spekulationskapital vor der Finanz-blase zu retten, die es geschaffen hat. Die „Memoranden“, die diese Pläne begleiten, zielen darauf ab, in Grie-chenland zu testen, wie weit das Kapi-tal den von den Arbeitenden geschaf-fenen Reichtum an sich reißen kann, indem sie in Armut gestürzt werden.

Die Auswirkungen dieser Politik sind die brutale Kürzung der Löhne und Renten, die Aushöhlung des Ar-beitsrechts, ein brutaler Anstieg der Arbeitslosigkeit (die in Griechenland bereits 21,2 % der erwerbsfähi gen Be-

völkerung, fast 30 % der Frauen und 50  % der Jugendlichen erreicht), ei-ne ähnliche Rezession wie 1929/30 (Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 6,9 % 2011, 2012 schätzungswei-se um weitere 5,3  %; Verminderung der industriellen Produktion um 4,3 % im März 2012 gegenüber März 2011 …), die Zerstö rung des Gesundheits-systems (Schließung von 137 Kran-kenhäusern, Streichung eines Fünf-tels der Stellen im Gesundheitswesen, Fehlen von Medikamenten, da die un-bezahlten Rechnungen sich auf 1,1 Milliarden Euro belaufen) und Zerstö-rung des Wohnungsmarkts (200  000 unverkäufliche Wohnungen, während die Zahl der Obdachlosen in die Höhe schießt), Mangelernährung …

Eine derartige Politik, die Willkür, Geheimhaltung und Angst zu einer Art des Regierens macht, konnte nur Reak-tionen des Zorns, der Verunsicherung, der Wut auslösen. Ein Teil dieser Wut wurde von einer finsteren rassistischen, antisemitischen und fremdenfeind-lichen Kraft aufgefangen, der Neonazi-Gruppe Goldene Morgendämmerung, die auf der Welle der Regierungspolitik der Repression gegen die Demonstrie-renden und der Jagd auf MigrantInnen reitet und die Polizei infiltriert hat. Das muss uns alarmieren und dazu veran-lassen, die Politik der Repression und des Rassismus seitens der Griechen-land von der „Troika“ aufgezwungenen Regierung anzuprangern.

In Anbetracht dieser Politik vertritt die griechische radikale Linke und insbesondere Syriza, die zur Zeit eine zentrale Stellung hat, einen Sofortplan mit fünf Punkten:1. Beseitigung der „Memoranden“,

aller Sparmaßnahmen und der Ge-genreformen im Arbeitsrecht, die das Land zerstören;

2. Nationalisierung der Banken, an die den öffentlichen Hilfeleistungen viel gezahlt worden ist.

3. Moratorium der Schuldenzahlung und ein Audit, das es ermöglichen wird, die illegitimen Schulden an-zuprangern und zu streichen;

4. Abschaffung der Immunität der Mi-nisterInnen;

5. Abänderung des Wahlrechts, durch das es der PASOK und der Nea Di-mokratia möglich war, zum Scha-den der griechischen Bevölkerung zu regieren und das Land in die Krise zu stürzen.

Die Vierte Internationale ruft die ge-samte internationale Arbeiterbewe-gung, alle Empörten, alle diejenigen, die sich für die Ideale der Linken ein-setzen, dazu auf, solch ein Sofortpro-gramm zu unterstützen.

Wir wünschen, dass es dem grie-chischen Volk mit an der Wahlurne und auf der Straße gelingt, eine Regie-rung der gesamten politischen und so-zialen Linken durchzusetzen, die die Sparpolitik ablehnt, eine Regierung, die dazu imstande ist, die Schulden-streichung durchzusetzen. Mit dieser Perspektive rufen wir dazu auf, dass alle Kräfte, die gegen die Sparpolitik kämpfen – Syriza, Antarsya, KKE, die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen –, auf der Basis eines Sofortplans zusammengehen.

Die Krise ist nicht die Krise Grie-chenlands, sondern der Europäischen Union, die dem Willen des Kapi tals und der ihm dienenden Regierungen unterworfen ist. Es ist die Krise der kapitalistischen Produktions weise auf der ganzen Welt. Nicht die Troi-ka, sondern das griechische Volk hat über die Politik zu entscheiden, die in seinem Land gemacht wird. Die Ver-

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suche der deutschen Kanzlerin Ange-la Merkel, den GriechInnen bei den Wahlen am 17. Juni ein „Referendum“ über den Euro aufzudrücken – eine ge-waltsame Einmischung in die Wahl-en – müssen zurückgewiesen wer-den. Nicht der Euro, sondern die Dik-tate der Troika müssen jetzt bekämpft werden.

Mehr denn je ist es bei den Kämp-fen gegen die Sparpolitik erforderlich, für den Bruch mit der Politik und den Verträgen zu streiten, die die Grund-lagen des Aufbaus der Europäischen Union darstellen. Mehr denn je bedeu-tet Kampf gegen die Sparpolitik nicht nationalistischen Rückzug, sondern die Entwicklung einer Bewegung für ein anderes Europa, das für die sou-veränen demokratischen und sozialen Rechte eines jeden Volkes eintritt, so-wie für die Perspektive der Sozialis-tischen Vereinigten Staaten von Eu-ropa.

Griechenland ist zu einem Labo-ratorium für Europa geworden. Man testet an menschlichen Versuchs-karnickeln Methoden, die anschlie-ßend auf Portugal, Spanien, Irland, Italien usw. angewendet werden. Das griechische Volk hat in den Betrieben, auf den Straßen und an den Urnen ge-gen diese barbarische Politik revol-tiert. Der Widerstand der GriechInnen ist unser Widerstand, ihre Kämpfe sind unsere Kämpfe. Ihr Widerstand zeigt, dass das Eintreten für die vi-talen Interessen der unteren Klassen auf eine Konfrontation mit den herr-schenden Klassen auf nationaler und auf europäischer Ebene hinausläuft. Die gemeinsamen Initiativen zur Un-terstützung der Kämpfe des griechi-schen Volks und seiner radikalen Lin-ken müssen vervielfacht werden. Die beste Solidarität mit dem griechischen Volk ist es aber, ihr Beispiel in allen Ländern nachzuahmen, dadurch dass der Widerstand gegen die unmensch-liche Spar- und Zerstörungspolitik ausgedehnt und koordiniert wird. Ge-nau dies fürchtet das Kapital, das für die Krise verantwortlich ist: dass die Kämpfe ansteckend sein könnten!

24. Mai 2012

Übersetzung: Wilfried Dubois

erwiderung der OKDe auf die erklärung des exekutivbüros der IV. InternationaleLiebe Genossinnen und Genossen des Exekutivbüros der IV. Internationale

Vor einigen Tagen erhielten wir in der Mailing Liste des Büros eine E-Mail mit einem Link auf Eure Erklärung „Die Zukunft der Arbeiterklasse Euro-pas wird in Griechenland entschieden werden“, die auf der Website von Inter-national Viewpoint veröffentlicht wur-de.

Wir waren sehr überrascht, dass es sich dabei um eine Erklärung zu Grie-chenland und den sozialen und Klas-senkämpfen in diesem Land während der letzten 2,5 Jahre handelte, ohne dass die griechische Sektion oder zu-mindest einige ihrer Mitglieder vor-her befragt wurden. Das hätte zu Eu-rer eigenen Information geschehen sol-len, denn wir haben Unstimmigkeiten im Inhalt der Erklärung und von Be-zügen auf die politischen Positionen (von SYRIZA) festgestellt; Positionen, die nicht mehr gelten. Das offenba-rt das mangelnde Wissen des Exeku-tivbüros über diese Fragen, aber es of-fenbart noch mehr den Mangel an Ko-ordination innerhalb der Vierten Inter-nationale. Wir betonen, dass das nicht das erste Mal ist, dass unsere Sektion einfach ignoriert wurde und dass Be-schlüsse zur Bewegung und dem po-litischen Umfeld, in dem wir agieren, gefällt wurden, ohne uns zu den Posi-tionen der Sektion zu befragen und oh-ne überhaupt irgendein Interesse an ih-ren politischen Entscheidungen zu zei-gen und ohne in Betracht zu ziehen, welche Probleme eine Erklärung ma-chen kann, die zu diesen Entschei-dungen im Widerspruch steht. OKDE-Spartakus ist eine politische Organisa-tion mit einer Führung und mit kollek-tiven Prozessen, in denen sie ihre po-litische Ausrichtung und ihre Planung entscheidet. Es ist für uns nicht immer leicht, unsere Texte in andere Spra-chen zu übersetzen; jedoch die Rolle der Vierten Internationale besteht da-rin, alle Sektionen zu koordinieren, um

Missverständnisse, Fehler und Verdre-hungen zu vermeiden.

Liebe Genossinnen und Genossen, ihr wisst, dass die griechische Sek-tion die politische Entscheidung ge-troffen hat, sich an dem antikapitalis-tischen linken Einheitsprojekt von AN-TARSYA zu beteiligen. Wir bauen die-ses Projekt auf, wobei wir beständig mit seinen Widersprüchen, den politi-schen Meinungsverschiedenheiten und den unterschiedlichen politischen Tra-ditionen konfrontiert sind. Wir wenden eine Menge unserer politischen und persönlichen Zeit dafür auf, um diese antikapitalistische linke Front zu stär-ken und zu Erfolgen zu führen, indem wir ihre Planungen umsetzen, an denen OKDE-Spartakus selbst beteiligt war. Wie ihr leicht verstehen könnt, führt ei-ne Erklärung wie die der Vierten Inter-nationale dazu, dass unsere politischen Entscheidungen und unsere Glaubwür-digkeit in den Augen unserer Verbün-deten in Frage gestellt werden. Sie ent-zieht uns die Unterstützung unserer in-ternationalen Organisation und lässt un-sere Internationale als Pendel erschei-nen, das im Wind von Wahlentschei-dungen hin und her schwingt. Auf diese Weise werden unsere Bemühungen un-terminiert, ANTARSYA an die Interna-tionale heranzuführen.

Konkreter: Ihr schlagt als zentra-len Punkt des politischen Kampfes in Griechenland den 5-Punkte-Notfall-plan von SYRIZA vor, der Grundla-ge der Verhandlungen ihrer Führung zur Bildung einer Regierung mit Neu-er Demokratie, Pasok, den Unabhängi-gen Griechen und der Demokratischen Linken war. Dieser Plan beinhaltet zum Beispiel in Punkt 4 die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität von Mini-stern; eine Forderung, die für die Lin-ke irrelevant ist und die von Populisten und der extremen Rechten auf die Ta-gesordnung gesetzt wurde. Nebenbei wurden diese 5 Punkte von SYRIZA, die dauernd dem Druck der herrschen-den Klasse nachgibt, einer Überprü-

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fung unterzogen. Die neueste offizielle Entwicklung ist, dass SYRIZA nicht mehr verspricht, das Memorandum ein-seitig aufzukündigen, sondern es durch einen neuen nationalen Wirtschafts-plan zu ersetzen, der mit den Kredi-toren und der EU auszuhandeln ist. SYRIZA spricht nicht über die Natio-nalisierung der Banken (von Arbeiter-kontrolle ganz zu schweigen), sondern über „öffentliche Kontrolle“ durch den Staat. Das unterscheidet sich etwas von Punkt 2 des 5-Punkte-Plans von SYRI-ZA, der nebenbei gesagt, nur die Ban-ken betrifft, die bereits großzügige Hil-fen des Staates erhalten haben. Es stellt sich wirklich die Frage, welche Forde-rung wir als Übergangsforderung be-trachten: das dreijährige Zahlungsmo-ratorium, das SYRIZA vorschlägt, oder die Streichung der Schulden, wie AN-TARSYA fordert? Wer wird die Schul-den nach diesen drei Jahren bezahlen? Es sei denn, wir glauben, dass ein Über-gangsprogramm heute, in der Mitte der schwersten Krise des Kapitalismus und für ein Land, das sich seit 3 Jahren im Zustand des Klassenkriegs befindet, ein Luxus ist und dass stattdessen alles, was gebraucht wird, nur ein bürgerlich-demokratischer „Notfallplan“ ist.

Es erstaunt, dass in der Erklärung nicht einmal eine kritische Wahlunter-stützung oder der Versuch zu einer pro-grammatischen Übereinkunft vorge-schlagen wird, sondern eine totale po-litische Anpassung an SYRIZA und ih-ren Notfallplan!

Wir alle wissen um die Bedeutung der Bildung einer Regierung links von der Sozialdemokratie nach der näch-sten Wahl für die arbeitende Bevölke-rung Griechenlands und ganz Europas. Ein solches Ereignis könnte ihr Selbst-bewusstsein stärken und unter be-stimmten Umständen zu einem weite-ren Anwachsen der Kämpfe führen. Al-lerdings tut SYRIZA ihr Bestes, um die Entwicklung eines solchen Prozesses zugunsten der arbeitenden Bevölke-rung zu verhindern. Die einzige Hoff-nung, dass so etwas geschieht, besteht in der Existenz einer glaubwürdigen antikapitalistischen Kraft links von ihr. Andernfalls wird eine mögliche SY-RIZA-Regierung nach einigen Mona-ten kollabieren und den Platz für eine rechte Regierung freimachen, wie das anderswo in Europa geschehen ist (Ita-lien …), oder, schlimmer noch, für ei-ne extrem rechte Wendung. Wir den-

ken, dass die Fortführung einer Ein-heitsfronttaktik für die griechische an-tikapitalistische Linke und insbeson-dere für ANTARSYA von entschei-

dender Bedeutung ist, aber gleichzei-tig sollte sie ihre politische Unabhän-gigkeit bewahren, ebenso wie das an-tikapitalistische Übergangsprogramm mit dem sie ihren schwierigen Kampf in den Gewerkschaften, den Betrieben und unter der Jugend geführt hat. AN-TARSYA sollte nicht zu einer der lin-ken Kräfte werden, die reformistischen administrativen Illusionen hinterher-laufen. Genossinnen und Genossen, in Griechenland existiert eine antikapita-listische Linke, und sie kann sich nicht zugunsten von 5 Punkten aufgeben, die nicht die einseitige Ablehnung des Me-morandums, die komplette Streichung aller Schulden und die Nationalisierung der Banken und Großunternehmen un-ter Arbeiterkontrolle zum Inhalt haben.

Es ist bezeichnend, dass SYRIZA schon begonnen hat, über die Neuver-handlung des Memorandums zu re-den, um keine Stimmen zu verlieren; sie gibt damit dem Druck der Massen-medien und der herrschenden Klas-se nach; während ihr die griechischen Arbeiter und Arbeiterinnen auffordert, für eine linke Regierung zu stimmen, die das Memorandum und alle reakti-onären Konterreformen gegen die Ar-beiterbewegung aufhebt. Es genügt, da-rauf hinzuweisen, dass der Vorsitzende

von SYRIZA als Premierminister der Übergangsregierung G.  Arsenis vor-geschlagen hat, einen eingefleischten Feind der arbeitenden Bevölkerung,

der Jugend und der starken Bewegung gegen seine Reformen, der als früherer Erziehungsminister der PASOK ver-antwortlich war für tausende arbeits-loser Lehrer und Lehrerinnen und für die Verstärkung der Barrieren für Kin-der aus der Arbeiterklasse und der ar-men Schichten der Bevölkerung, eine Sekundarstufen- oder höhere Bildungs-ebene zu erreichen (wir fragen uns, wo die Mittel zum Zweck aufhören). Ein weiteres Beispiel: SYRIZA verspricht nicht mehr alle Kürzungen aufzuheben; sie verspricht nur, die Löhne und Ge-hälter wieder auf die Höhe von vor Fe-bruar anzuheben; und das nach 2 Jahren Austerität und sozialer Kämpfe (das be-deutet 751 Euro weniger inklusive ob-ligatorischer Beiträge und Steuern …). Trotz all dem traf sich ANTARSYA mit SYRIZA und sagte zu, in den Kämpfen zu kooperieren und gemeinsam vorzu-gehen. Aber im Fall einer linken Regie-rung, wird ANTARSYA eine kritische Haltung einnehmen, fortschrittliche Maßnahmen unterstützen und aktiv ge-gen jeden Rückschritt opponieren.

Wir sind in Übereinstimmung mit dem Kampf für die Vereinigten Sozia-listischen Staaten von Europa. Aber wie kommen wir dahin? Indem wir, wie die reformistische Linke, das „Europa der

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Völker“ und ihre bürgerlichen übernati-onalen Mechanismen verteidigen, oder durch europaweit koordinierten Klas-senkampf, um die EU zu zerstören? Indem wir verschweigen, dass die EU den Interessen des internationalen Ka-pitals dient und die Arbeiter und Arbei-terinnen und Arbeitslosen, die sie in ih-rer Mehrzahl immer noch für eine fort-schrittliche Institution halten, auspresst oder indem wir das aufdecken? Die Eu-ro-Zone, den Euro und die Austeritäts-politik, die sie von Beginn an verfolgte, sollen nichts sein, gegen das die Arbei-ter und Arbeiterinnen nicht nur Grie-chenlands sondern ganz Europas kämp-fen sollen? Wird sich die EU von selbst auflösen oder muss sie nicht vielmehr von den arbeitenden Klassen Europas mit einem Gegenentwurf herausgefor-dert werden?

Unglücklicherweise erkennen wir mit Schmerz, dass die Vierte Interna-tionale nicht in der Lage ist, die Rol-le zu spielen, die sie in dieser histo-rischen Periode spielen sollte und wir fragen uns, wohin wir gehen … Ob-wohl die Vierte Internationale eine in-ternationale Koordination kleiner re-volutionärer Organisationen weltweit ist, haben ihre Worte und Erklärungen ein beachtliches Gewicht und einen be-achtlichen Einfluss innerhalb der in-ternationalen Arbeitervorhut, die im-mer stärker und politischer wird. Sie sollte mit allen Kräften, die ihr zur Ver-fügung stehen, auf ein Übergangspro-gramm zum Bruch mit dem Kapitalis-mus orientieren. Das gilt insbesondere für Griechenland, wo der Anstieg der Arbeiterbewegung Teile eines solchen Programms auf die Tagesordnung setzt, wie das letzten Oktober geschah, als es mit der Besetzung aller öffentlichen Dienste durch die Arbeiter und Arbeite-rinnen die ersten Zeichen einer direkten Herausforderung der betrieblichen Ent-scheidungskompetenzen der Unterneh-mensführungen gab. Die Vierte Interna-tionale sollte die Überzeugung pflegen, dass eine Revolution heute möglich ist.

Im Auftrag des Zentralkomitees von OKDE-Spartakus (Griechische Sektion der Vierten In-ternationale)

Übersetzung: W. Weitz

Antwort an das Zentralkomi-tee von OKDe-Spartakos (griechische Sektion der IV. Internationale)Liebe Genossinnen und Genossen,

Zuerst möchten wir feststellen, dass wir euch vor der Veröffentlichung der Erklä-rung des Exekutivbüros der Internatio-nale hätten konsultieren sollen. Das wä-re also klargestellt.

Wegen der Dringlichkeit der Situa-tion und der Notwendigkeit, unsere So-lidarität mit dem griechischen Volk und der gesamten radikalen Linken deutlich zu machen, haben wir schnell handeln wollen.

Wir sind mit eurer Reaktion auf die Erklärung nicht einverstanden.

In ihr geht es nicht um eure Orientie-rung oder die Entscheidung im Partei-aufbau. Wir gehen auch nicht ein auf die Beziehungen von ANTARSYA zu SY-RIZA, die Wahlfrage, die Probleme der Charakterisierung von SYRIZA, darauf,

wie ein Übergangsherangehen insge-samt aussehen sollte. Die Auffassungen zu all diesen Fragen sind in der Inter-nationale und sogar in der griechischen Sektion geteilt.

Wir gehen auf eine einzige Frage ein: Müssen wir angesichts der Kam-pagne der „Troika“ gegen SYRIZA, die die Umsetzung der Sparpläne ab-lehnt, SYRIZA in dieser Oppositi-on gegen die gegenwärtige Politik der herrschenden Klasse in Griechenland und in der Europäischen Union unter-stützen oder nicht? Unsere Antwort, wie die fast sämtlicher Sektionen der Internationale, ist klar: Es gilt, SYRI-ZA zu unterstützen, die bis jetzt in Op-position gegen die Sparpolitik steht, insbesondere durch die Weigerung, ei-ne Regierung, die solche Politik um-setzt, zu bilden oder zu unterstützen.

Griechenlad:gespaltene Linke

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GrIechenlAnD

Ihr geht dann auf eine andere Fra-ge ein, die sich auf die Formulierungen der fünf Hauptforderungen von SYRI-ZA bezieht, und erklärt, sie stellten kei-ne Übergangsforderungen dar. Wir wis-sen, dass SYRIZA ein Bündnis ist, das von Linksreformisten dominiert wird. Wir wissen, dass sie unsere Konzepti-on des Übergangsprogramms nicht tei-len. Es stimmt auch, dass sich die For-mulierungen der Forderungen von SY-RIZA oft geändert haben. Aber abgese-hen von den Formulierungen lehnen sie die „Memoranden“ der EU ab, engagie-ren sich für ein Schuldenmoratorium, lehnen die bereits umgesetzten Spar-maßnahmen ab, und vor allem verwei-gern sie bis jetzt jegliche Vereinbarung über die Pläne der EU. Diese Position ist, wie es scheint, trotz mancher Vari-anten in den Erklärungen von Leitungs-mitgliedern von SYRIZA vor kurzem offiziell erneut bekräftigt worden.1

Eine Übergangsforderung ist per de-finitionem oft (bzw. generell) nicht ex-plizit antikapitalistisch, da sie vom re-al existierenden Bewusstseinsniveau ausgeht: Sie muss von Anfang an von einem großen Teil der Bevölkerung als legitim betrachtet werden. Im Kampf für ihre Umsetzung in einer Situation offener Krise „enthüllen“ sich ihre an-tikapitalistischen Implikationen und wird es möglich, das Niveau des Be-wusstseins und des Kampfs anzuheben. Von unserem Gesichtspunkt her können die Ablehnung des Memorandums und der Sparmaßnahmen sowie das Schul-denmoratorium mit der Perspektive der Streichung in der Tat dem gegenwär-

tigen Bewusstseinsniveau entsprechen und zugleich Bruchpunkte darstellen, die es möglich machen, dass eine Über-gangsdynamik in Gang kommt.

Noch einmal: Sollten wir uns unter diesen Bedingungen an der Solidarität mit dem griechischen Volk und der Wei-gerung von SYRIZA, die von der ge-samten griechischen und internationa-len radikalen Linken unterstützt wird, beteiligen oder nicht? Unsere Antwortet lautet: Ja, wir müssen solidarisch sein.

Das wird in der Erklärung gesagt, nicht mehr und nicht weniger. Der Druck der herrschenden Klassen ist enorm. Es ist wahrscheinlich, dass Dif-ferenzierungen auftreten werden, dass es auf der Linken zu Reorganisierungen kommen wird. Wir müssen all dies auf-merksam verfolgen, doch in der ge-genwärtigen Etappe hält SYRIZA gut stand, und wir müssen sie unterstützen, denn wir werden umso mehr das Gehör ihrer Mitglieder und ihrer WählerInnen finden, als wir sie gegen die Feinde des griechischen Volkes unterstützt haben. Wir denken nicht, dass eine Politik, die die RevolutionärInnen veranlasst, sich unter Berufung auf den möglichen zu-künftigen Verrat gegen SYRIZA zu stel-len, richtig ist. Wir ziehen eine auf Ein-heit gerichtete Politik vor, eine Politik der Einheit der Organisationen der radi-kalen Linken, der Einheit der Gewerk-schaften und der Einheit der Bewegung von unten, insbesondere über die Förde-rung aller Ansätze der Selbstorganisati-on. Das ist auch der Sinn unserer Posi-tion für eine Konvergenz von SYRIZA, ANTARSYA und KKE mit der Perspek-

tive einer linken Anti-Sparpolitik-Re-gierung. In jedem Fall ist dies ein Vor-schlag, der diskutiert werden sollte, um ND und PASOK einen Anti-Sparpolitik-Block entgegen zu stellen.

Wir wissen, dass die Hindernisse für diese auf Einheit gerichtete Politik un-geheuer groß sind, vor allem wegen der Politik der KKE, aber in Anbetracht des Umfangs der kapitalistischen Angriffe gibt es keinen anderen Weg, als Wege und Mittel der Einheit der Arbeitenden vorzuschlagen.

Diese Perspektive muss mit der Sammlung aller AntikapitalistInnen kombiniert sein, die in ANTARSYA, aber auch in bestimmten Teilen von SY-RIZA und darüber hinaus, in der Ge-werkschaftsbewegung und den Verbän-den sind.

Wegen der Bedeutung von Grie-chenland wird die Diskussion weiterge-hen. In ihr sollten sämtliche Fragen auf-gegriffen werden, doch ist es in solch ei-ner Situation die Pflicht der Revolutio-närInnen und der IV. Internationale, We-ge zu suchen, um eine auf Einheit ge-richtete und antikapitalistische Politik zu führen.

6. Juni 2012Exekutivbüro der IV. Internationale

Übersetzung: Friedrich Dorn

1 http://www.okeanews.fr/syriza-le-manifeste-economique-pour-les-prochaines-elections/ [Auf Griechisch und Englisch: http://news.ra-diobubble.gr/2012/05/blog-post_6130.html, d. Übers.]

Griechenlad:gespaltene Linke

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GrIechenlAnD

Am Vorabend der Wahlen in Griechenland

Für ein Kampfprogramm gegen den Kapi-talismus und für eine unabhängige anti-kapitalistische und revolutionäre ParteiGriechenland steht aktuell im Epizen-trum der Krise des Kapitalismus und unter dem heftigsten Beschuss des eu-ropäischen Kapitals. Die ArbeiterIn-nen und die Jugend Griechenlands ha-ben darauf mit einer Mobilisierung re-agiert, die dem traditionellen politi-schen System von PASOK und Nea Dimokratía (ND) jeden Kredit entzo-gen hat. Die herrschende Klasse hat die Kontrolle über die Lage verloren, aber die Arbeiterklasse ist gegenwärtig noch nicht in der Lage, die Macht zu ergrei-fen und den Kapitalismus zu stürzen. Den Zorn der Bevölkerung kann u. a. die extreme Rechte momentan für sich ausschlachten, aber hauptsächlich rich-ten sich die Erwartungen der Wähler an die reformistische Linke um SYRIZA.

Als nächste werden Spanien und Italien (dann vielleicht Frankreich) im Visier der Troika stehen. Insofern ist der Ausgang der Kämpfe in Griechen-land für sämtliche AntikapitalistInnen und RevolutionärInnen entscheidend – nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt. Über die Vorgehensweise der RevolutionärInnen gibt es heftige Diskussionen. Sollen sie eine von SY-RIZA geführte Regierung stützen oder SYRIZA als solche unterstützen? Sol-len sie zu deren Gunsten auf eine Ei-genkandidatur verzichten oder sollen sie eine von den Reformisten unabhän-gige Politik betreiben?

1. Das Programm von SYRIZA und die Erklärungen ihrer füh-

renden Vertreter sind ambivalent: Ei-nerseits werden die arbeiterfeindlichen Maßnahmen abgelehnt, andererseits zielen sie auf einen Kompromiss mit den herrschenden Klassen der EU. Da-für sprechen die klare Weigerung, aus der EU und dem Euro auszusteigen, und der erklärte Wille, den gegenwär-tigen Rahmen der EU zu überarbeiten, um sie zu restabilisieren.

Natürlich wäre eine Regierung, die die Memorandumsmaßnahmen ab-schaffte, schon ein wesentlicher Fort-schritt für die ArbeiterInnen und ihre Kämpfe. Aber wie kann man das Me-morandum ablehnen, ohne zugleich die Verschuldung zu negieren? Und wie die notwendigen Sofortmaßnahmen fi-nanzieren, ohne das Bankensystem zu sozialisieren? Kurzum: wie kann man aktuell die Lage der einfachen Bevöl-kerung Griechenlands auch nur ansatz-weise verbessern, ohne die Herrschaft der kapitalistischen Minderheit über die Wirtschaft und die Gesellschaft an-zugreifen?

Es liegt nun mal auf der Hand, dass Banken und EU sofort alle Darlehens- und Finanzierungsmöglichkeiten un-terbinden und Griechenland unum-wunden aus der Euro-Zone verbannen würden, wenn irgendeine Regierung das Austeritätsprogramm infrage stel-len sollte. Daher gibt es gegenwärtig nur die Alternative, sich zu unterwer-fen und eben die katastrophale Politik umzusetzen, die die griechische Bevöl-kerung seit Jahren erleidet, oder aber die Herrschaft der Banken und Kapi-talisten anzugreifen, sich zurückzuho-len, was diese gestohlen haben, und ih-re Kontrolle über den Wirtschaftsmarkt infrage zu stellen.

Als Maßnahme, um aus der Kri-se zu gelangen, ist ein Programm er-forderlich, das auf Konfrontation zum Kapital geht. Ein Programm, das sofor-tige Übergangsmaßnahmen beinhaltet, wie allgemeine Lohnerhöhungen, Ver-bot von Entlassungen, radikale Arbeits-zeitverkürzung und Vergesellschaftung des Banken- und der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren. Dies bedingt eine Konfrontation nicht nur mit der herr-schenden Klasse in Griechenland, son-dern auch mit der europäischen Bour-geoisie und ihren Institutionen.

2. Ein Kampfprogramm gegen die Krise und für den Bruch mit

dem Kapitalismus lässt sich nur umset-zen, wenn eine einheitliche Mobilisie-rung der ArbeiterInnen und betroffenen Bevölkerung erfolgt. Dies darf keine abstrakte Propaganda bleiben, da dafür der Druck auf das griechische Volk zu stark lastet. Die landesweiten Streiks über ein, zwei Tage und die Mobilisie-rung einzelner Sektoren haben zwar ei-ne schwere politische Krise unter der griechischen Bourgeoisie ausgelöst, aber ihre Offensive nicht stoppen kön-nen.

Insofern muss man sich jetzt auf die (allgegenwärtigen) Einzelkämp-fe beziehen, versuchen, sie auszuwei-ten und die vorhandenen Ansätze zur autonomen Organisierung verstär-ken, da darin der mögliche Ausgangs-punkt für eine Doppelherrschaft liegt. Nur durch die Verallgemeinerung der Kämpfe und die Bündelung der Selbst-verwaltungsorgane kann eine Gegen-macht zur Bourgeoisie entstehen. Und nur durch eine drohende Ausweitung dieser Kämpfe auf die übrigen europä-ischen Länder können sich die griechi-schen ArbeiterInnen gegen den Druck der EU schützen. Der Schlüssel zur Änderung ihrer Situation liegt in den Händen der griechischen Arbeiterklas-se und der Jugend, daher muss man auf sie zugehen.

So wie die Dinge nun mal liegen und wie SYRIZA beschaffen ist, kann eine von ihr geführte Regierung nichts weiter als eine parlamentarische Koa-lition sein, was meilenweit von einer Arbeiterregierung entfernt liegt. Auch wenn gegenwärtig noch unklar ist, ob SYRIZA die für eine Regierungsbil-dung notwendigen Bündnisse knüp-fen kann und wie SYRIZA und die Be-völkerung auf die Gegenmaßnahmen des Kapitals reagieren, ist eine allum-fassende Konfrontation unumgänglich.

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GrIechenlAnD

Insofern bedarf es eines politischen Or-gans, um diese Konfrontation vorzube-reiten und das erforderliche Programm zu propagieren.

3. In der gegenwärtigen Lage in Griechenland steht die Losung

einer Arbeiterregierung auf der Ta-gesordnung. Auch wenn sie nicht un-mittelbar umsetzbar sein wird und ih-re mögliche Zusammensetzung im Moment nicht vorhersehbar ist, bleibt es unerlässlich, eine umfassende po-litische Lösung und eine zumindest vorläufige Antwort auf die Frage, wer denn in Griechenland die Macht aus-üben soll, zu propagieren, die für die breite Bevölkerung nachvollziehbar ist.

Eine solche Regierung sollte in der Lage sein, ein Sofortprogramm gegen die Krise und die wesentlichen Über-gangsmaßnahmen umzusetzen, wie bspw. die Enteignung der Banken und anderer Wirtschaftszweige. Und sie muss sich auf den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse und deren autonome Organisierung stützen und die Kräfte umfassen, die bereit sind, die Forderungen der Bevölkerung zu verteidigen. Die Revolutionäre wären bereit, sich mit Anderen an einer sol-chen Regierung zu beteiligen, sofern diese eine Klassenkonfrontation ver-tritt und sich auf eine umfassende Mo-bilisierung der ArbeiterInnen und der Jugend stützt. Denn eine solche Regie-rung würde einer möglichen Machter-greifung der Arbeiter und ihrer Selbst-verwaltungsstrukturen Auftrieb ver-schaffen.

4. Wenn eine von SYRIZA ge-führte Regierung Maßnah-

men zugunsten der ArbeiterInnen, wie bspw. die Infragestellung des Memo-randums ergreift, würden die Revolu-tionäre sie darin natürlich unterstützen. Allerdings wäre eine solche bedingte und kritische Unterstützung einer SY-RIZA-Regierung keineswegs gleich-bedeutend mit einem Verzicht auf po-litische und organisatorische Unabhän-gigkeit seitens der antikapitalistischen und revolutionären Linken in Grie-chenland, die aktuell vorwiegend durch ANTARSYA verkörpert wird.

Das Gravitationszentrum einer solchen unabhängigen Partei muss der Klassenkampf sein und die Par-tei muss in der Lage sein, sowohl bei

den Wahlen als auch bei den Klassen-kämpfen als politischer Anziehungs-punkt aufzutreten. Nur mit einer sol-chen Perspektive werden die griechi-schen ArbeiterInnen die Katastrophe

abwenden können. Eine solche Partei muss einerseits eine Einheitsfrontpoli-tik gegenüber den anderen Kräften der Arbeiterbewegung betreiben und an-dererseits ihre eigene politische Per-spektive, nämlich den Sturz des Ka-pitalismus und die Machtergreifung durch die ArbeiterInnen verfolgen können. Unter den jetzigen Umstän-den wird die Schaffung einer solchen Partei vorwiegend von ANTARSYA ausgehen, auch wenn diese nicht frei von Widersprüchen ist. Dabei können die minoritären antikapitalistischen Strömungen von SYRIZA und kleine-re unabhängige Organisationen durch-aus einbezogen werden. Wenn eine sogenannte linke Regierung Schiff-bruch erleidet, wäre dies wahrschein-lich zum Vorteil der extremen Rech-ten. Aber dies ist keineswegs zwangs-läufig, sondern wird von der Fähig-keit der revolutionären Linken abhän-gen, sich an die Spitze der Kämpfe zu stellen und ein klassenkämpferisches und auf den Sturz des Kapitalismus gerichtetes Programm glaubwürdig zu vermitteln.

Daher rufen wir als antikapitalis-tische und revolutionäre Aktivisten aus mehreren Ländern dazu auf, die revolutionäre griechische Linke und namentlich ANTARSYA zu unterstüt-

zen und die GenossInnen, die eine re-volutionäre Perspektive auf europä-ischer und internationaler Ebene tei-len, sich zusammenzuschließen.

Frankreich/NPA: Gaël Quirante (Mitglied des Exekutivkomitees), Xavier Guessou (Mitglied des Nationalen Politischen Komitees)Spanien/Izquierda Anticapitalista: Ruben Quirante, (Mitglied des nationalen Sekretari-ats), Pechi Murillo (Mitglied)Griechenland/OKDE-Spartakos: Charis Mertis (Mitglied des Politischen Büros), Anas-tasia Vergaki (PB-Mitglied), Panagiotis Sifo-giorgakis (PB-Mitglied/Delegierter beim 16. WK der IV. Internationale), Manos Skoufo-glou (Delegierter beim 16. WK der IV. Inter-nationale)Deutschland/RSB: Jakob Schäfer (Mitglied des Politischen Sekretariats und des Internati-onalen Komitees der IV.), Peter Berens (Mit-glied des Politischen Sekretariats)Großbritannien/Socialist Resistence: Dave Hill (Mitglied des Nationalen Rates)Irland/Socialist Democracy: John McAnulty (Sekretär), Kevin Keating (ZK-Mitglied)Belgien/LCR-SAP: Mauro Gasparini (Jugend)Dänemark/SAP: Jette [Lulu] Kroman (Mit-glied)USA/Socialist Action: Jeff Mackler (Nationa-ler Sekretär)USA/FI Caucus of Solidarity: Brown (ehe-maliges Mitglied des IK der IV.)

Alle UnterzeichnerInnen sind Mitglieder oder SympathisantInnen der IV. Internationale

Übersetzung: MiWe

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Frankreich

FrankreichFront de Gauche: wie weiter?Der kräftige Vormarsch der Linksfront um Jean-Luc Mélenchon und die Führung der kommunistischen Partei hat im Vorfeld der Präsident-schaftswahlen in Frankreich vom 5.Mai in der radikalen Linken in Fran-kreich eine heftige kontroverse darüber ausgelöst, ob sich die revolu-tionäre Linke in die Linksfront eingliedern soll. Worum geht es bei die-ser Debatte?

François Sabado

Ein augenfälliges Ereignis des franzö-sischen Präsidentschaftswahlkampfs 2012 war die Kampagne des Front de Gauche1 und von Jean-Luc Mélenchon: Zehntausende von TeilnehmerInnen an den Wahlveranstaltungen, ein wichtiger Platz in den politischen Debatten und ein Stimmenanteil von 11.01 %, was ein bemerkenswertes Resultat ist.

Sicher, die Führer des Front de Gau-che hofften auf mehr als 15 % und vor allem auf einen dritten Platz, vor dem Front National von Marine Le Pen. Aber indem sie sich von den zu Beginn der Kampagne prognostizierten 5 % der Stimmen auf 11 % steigern konnten, ge-lang es ihnen, den Raum der „radikalen Linken“ zu dominieren und die revoluti-onäre Linke zu marginalisieren.

EinE wirklichE Dynamik

Im Verlaufe der Kampagne kam es zum Neuaufbau einer linksreformistischen politischen Kraft mit Masseneinfluss. Sie ist das Ergebnis unterschiedlicher Faktoren:a) Eine Situation, die durch verschie-

dene Niederlagen der sozialen Kämpfe geprägt ist; dies begünstigt die Hoffnung und die Illusion, dass sich „durch Wahlen ein Ausweg aus der im Kampf blockierten Situation finden lasse“.

b) Die erneute Mobilisierung der Kräfte der kommunistischen Parteien (wie in Portugal, in Spanien oder in Grie-chenland), die sich auf die Tatsache stützen kann, dass sie seit mehreren Jahren keinen Sitz in der Regierung innehatten, und dass ihre Apparate in den Institutionen und in den Organi-sationen der Gewerkschaften weiter-hin Positionen besetzt halten.

c) Eine gute Kampagne das Kandidaten Mélenchon. Indem er radikale Ziele

verficht, wie einen Minimallohn von 1700 € oder die Verteidigung der öf-fentlichen Dienstleistungen, knüpft er in seinen Reden an die revoluti-onäre Gedankenwelt der Texte von Victor Hugo und an die ruhmreichen Zeiten der Arbeiterbewegung an. Diese Alchemie hat eine politische Dynamik über den Front de Gauche hinaus mit sich gezogen. Eine um-so mehr wahrgenommene Kampa-gne, als sie als Kontrapunkt zu der – um es euphemistisch auszudrücken – ausnehmend glanzlosen Kampagne von François Hollande daherkam.

ZwEiDEutigkEitEn unD wi-DErsprüchE

Diese gute Kampagne von Mélenchon war jedoch voller Zweideutigkeiten und Widersprüche, die eine unabhängige Kampagne der NPA2 gerechtfertigt ha-ben.

In der Tat teilen die NPA wie der Front de Gauche dieselben Positionen zu Themen wie der sozialen Forderun-gen (Löhne, Beschäftigung, Verteidi-gung der öffentlichen Dienstleistun-gen) oder der demokratischen Rech-te (Proporzwahlrecht oder Verteidigung der Rechte der ImmigrantInnen). Bei-de Organisationen sind gemeinsam dem Front National entgegen getreten. Da-gegen gibt es in anderen Punkten eine grundsätzliche Trennung: In Bezug auf die Atomenergie gibt es eine starke Un-einigkeit mit der Führung des PCF3, der durch zahlreiche Zusammenhänge an die französische Atomindustrie gebun-den ist.

Wir teilen also im Großen und Gan-zen gemeinsame Ziele, und die Dyna-mik um die Kampagne des Front de Gauche eröffnet für deren Verwirkli-chung neue politische Möglichkeiten.

Und doch, sobald es um einen ernst-haften Kampf für die Umsetzung unse-rer Forderungen geht, dann winden sich die Führung des PCF und Jean-Luc Mé-lenchon, um den Schwierigkeiten einer Konfrontation mit der Macht der Kapi-talisten aus dem Weg zu gehen und diese abzulehnen. Sie verurteilen das Finanz-kapital und nicht das kapitalistische Ei-gentum. Sie fordern einen öffentlichen Bankenpol, lehnen aber die Enteignung der Banken und ihre Nationalisierung unter gesellschaftlicher Kontrolle ab, in-dem sie dem Wettbewerb zwischen Pri-vatbanken und öffentlichem Sektor den Vorzug geben. Sie prangern den Skan-dal der Schulden an, lehnen aber de-ren Streichung ab. Jean-Luc Mélenchon schlägt eine Rückzahlung dieser Schul-den über mehrere Jahre vor, indem er ei-ne Opfersymmetrie zwischen den Ka-pitalisten und der breiten Bevölkerung vorschlägt. Auch da muss man konse-quent sein. Sofern wir an einer Kam-pagne für ein öffentliches Schulden-audit teilnehmen, so wollen wir damit das Terrain für eine Schuldenstreichung vorbereiten und nicht für eine allmähli-che Zurückzahlung der Schulden. Der Führer des Front de Gauche erwähnt die „ökologische Planung“, ohne die dazu notwendigen strategischen Mittel zu erwähnen, insbesondere die Verge-sellschaftung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft, des Verkehrswesens und der Energieversorgung.

In politischer und geschichtlicher Hinsicht wird die reformistische Aus-richtung der Führung des Front de Gauche durch die „republikanischen“ Positionen von Mélenchon begleitet. Nicht jene der Kommunarden, die die soziale Republik den bürgerlichen Klas-sen gegenüberstellten, sondern diejeni-ge der Republikaner, die in ihrer Vertei-digung der Republik die Begriffe „Na-tion“, „Republik“ und „Staat“ vermen-gen. Diese Auffassung ordnet die „Re-volution der StaatsbürgerInnen“ oder die „Revolution über die Wahlurnen“ der Achtung vor den staatlichen Institu-tionen der herrschenden Klassen unter. Mélenchon spricht gern über den ame-rikanischen, jedoch nicht über den fran-zösischen Imperialismus. Anlässlich

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Frankreich

des Präsidentschaftswahlkampfes hat er in den Cahiers de la revue de la Défen-se nationale bekräftigt, dass „in der ge-genwärtigen Lage die atomare Abschre-ckung das wesentliche Element unserer Verteidigungsstrategie bleibt“.

Weit davon entfernt, lediglich De-tailfragen zu sein, sind diese Auffassun-gen zentrale Elemente der Politik von J.-L. Mélenchon. Er wird alles tun, um die Massenbewegungen in die Institutionen der Republik zu kanalisieren, sie diesen unterzuordnen und mit ihnen kompati-bel zu machen. Diese Fragen werden so-gar entscheidend, wenn darüber disku-tiert wird, ob wir entweder in Richtung von Strategie und Partei oder von politi-scher Bewegung gehen wollen.

wElchE politik gEgEnübEr DEm Front DE gauchE?

Um mit dem Front de Gauche politisie-ren zu wollen, müssen alle diese Ele-mente gemeinsam berücksichtigt wer-den: die Dynamik, aber ebenfalls das Projekt; die Mobilisierung, aber auch das gesamte politische Programm; das Neuaufleben der politischen Militanz, wie auch die Politik der Führungen.

Zehntausende von politischen Akti-vistInnen, Hundertausende von Wähle-rInnen haben ihre Stimme oder ihr En-gagement für die Initiativen des Front de Gauche an einen radikalen demo-kratischen und sozialen Inhalt gebun-den. Für sie geht es somit um die Ableh-nung der rechten wie der linken Spar-politik. In ihren gemeinsamen Mobili-sierungen für lebenswichtige Forderun-gen wie die 1700 €, das Verbot von Ent-lassungen, die Verteidigung von öffent-lichen Dienstleistungen, für den Beam-tenstatus für die im öffentlich Dienst prekär Beschäftigten, die Verteidigung der Sans-Papiers. Wir unsererseits sind der Ansicht, dass man über die nur punktuellen Einheitsaktionen hinaus-gehen sollte. Angesichts der Sparpolitik wie sie uns durch eine Regierung Hol-lande in Aussicht gestellt wird, schlagen wir dem Front de Gauche wie auch an-deren (Lutte Ouvrière oder den Alter-nativen) den Aufbau einer Einheitsop-position gegenüber der Regierung vor. Die NPA ist bereit dazu. Und der Front de Gauche? Dieser Kampf ist entschei-dend, um nicht dem Front National die Fahne der Opposition zu überlassen. Genau dies muss uns zum Dialog und zum gemeinsamen Handeln mit den Ak-

tivistInnen und den SympathisantInnen des Front de Gauche führen.

Gleichzeitig dürfen wir nicht verges-sen, dass der Front de Gauche ein durch den PCF und Mélenchon geführtes poli-tisches Konstrukt und nicht einfach ei-

ne Einheitsfront ist. Das ist keine Par-tei, das ist bereits eine politische Bewe-gung.

Das bedeutet nicht, dass bereits al-les in Blei gegossen ist. Es bleiben of-fene Fragen. Wie es scheint, will sich die Führung des Front de Gauche in die-ser Etappe nicht an der Regierung be-teiligen. Indem Mélenchon sich auf „die Übernahme der Macht, der ganzen Macht in zehn Jahren“ fixiert, schließt er eine Beteiligung an einer Regierung aus, die er nicht anführt. Die Zwän-ge der Krise sind derart, dass der PCF, wie es scheint, eine Formel der „Un-terstützung ohne Beteiligung“ gewählt hat - wie bereits in der Vergangenheit. Es könnte zu Spannungen zwischen der Führung des PCF und Mélenchon kom-men. Pierre Laurent, der nationale Se-kretär des PCF, gibt als Ziel für die Par-lamentswahlen an, „eine linke Mehrheit in die Nationalversammlung zu wählen, mit einem möglichst hohen Anteil von Abgeordneten des Front de Gauche ». Eine linke Mehrheit mit dem PS4? Was werden die Abgeordneten des FdG tun, wenn über das Budget der Regierung Hollande abgestimmt werden muss? Dasselbe was die regionalen Parlament-sabgeordneten des FdG in fast allen Re-gionen bereits jetzt tun, wenn sie sich hinter den PS stellen? Viele Fragen blei-ben unbeantwortet. Um gemeinsame Aktionen zu ermöglichen, braucht es unsererseits eine entsprechende politi-sche Taktik.

Keine der bis dato durch den Front de Gauche momentan ins Auge gefass-

ten Hypothesen stellt sein reformisti-sches Projekt in Frage. Deshalb denken wir jetzt, entgegen den auch innerhalb der NPA aufkommenden Aufrufen zum Anschluss an den FdG, dass die Vereini-gung der AntikapitalistInnen nicht von

den taktischen Risiken der Entwicklun-gen innerhalb des FdG abhängen kann. Sich in den FdG einzugliedern heißt, die Führung des PCF und von Mélenchon anzuerkennen. Um die politische Sze-ne zu beeinflussen, die Einheitsaktio-nen anzuregen und alle Möglichkeiten der Kritik zu bewahren: Dies erfordert eine vom FdG unabhängige NPA. Der unabhängige Zusammenschluss der An-tikapitalistInnen ist nicht nur eine Sa-che von taktischen Entscheidungen. Es handelt sich um eine strategische Op-tion, die die geschichtliche Kontinuität der revolutionären Strömung aufrecht-erhält. Von daher steht die NPA nun vor einer doppelten Herausforderung: Ihren Aufbau erneut anzukurbeln und vor al-lem gegenüber dem Front de Gauche ei-ne Einheitspolitik zu entwickeln.

Übersetzung: Willi Eberle

1 Wir übernehmen hier die französischen Schreib-

weisen der politischen Organisationen und de-

ren durchwegs männliches grammatikalisches

Geschlecht. Die einzige Ausnahme: wir ver-

wenden für die NPA trotzdem das weibliche

grammatikalische Geschlecht, da sich dies mitt-

lerweile im deutschen Sprachraum so eingebür-

gert hat. Sämtliche Anmerkungen wurden vom

Übersetzer beigefügt. [Anm. d. Ü.]

2 Nouveau Parti Anticapitaliste, französische

Sektion der IV. Internationale

3 Parti communiste français, kommunistische

Partei Frankreichs

4 Parti socialiste, die Partei von Präsident Fran-

çois Hollande

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SPANISCHER STAAT

SPANISCHER STAATDie Macht der Banken und deren Vasallen in der Regierung am Beispiel der BankiaCharles-André Udry

Das „Ausmisten“ der Banken ist un-ter anderem seit Monaten ein wahres Spießrutenlaufen für die Regierung der PP ( Partido Popular) von Mari-ano Rajoy, für die spanische Oligar-chie und für deren europäische „Part-ner“. Nach enormen Konzentrations- und Zentralisierungsbewegungen so-wie einer verstärkten internationalen Verflechtung der wichtigsten Akteu-re nimmt der spanische Bankensektor heute eine wichtige Stellung ein. Ende 2011 machte der Bilanzwert der Ban-ken rund 330% des Bruttoinlandpro-duktes (BIP) aus.1 Nach Angaben der Bank von Spanien (Banco de España) belaufen sich die Ausstände der Gläu-biger (vor allem Banken) im Bauwe-sen und im Immobiliensektor auf 338 Mrd. Euro. Zwischen 176 und 184 Mrd. davon sind „problematisch“.2

Mit anderen Worten: Offiziell spricht man von „faulen“ Krediten an Bauunternehmer und Immobilienver-käufer, die noch vor fünf Jahren für Leute gehalten wurden, die Wunder vollbringen. Dazu gehören auch die von Banken übernommenen Immobi-lien, deren Eigentümer „nicht mehr bezahlen konnten“. Das sind Lohn-abhängige, denen Eigentumswoh-nungen verkauft wurden, die aber die Hypothekenzinsen nicht mehr bezah-len können, von der Rückzahlung der Hypothek ganz zu schweigen. Zehn-tausende solcher „Eigentümer“ wur-den aus „ihrer“ Wohnung geworfen, müssen aber dennoch ihre Schuld ab-zahlen, auch wenn diese etwas „ge-mildert“ wurde.

Diese Bankenrettung muss im Zu-sammenhang mit dem Rückgang der Industrieproduktion gesehen werden, die seit Oktober 2011 monatlich zwi-schen -3% und -7,5% schwankt (März 2012). Dieser Rückgang ist einer der Faktoren, die die Arbeitslosigkeit an-

steigen lassen mit all ihren zerstöre-rischen Auswirkungen auf die Ein-kommen der Lohnabhängigen und ih-rer Familien.

Der politische Banker unD Der Banker-politiker

Die Rettung der Banken zeigt, wie sehr sich diese Branche und die Staats-macht bereits gegenseitig durchdrin-gen. Seit Jahren weisen wir auf die großen Veränderungen in der Hier-archie der Gremien in Regierungen und Staaten hin. Seit den 1980er Jah-ren haben dabei die Finanzministerien und die National- oder Zentralbanken den ersten Platz errungen. Mit der EU wurde diese Tendenz noch verstärkt. Mit der Krise der „öffentlichen Ver-schuldung“ – die keineswegs öffent-lich ist, sondern es ist die Banken- und Versicherungsbranche, die verschul-det ist – ist heute eine Situation ent-standen, in der die Banker, die das Sa-gen haben, über den „Regierungstech-nokraten“ stehen. Dies ist bei Mario Monti in Italien der Fall, bei Lucas Pa-pademos in Griechenland oder bei Lu-is de Guindos Jurado im Spanischen Staat. Dies zeigt sich bei der Rettung des spanischen Bankensystems beson-ders deutlich.

Rodrigo Rato, Chef der Bankia – der viertgrößten Bank des Landes, die überreife Frucht, die aus der Heirat von sieben Sparkassen hervorgegan-gen war, deren Zukunft so zweifelhaft ist wie ihr Zusammenschluss undurch-sichtig war – ist ein Repräsentant die-ser Machenschaften. 1949 geboren, Sohn zweier schwerreicher Familien aus Asturien, denen sein Vater Ramón Rato und seine Mutter Aurora Figare-do entstammen. Sein Vater war Wirt-schaftsminister und einer der großen Banker im Spanischen Staat.3 Rodri-

go Rato besuchte eine Jesuitenschule und studierte an der Universität Com-plutense in Madrid und Berkley. Mit 30 Jahren wird er Mitglied der Alian-za popular (AP), in deren Führungs-riege er aufsteigt, dann der PP (Partido Popular), der vom Franquisten Manu-el Fraga Iribarne (verstorben) gegrün-deten und vereinten Formation.

Von September 2003 bis April 2004 präsidierte er der Regierung von José María Aznar, deren Wirtschafts-minister er von April 2000 bis April 2004 war. Diesen Posten hatte er be-reits von 1996 bis 2000 inne, immer unter Aznar. Gleichzeitig war er von Mai 1996 bis 2003 Zweiter Vizepräsi-dent der Regierung. In all diesen Äm-tern war er der König der „Immobili-enblase“, deren Explosionen schließ-lich Bankia getroffen haben.

Seine internationale Karriere be-gann er als „Vertreter“ des Spanischen Staates bei der Weltbank, bei der In-teramerikanischen Entwicklungsbank, bei der Europäischen Bank für Wie-deraufbau und Entwicklung (EBWE) oder als Vertreter des Wirtschaftsmini-steriums bei der EU. Seinen Aufstieg setzte er beim IWF fort. Dort war er der Nachfolger des Deutschen Horst Köhler von der CDU als Generaldi-rektor. Rodrigo Rato wurde am 7. Juni 2004 gekrönt und trat am 31. Oktober 2007 zurück. Er geht zur Lazard Bank London, wo sein Kampffeld aus zwei Kontinenten besteht, die er wegen sei-ner früheren Ämter aus dem Effeff kennt: Europa und Lateinamerika.

Im Dezember 2009 beginnt er bei der Caja de Madrid, deren Zügel er im Januar 2010 übernimmt. Einige Mo-nate später verkündet er die Fusion der Caja de Madrid – die auf einem Polster hypothetischer und verdäch-tiger Hypothekarkrediten schwimmt – mit weiteren löchrigen Kassen: Ban-

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SPANISCHER STAAT

caja, Caja de Canarias, Caixa Laieta-na und den Cajas de Avila, de La Rioja und de Segovia. Mit der seiner Kaste eigenen Unverschämtheit – der Immu-nität sicher, die Gott ohne Kreditgren-ze den wirklich Seinen verleiht – setzt er auf seine Netze und seinen Ruf, um in diesen Cajas die Zeitbomben Kli-entelwirtschaft und Hochstapelei zu zünden; um die schwankende Hypo-thekensäule zu stabilisieren; um den mehr als mageren Zufluss an Sparein-lagen unter dem Deckel zu halten. Auf diese Weise werden Bankia (Beteili-gung der Caja de Madrid: 52,06% und von Bancaja: 37,7%) und der Banco Financiero y de Ahorro (BFA) aufge-baut. Anfang Mai 2012 wagt Rodri-go Rato noch zu behaupten, eine Ret-tung durch den Staat sei keinesfalls notwendig, was im Kriegsspiel unter Bankhaien und Intriganten der Regie-rung Rajoy eine Art provozierende Er-klärung war.

Die „Märkte“ – die Investoren – wussten genau, dass die Ausstän-de an Aktiva im Immobilienbereich durch die Maßnahmen Ratos und sei-ner Helfer nicht ausgeglichen wurden. Die Schließung von 20% der Filialen kam in der Buchhalter-Sprache einem schwachen Make-up gleich. Was von den Arbeitsplätzen kaum gesagt wer-den kann: 16% des Personals werden entlassen. Im April 2011 beginnt eine Trennungsoperation, die ihren Namen zu Recht trägt. Im „Mutterhaus“, im Banco Financiero y de Ahorro (BFA), werden die faulsten Aktiva sortiert und neu zugeordnet. Dies geschieht im Dezember 2010 mit einem Sys-tem gegenseitiger Hilfe und Absiche-rung (zur Neutralisierung von Angrif-fen von außen). Die BFA nimmt am 1. Januar 2011 ihre Tätigkeit auf. Die Cajas sind mit dabei. Der Banco Fi-nanciero y de Ahorro ist Mehrheitsak-tionär der Bankia. Diese besitzt nicht nur ein Filialnetz im Spanischen Staat, sondern ist auch international tätig: Lissabon, Dublin, Mailand, London, München, Wien, Miami, Peking und Schanghai. Diese Visitenkarte vermag „die Märkte“ allerdings nicht zu beru-higen, im Gegenteil. Die Bankia-Ak-tie sinkt vom 2. August 2011 bis am 8. Mai 2012 von 3,9 € auf 2,375 €, was einem Verlust von 39% entspricht. Ausstehende schmutzige Aktiva von Bankia belaufen sich auf 31,8 Milli-arden.

Deloitte zünDet Die lunte

Die Lunte wurde von der Auditfir-ma Deloitte gezündet, eine der vier großen transnationalen Firmen (Au-dit) neben PricewaterhouseCoopers (PwC), Ernst&Young und KPGM.

Deloitte erläutert das Scheitern in ih-rem Auditbericht.4 Die BFA-Bilanz 2011 enthält einen Anteil an Bankia im Wert von 12 Mrd. Euro. Aufgrund des Marktwertes (Börsenwert der Ak-tie) wird dieser Anteil auf 2 Milliarden geschätzt. Ein kleiner Unterschied … Nach geltenden Buchhaltungsregeln und da der BFA seine Bankia-Ak-tien nicht sofort auf den Markt wer-fen wollte, konnte dieser Anteil ledig-lich noch mit 8,5 Milliarden bewer-tet werden. Sein Wert musste also in der Bilanz um mindestens 3,5 Milliar-den vermindert werden. Wenn nun der BFA-Gewinn von 41 Mio. € dem Ver-lust von 3500 Mio. gegenübergestellt wird, zeigt sich klar ein rechnerisches Problem.

Deloitte hat folgende Lösung vorge-schlagen: Das Vermögen des BFA, dem Mutterhaus der Bankia, soll auf Null gesetzt werden. Um den BFA nicht völ-lig zu entblößen, soll der Vorzugsanteil des Spanischen Staates in BFA-Kapi-tal umgewandelt werden. Das würde aber die 100%ige Verstaatlichung des BFA bedeuten. Einmal mehr kommt es zu einer Geiselnahme durch eine Bank: erzwungene Rettung ohne Ge-genleistung. Womit unserer Meinung nach in der gegenwärtigen Dauerkrise des Kapitalismus sehr konkret die poli-tische und strategische Forderung nach

Verstaatlichung/Entprivatisierung des Bankensektors gerechtfertigt ist. Da-raus soll ein einziger öffentlicher Fi-nanzierungspol geschaffen werden, der im Spanischen Staat im Kreditwesen eine Monopolstellung einnimmt und der Kontrolle der Bevölkerung und der

Lohnabhängigen der Banken- und Ver-sicherungsbranche untersteht, um so nicht mehr der Konkurrenz mit BVA, Banco Santander und anderen ausge-setzt zu sein.

Es zeichnet sich eine andere Lö-sung ab: Bankia öffentliche Geld-er zukommen lassen ohne jede „In-tervention des Staates“.5 Mit anderen Worten, Bankia Geld zuschieben, das sämtlichen steuerzahlenden Lohnab-hängigen gehört und die noch nie da-gewesenen Angriffen auf ihren Sozial-lohn ausgesetzt sind: auf den direkten und indirekten Lohn, verschiedene Zulagen, Bildung, Gesundheit, Krip-pen usw. Wir kommen darauf zurück, denn am 11. Mai soll entschieden wer-den. Außer es wird als Notmaßnahme bereits vorher die Verstaatlichung be-schlossen, falls sich die Krise „auf den Märkten“ als Ausdruck einer Kri-se des Bankensystems verschärft.

Von rato zu GoiriGolzarri

Rodrigo Rato wird durch einen Eh-renmann ersetzt: José Ignacio Goiri-golzarri, 1954 in Bilbao geboren. Er verließ die Großbank BBVA – in der er einer der führenden Mitglieder bei der Expansion in die USA und Latein-amerika war – nach 30 Jahren guter und loyaler Dienste. Sein Ausscheiden

Wie immer: Banker können lachen

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SPANISCHER STAAT

mit Hilfe des BBV-Bosses erfolgte vor 32 Monaten. Er erhielt eine Spitzen-rente von 61 Mio. €, unterzeichnete eine Schweigepflicht und ein Konkur-renzverbot und wartete auf ein neues Mandat. Der Banco de España und die Regierung „übten Druck aus, damit er zustimmte.“6

Rato schien den Führungsposten bei Bankia nicht räumen zu wollen. Wohlerzogen und vorsichtig wie in diesen Kreisen üblich hat José Ignacio Goirigolzarri die ganze Macht verlangt und sie auch bekommen.

Diese Art Konflikt spiegelt die Konflikte innerhalb der PP und der herrschenden Oligarchie, die von ei-ner Krise geplagt wird, die in ihrem ganzen Ausmaß nicht voraussehbar war. Dieses Erdbeben bei den Banken führt nicht nur in den Führungszirkeln der „Finanzwelt“ zu Erschütterungen sondern auch an den Machthebeln im politischen Lager und im sozialen Block. Dies wiederum wirkt sich auf die Führungsetagen der EU aus, wo die Kontrolltürme nicht wissen, wel-chen Luftkorridor sie den Großflug-zeugen zuweisen sollen, da sie deren Landemechanismen nicht trauen, und dies, obwohl die autoritären Abläufe immer raffinierter werden: der Euro-päische Stabilitätspakt oder der Pakt zur Stabilität, Koordination und Füh-rung in der EU.

Die spanische Banken-Costa-Con-cordia braucht einen widerstandsfä-higen Kapitän. Doch die Untergrün-de der Marktfinanz sind voller Tücken und unvorhersehbar. Ohne Vorzeichen kann im Bankensystem eine Liquidi-tätskrise ausbrechen und die Banko-ligarchie in die Knie zwingen. Diese wiederum wird die Gesellschaft mit kalter und entschlossener Gewalt in Geiselhaft nehmen.

es ist zeit, Die Geiselnahme Durch Die Banken an Den pranGer zu stellen

Die „Rettung“ der Bankia – in der ei-nen oder anderen Form – zeigt das Ausmaß der Krise des Bankensys-tems im Spanischen Staat und anders-wo. Auf die Art und Weise, wie die Bi-lanzen von Bankia und anderen Insti-tutionen frisiert wurden und noch im-mer werden, wollen wir hier nicht ein-gehen. Les Echos weist neben der grie-

chischen Krise und deren mögliche Ausweitung auf Portugal und Irland zu Recht auf folgendes hin: „Die Investo-ren sorgen sich bereits über die Lage der anderen Banken und fragen sich, ob Spanien über genügend Mittel ver-fügt, um anderen (als Bankia und BFA) zur Hilfe zu eilen. Wo könnte die Re-gierung mitten in der Krise das nöti-ge Geld auftreiben?“7 François Duh-en, Stratege beim Crédit Mutuel (CM-CIC, franz. Bank), stellt kurz und bün-dig fest: „Spanien ist noch nicht über dem Berg.“ Die Analysten von Bar-clays schreiben in einem Artikel un-ter dem Titel „Weshalb die Eurokrise immer komplexer wird“: „Das spani-sche Bankensystem braucht kurzfris-tig liquide Mittel im Umfang von 100 Milliarden und falls der Staat die gan-ze Summe aufbringen muss, wird die öffentliche Verschuldung auf 100% des BIP schnellen und alle Sparanstren-gungen wären vergeblich gewesen.“8

Zwischen den Zeilen mehrerer Ar-tikel der Wirtschaftspresse ist eine wei-tere beschönigende Frage zu lesen: „In-wieweit“ wird die Bevölkerung „sozial und politisch die Verluste akzeptieren“, die durch diese Vergesellschaftung ei-ner Bankenschuld entstanden sind, die aber als öffentliche Schuld bezeichnet wird, um damit „zu rechtfertigen“, dass die Lohnabhängigen im Visier sind? Mit der massiven Ablehnung des sozi-alen und existentiellen Rückschritts in Griechenland erhält die „griechische Krise“ eine europaweite Ausstrahlung.

Doch in den letzten Monaten ist den spanischen Banken das Kunststück ge-lungen, bei den „Kleinsparern“ (Aktien und umwandelbare Obligationen), die zwar eine Minderheit der Bevölkerung ausmachen, sowie aus Pensionsfonds und von Lebensversicherungsverkäu-fern Geld zusammenzutrommeln.

Nach Angaben des Banco de Espa-ña ist die Summe der in den letzten drei Monaten des Jahres 2011 gesammel-ten Gelder um rund 8 Mrd. € höher als in der gleichen Zeit des Vorjahres. Teil-weise dank des mit einem Blitz-Mar-keting erzielten Ernteertrags konnten die in den Bankenbilanzen unterbewer-teten Verluste länger geheim gehalten werden.

Die Bankia-Krise – mit den „Skan-dalen“, die noch bekannt werden dürf-ten – kann den Perlen des spanischen Bankensystems einen Schlag verset-

zen. Deshalb die Nervosität und die Kämpfe auf den glänzenden Parketts und weichen Teppichen. Auch deshalb, weil drei Jahre lang immer wieder be-hauptet wurde, man habe das Banken-system fest im Griff. Und dies trotz der Riesenkatastrophe mit dem Immobili-encrash, d. h. mit der Überproduktions-krise im Wohnungsbau.

Weshalb hat seit Beginn der Fi-nanzkrise von 2008 (genau genom-men von 2007) keine einzige spanische Großbank in ihren jeweiligen Jahresab-schlüssen einen Verlust ausgewiesen?

Die Bankia-Rettung bedeutet der Beginn einer neuen soziopolitischen Etappe in Spanien. Die Kritik an der öffentlichen Verschuldung (die in Tat und Wahrheit eine Verlagerung von der privaten zur öffentlichen Verschuldung darstellt) und das Ziel der Verstaat-lichung/Entprivatisierung der Ban-ken werden zu den Schwerpunkten im Kampf gegen die Sparpolitiken. Das heißt, gegen die Erwerbslosigkeit und gegen die historische Verschlechterung des Sozialeinkommens. Letzteres ist der Preis für die erweiterte Reproduk-tion der kollektiven Arbeitskraft aller Lohnabhängigen während der ganzen Dauer ihres Lebens und zwar auf dem Niveau der 1970er und 1980er Jahre. Sektorielle Widerstands- und Kampf-koordinationen sollten durch eine eu-ropaweite sozialistische und demokra-tische Perspektive erweitert werden. Unter dem Blickwinkel der Klassen-solidarität kann damit die Frage der souveränen Rückeroberung von Rech-ten gestellt werden, die uns genom-men wurden: die notwendige Befrie-digung sozialer Bedürfnisse und echte Sicherheit, die zuallererst sozialer Na-tur ist.

9. Mai 2012

1 Neue Zürcher Zeitung, 9. Mai 2012

2 Wall Street Journal, 8. Mai 2012, Les Echos,

8. Mai 2012, El País, 9. Mai 2012

3 El País, 8. Mai 2012

4 El País, 9. Mai 2012

5 La Vanguardia, 9. Mai 2012

6 El País, 8. Mai 2012

7 Les Echos, 9. Mai 2012 (franz. Wirtschafts-

und Finanzblatt)

8 24 Ore/Il Sole, 9. Mai 2012

Übersetzung: Ursi Urech

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Algerien

AlgerienAlgerien: erklärung zu den Parlamentswahlennationales Sekretariat der Sozialistischen Arbeiterpartei (PST)

Trotz einer beispiellosen Kampagne, mit der zur massiven Teilnahme an den Parlamentswahlen vom 10. Mai 2012 aufgerufen worden ist, war laut offizi-ellen Ergebnissen nur eine Beteiligung von 42 % zu verzeichnen, also 6 Punkte mehr als bei der Abstimmung 2007. Der Termin vom 10. Mai, der mal als neuer 1. November [1954, der Beginn des Un-abhängigkeitskampfs der FLN], mal als ein 5. Juli 1962 [Datum der Unabhän-gigkeit] hingestellt wurde, ist für über 57 % der Wahlberechtigten nicht glaub-würdig gewesen, und von daher stellt er kein Mittel dar, um aus der Krise her-auszukommen.

Nach einem Wahlkampf, der eintö-nig verlief und in dem es keine wirk-lichen Debatten über die Gesellschaft-sentwürfe gab, nach vielen Jahren, in denen die Möglichkeiten, sich politisch auszudrücken, und die soziale Bewe-gung unterdrückt wurden, und wegen des Fehlens einer konkreten politischen Alternative, die die Forderungen der Ar-beitenden und der Volksmassen aufgrei-fen würde, hat die Mehrheit der Algeri-erinnen und Algerier mit Enthaltung re-agiert.

Trotz der Verachtung der Regie-renden, der Polizeirepression und des Schweigens der politischen Parteien, die sich nur mit dem Wettlauf um Par-lamentssitze beschäftigten, haben die Kämpfe und die Mobilisierungen für wirtschaftliche, soziale und demokra-tische Forderungen – wie die der Leh-rerInnen, der Beschäftigten von Cevi-tal, der U-Bahn in Algier, der Justizan-gestellten, der Jugendlichen in Dschi-dschel – während dieses Wahlkampfs nicht aufgehört.

Laut den offiziellen Ergebnissen, die noch vor Abschluss der Auszäh-lungen und dem Abfassen der dazu ge-hörenden Protokolle bekannt gegeben wurden, erzielte die FLN (Front de Li-bération Nationale) einen erdrückenden Sieg, weit vor ihren üblichen Verbünde-ten RND (Rassemblement National Dé-

mocratique) und MSP (Mouvement de la Société pour la Paix); diese Ergeb-nisse sind surrealistisch und inakzepta-bel. Das Wahlsystem, mit dem das auf der Seite der Präsidentschaft stehen-de Bündnis, wie wir am 1. April ge-

schrieben haben, bevorzugt wird, setzt eine „alte Mehrheit“ durch, die einmal mehr in der Minderheit ist und weniger als 15 % der Wahlberechtigten repräsen-tiert.

Abgesehen von diesem Tatbestand diskreditieren die auf nationaler Ebene verzeichneten und sogar von der Nati-onalen Kommission zur Überwachung der Parlamentswahlen (CNSEL) fest-gestellten Verstöße – wie die Hinderung von Mitgliedern der Kontroll- und Beo-bachtungskommissionen der politischen Parteien am Betreten vieler Stimmlo-kale, das Ansteigen von Stimmabgabe mit Vollmacht in astronomische Höhe, physische Gewalt gegen KandidatInnen und BeobachterInnen – diese Wahlen und die verkündeten Ergebnisse.

Die PST (Parti Socialiste des Tra-vailleurs) hat ohne jegliche Illusionen an diesen Wahlen teilgenommen. Da-

rauf haben wir während des gesamten Wahlkampfs hingewiesen. Diese Parla-mentswahlen haben für uns eine Tribü-ne dargestellt, um unsere Positionen be-kannt zu machen und unsere Partei auf-zubauen. Die Echo auf den Wahlkampf

der PST und ihren Aufruf für eine „Sammlung der Linken“ ist sehr positiv, Treffen mit unseren politischen Partnern und den örtlichen Komitees der sozialen Bewegung werden vorbereitet.

Für uns geht der Kampf weiter! Wir müssen uns auf die neuen politischen Kämpfe vorbereiten, es gilt den Wider-stand und die Kämpfe der sozialen Be-wegung zu bündeln, um ein Kräftever-hältnis aufzubauen, mit dem wir unse-re demokratischen und sozialen Rech-te sowie eine Politik gegen Neolibera-lismus und Imperialismus, eine Poli-tik im Dienst der Arbeitenden und der Volksmassen unseres Landes durchset-zen können.

Nationales Sekretariat, 11. Mai 2012

Übersetzung aus dem Französischen: Friedrich Dorn

Polizei verhindert mit Gewalt Protestmarsch in Algier

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PAKISTAN

PAKISTAN„Die LPP ist eine sozialistische Partei, die die Alltagsprobleme der Leute aus der Nähe kennt.“Interview mit Farooq Tariq

Die Linke Pakistans spielt eine ent-scheidende Rolle im Kampf für De-mokratie und Arbeiterrechte. Ein weg-weisender Schritt wäre die Kürzung des Militärbudgets zugunsten von Bil-dung und Entwicklung – ein wirksa-mes Mittel, um gegen religiösen Fun-damentalismus vorzugehen.

Farooq Tariq ist ein führender Ak-tivist der Linken. Er gehört zu den Mitgliedern des Exekutivkomitees der Labour Party Pakistan (LPP) und ist an vielen Kämpfen der Arbeiter-schicht beteiligt. Aufgrund seines Widerstands gegen die Militärdikta-tur verbrachte er Jahre im Exil und saß mindestens ein halbes Dutzend Mal im Gefängnis. In dem folgenden Interview mit Viewpoint (Online) spricht er über die politische Szene in Pakistan.

Salman Ali: Sie sind seit 1974 in der Linken aktiv. Wie sah Ihre politi-sche Tätigkeit früher aus? Wie ka-men Sie zum Marxismus?

Farooq Tariq: Das war ein langer Weg. Ich kam zur linken Politik, als ich noch kaum etwas über „links“ und „rechts“ wusste. Dass ich ein politi-scher Aktivist wurde, war sozusagen reiner Zufall. 1974, in meiner Studi-enzeit, setzte ich mich für die Besser-stellung der Frauen ein und kämpfte für ihr Recht, in allen gesellschaftli-chen Bereichen des sozialen und wirt-schaftlichen Lebens tätig zu sein. Ich wandte mich gegen die Einschränkun-gen und Verbote, die im Namen von Kultur und Religion für die Frauen unseres Landes gelten. Das gefiel Is-lami Jamait Tulba (IJT), dem studenti-schen Flügel von Jamaat Islami nicht: Seine Schläger verprügelten mich auf dem Campus. Dieser Vorfall machte mich zum politischen Aktivisten; mit

der Zeit näherte ich mich linker Ideo-logie und Politik an.

1976 machte ich meinen Abschluss in Angewandter Psychologie und ar-beitete danach bei meiner Familie in Toba Tek Singh. Nach Verhängung des Kriegsrechts im Juli 1977 kehrte ich nach Lahore zurück und begann, Ar-tikel gegen das Kriegsrecht und für die Demokratie zu schreiben. Im Sep-tember 1977 führte ich ein Interview mit Benazir Bhutto, als sie Faisalabad, ehemals Lyallpur, besuchte. Das In-terview wurde in der Wochenzeitung Al-Fatah von Karatschi veröffentlicht. Damals wehrte sich Al-Fatah stand-haft gegen das Kriegsrecht und unter-stützte den Kampf für Demokratie und Menschenrechte.

Unsere Hauptgegner im Wider-stand gegen das Kriegsrecht waren re-ligiöse Fundamentalisten. Diese Tat-sache machte uns zu Linken, ohne dass wir viel über linke Theorie wuss-ten. 1978 sah ich mich wegen meiner Aktivitäten gegen das Kriegsrecht ge-zwungen, Pakistan zu verlassen. Fast acht Jahre verbrachte ich in den Nie-derlanden und in England. In dieser Zeit half ich beim Aufbau der Grup-pe „The Struggle“ (Der Kampf), die in der Pakistan People’s Party (PPP) von Benazir Bhutto aktiv war. 1986 hatte sich die Situation in Pakistan so weit verbessert, dass ich heimkehren konn-te. „The Struggle“ sollte nun im paki-stanischen Boden Wurzeln schlagen. Doch nach Benazirs erster Periode an der Macht erkannten wir, dass die PPP nur der herrschenden Klasse dienen würde. Wir traten aus der PPP aus und starteten eine Kampagne für eine un-abhängige Arbeiterpartei. Nach dem Aufbau einer soliden Gewerkschafts-basis wurde 1997 die Labour Party Pa-kistan (LPP) gegründet.

Heute zählen wir über 3000 Mit-

glieder. Einer der acht großen Ge-werkschaftsverbände – die National Trade Union Federation (NTUF) – sympathisiert mit der LPP. Die NTUF vertritt über hunderttausend Industrie-arbeiterInnen. Unsere weiblichen Mit-glieder haben die Arbeiterinnenhilf-sorganisation Women Working Help Line (WWHL) ins Leben gerufen, mit rund 2000 Mitgliedern.

Manche kritisieren, die LPP arbei-te zu eng mit NGOs zusammen. Was ist Ihre Meinung? Wir sind Teil des Aktionskomitees Joint Action Committee for People’s Rights, in dem 28 große NGOs in La-hore und zwei andere politische Par-teien (National Workers’ Party und Christian National Party) vertreten sind. In der sozialen Bewegung Pakis-tans ist es zu einem Streit über die Fra-ge gekommen, wie stark wir uns ge-gen den Fundamentalismus und wie stark gegen den amerikanischen Im-perialismus wehren sollen. Die NGOs, die den Fundamentalismus bekämpf-ten, wurden von Fundamentalisten physisch angegriffen. Ihre Büros wur-den niedergebrannt. Manche NGOs befürworteten einen begrenzten An-griff auf Afghanistan durch den ame-rikanischen Imperialismus. Wir lehn-ten dies ab und schafften es, innerhalb der Bewegung eine Art ausgeglichene Position zu entwickeln.

Unser Ziel ist, die soziale Bewe-gung entlang der Klassenfrage auf-zubauen. Wenn wir in Pakistan eine Massenpartei hätten, würden die mei-sten dieser NGOs mit der Labour Par-ty zusammenarbeiten und über sie agi-tieren. Da es aber keine Massenkraft als linke Alternative gibt, beteiligen sich die NGOs an den sozialen Bewe-gungen. Die NGOs treten für einen Li-

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PAKISTAN

beralismus ein, der auf grundlegende demokratische und menschliche Wer-te setzt.

Glauben Sie, dass die NGOs der Ar-beit linker Parteien geschadet ha-ben? Es gibt zwei Arten von Arbeit, gute und schlechte. Das gilt auch für die NGOs. In Pakistan, und speziell in Lahore, be-finden sich viele NGOs. Sie arbeiten themenbasiert und haben nur begrenzt Einfluss. Manche kooperieren mit lin-ken Parteien, um das Gemeinwohl und die Bildung der lokalen Bevölke-rung zu verbessern. Wenn diese NGOs weiterhin mit linken Parteien zusam-menarbeiten, wird uns dies helfen, ei-ne volksnahe Infrastruktur aufzubauen, die in der Zukunft positive Veränderun-gen bringen kann.

Was halten Sie von Pakistans etab-lierten politischen Parteien? Seit der Unabhängigkeit ist es unse-rem Land nicht gelungen, grundlegen-de demokratische Institutionen aufzu-bauen. Meistens rangeln sogenann-te Mainstream-Politiker untereinan-der um die Macht im heutigen unde-mokratischen und korrupten System. Sie haben sich der Aufgabe verschrie-ben, den sozialen und wirtschaftlichen Status quo zu erhalten – das schadet unserem Volk und dem gesellschaftli-chen Fortschritt. Alle politischen Par-teien sind verlogen; ihre Führer brin-gen dem Land keine Verbesserungen. Nur VertreterInnen aus den unteren Schichten können dieses ungerechte System beenden. Nur wir selbst ver-stehen die Probleme der gewöhnli-chen Leute; nur unsere VertreterInnen können echte Lösungen herbeiführen.

Wir streben ein linkes Wahlbündnis an und führen Gespräche mit den lin-ken Parteien. Im Zentrum sollen For-derungen stehen wie: Privatisierungs-stopp; Verstaatlichung von allen pri-vatisierten Industrien und großen Mo-nopolen; kein Abbau bei den öffentli-chen Diensten – über 100 000 Staats-stellen wurden in den letzten beiden Jahren gestrichen; Minimallohn von 7000 Rupien; drastische Kürzung des Verteidigungsetats; Zahlungsverwei-gerung für rechtswidrige Auslands-schulden. Ein wegweisender Schritt

wäre die Kürzung des Militärbudgets zugunsten von Bildung und Entwick-lung – ein wirksames Mittel, um ge-gen religiösen Fundamentalismus vor-zugehen.

Einige Kommentatoren behaup-ten, dass Imran Khan an die Macht kommen wird. Wie denken Sie über ihn?

Ich respektiere Imran Khan durch-aus als Kricketspieler und Sozialarbei-ter. Doch sollte er an die Macht kom-men, wäre das meiner Ansicht nach ei-ner der traurigsten Momente für Pakis-tan. Warum? Weil er an das kapitalisti-sche System glaubt und meint, es kön-ne sich selbst reformieren. Er versucht, die Leute mit seinen Statistiken zu be-geistern, und tritt in den verschiedenen Nachrichtensendungen auf. Aber seine Vorstellung eines reformfähigen Kapi-talismus ist ein Traum. Wer glaubt, Im-ran Khan bringe Pakistan die Revoluti-on, macht sich Illusionen.

Vor Kurzem haben wir gelesen, dass die Partei Tehreek-e-Insaaf (PTI) ein Treffen mit der LPP abgehalten hat? Welche Ziele und Ergebnisse hatte dieses Treffen?

Ja, wir haben uns mit Tehreek-e-In-saaf getroffen. Es wurde nichts ent-schieden oder definitiv festgelegt. Es handelte sich lediglich um eine Dis-kussionsrunde zwischen den Arbeite-rInnen der PTI und der LPP. Wir set-zen uns für die Rechte der Arbeiter-

klasse ein und werden dies auch in Zu-kunft tun.

Was sagt die LPP über den Kasch-mir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan?Der Kaschmir-Konflikt wurde durch die Briten verursacht, als sie den Sub-kontinent formell verließen. Sie hat-ten ein Interesse daran, eine Situation mit sich bekämpfenden Staaten her-beizuführen. Der Konflikt kann gelöst werden, wenn die Politiker dies selbst wollen.

Die LPP tritt für ein unabhängi-ges Kaschmir ein – für das Recht auf Selbstbestimmung der Bevölkerung Kaschmirs, unabhängig von Pakistan und Indien. Wir fordern einen sofor-tigen Stopp der staatlichen Gewalt auf beiden Seiten und den Rückzug so-wohl der pakistanischen als auch der indischen Armee. Kaschmir gehört weder Pakistan noch Indien. Die Ent-scheidung soll bei der Bevölkerung von Kaschmir liegen; sie muss die Sa-che selbst in die Hand nehmen.

Farooq Tariq

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PAKISTAN

Welche Bilanz ziehen Sie über die jetzige Regierung?Meiner Ansicht nach hat die Regierung in ihrer vierjährigen Amtszeit nichts zustande gebracht. Sie hat Musharrafs Politik fortgeführt. Die Inflationsrate ist im Laufe der Zeit gestiegen. Die jet-zige Regierung arbeitet mit einer Ad-hoc-Strategie. Sie ist nicht fähig, Dinge durchzuziehen und zielgerichtet vorzu-gehen. Ich behaupte, dass diese Regie-rung zu den schlechtesten gehört, die es in der Geschichte Pakistans je gab. Und ich bin sicher, dass die PPP in den kommenden Wahlen verliert. Vermut-lich wird sie ein ähnliches Resultat er-zielen wie 1997, als sie 27 Prozent der Stimmen erhielt.

Hat linke Politik in Pakistan eine Zukunft?Pakistan ist kein Hort linken Gedan-kenguts. Es ist ein theokratischer Staat, in dem religiöse Ideen ganz und gar dominieren. Ich hoffe, dass mit der Zeit eine landesweite linke Partei oder Allianz entsteht, die eine Alternati-ve zu einem solch undemokratischen Staat entwickeln kann. Die Linke Pa-kistans spielt eine entscheidende Rol-le im Kampf für Demokratie und Ar-beiterrechte.

Wir benutzen zurzeit keine revolu-tionären Parolen und behaupten auch nicht, dass der Sozialismus alles lösen wird. Die LPP ist eine sozialistische Partei, die die Alltagsprobleme der Leute aus der Nähe kennt. Wir führen Kampagnen zu brennenden Themen wie Landrechte; wir haben das Anti-Privatisierungsbündnis von Pakistan gegründet; wir setzen uns für Frauen- und Menschenrechte ein; wir kämpfen gegen Kinderarbeit. Und wir bemühen uns immer, unterschiedliche Gruppen und Richtungen zusammenzubringen, damit ein Netz entsteht, das konkrete Ziele erreichen kann.

Quelle: VIEWPOINT-ONLINE-AUSGA-BE NR. 103, 1. JUNI 2012: http://www.view-pointonline.net/imra...Erstpublikation unter dem Titel: ‘Imran Khan in power will be one of the saddest moments for Pakistan’.

Übersetzung: Alena Walter

PAKISTANKaratschi: Unter-nehmer terrorisieren WebereiarbeiterPierre Rousset

Die in sandgraue, weiße oder hell-blaue Gewänder gekleideten Arbeiter füllen das kleine Gewerkschaftslokal; es sind ausschließlich Männer, die Weberei ist hier ein Männergewerbe. Wir befin-den uns in Ettehad nahe Karatschi, der Hauptstadt von Sindh, dem bedeutends-ten Industrie- und Hafenzentrum Paki-stans. Mehrere der Anwesenden sind ge-rade auf Kaution aus der Haft entlassen worden. Ihr „Verbrechen“ wie das ande-rer inhaftierter Kollegen ist, dass sie in ihren Betrieben, in denen die Unterneh-mer einen regelrechten Terror ausüben, eine Gewerkschaft aufbauen wollten, die zum nationalen Gewerkschafts-bund (NTUF)1 gehörende Ettehad Po-wer Looms Labour Union.2 Aus diesem Grund wurden sie von den Rangers (pa-ramilitärischen Einheiten) entführt, ge-foltert, inhaftiert, der Erpressung be-schuldigt und nach dem Antiterrorge-setz angeklagt.

Vor dem LokaL der Weberei-arbeiTer

Einer nach dem anderen schildern sie wortreich die Bedingungen, unter de-nen sie arbeiten. Und sie haben viel zu erzählen. Über die Arbeit und die dro-hende Arbeitslosigkeit, die sie dazu be-wegt, Arbeiten unter inakzeptablen, un-menschlichen Bedingungen anzuneh-men. In dieser Region, wo das Thermo-meter im Juni bis auf 48 Grad steigen kann (schon jetzt, im April, steht es auf 38 Grad), steht in den Werkstätten eine erdrückende Hitze. Doch wenn ein Ar-beiter wagt, die Installation eines Ven-tilators zu fordern, wird er sofort entlas-sen und hat keine Chance auf Wieder-einstellung. Aus Sicht der Unternehmer und ihrer Überwacher haben die Arbei-ter einzig und allein das Recht, zu katz-buckeln, zu schweigen und alles hinzu-nehmen.

Doch wie kommt es dazu, dass die Arbeiter selbst der elementarsten Rech-te dermaßen beraubt sind? Schlicht des-halb, weil es die Betriebe rechtlich ge-sehen gar nicht gibt. Das Unternehmen selbst ist nicht registriert, rechtlich ge-sehen also gar nicht existent. Es ist fast wie in Frankreich mit den klandestinen Werkstätten (ebenfalls in der Textilin-dustrie). Nur dass es sich hier um rie-sige Unternehmen handelt, um wilde In-dustriezonen, die vor aller Augen mit der aktiven Komplizenschaft der Regie-rungsparteien und der „Ordnungskräf-te“ aus dem Boden schießen. Nur ist es hier nicht nötig, Immigranten ohne Auf-enthaltspapiere ins Visier zu nehmen, um sie einem totalitären Ausbeutungs-system zu unterwerfen.

Die fraglichen Unternehmen sind je-doch angesehen. Sie haben sich formell in kontrollierten Industriezonen nieder-gelassen. Sie achten auf ihr Image und treiben die Heuchelei so weit, sich im Internet zur guten Unternehmensfüh-rung zu bekennen. Die Hauptproduk-tion findet jedoch woanders, rund eine halbe Stunde Autofahrt vom Zentrum Karatschis entfernt, statt und wird je nach Umständen woandershin verlagert. Wenn die Unzufriedenheit der Bevölke-rung über die extreme Ausbeutung zu stark wird, kommen Lastwagen und ho-len das Material und die Maschinen ab. Ein oder zwei Tage später läuft die Fa-brik ein wenige Kilometer entfernt wie-der weiter.

Die Unternehmer können ihr Gesetz auf vielerlei Wegen durchsetzen. Einer der gängigsten Mechanismen, um die Arbeiter gefügig zu machen, ist die stän-dige Verschuldung; bei der Einstellung wird ein Kredit „gewährt“, der bei den jämmerlichen Löhnen nie und nimmer zurückgezahlt werden kann. Wenn das nicht ausreicht, um die Gewerkschafter zum Schweigen zu bringen, können sie

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PAKISTAN

über schwarze Listen unter Druck ge-setzt werden. Wird dann ein Arbeiter entlassen, hat er keinerlei Chance mehr, irgendwo anders beschäftigt zu werden. Auch über seine Brüder kann ein Ar-beitsverbot verhängt werden – „ja selbst meine Cousins sind betroffen!“, ruft ei-ner der Anwesenden dazwischen. Durch die Schulden und die drohende Zwangs-arbeitslosigkeit nehmen die Unterneh-mer die Familien in Geiselhaft.

Das Unternehmerkartell schirmt das System vollständig ab. In Frank-reich können Unternehmer stillschwei-gend eine schwarze Kasse einrichten, um anderen Unternehmern im Fall eines Streiks unter die Arme zu greifen. Für die Arbeiter, denen ich begegne, gilt das Gegenteil. Einzelne Unternehmer, die ausscheren wollen und höhere Löh-nen zahlen würde, weil selbst ihnen die schlechten Bedingungen zu weit gehen, werden an Zugeständnissen gehindert. Die lokale Unternehmerschaft hat näm-lich beschlossen, diejenigen, die in Loh-nerhöhungen einwilligen, mit schweren Bußen zu belegen.

Zudem stehen Schlägertruppen, die Armee und die Polizei bereit. Die sie-ben Gewerkschafter wurden beispiels-weise auf Bitte ihres Arbeitgebers am 21. März, kurz vor meiner Ankunft, von Rangers festgenommen und schwer ge-foltert. Es handelt sich um Saif Ur Reh-man, Naik Muhammad, Irshad, Mu-hammad Rome, Nizam Uddin, Akhter Ali und Hazrat Yousaf. Nach einer er-sten Protestwelle wurden sechs der Festgenommenen am 23. März der Po-lizei übergeben und der siebte, Hazrat Yousaf, frei gelassen.

Da es sich um Schwarzarbeit han-delt, behauptete der Unternehmer, die (nicht gemeldeten) Löhne, die die Ar-beiter erhalten hatten, seien ihm ab-genötigt worden. Die Gewerkschaf-ter wurden erneut gefoltert, um ihnen das falsche Geständnis abzupressen, sie hätten ihren Chef erpresst, was sie aber verweigerten. Am 24. März wurde sie in Karatschi vor ein Antiterrorgericht ge-stellt. Der Richter ordnete die medizi-nische Versorgung der Opfer an, weiger-te sich aber, eine Untersuchung über den Einsatz von Folter einzuleiten.

In Pakistan fanden insbesondere sei-tens der NTUF zahlreiche Mobilisie-rungen, begleitet von einer von der Ge-werkschaftsbewegung getragenen inter-nationalen Solidaritätskampagne statt. Dabei wurde auch die Europäische Uni-

on zur Frage der Folter einbezogen. Die sechs Festgenommenen wurden in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai schließ-lich (nach Hinterlegung einer Kaution von 600 000 Rupien) freigelassen. Das ist ein bedeutender Sieg. Tatsächlich kommt es nur sehr selten vor, dass im Rahmen der Antiterror-Rechtsprechung Freilassungen gegen Kaution gewährt werden. Die Ettehad Power Looms La-bour Union hat sofort für die freigelas-senen Gewerkschafter mobilisiert, um ihren Forderungen Nachdruck zu ver-leihen.

Die Affäre ist noch lange nicht aus-gestanden. Insgesamt wurden zwölf Ge-werkschafter vor Antiterrorgerichte ge-stellt: Saif Ur Rehman, Bacha Wali (Na-ik Muhamed), Akhter Ali, Nizam Ud-din, Muhammed Rome, Irshad, Abdul Muhamed, Muhammed Amin, Sana Ul-lah, Azam Khan, Khan Zareen, Umer Gul. Die nächste Anhörung ist für den 22. Mai angesetzt.

Lahore, FaisaLabad, GiLGiT

Lahore: Pearl ContinentalDie Politik der Kriminalisierung der sich wehrenden Bevölkerung und Ge-

werkschaftsbewegung betrifft das gan-ze Land. Das wird unter anderem vom Internationalen Dachverband der Ge-werkschaftsorganisationen IUL3 im Fall des Kampfs der Angestellten des Ho-tels Pearl Continental in Lahore kriti-siert. Die Gewerkschaft4 hat einen sehr schwierigen Kampf um Anerkennung hinter sich, in dem sie von der Hoteldi-rektion, die sich mit den lokalen Behör-den abgesprochen hatte, behindert und bedroht wurde. Im vergangenen Febru-ar konnte sich die Gewerkschaft bei den Betriebswahlen schließlich aber durch-setzen.

Daraufhin griff die Hoteldirektion zu einer Taktik, die sie bereits ein Jahr-zehnt lang im Gewerkschaftskampf im Hotel Pearl Continental von Karatschi einsetzte. Sie ließ ein Zimmer zerstören und anzünden und hängte den Gewerk-schaftern die Straftaten an. Einen Monat später wurden weitere Beschuldigungen erhoben, die unter die Antiterrorgesetz-gebung fallen, die Strafen von bis zu 20 Jahren Gefängnis zulassen!

Muss da noch extra erwähnt werden, dass der Besitzer der Hotelkette Pearl Continental, Sadruddin Hashwani, einer der reichsten Männer des Landes ist?

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PAKISTAN

UIL antwortete mit einer Solidari-tätskampagne für die Gewerkschafts-führer des Pearl Continental.5

die „sechs von Faisalabad“In einem früheren Artikel sind wir be-reits auf die schwierige Lage in Fai-salabad, dem bedeutenden Zentrum der

Textilproduktion in Pandschab, einge-gangen, wo sechs Gewerkschaftsführer unter Antiterrorgesetzen zu 590 Jahren Gefängnis verurteilt wurden.6 Wie in Karatschi geht es um Textilarbeiter aus dem Webereigewerbe, mit dem Unter-schied, dass es sich hier um registrierte Betriebe handelt.

Auch ein siebter Webereiarbeiter, Mehmood Ahmad, wurde von der Po-lizei unter denselben Anklagepunkten festgenommen wie die „sechs von Fai-salabad“, obwohl er gar nicht am Ort des Geschehens war. Zwei Jahre lang konnte er sich der Verhaftung entzie-hen, doch er musste im Stadtteil Sad-har wieder Arbeit aufnehmen, um seine Familie zu ernähren, woraufhin er von der Polizei festgenommen wurde.

Diese neue Verhaftung löste hef-tige Reaktionen seitens der Arbeiter der Branche aus. Viele verließen ihre Betriebe und die Hauptstraße, Jhang Road, wurde laut Informationen, die wir erhielten, von über 5000 Arbei-tern blockiert. Die Leitung der Labour Qaumi Movement (LQM) konnte sich in ihren Verhandlungen mit der Polizei auf einen starken Rückhalt stützen und mit einem Streik in der ganzen Stadt

drohen. Am 15. Mai wurde Mehmood Ahmad wieder freigelassen.

Die Anklagen gegen die „sechs aus Faisalabad“ sind völlig aus der Luft gegriffen. Sie haben vor dem ober-sten Provinzgericht Berufung einge-legt. Die Berufung wurde grundsätz-lich für zulässig erklärt, doch das Da-

tum der nächsten Anhörung steht noch nicht fest.

Während sich die Justiz also Zeit lässt, wurden drei weitere Gewerk-schafter unter analogen Beschuldi-gungen festgenommen. So sind aus den „sechs von Faisalabad“ unterdes-sen neun geworden.

Gilgit: die „fünf von hunza“Wir werden demnächst auf die Situati-on der „fünf von Hunza“ zurückkom-men, die im Norden des Landes eben-falls unter Antiterrorgesetzen ange-klagt sind, weil sie die Rechte der Be-völkerung im Hunza-Tal verteidigt ha-ben, das von einer Naturkatastrophe heimgesucht wurde.

Erwähnt sei jedoch, dass die So-lidaritätskampagne erste Erfolge zei-tigt. Zwölf Tage nachdem Bab Janb und seine Kollegen geschlagen und gefoltert wurden, konnten sie end-lich von einem Arzt untersucht wer-den. Die nationalen Medien bringen erste Berichte, was sehr wichtig ist, denn es steht zu befürchten, dass sie in ein anderes Gefängnis für Schwer-verbrecher zwangsverlegt werden, wo sie von gewöhnlichen Verbrechern

stillschweigend umgebracht werden könnten.7

Die Einschüchterungsversuche in Gilgit gehen weiter. Sechs Aktivisten der Jugendlichen Fortschrittsfront wur-den am 13. Mai beim Plakatieren ver-haftet, doch angesichts der Proteste von der Polizei – die im Übrigen nicht wusste, unter welcher Anklage sie die Jugendlichen hätte weiter festhalten können – wieder auf freien Fuß gesetzt.

Die „fünf von Hunza“ haben eben-falls Berufung eingelegt, um (zumin-dest) auf Kaution freigelassen zu wer-den, doch die Anhörung wurde bereits dreimal unter verschiedenen Vorwän-den verschoben, obwohl die Richter das Datum selbst festgelegt hatten. Für 5.  Juni ist nun eine weitere Anhörung geplant …

In Karatschi, Lahore, Faisalabad, Gilgit … und an vielen anderen Orten wie in der Militärfarm von Okara oder dem Dorf Dehra Sehgal nahe Lahore brauchen die pakistanischen Aktivisten unsere Solidarität. Kein Aufwand sollte gescheut werden!

Eine gekürzte Fassung dieses Arti-kels ist in der Wochenzeitung „Tout est à nous“ (TEAN) erschienen. Der Arti-kel wurde am 1. Mai 2012 aktualisiert.

Onlinefassung vom 22. Mai 2012

Pierre Rousset ist Mitglied der Leitung der Vierten Internationale und insbesondere in der Solidarität mit Asien aktiv. Er ist Mit-glied der NPA in Frankreich.

Aus dem Französischen: Tigrib

1 Nationaler Gewerkschaftsbund.2 Gewerkschaft der Arbeiter des Webereigewer-

bes von Ettehad.3 Internationaler Dachverband der Lebensmit-

tel-, Landwirtschafts- und Hotelarbeitneh-merInnen.

4 Pearl Continental Hotel Employees Union La-hore.

5 Siehe http://www.iuf.org/cgi-bin/campaign ... und auf ESSF (Artikel 25127), Pakistan hotel union leaders jailed and face criminal charges after union wins recognition election!

6 Siehe Pierre Rousset und Danielle Sabai (Ar-tikel 23505), Appel à la solidarité face à la ré-pression syndicale et politique au Pakistan. Weitere Informationen unter dem Stichwort Faisalabad.

7 Siehe Pierre Rousset und Danielle Sabai (Arti-kel 25108), Appel urgent: Menace de mort sur des détenus politiques au Pakistan. Weitere In-formationen unter den Stichworten JAN Baba und Gilgit Baltestan.

Weberei in Pakistan

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inprekorr 4/2012 21

dieinternationale

Die Krise der LinksparteiKonjunkturbelebung, niedriger Stand der Klassen-kämpfe, Wahlniederlagen und Führungsstreit – die Linkspartei befindet sich in einer heftigen Krise.

B. B.

Bei den letzten Landtags-wahlen im Saarland, in Schleswig Holstein und NRW verlor Die Linke 343  004 WählerInnen. Das waren in den drei Bundesländern ins-gesamt mehr als die Hälfte der WählerInnen der vorherge-henden Landtagswahlen.

Wenn dabei die Linkspar-tei im Saarland an die Piraten-partei, die SPD und an Nicht-wählerInnen verloren hat, in Schleswig-Holstein an die Pi-ratenpartei und an die Nicht-wählerInnen; in NRW an die SPD und an die Piratenpar-tei, dann entwickelt sich das Bewusstsein bei einem Teil der ArbeiterInnenklasse (von „ProtestwählerInnen“ ganz abgesehen) nicht nach „links“, sondern nach „rechts“. Was sind die Ursachen?

Soziale Frage nicht im mittelpunkt

Wenn trotz der anhaltenden Erschütterungen der kapita-listischen Weltwirtschaft die Linkspartei 343  000 Wähle-rInnen verlor, dann zeigt das auch auf der parteipolitischen Ebene, dass die Krise nicht auf

die BRD durchschlägt, jeden-falls nicht direkt. Die Erwerbs-losigkeit steigt nicht, sondern sinkt. Für viele Lohnabhängi-ge zählt der aktuelle Konjunk-turaufschwung in Deutsch-land und nicht die offenkun-dige Krise in vielen Ländern Europas oder den USA. Die Empörung über Hartz IV und Rente mit 67, die der SPD nicht vergessen und verziehen werden, wird überlagert von den durch ver.di und IG Me-tall ausgehandelten Lohner-höhungen, zu denen CDU-Fi-nanzminister Schäuble aufge-fordert hatte, und durch die Zuschläge für Leiharbeite-rInnen in der Metallindustrie, die von Bundesarbeitsministe-rin von der Leyen (CDU) be-grüßt wurden. Die Gewerk-schaftsführungen sehen sich auf Erfolgskurs und wähnen keinen Grund für gesellschaft-lichen Protest. Die soziale Fra-ge steht nicht im Mittelpunkt. Für viele ist der Blick auf die Krise des Systems verstellt, während ihn eine kleine revo-lutionäre Minderheit ins Zen-trum ihre Aktivitäten rückt. Die gute Konjunktur verhin-dert die Ausweitung der Anti-

Krisen-Proteste zur Anti-Kri-sen-Bewegung und schwächt die Zustimmung zur Links-partei.

kein antikapitaliS-tiScher WahlkampF

Zur schwierigen objektiven Lage kam ein Wahlkampf der Linkspartei in NRW, der sich nicht auf die kapitalistische Systemkrise konzentrierte, sondern auf Sofortforde-rungen wie „Kitas für alle“, „landesweites Sozialticket“ und „Löhne rauf (ihr seid es wert!“). Die Forderung einer „Millionärssteuer“ ist kein Gegenbeispiel. Sie wurde auch von der Linkspartei im Saarland und in Schleswig-Holstein gefordert. Die „Ent-eignung der Banken“ konnte schon deshalb keine zentrale Forderung des Wahlkampfes der NRW-Linkspartei wer-den, verhinderte doch ein Teil der Mehrheit der Antikapita-listischen Linken des Landes-verbandes schon den Wahl-kampfslogan „Löhne rauf – Diäten runter!“, weil er zu ra-dikal sei. Damit verpasste die antikapitalistische Mehrheit der Linkspartei in NRW die einmalige Chance, einen an-tikapitalistischen Wahlkampf zu führen und zur Herausbil-dung von Klassenbewusst-sein beizutragen. Ihren „An-

tikapitalismus“ spart sich die-se Strömung lieber für Partei-tage auf.

Sicherlich hätte auch ein Wahlkampf rund um die „Enteignung der Banken“ nicht die Abwendung von der Linkspartei und den Fall unter die 5-%-Hürde ver-hindern können. Aber eine scharfe Kritik an der kapita-listischen Systemkrise hät-te gesellschaftlich polarisie-rend gewirkt und vielleicht einen Teil der früheren Wäh-lerInnen überzeugt.

FührungSkriSe

Für eine reformistisch-par-lamentarische Partei wie die Linkspartei wiegen Wahl-niederlagen mindestens so schwer wie Niederlagen im offenen Klassenkampf. Wenn die Linkspartei im Saarland 1/3, in SH 2/3 und in NRW über die Hälfte der bisherigen WählerInnen verloren hat, kann sie nicht einfach zur Ta-gesordnung übergehen.

Wo die Inhalte schwach sind, symbolisieren soge-nannte Führungspersönlich-keiten die politische Perspek-tive. Dass gerade der ehema-lige Ministerpräsident des Saarlandes und frühere Bun-desfinanzminister von den Linken innerhalb der Links-partei zur Symbolfigur aus-ersehen ist, spricht weder für Oskar Lafontaine noch für die Antikapitalistische Lin-ke. Mit seinem verhinderten Durchmarsch zum Parteivor-sitzenden und Spitzenkan-didaten werden die Graben-kämpfe innerhalb der Links-partei neu eröffnet.

die 3internationale 2012

Ergebnisse der Landtagswahlen im Saarland, Schleswig Holstein und NRW*

ltW 2012 ltW 2009 /2010 Stimmenverluste

SaarlandSchl.-hol.nrW

77 612 (16,1 %) 29 900 (2,3 %)194 539 (2,5 %)

113 664 (21,3 %) 95 764 (6,0 %)

435 627 (5,6 %)

– 36 052 Stimmen – 65 864 Stimmen

– 241 088 Stimmen

302 051 645 055 – 343 004 Stimmen

* im Vergleich zu 2009 bzw. zu 2010

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22 inprekorr 4/2012

dieinternationale

DaS BeiSpiel DuiS-Burg

Wie die Entrevolutionie-rung von Genoss_innen aus-sieht, zeigt das Beispiel der Linkspartei in Duisburg. De-ren 30-köpfige Gesamt-Rats-

fraktion (Stadtrat, Ausschüs-se und Bezirksvertretungen) wird sei Jahren – wie ehemals die gesamte Linkspartei vor Ort – von Menschen gelenkt, die sich früher selbst als re-volutionär verstanden. Vor Zeiten selbst außerparlamen-tarisch aktiv bilden die ehe-maligen Revolutionär_innen heute im Stadtrat eine Koa-lition mit SPD und Grünen. Dass mit diesen nur bürger-liche Politik zu machen ist, ist auch der Ratsfraktion der Linkspartei bewusst. Ihr ei-genes Selbstverständnis lau-tet: „In der Kommunalpolitik können und müssen wir auf vielen Gebieten Gestaltungs-spielräume wahrnehmen – im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft.“

traDition mit aBriSS-Birne

So im Fall der Siedlung am Zinkhüttenplatz in Duisburg-Marxloh, deren 1000 Mie-ter_innen um den Erhalt der Häuser mit 400 Wohnungen kämpfen. Diese sollen nach dem Willen der Stadtratsko-alition SPD-Grüne-Linkspar-

tei abgerissen werden, um für 125 Mio. Euro einem Outlet-Center zu weichen. Während die Duisburger Linkspartei mehrheitlich für den Erhalt der Siedlung eintritt und ei-nige ihrer Mitglieder in der BürgerInnen-Initiative eine

vorantreibende Rolle spielen, verteidigt die Gesamt-Frakti-on der Linkspartei im Stadt-rat unter der Führung der Ex-Revolutionärinnen den Abriss mit dem Argument „Duisburg braucht nichts dringender als neue Erwerbsarbeitsplätze, mehr Gewerbesteuereinnah-men und wirtschaftliche Be-lebung“.

Die Kämpfe um den Er-halt alter Siedlungen ha-ben im Ruhrgebiet Tradition. Über Duisburg hinaus wurde der Widerstand der Bewoh-nerInnen gegen den Abriss der Bergarbeitersiedlung Ze-che Rheinpreußen bekannt. Nachdem schon 1200 Woh-nungen abgerissen und an ihrer Stelle Hochhäuser er-richtet worden waren, sollten 1975 auch noch die übrigen 550 Häuser zerstört werden. Die BewohnerInnen protes-tierten so lange mit Hunger-streiks und anderen Akti-onen, bis sie den Erhalt der Zechenhäuser durchsetzten. Statt im Fall des Outlet-Cen-ters in Marxloh bei solchen Aktionen anzusetzen, setzt heute die Fraktion der Links-partei im Stadtrat die sozial-

demokratische Wohnungs-politik mit der Abrissbirne aus den 1960er-1980er Jah-ren fort.

SchulDenStrei-chung? Bitte in grie-chenlanD!

Ähnlich sieht es im Fall der Sanierung des Haushalts der Stadt Duisburg aus. Die Ge-samtschulden der Stadt liegen bei 1,6 Mrd. Euro Kassenkre-dite, 500 Mio. Euro Investiti-onskredite und über 1,2 Mrd. Euro Kredite der Stadtwer-ke und Wirtschaftsbetriebe (= Gesamtschulden von 3,3 Mrd. Euro). NutznießerInnen sind die Banken, an die allein die Stadt 2011 rd. 70 Mio. Euro Zinsen zahlte. 2021 sol-len es 160 Mio. Euro wer-den. Die Explosion der Zins-zahlungen in den letzten fünf-zehn Jahren hängt mit den Prestige heischenden Groß-projekten zur „Stadterneue-rung“ zusammen, die Duis-burg die Freizeitmeile Innen-hafen und Oberhausen die Shoppingmall CentrO. be-scherten.

Wie unter diesen Umstän-den linke Politik in Duisburg zu machen ist, wissen die ehemaligen Revolutionär_in-nen in der Gesamtfraktion der Linkspartei genau: „Un-seriöse Lippenbekenntnisse reichen nicht aus. Alle Rats-mitglieder wissen, dass spä-testens am 25. Juni 2012 im Rat ein Sparpaket mit einer Wirkung von ca. 60 Millio-nen Euro verabschiedet wer-den muss. Politikerinnen und Politiker, die das nicht umset-zen wollen, müssen alternati-ve Deckungsvorschläge vor-legen“. Zur Deckung stimmt die Fraktion der Linkspar-tei auch dem Abbau von Ar-beitsplätzen zu: „DIE LINKE setzt sich entschieden für ein Personalentwicklungskon-zept in der Stadtverwaltung ein, das  Aufgabenbewälti-gung, Ausbildung und Über-

nahme sichert. Eine Garan-tie zum Erhalt aller vorhan-denen Stellen in einer lang-fristig schrumpfenden Stadt kann die Kooperation aber nicht geben. Bis 2023 wer-den rd. 1 200 Beschäftigte der Verwaltung altersbedingt und erfahrungsgemäß 600 durch Fluktuation ausscheiden“.

Für die Linken im Stadt-rat sind „sofortige Schulden-streichung“ und die „Verge-sellschaftung von Banken“ anscheinend Forderungen, die für unterentwickelt gehal-tene Länder, für Griechenland oder allenfalls für den 1. Mai taugen – nur für die Lage in Duisburg nicht. Schließlich machen die Ex-Revolutionä-rinnen im Duisburger Stadt-parlament „Realpolitik“.

ohne konSequenzen

Bei den Protesten gegen das Outlet-Center und gegen das Sparpaket zur Sanierung des städtischen Haushalts stehen die Gesamtfraktion und die offizielle Linkspartei in Du-isburg auf verschiedenen Sei-ten der Barrikaden. Die An-hänger der Gesamtfraktion verließen zwei Mitglieder-versammlungen, die sich für den Erhalt der Zinkhütten-siedlung aussprachen bzw. die Kürzungen zur Haushalts-sanierung ablehnten. De fac-to machen die Mitglieder der Ratsfraktion der Linkspartei jedoch, was sie wollen. Kon-sequenzen, wie z. B. den Aus-schluss aus der Partei wegen Bruch von Beschlüssen, brau-chen sie nicht zu befürchten. Warum auch, macht doch die Linkspartei in der Landesre-gierung in Brandenburg im Großen nichts anderes als ihr kleiner Ableger im Duisbur-ger Stadtrat.

B. B. ist Leitungsmitglied des RSB/IV. Internationale

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DIE LINKE NRW nach zwei Jahren Präsenz im LandtagMANUEL KELLNER

1 Die linke BunDeS-Weit 2007 BiS 2012

Die Entstehung der WASG 2004/2005 und die Schaffung der Partei DIE LINKE aus Die Linke.PDS und WASG waren eine Antwort auf die Agen-da-2010-Politik von SPD und Grünen und politischer Ausdruck der massiven Pro-teste 2003/2004. Damit ist in Deutschland eine als bundes-weit agierend wahrgenom-mene Kraft der politischen Linken entstanden, während die PDS/Linkspartei noch als östliche Regionalpartei mit schwachen westlichen An-hängseln betrachtet worden war.

Mit knapp 12 % der Stim-men bei den Bundestags-wahlen 2009 hatte DIE LIN-KE ihren wahlpolitischen Zenit (zumindest vorläufig) überschritten. Danach gin-gen die Umfragewerte auf bis zu 6 % zurück. Mit 5,6 % der Stimmen bei den Landtags-wahlen in NRW 2010 schien der Durchbruch in den west-lichen Bundesländern ge-schafft. Die herben Wahlnie-derlagen in Schleswig-Hol-stein am 6. Mai und vor allem in NRW am 13. Mai, deren Landesverband zu Recht dem linken Flügel der LINKEN zugerechnet wird, stellen das wieder massiv in Frage.

Beim Göttinger Partei-tag der Bundespartei konn-te trotzdem eine umfassende „Revanche“ des Mitregierer-flügels um Dietmar Bartsch vermieden werden. Mit Bernd Riexinger als Sprecher und Sahra Wagenknecht als einer der beiden stellvertre-tenden Sprecherinnen bleibt

die Orientierung der Partei offen. Ohne Frage waren die Mitglieder der östlichen Bun-desländer durch die geltenden Regeln auf diesem Parteitag unterrepräsentiert. Das reale Gewicht des Forums Demo-kratischer Sozialismus (FDS) und aller für mehr Anpassung eintretenden Kräfte ist durch den Misserfolg der NRW-LINKEN objektiv größer ge-worden.

Gleichzeitig fehlen auf Bundesebene und in den al-lermeisten Fällen auf Lan-desebene reale Optionen des „Mitregierens“ als Junior-partnerin der SPD oder von SPD und Grünen. Ein inner-parteiliches „Patt“ bleibt da-mit vorerst bestehen. Revo-lutionäre MarxistInnen müs-sen auf alle denkbaren Va-rianten vorbereitet sein – es steht aber keine Spaltung der Partei an, sondern das Rin-gen um den richtigen Weg zu einem neuen Aufschwung der Partei und um die Ent-wicklung adäquater Antwor-ten auf die aktuellen Heraus-forderungen, angefangen mit der Krise der EU, gestützt auf die im neuen Parteiprogramm festgelegte Orientierung auf die Überwindung des Kapi-talismus.

2 Die linke in nrW Vom mai 2010 BiS zum mai 2012

Nach dem Einzug in den Landtag von NRW war DIE LINKE, eindeutig links ori-entiert im Spektrum der Ge-samtpartei, mit einer SPD/Grünen-Minderheitsregie-rung konfrontiert, hinter der 90 von 181 Abgeordneten

standen. Als Oppositions-fraktion mit 11 Abgeordne-ten war DIE LINKE im Lan-desparlament gezwungen, ihr Verhalten bei jeder Abstim-mung sorgsam zu erwägen.

Sie hatte im Wahlkampf die Ablösung der schwarz-gelben Koalition gefordert und Hannelore Kraft daher mit zur Ministerpräsidentin gewählt. In der Folgezeit er-reichte sie in enger Zusam-menarbeit mit den Gewerk-schaften und den außerpar-lamentarischen Bewegungen und Verbänden eine gan-ze Reihe positiver Maßnah-men, gestützt auch auf das Bestreben von SPD und Grü-nen, sich aus dem Image der Agenda-2010-Parteien he-rauszuarbeiten.

Die wichtigsten der 18 An-träge, für die DIE LINKE stimmte waren: die Abschaf-fung der Studiengebühren und der Kopfnoten, eine neues Tariftreue- und Verga-begesetz, verbesserte Mit-bestimmung im öffentlichen Dienst, Möglichkeit der Ab-wahl von Oberbürgermeistern und verbesserte Bedingungen für Bürgerbegehren in den Kommunen und die Aufhe-bung der Residenzpflicht für Flüchtlinge.

Durch Enthaltung ließ DIE LINKE NRW den Nachtrags-haushalt 2010 und den Haus-halt 2011 passieren, die bei-de eine moderate Akzentver-schiebung weg von der Agen-da-Politik darstellten und die Roten Haltelinien nicht über-schritten – keine Privatisie-rungen, kein Sozial- und Per-sonalabbau –, zumindest im Großen und Ganzen nicht. Die Fraktion der LINKEN

lehnte neue Milliarden für die WestLB (trotz massiver Neuwahldrohungen von SPD und Grünen) und Diätenerhö-hungen konsequent ab.

Den Haushalt 2012 lehnte DIE LINKE ebenfalls ab, weil das Gros der Steuer-mehreinnahmen der Haus-haltskonsolidierung aufgeop-fert wurde, zu Lasten uner-lässlicher sozialer Ausgaben und Zukunftsinvestitionen. Dafür nahm DIE LINKE NRW Neuwahlen in Kauf, bei denen – schon nach dama-ligen Umfragen im März 2012 – der Verlust ihrer Mandate drohte. Sie zeigte sich damit widerständig gegen die Versu-chungen der Anpassung.

In der LINKEN NRW war keine Diktatur des Fraktions-vorstands entstanden. Gerade die heiß umstrittenen schwie-rigen Entscheidungen wurden letztlich von repräsentativen Parteiinstanzen entschieden – so klare Bedingungen für eine Enthaltung zum Haus-halt 2012: rund eine Milliarde Mehrausgaben für ein landes-weites Sozialticket für 15 Eu-ro, für mehr gute KiTa-Plätze, für mehr sozialen Wohnungs-bau und für mehr Geld für die Kommunen. Das „Nein“ der Fraktion zum Haushalt 2012 war dann solide begrün-det, weil SPD und Grüne die-sen Forderungen der LINKEN wegen „Schuldenbremse“ und „Konsolidierung über alles“ nicht entgegenkamen.

Mit Ausnahme der An-ti-AKW-Bewegung hat es in den zwei Jahren der Präsenz der LINKEN im Landtag von NRW nach Abklingen der er-folgreichen Studierenden-Be-wegung keine bedeutenden

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außerparlamentarischen Mo-bilisierungen mehr gege-ben. Vor allem eine Auswei-tung der Bewegung der Sozi-alproteste blieb aus. DIE LIN-KE NRW versuchte zwar sy-stematisch, die Landtagsar-

beit ihrer Fraktion mit den Be-wegungen zu verzahnen und außerparlamentarische Mo-bilisierungen mit anzuschie-ben, aber nur mit sehr mäßiger Wirkung.

Die besondere Situati-on mit einer Minderheitsre-gierung hatte die Fraktion der LINKEN dazu gebracht, deutlich mehr Zeit und Ener-gie in die Landtagsgremien zu stecken, als es dem poli-tischen Geschmack der mei-sten ihrer Abgeordneten ent-sprach. Die politisch am wei-testen rechts stehenden Ab-geordneten führten auch ei-nen ständigen Kleinkrieg ge-gen die knappe und instabile linke Mehrheit und besonders gegen die beiden Genossen, die in der isl organisiert sind – Wolfgang Zimmermann, der Co-Vorsitzender in ständigem Konflikt mit seiner Co-Vor-sitzenden Bärbel Beuermann war, und Michael Aggelidis, der energie- und wirtschafts-politischer Sprecher war, und den sich der haushalts- und fi-nanzpolitische Sprecher Rü-

diger Sagel zum persönlichen Rivalen auserkoren hatte.

Das hat auch viele Kräf-te gebunden, zumal nicht kla-re gegensätzliche politische Optionen und Orientierungen auf den Tisch gelegt wurden.

Stattdessen waren ominöse Andeutungen und persönliche Angriffe an der Tagesord-nung. Die Teilnahme an den wöchentlichen Fraktionssit-zungen war in aller Regel ei-ne Tortur.

3 DeBatten üBer leh-ren auS Dem miSSer-Folg

Obwohl der bundeswei-te Trend gegen sie war, muss DIE LINKE NRW sich nun mit der Frage auseinanderset-zen, warum sie ihre Erfolge im Parlament nicht in politische Lernprozesse auf Massenebe-ne außerhalb des Parlaments umsetzen konnte, sondern im Ergebnis die SPD wahlpoli-tisch neu erstarken konnte und die Piraten den Protest gegen die etablierte Politik auf ih-re Seite ziehen konnten. Bei den Wahlen verlor DIE LIN-KE NRW ja 90.000 Stimmen an die SPD und 80.000 an die Piraten.

Ins Auge springen geringe Organisationskraft und schwa-

che soziale Verankerung der LINKEN NRW und eine ent-sprechend hohe Abhängigkeit von den bürgerlichen Medi-en, die diesmal DIE LINKE totschwiegen und schwach schrieben und für SPD-Kraft und FDP-Lindner und Piraten über die Maßen warben.

Hinzu kommt die Erkennt-nis, dass die potenziellen WählerInnen der LINKEN laut Umfragen auch bei Zu-stimmung zu den im Wahl-kampf von ihr artikulierten Vorschlägen und Forderungen der LINKEN keinen substan-ziellen Beitrag zur Verwirkli-chung dieser Forderungen zu-getraut haben – und in den Pi-raten die antietablierte Kraft des Protestes gesehen haben, und nicht mehr in der LIN-KEN.

Es gilt für DIE LINKE NRW jetzt, Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen und auf dieser Grundlage einen neuen Anlauf zu unternehmen, sich gesellschaftlich stärker zu ver-ankern, auch außerhalb von Wahlkämpfen handlungsfä-hige Kreisverbände aufzubau-en, verstärkt an außerparla-mentarischen Mobilisierungen teilzunehmen und die Wieder-eroberung auch der parlamen-tarischen Präsenz vorzuberei-ten.

Das ist auf dieser Abstrak-tionsebene noch relativ leicht gesagt. Zugespitzt ist die He-rausforderung ja die, gleich-zeitig das Image der Protest- und Mobilisierungspartei wie-derzuerobern und doch auch zu vermitteln, dass eine Stim-me für DIE LINKE, Unter-stützung der LINKEN, Arbeit in der LINKEN nützlich sind für die Verwirklichung realer sozialer, ökologischer und de-mokratischer Fortschritte. Das klingt wie die Quadratur des Kreises.

Für revolutionäre Marxi-stinnen und Marxisten ist in

diesem Zusammenhang wich-tig, für eine strategische Ver-bindung der Abwehrkämpfe und des Kampfs um Sofortfor-derungen mit dem Kampf um die Entmachtung des Kapitals und für die Ablösung des Ka-pitalismus durch eine sozialis-tische Demokratie zu werben – im Gegensatz zur Trennung des Kampfs um Sofortforde-rungen von einem in unwäg-barer Ferne liegenden sozia-listischen Ziel.

In diesem Zusammenhang muss erreicht werden, dass die grundlegende Umwäl-zung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu Gunsten einer gemeinwirtschaftlichen Ord-nung wieder zur öffentlich de-battierten Option wird. Dazu gehört die Argumentation ge-gen die EU und für eine de-mokratisch legitimierte, neue politische Union Europas auf Grundlage einer konstituie-renden Versammlung und ei-ner vorangehenden öffentli-chen Debatte, bei der die so-ziale Gerechtigkeit, die Mit-wirkung der Bürgerinnen und Bürger an den Entschei-dungen, die Solidarität und die ökologische Nachhaltigkeit als europäische Verfassungs-werte durchgesetzt werden.

Zudem muss DIE LINKE ihr gewerkschaftliches Pro-fil stärken – nicht nur an der Seite der Gewerkschaften ste-hen, sondern auch für eine lin-ke statt einer sozialdemokra-tischen Orientierung der Ge-werkschaften und für die Vor-bereitung einer betriebs- und branchenübergreifenden Mas-senstreikbewegung für die Umkehrung der Kräftever-hältnisse und für die Durch-setzung der Interessen der Be-schäftigten, Erwerbslosen und Benachteiligten.

Die linke Spitzenkandidatin katharina Schwabedissen

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Worum geht es in der Diskussion über Griechenland? Tariq Ali, ein renommierter Linksintellektueller und Schriftsteller, in seiner Jugend ein revolutionärer Lin-ker, hat erklärt, dass ANTARSYA „vom Sektierertum der KPG (KKE) beeinflusst wird“ und „den Vorschlag ver-weigert, mit SYRIZA zusammenzuarbeiten.“

Andreas Kloke

Wir wussten nicht, dass Tariq Ali über die Situation der grie-chischen Linken so „gut infor-miert“ ist, aber seine Äußerun-gen machen es offensichtlich sehr dringend, dass wir, die Mitglieder von ANTARSYA, uns fragen, was in dieser Dis-kussion über den Wahlausgang in Griechenland und die Aus-sichten auf der griechischen Linken insgesamt abläuft. Die-se Aufgabe wird angesichts an-derer Stellungnahmen, die wir aus dem Ausland erhalten ha-ben, unter ihnen von Socialist Resistance (SR, der britischen Sektion der Vierten Internatio-nale) und dem Büro der IV. In-ternationale selbst, die uns – OKDE-Spartakos, die griechi-sche Sektion der IV – dazu auf-rufen, die „5 Punkte“ der SY-RIZA-Führung zu unterstüt-zen, noch dringlicher. Die „5 Punkte“ sind ein Vorschlag an DIMAR, die sehr rech-te „Linkspartei“ (eine Abspal-tung von SYRIZA), und indi-rekt auch an PASOK und die rechtsnationalistischen „Unab-hängigen Griechen“, also ei-ne Art programmatische Platt-form für eine Koalitionsregie-rung nach dem 17. Juni.

Wenn wir diese „5 Punkte“ ernst zu nehmen haben, ist klar, dass wir es mit einer sehr rechten Variante einer links-bürgerlichen Regierungen zu tun haben, wie sie jahrzehnte-lang nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg üblich wa-ren, als sozialdemokratische und stalinistische Parteien an „Links-Regierungen“ in Eu-

ropa und auf anderen Kon-tinenten teilgenommen ha-ben. In allen Fällen haben sol-che „linken“ Regierungen – die öfters mit „Arbeiter-Regie-rungen“ verwechselt werden, einer Formel, die heute wieder von einigen in unserer heutigen Diskussion verwendet wird – zu katastrophalen Folgen für die Arbeiterklasse, die Unter-drückten und Ausgebeuteten sowie für die Arbeiterbewe-gung geführt. Dies sind die hi-storischen Erfahrungen, begin-nend mit der sozialdemokra-tischen Regierung in Deutsch-land nach der Revolution vom November 1918, danach mit den Volksfront-Regierungen in Frankreich und Spanien in den 30er Jahren, dem indone-sischen Putsch von 1965, der Volksfront-Regierung in Chi-le, der Regierung Mitterrand in Frankreich mit der Teilnah-me der KPF (1981-1984), Pre-mierminister Jospin (1997-2002) sowie mit den verschie-denen sozialdemokratisch ge-führten Regierungen in Spani-en, Portugal, Italien, Deutsch-land, Großbritannien und an-deren Ländern. Niemand sollte die Lehren aus der Arbeiterbe-wegung von fast 100 Jahren so leicht vergessen.

Die BeDeutung Von SYrizaS erFolg

Dies ist der erste entscheidende Punkt dieser Diskussion: Ist SYRIZA eine „linkszentris-tische“ Formation (worunter wir „beinahe revolutionär“ ver-

stehen), wie einige Kommenta-toren dieser Tage anzunehmen scheinen, zum Beispiel auf-grund der Beteiligung von Or-ganisationen (mao-)stalinisti-schen oder trotzkistischen Ur-sprungs? Oder ist es einfach eine linksreformistische Par-tei wie die anderen Parteien der „Europäischen Linken“, etwa Mélenchons „Linkspar-tei“ (bzw. die von ihr geführte „Linke Front“) oder die deut-sche Partei „Die Linke“? Nach aller Propaganda, die wir aus dem Ausland von GenossInnen und Organisationen hören, die aus eurokommunistischem, maoistischem oder (halb-) trotzkistischem Hintergrund über SYRIZAs „Standhaftig-keit“ gegenüber der Memoran-den-Politik schreiben, sind wir verpflichtet, einfach festzustel-len, dass SYRIZA nichts von allen anderen Parteien der „Eu-ropäischen Linken“ qualitativ Verschiedenes ist. Sie ist also linksreformistisch. Es ist kei-ne politische Formation, die die Entwicklungen in Rich-tung einer sozialistischen Um-gestaltung der Gesellschaft zu lenken beabsichtigt, noch wird ihre Regierungsübernahme die Verhältnisse „objektiv“ in die-se Richtung verändern.

Ganz das Gegenteil ist tat-sächlich der Fall. SYRIZA wird alles versuchen, um die Wut der Arbeitenden und der breiten Volksschichten in den Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft und des bürger-lichen Staates zu halten. Die wenigen Organisationen trotz-kistischen oder maoistischen Ursprungs in SYRIZA verfü-gen über kein beträchtliches Gewicht und sind gezwungen, sich an jede Entscheidung der SYRIZA-Führung, die im We-sentlichen von der Synaspis-mos-Führung (SYN)1 domi-

niert wird, anzupassen. Dies ist eine sehr schwere Last, wahr-scheinlich zu schwer für die-se kleinen Organisationen, die einen revolutionären Anspruch haben.

Es stimmt, dass die SYN-Partei, vor allem ihre Jugendor-ganisation, wie auch die ande-ren Organisationen von SYRI-ZA, mehr oder weniger an al-len Aktionen der Widerstands-bewegung seit 2004 beteili-gt sind. Aber die Führung hält die Kräfte zurück, immer gibt es Vorbehalte. So war es kei-ne Überraschung, dass z. B. die Hauptforderung von SYRIZA in der heißen Phase des Okto-berstreiks 2011 „Neuwahlen jetzt“ war, eine Forderung, die sie mit der anderen großen re-formistischen Partei, der KPG (KKE) teilte. Dies ist sehr cha-rakteristisch für die Haltung und die Mentalität der beiden reformistischen Parteien.

In sozialer oder politischer Hinsicht ist der plötzliche An-stieg der SYRIZA-Stimmen bei den Mai-Wahlen, dem wohl ein noch größerer Erfolg am 17. Juni folgen wird, ein in-stinktiver (ein linker, aber auch konservativer) Reflex, das Sys-tem zu „verbessern“ und den Zorn und den Protest in den Grenzen der bestehenden (ka-pitalistischen) Ordnung zu hal-ten. Breite Schichten sind vom Wunsch beseelt, die Memo-randen-Politik zu stoppen und vielleicht sogar umzukehren, aber gleichzeitig den Euro zu behalten. Dies bedeutet, in ei-nen nicht allzu scharfen Kon-flikt mit der derzeitigen EU-Führung zu geraten. Um Miss-verständnisse zu vermeiden, sei hinzugefügt: Natürlich wollen weder die griechische Bour-geoisie noch die Troika eine SYRIZA-Regierung oder eine SYRIZA-geführte Regierung.

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Das System der bürgerlichen Herrschaft ist in eine Sackgas-se geraten, welche Regierung auch immer aus den Wahlen vom 17. Juni hervorgeht. Si-cher: Eine SYRIZA- oder auch eine SYRIZA-geführte Regie-rung wird für die harten Kämp-fe, die nach der Wahl bevorste-hen – in gewisser Weise Kämp-fe auf Leben und Tod –, besser sein. Ebenso sollten alle politi-schen Kräfte der Linken, ein-schließlich von KKE und AN-TARSYA, jede Maßnahme ei-ner SYRIZA-geführten Regie-rung, die sich tatsächlich gegen die Memoranden-Politik und die Kreditverträge richtet, un-terstützen. ANTARSYA sollte auch versuchen, SYRIZA als Ganzes nach links zu schieben.

Die notWenDigkeit Der einheitSFront

Ein wesentliches Element eines solchen Ansatzes ist das Kon-zept der EINHEITSFRONT, eine andere Frage auf Leben und Tod für die griechischen ArbeiterInnen- und andere Be-wegungen in dieser schreck-lichen Situation. Tatsächlich ist die Einheitsfront eine Frage des Überlebens für die gesamte Gesellschaft. Sie bedeutet die Zusammenarbeit aller Parteien, Organisationen, Bündnisse, Gewerkschaften, von Verbän-den wie den „Volksversamm-lungen“ und so vielen anderen Initiativen und selbstorgani-sierten Gruppen, die während der letzten zwei Jahre entstan-den sind, insbesondere nach den Platzbesetzungen (Syn-tagma) im Juni des vergange-nen Jahres, einer der bisher he-roischsten Phasen des Wider-stands. Einheitsfront bedeu-tet einheitliches und entschlos-senes Vorgehen gegen den ge-meinsamen Feind, wo immer es nötig ist: gegen alle Formen der Memoranden-Politik, ge-gen die Rassismus-Welle und den äußerst gefährlichen Auf-stieg der Nazi-Bande „Chrisi Avgi“ (der von den Führungen sowohl von KKE als auch von SYRIZA immer noch völlig unterschätzt wird). Sie bedeu-

tet einheitliche Kämpfe gegen den Terror der Entlassungen, der Arbeitslosigkeit, der uner-träglichen Kopfsteuern, für die Ernährung der Ärmsten und die Versorgung der Obdachlosen, für die Verteidigung des öffent-lichen Gesundheits- und Bil-dungssystems, für den Schutz der Umwelt durch einen Plan öffentlicher Investitionen. Es besteht kein Zweifel, dass die-se Kämpfe von unten, durch die Basis-Bewegungen organi-siert und von allen Parteien und Organisationen der Linken zu-sammen mit allen anderen un-terstützt werden sollten.

Zweifellos ist die systema-tische und hartnäckige Ver-weigerung einer solchen abso-lut notwendigen Einheitsfront durch die KKE-Führung krimi-nell. Es gibt keine andere Cha-rakterisierung für diese Hal-tung. ANTARSYA hat immer (oder zumindest meistens) das Einheitsfront-Konzept sowohl in Erklärungen als auch in der Praxis unterstützt. Aber gleich-zeitig ist es nötig, das Ein-heitsfront-Konzept, das „ge-trennt marschieren, aber ver-eint schlagen“ bedeutet, nicht mit der Frage der Teilnahme an einer links-bürgerlichen Re-gierung, auch wenn diese Re-gierung von einer links-refor-mistischen Partei wie SYRI-ZA geführt wird, zu verwech-seln. Die Regierungsfrage ist in diesem Fall sicherlich eine Frage der Macht, aber nur in einem sehr begrenzten Sinn, denn selbst bei einer SYRIZA- oder einer SYRIZA-geführten Regierung bleibt die wirkliche Macht in den Händen der Ka-pitalisten-Klasse, der Troika und des bürgerlichen Staats, dessen Repressionsapparat völ-lig intakt bleibt.

Es ist einfach eine Illusion zu glauben, dass es irgendei-ne Form einer „Arbeiterregie-rung“ oder Arbeitermacht oh-ne eine entscheidende Ausei-nandersetzung mit diesen re-alen Machtstrukturen der kapi-talistischen Gesellschaft geben wird. Wie ist es möglich, diese einfache, aber entscheidende Wahrheit zu „vergessen“? Es

wird unmöglich sein, diese re-ale Machtstruktur ohne die Einheitsfront-Formationen der selbstorganisierten Ausgebeu-teten und Unterdrückten, oh-ne das Auftreten von Doppel-machtorganen von unten – zen-tralisiert auf nationaler Ebene – loszuwerden.

Was können wir – von die-sem letztlich entscheidenden Gesichtspunkt aus – über die Haltung der SYRIZA-Füh-rung sagen? Leider ist während der letzten beiden Monate die Wahlpolitik über das öffent-liche Leben hinweggefegt. Auf den Straßen ist es jetzt ruhig. SYRIZA hat sich von den Stra-ßen zurückgezogen, um die herrschende Klasse davon zu überzeugen, dass sie keine Be-drohung für den sozialen Frie-den und die Stabilität darstellt. ANTARSYA und einige Grup-pen von AnarchistInnen versu-chen mit ihren Kämpfen ge-gen die Nazis auf der Straße, den Geist des Widerstands am Leben zu erhalten. Die derzei-tige öffentliche Wahldebatte in Griechenland spiegelt nicht die tatsächlichen Kräfteverhält-nisse zwischen den streitenden sozialen Klassen wider, son-dern deformiert dieses Gleich-gewicht und verschiebt es nach rechts. SYRIZA hat beispiels-weise bereits durch ihre unbe-holfenen und ängstlichen Re-aktionen auf die dringenden Forderungen nach einer „Re-gierung der nationalen Ein-heit“ eine beträchtliche Strecke nach rechts zurückgelegt. Sie wird dadurch schnell ein Er-satz für die „mutierte“ Sozial-demokratie von PASOK. Wäh-rend des letzten Wahlkampfes sind mehrere frühere führende PASOK-Mitglieder zu SYRI-ZA übergetreten.

Kann es irgendeinen Zwei-fel daran geben, dass SYRIZA eine solche reformistische Par-tei ist und dass sie sich in ei-ne sozialdemokratische Rich-tung bewegt? Fragt die Men-schen in Griechenland selbst. Niemand wird daran zweifeln. Tatsächlich war SYRIZAs Pro-paganda für eine „linke Regie-rung“ in Kombination mit dem

„Verbleib in der Euro-Zone“ das Geheimnis von SYRIZAs Wahlerfolg am 6. Mai. Es be-deutet nämlich, einen „guten Kompromiss“ mit dem griechi-schen Großkapital und der Tro-ika zu finden. Viele Menschen hoffen natürlich, eine solche „linke Regierung“ könne die „Quadratur des Kreises“ errei-chen, d. h. sowohl die Bedürf-nisse der herrschenden Klas-sen als auch der Ausgebeu-teten und Unterdrückten erfül-len. Das Problem ist, dass di-es nicht möglich sein wird. Wir nennen solche Hoffnungen „parlamentarische Illusionen.“

Die SYRIZA-Führung selbst verbirgt ihren sehr mo-deraten Ansatz nicht. Um Missverständnisse zu vermei-den, sollte hinzugefügt werden, dass SYRIZAs Erfolg dennoch die Radikalisierung auf Mas-senebene widerspiegelt, wenn auch auf eine vorläufig be-grenzte Weise – was für den Beginn eines revolutionären Prozesses nicht untypisch ist. Aber es scheint klar, dass die-se Phase – das Erwachen des Klassenbewusstseins einer (be-grenzten) antikapitalistischen Haltung – unvermeidlich ist.

Für einen Dritten pol Der griechiSchen linken

Gleichzeitig sollte man be-denken, dass die Entwick-lung des antikapitalistischen und schließlich revolutionären Klassenbewusstseins auf Mas-senebene nicht die „automa-tische“ Folge der Entwick-lungen, sondern mit dem An-stieg der Massenkämpfe und der politischen, programma-tischen und ideologischen Konfrontationen verknüpft sein wird, die zwangsläufig in den Auseinandersetzungen der unterschiedlichen und entge-gengesetzten politischen Par-teien und Formationen der Lin-ken zum Ausdruck kommen. Von diesem Standpunkt aus wird es entscheidend sein, den Kern der antikapitalistischen, revolutionären Linken, d. h. hauptsächlich von ANTAR-

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SYA zu entwickeln, damit er sich in den „dritten Pol“ der griechischen Linken verwan-delt. Es ist daher eine der wich-tigsten Aufgaben der revoluti-onär-marxistischen Kräfte in Griechenland, sich an diesem Prozess zu beteiligen, gera-de weil die Führungen sowohl von KKE als auch von SYRI-ZA tief reformistisch sind, wo-mit gemeint ist, dass sie eng mit dem gesellschaftlichen und politischen System der bürger-lichen Klassenherrschaft ver-bunden sind und daher unver-meidlich Hindernisse für jeden revolutionären Prozess dar-stellen werden. Dieser (unver-meidliche) Kampf um die He-gemonie innerhalb der Linken, zwischen Reformismus und einer antikapitalistischen, re-volutionären Orientierung, wird entscheidend sein, wenn es unser Ziel ist, dass die Ar-beiterInnen und Unterdrü-ckten die Klassenhegemonie in der Gesellschaft (im Sinne Gramscis) erobern. Das be-deutet, die Herausbildung der Doppelmacht zu entwickeln und eine Arbeiterregierung auf der Grundlage der Selbst-Organisation der Massenbe-wegung im Verlauf einer re-volutionären Krise zu errich-ten.

Daher ist es auch notwen-dig, dass die ArbeiterInnen und Unterdrückten sich um echte Übergangsforderungen und für ein alternatives de-mokratisches System, für ei-ne „wahre Demokratie“, wie es die Platzbesetzungsbe-wegung im Juni letzten Jah-res forderte, organisieren, ei-ne Demokratie, die das ver-faulte und korrupte System der bürgerlichen Demokra-tie, das sich in aller Deutlich-keit als die Diktatur der Gläu-biger, des Großkapitals und der Troika erwiesen hat, er-setzen muss. Letztes Jahr ha-ben wir erlebt, wie eindeutige Übergangsforderungen von breiten Volksschichten auf-genommen wurden, als Hun-derttausende den Slogan „Wir schulden nichts, wir zahlen nicht, wir verkaufen nicht!“

auf dem Syntagma-Platz und überall in Griechenland unter-stützten. Dies bedeutete, dass die Forderung nach Schulden-streichung, die im Jahr 2010 nur von ANTARSYA erhoben wurde, plötzlich auch von der KKE akzeptiert wurde und – wenn auch nur teilweise (wie wir jetzt sehen können) – von SYRIZA mit ihrer Forderung nach einem „Moratorium“„ und „Nachverhandlungen“ mit der Troika.

Die Forderung nach „wah-rer Demokratie“ brachte zweifellos, wenn auch auf ei-ne nicht vollständig entwi-ckelte oder klare Weise, die Notwendigkeit zum Aus-druck, die bürgerliche „de-mokratische“ Diktatur durch die Demokratie der selbst or-ganisierten Arbeitenden und der Bevölkerung zu ersetzen. Dies wird nur durch den Sturz der kapitalistischen Klassen-herrschaft zu erreichen sein. Dies ist der Weg zu einer ech-ten Arbeiterregierung, zur Revolution und zum Sozia-lismus.

All dies bedeutet nicht, dass wir den Wahlergebnis-sen vom 17. Juni gegenüber gleichgültig sind. Natürlich wollen wir die Niederlage der rechten Parteien, der Faschis-ten und von PASOK auch bei den Parlamentswahlen se-hen. Aber so wie die Dinge liegen, wird es am 17. Juni keine „Mehrheit für die Lin-ke“ geben. Die linken Par-teien, Bündnisse und Orga-nisationen (darunter auch die zweifelhaften Fälle von DI-MAR und den Grünen Öko-logen) erreichten am 6. Mai rund 37%, während die hard-core-rechten und neoliberalen Parteien und Bündnisse es auf mehr als 46% brachten und PASOK, eine miserable neue Rechtspartei, auf mehr als 13%. Am 17. Juni wird es ei-ne weitere Verschiebung nach links geben, aber es wird nicht für eine „linke Mehrheit“ rei-chen. Deshalb ist das ganze Gerede von einer „Arbeiterre-gierung“, das von einigen lin-ken Organisationen, vor allem

im Ausland, zu hören ist, oh-ne wirkliche Substanz.

eine taktiSche oDer StrategiSche Frage?

In jedem Fall ist ein linker Sieg bei den Wahlen kein Selbstzweck, sondern sollte ein Schritt sein, das Klassen-bewusstsein und den Kampf-geist der Arbeitenden und Un-terdrückten zu fördern. Da-zu gehört auch, ihr Verständ-nis dafür zu fördern, dass der Kampf für grundlegende Übergangsforderungen – wie die bedingungslose Strei-chung der Schulden und die Nationalisierung der Banken und des Großkapitals unter Arbeiterkontrolle – nicht im Rahmen des imperialistischen Projekts mit Namen „Europä-ische Union“ gewonnen wer-den kann. Es ist aber offen-sichtlich, dass eine solcher-art geförderte Hebung des Bewusstseins für die Heran-gehensweise der SYRIZA-Führung keine Rolle spielt. Deshalb könnte mensch sa-gen, dass der autonome Auf-bau eines alternativen anti-kapitalistisch-revolutionären Pols, vor allem von ANTAR-SYA, Vorrang vor dem hat, was viele als das „richtige taktische Verhalten“ gegen-über SYRIZA und ihren Un-terstützerInnen betrachten. Dies wäre eine Taktik, die die Notwendigkeit der „kri-tischen“ Unterstützung von SYRIZA bei den Wahlen am 17. Juni betonen und auf der Idee beruhen würde, dass di-es das entscheidende Element wäre, das es uns ermöglichen würde, unter dem Banner der „Einheit“ breitere Schichten einschließlich der SYRIZA-WählerInnen zu gewinnen, um zu einem radikaleren An-griff auf die Grundlagen der kapitalistischen Klassenherr-schaft in Griechenland über-zugehen.

Auch wenn eine solche Taktik von OKDE und AN-TARSYA nicht befürwortet wird, müssen wir zugeben, dass es legitim und vernünftig

ist, die Frage auf diese Wei-se zu stellen. Minderheiten in OKDE und anderen Organi-sationen, die an ANTARSYA beteiligt sind, glauben, dass dies unter den gegenwärtigen Umständen einer überwälti-genden Welle der Arbeiter- und öffentlichen Unterstüt-zung für SYRIZA die richtige Taktik ist. Es scheint logisch zu sein, dass jede/r an der an-tikapitalistischen Linken Be-teiligte die Notwendigkeit der Stärkung unseres eigenen Pols gegen eine richtige und geeignete Taktik gegenüber SYRIZA, KKE und ihren An-hängerInnen abzuwägen hat. Dies sollte auch die Unter-stützung für jede Maßnah-me, die eine SYRIZA-Regie-rung gegen die Memoranden-Politik und in allen möglichen Konflikten mit dem Großka-pital und der Troika ergreifen könnte, mit einschließen.

Es ist wahr, was Genosse J.-Ph. Dives (von der franzö-sischen NPA) in einem kürz-lich erschienenen Artikel in Bezug auf eine Bemerkung Trotzkis im „Übergangspro-gramm“ (1938) schreibt, wo es heißt: „Ist die Errichtung einer solchen Regierung [ei-ner wirklichen Arbeiter-Re-gierung] durch die traditi-onellen Arbeiterorganisati-onen möglich? Die bisherige Erfahrung zeigt uns, wie ge-sagt, dass dies zumindest un-wahrscheinlich ist. Man kann jedoch nicht von vornhe-rein kategorisch die theore-tische Möglichkeit ausschlie-ßen, dass unter dem Einfluss eines außergewöhnlichen Zu-sammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederla-ge, Finanzkrach, revolutio-näre Offensive der Massen usw.) kleinbürgerliche Par-teien – die Stalinisten einge-schlossen – auf dem Weg des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ih-nen selbst lieb ist.“

Man sollte hinzufügen, dass keine parlamentarische ge-wählte Linksregierung jemals so weit gegangen ist, seit diese Worte im Jahr 1938 geschrie-

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ben wurden. Dennoch lässt Di-ves die Möglichkeit offen, dass eine SYRIZA-Regierung sich nach links wenden und in einen offenen Konflikt mit dem Ka-pital und der Troika kommen könnte. Aber selbst in diesem „höchst unwahrscheinlichen“ Fall wird es ein enormer Vor-teil sein, wenn sich der antika-pitalistisch-revolutionäre Pol der griechischen Linken ent-wickelt und eine solche Regie-rung nach links schiebt.

Festzustellen haben wir auch, dass die Idee der „kri-tischen Unterstützung“, um ei-nen alternativen antikapitalis-tischen-revolutionären Pol auf-zubauen, nicht die Haltung ist, die von der SR- und dem Bü-ro der IV. Internationale vorge-schlagen wird, deren Stellung-nahmen sich einfach für eine unkritische Anpassung an das „5 - Punkte - Programm“ aus-spricht, das von der SYRIZA-Führung als Basis für eine Ko-alitionsregierung angeboten wird. Ein derartiger Aufruf für eine unkritische Unterstützung von SYRIZA hat nichts mehr mit einer Diskussion über die „richtige Taktik“ der revoluti-onären MarxistInnen reformis-tischen Parteien gegenüber zu tun, da in diesem Vorschlag die Kluft, die zwischen einer revo-lutionären und einer reformis-tischen Orientierung besteht, nicht zu existieren scheint. Er tendiert dazu, das Konzept des Aufbaus revolutionär-marxisti-scher Organisationen und Par-teien als Sektionen der Vierten Internationale durch ein Kon-zept des Aufbaus „breiter lin-ker Parteien“ zu ersetzen. Für die programmatischen, politi-schen und ideologischen Nor-men der IV. Internationale ist dies in der Tat etwas Neues, das von der Internationale und allen ihren Sektionen selbst ab-gelehnt werden sollte.

Athen, 12. Juni 2012

1 Die SYN (Koalition der Linken, der Bewegungen und der Ökolo-gie), ist 1992 aus der eurokommu-nistischen Abspaltung von der KP Griechenlands (KKE) entstanden. Anm. d. Red.

Das PendelDer Autor des nachfolgenden Thesenpapiers ist Mit-glied von OKDE-Spartakos, der griechischen Sek-tion der IV. Internationale. Das Papier reflektiert die politische Situation in Griechenland nach den Wahl-en vom 6. Mai und besonders die Probleme, die sich aus der Option einer linken Regierung unter SYRIZA ergäben.

Im zweiten Teil werden die Anforderungen themati-siert, die sich in einer Situation extremer politischer Zuspitzung in einem kapitalistischen Land an die re-volutionäre Linke ergeben. Dort wird aufgezeigt, wie eine konkrete Agenda gefüllt werden kann, ohne in abstrakte Propaganda zu verfallen. Mit der Entwick-lung der nächsten Wochen und Monate könnte Grie-chenland erstmals seit der portugiesischen Nelkenre-volution zu einem Testfeld der RevolutionärInnen in einem solchen Land werden. Die Redaktion

Manos Skoufoglou

1. Im Allgemeinen trifft zu, dass Wahlresultate

der Realität des aktiven Klas-senkampfes hinterher hin-ken. Die jüngsten Wahlen in Griechenland hingegen zeich-nen ein Bild der zu erwar-tenden Entwicklung, nämlich die eines frontalen Zusam-menstoßes zwischen zwei ge-sellschaftlich-politischen La-gern, der Linken und der ex-tremen Rechten. Dies bezieht sich nicht nur auf den Wahler-folg der neonazistischen Gol-denen Morgendämmerung, sondern auch – ausgenommen deren Wirtschaftspolitik – auf das Programm der Unabhän-gigen Griechen, einer Ab-spaltung der Nea Dimokrazia (ND), die gegen das Memo-randum auftritt und die wirt-schaftspolitische Agenda von Syriza vertritt, sowie auf die Rechtswende der ND. Für die Lohnabhängigen verheißt die Zukunft: große Chancen, aber auch große Gefahren.

2. In dieser Auseinan-dersetzung kommt der

Linken gegenwärtig eine po-litische Führungsrolle zu, was an dem Aufschwung von SY-RIZA aber auch an dem Ein-fluss der KKE liegt, die zwar

nicht in der Lage war, von dem größten Linkstrend der letzten 30 Jahre zu profitie-ren, aber dennoch weiterhin beträchtlichen Einfluss in der ArbeiterInnenklasse hat und v.a. über eine breite organi-sierte Mitgliedschaft verfügt. Ohne diese hätte sie zwei-fellos mehr unter dem Trend hin zu SYRIZA gelitten. Al-lerdings ist die Führungsrolle der Linken – wenn auch histo-risch erstaunlich – sehr zer-brechlich. Der Aufschwung von SYRIZA liegt weit ober-halb der recht mageren Mit-gliederentwicklung und spie-gelt eher das kollektive Un-behagen über die traditionelle Herrschaft der beiden Par-teien PASOK und ND wider. Das Gleiche gilt für die De-mokratische Linke (DIMAR) von Kouvelis, der im Februar überraschend hohe Stimmen-gewinne prognostiziert wor-den waren.

3. Die Linke profitiert momentan von einem

Moralbonus, der von ihrem kämpferischen Engagement und ihrer frühzeitigen Oppo-sition gegen das Memoran-dum rührt. Damit hat sie so-ziale Schichten und Teile der

Lohnabhängigen angespro-chen, die nicht unbedingt mit ihrem Programm einverstan-den sind, aber eine Politik ge-gen das Memorandum umge-setzt haben wollen. Nüchtern betrachtet ist die Linke jedoch noch immer in einer – wenn auch starken – Minderheits-position. Dies führt zu dem et-was bizarren Phänomen, dass zwei Drittel der Bevölkerung zwar gegen das Memorandum sind, aber nur ein Drittel die Linke unterstützt. Und auch die anderen Parteien, die of-fen gegen das Memorandum aufgetreten sind – die Unab-hängigen Griechen, die Grü-nen und die extreme Rech-te – sind für ihre Aussagen im Wahlkampf gewählt wor-den und nicht für das, was sie möglicherweise wirklich wollen. Die Gründe für die-ses Phänomen liegen im We-sentlichen auf zwei Ebenen: Erstens glauben weite Teile der Lohnabhängigen noch im-mer, dass das Memorandum letztlich auf die Korruption und die Passivität der Politi-ker gegenüber „Europa“ zu-rückzuführen ist. Sie wollen noch immer nicht den Klas-sengehalt des Memorandums und die dahinterstehende Kri-se des Kapitalismus wahrha-ben. Dafür trägt die parlamen-tarische Linke – namentlich SYRIZA und DIMAR – er-hebliche Verantwortung, weil sie kaum über Wahlkampfr-hetorik hinauskommt und nur vage auf den Klassencharak-ter des Memorandums ein-geht. Zweitens sind auch Teile der griechischen Bourgeoisie inzwischen gegen das Memo-randum. Vertreter dieser Frak-tion sind beispielsweise Kam-menos, der Vorsitzende der Unabhängigen Griechen, und Kyrtsos, ein bekannter bürger-licher Zeitungsverleger und Spitzenkandidat der rechts-extremen LAOS (Orthodoxer

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Volksalarm). Daneben setzt wahrscheinlich auch ein Teil der griechischen Bourgeoisie auf Tsipras, so wie in den frü-hen 1980ern auf PASOK. Ein Beispiel hierfür ist Tragas, ein bekannter rechter Reporter und Verleger, der sich für SY-RIZA starkmacht.

4. Dies soll nicht heißen, dass die Bourgeoisie

über den Wahlerfolg von SY-RIZA erfreut ist. Tatsächlich haben sie damit eine Nieder-lage erlitten. Die Bourgeoi-sie steckt in einer politischen Sackgasse und ist gespalten entlang unterschiedlicher stra-tegischer Optionen der einzel-nen Kapitalfraktionen. Inso-fern war auch das Hauptan-liegen von Samaras nach den Wahlen, die pro-europäische Mitte-Rechts-Front wieder-zuvereinigen, was ihm bisher noch nicht hinreichend gelun-gen ist. Außerdem schwin-det die ideologische Hege-monie der Bourgeoisie dahin, was besonders bei den Wahl-en am 6. Mai zum Ausdruck kam. Diese mangelnde Über-zeugungskraft zeigte sich nicht nur darin, dass ihre po-litischen Erpressungsmanöver nicht funktionierten, sondern auch in der nachhaltigen Be-schädigung ihres informellen „Vertrags mit dem Volk“, der in der Vergangenheit als eine grundsätzliche politisch-wirt-schaftliche Bindung mit den Lohnabhängigen und beson-ders den Mittelschichten an-gesehen und entsprechend ge-pflegt wurde. Die Mittlerrolle der „Politiker“, die für „spezi-elle“ Beziehungen der Klein-kapitalisten zu den staatlichen Stellen sorgten – eine grie-chische Sonderform von Be-stechung – ist angegriffen und droht definitiv unterzugehen. Damit eröffnet sich ein neues Potential, die Macht der Bour-geoisie zu brechen.

5. Die Bourgeoisie steht somit vor einer schwie-

rigen Alternative. Entweder akzeptiert sie einen vorüber-gehenden Kompromiss und

überlässt der Linken vielleicht sogar die Regierungsmacht – was allerdings mit dem Risiko verbunden ist, dass Selbstbe-wusstsein und Kampfbereit-schaft der Lohnabhängigen kurzfristig zunehmen – oder sie entscheidet sich für eine Art ungezähmten Bonapartis-mus, der die Lohnabhängigen gewaltsam zur Raison bringt, wenn sie keine Einsicht zei-gen. Leider lässt sich nicht einmal ausschließen, dass Fa-schismus oder offene Dikta-tur einkehrt, auch wenn dies für die Bourgeoisie selbst mit ernsten Problemen verbunden wäre, zumal sie darauf auch gar nicht adäquat vorbereitet ist. Daher wird sie vorrangig auf eine Rückkehr zur Norma-lität mit den Mitteln der Klas-senzusammenarbeit setzen.

6. Aber auch die Organi-sationen der Arbeiter-

klasse sind nicht besser auf eine radikale Alternative vor-bereitet. Der Wahlerfolg der Linken und Mobilisierung der Massenbewegungen ge-hen nicht Hand in Hand. Die reformistische Linke hat ih-re Führungsposition zu einem Zeitpunkt erobert, wo die Be-wegung ins Stocken geraten ist. Deshalb steht nicht zu er-warten, dass durch massen-hafte Kundgebungen, Streiks, Demonstrationen etc. unmit-telbarer Druck oder Unterstüt-zung ausgeht. Gerade jetzt, da die Linke mehr denn je über die objektive Macht verfügt, das Kapital politisch unter Druck zu setzen, geht von der ArbeiterInnenklasse kein di-rekter Druck auf deren ökono-mische Macht aus. Die Lohn-abhängigen sehen in der Lin-ken nicht den politischen Aus-druck ihrer Klassenkämpfe, sondern lediglich einen Hoff-nungsträger. „Tsipras soll es richten!“ Mit dem dahinter stehenden gesellschaftlichen Bewusstsein ließe sich leider auch sagen: „Goldene Mor-genröte! Auf dass einigen im Parlament Feuer unterm Arsch gemacht wird!“

7. Exkurs: Ich kann den Standpunkt nicht tei-

len, dass einige Menschen nicht wussten, was die Gol-dene Morgenröte ist und wa-rum sie sie gewählt haben. Leider liegt das Problem da-rin, dass die meisten sehr wohl wussten, was die Gol-

dene Morgenröte darstellt, und dass sie sie genau deswe-gen gewählt haben. Gleich-gültigkeit ist keine Entschul-digung, sondern Teil des Fa-schismus. Mit Missverständ-nis, Täuschung oder falschem Realitätsverständnis lässt sich dieses oder überhaupt ein poli-tisches Phänomen nicht erklä-ren, weil „falsches Bewusst-sein“ nun einmal zur Realität gehört. Die materiellen Pro-duktionsverhältnisse der kapi-talistischen Epoche sind das, was sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewußtseins-formen, in denen sie sich im Bewußtsein dieser Epoche wi-derspiegeln, und sie könnten ohne die Bewußtseinsformen in Wirklichkeit nicht bestehen, sagt Karl Korsch (in „Marxis-mus und Philosophie“, AdÜ). Hier fallen Realität und Be-wusstsein zusammen, sodass die Bekämpfung des Faschis-mus mehr bedingt als bloß die Leute über die Verbrechen der Neonazis zu informieren.

8. Der Parlamentarismus verliert an Populari-

tät, so würden es Meinungs-forscher im Moment aus-drücken. Bezeichnend dafür ist, dass bei den meisten ent-

scheidenden Wahlen der letz-ten 30 Jahre die Beteiligung nicht wirklich zugenommen hat. Bemerkenswert ist auch, dass laut Umfragen nach den Wahlen die sog. „öffentliche Meinung“ mehrheitlich gegen Neuwahlen ist und lieber eine Koalitionsregierung hätte, ob-

wohl dann die Parteien mit an Bord wären, die zuvor an der Urne abgestraft worden sind. Ein weiteres Paradoxon ist, dass sich viele Menschen di-rekt nach den Wahlen SYRI-ZA als Wahlsieger wünschen, wie momentane Umfragen zeigen, aber gleichzeitig Neu-wahlen, die dies erbringen könnten, ablehnen. Dahinter steckt, dass nur wenig Hoff-nungen mit den Wahlen ver-knüpft werden, wobei die-se Indifferenz oder Abscheu vor dem Parlamentarismus nicht unbedingt ein Zeichen von Fortschrittlichkeit ist, wie Anarchisten sich erträumen. Die Enttäuschung der Bevöl-kerung über die parlamenta-rische Demokratie gilt sowohl dem Adjektiv (parlamenta-risch) als auch dem Substan-tiv (Demokratie). Solange es keine Selbstverwaltungsstruk-turen gibt, die mit dem Anti-Parlamentarismus revolutio-näre Hoffnungen verknüpfen, werden die Faschisten damit „kleinbürgerliche Verzweif-lung“ verbinden, wie Trotz-ki meinte. Das faschistische Blatt Stohos erschien mit der Schlagzeile: die Lösung „wird nicht durch Wahlen, sondern aus dem Generalstab der Ar-

SYriza – koalition der radikalen linken

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mee kommen“.

9. Bei diesem Tauziehen ist es durchaus realis-

tisch, dass eine Regierung der Linken oder mit deren Betei-ligung gewisse Auswirkungen hätte. Letztere Variante, also eine offene Klassenkollabo-ration in der Regierung, wäre ein solch offenkundiges De-saster, dass wir darüber gar nicht zu reden brauchen. Man muss nur daran erinnern, dass SYRIZA nicht grundsätzlich gegen eine solche Regierung ist, wie ihre Avancen gegen-über den Unabhängigen Grie-chen vor und nach den Wahl-en gezeigt haben. Ohnehin propagiert sie eine „Koaliti-onsregierung mit den linken Kräften im Zentrum“. Was aber heißt eine linke Regie-rung oder eine Regierung der Linken? Natürlich lässt es uns nicht gleichgültig, wenn es zu einer SYRIZA-geführten Re-gierung kommt, denn es wä-re ein wichtiger, wenn auch unvollständiger Sieg (voll-ständig deswegen, weil Wahl-en für sich genommen noch nichts ändern). An erster Stel-le aus Freude an der histo-rischen Revanche gegenüber der Rechten. Bei näherer Be-trachtung jedoch wird klar, dass eine solche Regierung nicht notwendigerweise die Befreiung der Arbeiterschaft befördert. In der Geschichte gibt es Beispiele linker Regie-rungen, die für die Entwick-lung revolutionärer Prozesse eingetreten sind – wie bspw. Nicaragua oder Chile, bei all ihren Grenzen – aber min-dest genauso viele solcher lin-ken Regierungen, die revolu-tionäre Prozesse abwiegeln oder offen unterdrücken hal-fen (Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder Frank-reich, Italien nach dem Zwei-ten). Eine linke (reformi-stische) Regierung ist ein Pen-del, das unter dem Einfluss der einwirkenden Kräfte hin zu fortschrittlichen oder zu reaktionären Positionen aus-schlagen kann. Je stärker es zu einer Seite gezogen wird,

desto mehr schlägt es zur Ge-genseite aus, wenn man es loslässt. Wenn eine linke Re-gierung denen entgleitet, die sie nach links ziehen wollen, dann gnade uns Gott. Wenn eine linke Regierung schei-tert oder offenen Verrat be-geht, dann bleiben nur dieje-nigen bei der Stange, die lin-ke Positionen auch aus mora-lischer Überzeugung heraus vertreten, während die ande-ren sich enttäuscht abwen-den und meinen, dass „sowie-so alle gleich sind“. Dann ist Land unter, da die einzigen Nutznießer dieser Frustration die Henker von der Goldenen Morgenröte sein werden.

10. Auch wenn eine linke Regierung für die Ar-

beiterbewegung sicher besser ist als eine rechte, muss dies historisch betrachtet werden. Objektive und – wichtiger noch – subjektive Vorausset-zungen für eine Revolution reifen nicht in akkumulativer Weise. Unter diesem Kriteri-um müssen wir die Perspekti-ve einer linken Regierung ab-wägen und gegenwärtig lässt sich dies nicht verlässlich vor-hersehen. Natürlich würde ei-ne SYRIZA-Regierung kurz-fristig das Selbstvertrauen der Bevölkerung steigern. Ande-rerseits ist das Programm von SYRIZA zweifelsohne kon-servativer und rechter als das Programm der PASOK von 1981, als sie erstmals an die Regierung kamen. PASOK sprach sich damals wenig-stens für eine wirkliche Ver-staatlichung von Großkon-zernen aus und führte anfangs auch einige durch. SYRI-ZA hat vor den Wahlen vom 1. Mai auch von Verstaatli-chungen gesprochen, auf ih-rem Katalog von „Sofortmaß-nahmen“ und bei ihren Koa-litionsverhandlungen dieses Thema jedoch völlig ausge-klammert. Inzwischen fordern sie bloß „öffentliche Ban-kenkontrolle“ und selbst dies scheint in ihrer Agenda weni-ger schwer zu wiegen als die Selbstverpflichtung von Tsi-

pras, „alles zu unternehmen, damit das Land in der Euro-Zone verbleibt“. Dieses State-ment war wohl notwendig, um ehemalige PASOK-Funktio-näre (wie Katseli, vormaliger Wirtschafts- und nachmaliger Arbeitsminister in Papandre-ous Memorandum-Regierung, oder Kotsakas, ebenfalls frü-herer Minister und Spezi von Tsohatzopoulos, der gegen-wärtig wegen Korruption ein-sitzt), die sich SYRIZA an-geschlossen haben oder kurz davor stehen, zu besänftigen. Der momentane Zustand der Massenbewegungen und der laufende Verhandlungsbedarf mit DIMAR und/oder PA-SOK setzen dem progressiven Potential einer SYRIZA-ge-führten Regierung enge Gren-zen. Insofern meine ich nicht, dass in der nächsten Zeit die „Linksregierung“ unsre wich-tigste Losung sein sollte, auch wenn wir sicher nicht dagegen sind. Zudem liegt es natürlich nicht an uns (OKDE und AN-TARSYA), ob eine solche Re-gierung entsteht oder nicht. Unsere Aufgabe in einem sol-chen Fall ist es, das Pendel des Klassenkampfes nach links zu ziehen, fortschrittliche Maß-nahmen zu unterstützen, re-aktionäre zu bekämpfen und weitere Arbeiter_innenforde-rungen auf den Weg zu brin-gen.

11. Einige Aktive sind sicherlich von der

Perspektive einer vermeint-lichen Sofortlösung durch ei-ne linke Regierung auch des-wegen angetan, weil sie – wie wir alle – das drohende Ge-spenst des Faschismus fürch-ten. Dabei ist es alles ande-re als sicher, dass damit der Faschismus effektiv einge-dämmt werden kann. Wir dür-fen nicht vergessen, dass in der Vergangenheit der Fa-schismus zumeist dann hoch-kochte, wenn Niederlagen oder eine Degeneration linker oder fortschrittlicher Regie-rungen unter Beteiligung der Linken vorangegangen waren. Auch die jüngere Geschichte

Griechenlands kennt dafür ein Beispiel: Kaminis, ein linker Sozialdemokrat und jetziger OB von Athen wurde von Tei-len der Linken im ersten oder zweiten Wahlgang unterstützt, um so den Aufstieg der Gol-denen Morgenröte, die damals (2010) auf 5,3% der Stimmen gekommen waren, zu verhin-dern. Anderthalb Jahre spä-ter haben die Neonazis ihren Stimmenanteil in Athen nahe-zu verdoppelt.

12. Mit 1,2% der Stim-men hat ANTAR-

SYA bei den Wahlen nicht versagt, wenn man bedenkt, dass sie noch 2009 mit 0,36% das bis dahin beste Ergebnis einer antikapitalistischen For-mation erzielt hatte. Trotz-dem liegt das Ergebnis vom 6. Mai klar unterhalb des Po-tentials in solchen Zeiten, auch wenn wir sicherlich we-gen der „nützlichen Stimmen“ für SYRIZA nicht alles aus-geschöpft haben. Keinesfalls darf deswegen jetzt davon ausgegangen werden, dass die selbstständige Kandida-tur von ANTARSYA ein Feh-ler war. Diese Einschätzung gilt nach den Wahlen genau-so wie davor, denn das Ziel unserer Kandidatur lag darin, uns weiter aufzubauen, unsere politischen Verbindungen zu den Aktiven zu stabilisieren, unser Programm zu verbreiten etc. Zu einer ehrlichen Bilanz gehören nicht nur Zahlen und Prozente, sondern auch Fak-ten, die für den Klassenkampf wesentlicher sind. So konnten wir beispielsweise während des Wahlkampfs den Führer der Athener U-Bahn-Gewerk-schaft gewinnen. Außerdem ist unsere Gegnerschaft zur Regierungsfixiertheit der Lin-ken tiefer begründet als die Tatsache, dass ohnehin keine ausreichende Stimmenmehr-heit erzielt werden kann.

13. Zum Schluss: Die Wa h l e rg e b n i s s e

vom 6. Mai waren ein wei-terer Erdstoß in einer Rei-he tiefer Erschütterungen.

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Der tiefe Riss, der ein wirk-liches revolutionäres Po-tenzial – nicht für die Zu-kunft, sondern für die gegen-wärtige Periode – freigelegt hat, wurde dadurch sichtbar und verstärkt. Die Tiefe die-ses Risses macht uns schwin-deln und sogar Angst, denn je-der Abgrund kann Gutes oder Schlechtes verbergen und die Zuspitzung der Widersprüche war schon immer ein gefähr-liches Unterfangen, viel ge-fährlicher als die „fortschritt-liche“ Lösung einer linken Regierung auf ebener Strecke. Aber wenn wir ernsthaft glau-ben, dass die Revolution auch noch heute wirklich machbar ist, müssen wir zuallererst das Risiko in Kauf nehmen, die sozialen und politischen Wi-dersprüche zuzuspitzen.

Welche auFgaBen Stehen unS BeVor?

1. Die Auseinanderset-zung zwischen Links

und Rechts entspricht letzt-lich dem Antagonismus zwi-schen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie. Mit „letzt-lich“ meinen wir, dass es nicht immer unmittelbar oder sicht-bar ist. Wir als revolutionäre Kommunisten von OKDE und ANTARSYA sollten dafür sor-gen, dass dieser Zusammen-hang bewusst wird. Dies be-deutet: Zurück auf die Stra-ße – was ohnehin klar ist – und Streiks, Besetzungen etc. aber auch politische Demons-trationen organisieren, die ge-gen Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Parteien gerich-tet sind und für die Ablehnung des Memorandums und die Streichung der Staatsschulden und sonstige dringliche poli-tische Forderungen eintreten. Dies ist unsere Aufgabe vor und nach den Wahlen, statt auf Stimmenfang zu gehen.

2. Die Einheit der Arbei-terInnenklasse zwi-

schen ImmigrantInnen und GriechInnen hat oberste Pri-orität. SYRIZA stellt dies momentan hintenan, um ihre

Wähler nicht zu verschrecken. Bezeichnend dafür ist, dass der von SYRIZA unterstützte Bürgermeister von Patras auf die jüngsten rassistischen Po-grome gegen Immigrantinnen mit der Forderung nach stär-keren Polizeipatrouillen ge-

gen illegale Einwanderer rea-giert hat. Insofern dürfen wir nicht dabei stehen bleiben, Solidarität zu propagieren, sondern müssen in der Praxis aufzeigen, dass die Interessen der griechischen und der aus-ländischen Lohnabhängigen eins sind, auch wenn sich die Erstgenannten mitunter an de-ren Unterdrückung beteiligen. Dies bedeutet, dass wir diesen unsichtbaren Fleck inmitten der ArbeiterInnenklasse, d. h. die ImmigrantInnen selbst mobilisieren müssen. Sie kön-nen durch ihren Kampf auf-zeigen, dass uns der Kampf gegen dieselben Gegner, näm-lich die Bosse eint. Zugleich können sie damit ihre Rechte verteidigen und ihre Existenz-bedingungen verbessern, wo-durch auch die Gegensätze in-nerhalb der ArbeiterInnen-klasse reduziert werden. In der Praxis bedeutet dies, dass wir uns vermehrt an die Immi-grantInnen statt an die „neu-tralen“ GriechInnen wenden müssen. Dadurch können wir sie möglicherweise auch mehr in die Bekämpfung der Fa-schisten einbeziehen.

3. ANTARSYA hat sich inzwischen soweit eta-

bliert, dass wir eine wirkliche Einheitsfront der Lohnabhän-

gigen vorschlagen können. Wirklich ist im politischen Sinn zu verstehen, nicht als Wahlbündnis oder Anhängsel des Reformismus oder als zu-fälliges Zusammentreffen bei den Kämpfen. Wir müssen ei-ne gemeinsame Aktionsplatt-

form entwickeln, die unmiss-verständlich, öffentlich und übersichtlich ist und die lin-ke Parteien (KKE, SYRIZA), außerparlamentarische kom-munistische Organisationen und anarchistische Gruppie-rungen sowie Gewerkschaf-ten etc. einschließen sollte. Ein gemeinsames Programm ist unnötig und unrealistisch, aber auf 5-6 Punkte können wir uns verständigen: gemein-same Selbstverteidigung ge-gen Neonazis und gemein-same antifaschistische Akti-on; gemeinsame Organisati-on von Streiks, Besetzungen und Selbstverwaltung/Arbei-terkontrolle von schließenden Unternehmen; gemeinsame Teilnahme an Versammlungen oder Komitees in Betrieben und Stadtteilen und gemein-same Kampagnen für interna-tionale Solidarität. Eine sol-che Plattform ist dringend er-forderlich, während ein vir-tuelles gemeinsames Regie-rungsprogramm unpraktika-bel wäre und insofern rein propagandistischen Wert hät-te, zudem es für eine Einheits-front nicht zwingend erforder-lich ist.

4. Ein solches Über-gangsprogramm stellt

ein hinreichendes Gegenge-

wicht dar zu dem reformisti-schen Vorhaben einer parla-mentarischen Linken mit Re-gierungsphantasien. Aller-dings ist es nicht konkret ge-nug und wir müssen bewei-sen, dass ein revolutionäres Programm auch umgesetzt

werden könnte. Dies ist die Grundvoraussetzung, um uns gegen „realistische“ Argu-mente durchzusetzen, denen SYRIZA inzwischen nach-zugeben oder sie gar aktiv zu verbreiten scheint, näm-lich dass eine einseitige Auf-kündigung des Memoran-dums in die internationale Isolierung führen würde und dass die Enteignung der Ban-ken die Regierungspartner in die Opposition treiben wür-de. Wir müssen uns dabei auf andere historische Beispiele und Erfahrungen revolutio-närer Kämpfe der Unterdrü-ckten und Ausgebeuteten be-ziehen: revolutionäre Maß-nahmen in Russland, Ku-ba oder China, Selbstver-waltung in Algerien und La-teinamerika etc. und sogar auf fortschrittliche Maßnah-men der Regierung Chávez. Dies dient allein schon da-zu, uns eine konkrete Vorstel-lung von der Machbarkeit der Utopien zu vermitteln. Wie können durch internationa-le Solidarität Pressionen un-terbunden werden, die durch die Rachsucht der Bourgeoi-sie zustande kommen? Wie können wir entschädigungs-lose Enteignungen durchfüh-ren, ohne dass alles zusam-menbricht? Was genau ist Ar-

antarSYa – antikapitalistische linke kooperation fur den umsturz

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beiterkontrolle und wie funk-tioniert sie? Dies besonders ist eine Schlüsselfrage, an der darzulegen ist, worin die we-sentlichen Unterschiede zwi-schen einer Regierung der ra-dikal Linken und einer revo-lutionären Arbeiterregierung liegen.

5. Die Frage der Euro-päischen Währungsu-

nion hat inzwischen funda-mentale Bedeutung erlangt, indem eine Währung als an-onymer Begriff des Marktes mit mystischen und fetischis-tischen Kräften dazu benutzt wird, die Unterdrückten zu terrorisieren und ihre Forde-rungen und damit Bedürfnisse einzuschränken. SYRIZA nimmt diese Erpressung kom-plett hin und unterwirft sich der Logik der Bourgeoisie, die aus den Gegensätzen Ar-beiterInnenklasse vs. Kapital, Links vs. Rechts und für oder gegen Memorandum eine Fra-ge für oder gegen Europa ma-chen will. Aus der „Ausrich-tung auf Europa“ wird somit ein Treueid auf das System. SYRIZA unterwirft sich die-sem Eid zu einem Zeitpunkt, wo die Eurozone und der Eu-ro sich mehr denn je zu einem Durchsetzungsmechanis-mus der kapitalistischen Au-steritätspolitik entpuppen. Es ist nicht unsere Aufgabe, mit den politökonomischen Kri-terien des Kapitals zu bewei-sen, dass eine nationale Wäh-rung besser ist, sondern zu er-klären und zu propagieren, dass es machbar und sogar

wünschenswert ist, dieses Da-moklesschwert über unseren Köpfen zu beseitigen.

6. Wo das Pendel am Schluss stehen wird,

hängt von objektiven Fak-toren ab, wobei möglicher-weise subjektive ausschlag-

gebend sein werden. Da die Bewusstseinsbildung in stän-digem Fluss ist, kommt es mehr denn je auf wirkmäch-tige kollektive politische Or-gane an. Hier geht es um die viel diskutierte Frage der re-volutionären Partei. Auch wenn es unter besonderen hi-storischen Umständen sieg-reiche Revolutionen unter der Führung von Parteien gege-ben hat, die sich nicht oder nur teilweise als revolutio-när verstanden haben (Kuba, China), konnte eine revolu-tionäre Situation noch nie zu einer Revolution zugespitzt werden, ohne dass es autono-me linke Arbeiterparteien ge-geben hätte, die der reformis-tischen Regierungslinken ge-genüberstanden. Solche Or-gane sind demzufolge eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines revolutio-nären Prozesses und zugleich auch dafür, sich einer raschen Entwicklung nach rechts oder rechtsaußen entgegen zu stel-len, wenn eine linke Regie-rung Schiffbruch erleidet. In Griechenland hängt die Schaffung einer solchen Par-tei unseres Erachtens in erster Linie davon ab, wie sich AN-TARSYA entwickelt (als Gan-zes oder – wahrscheinlicher –

infolge von Spaltungen und Zusammenschlüssen mit an-deren Strömungen). Entschei-dend dabei ist, dass ANTAR-SYA autonom bleibt. Para-doxerweise erfolgt der Auf-bau und die Reifeprüfung po-litischer Parteien vermittels der Teilnahme an Wahlen, ganz gleich wie stark diese im Bewusstsein der Bevölke-rung diskreditiert sein mögen. Wenn eine Organisation dort nicht vertreten ist, wird sie von den Massen nicht wahr-genommen. Auch wenn uns diese Wahrheit nicht schme-ckt, müssen wir uns ihr stel-len. ANTARSYA hat sich von einem Forum der außerparla-mentarischen Linken zu ei-ner wirklichen Kraft in der ArbeiterInnenklasse entwi-ckeln können, indem sie nicht nur eine führende Rolle in den Kämpfen eingenommen, son-dern sich auch an Wahlkämp-fen beteiligt hat. Wahrschein-lich werden wir bei den Wahl-en am 17. Juni nicht gut ab-schneiden. Aber wenn wir dort nicht unabhängig kan-didieren, wird unsere wei-tere Existenz m. E. infrage gestellt. Auf dem Spiel steht nicht nur unsere Glaubwür-digkeit im Allgemeinen, son-dern die Wahrung der Einheit unserer gut 3000 Kader. Wir würden ansonsten das verlie-ren können, was wir in jah-relanger, harter Arbeit aufge-baut haben. Kandidaturen mö-gen eine unangenehme Auf-gabe sein, aber wir müssen uns ihr stellen.

7. Es gibt aber einen wei-teren Grund, weswe-

gen ich einer Zusammenarbeit oder Wahlempfehlung “oh-ne Illusionen” zugunsten von SYRIZA skeptisch gegenü-berstehe, auch wenn es dafür Gründe geben mag. Letztlich zählt eine Stimme als eben solche, egal ob sie auf einer Il-lusion beruht. Außerdem gibt es kaum eine größere Illusion als jene, zu glauben, mensch könne eine Partei „ohne Il-lusionen“ unterstützen, weil mensch dabei glaubt, Ein-

fluss auf diese Partei auszu-üben (indem mensch durch diese Unterstützung seine/ih-re Glaubwürdigkeit demons-triert hat). ANTARSYA setzt m.E. trotz aller bürokratischer Fehler SYRIZA von außen mehr unter Druck als anti-kapitalistische Organisati-onen, die dies mit der Linie des „Umschichtens“ oder des „Entrismus“ von innen versu-chen. Welchen Einfluss haben diese Organisationen auf das Auftreten von Tsipras nach der Wahl? Die TrotzkistInnen haben durch ihre Erfahrungen mit PASOK in der Vergan-genheit viel Lehrgeld bezahlt mit ihrem Konzept, den Re-formismus durch den Druck interner revolutionärer Strö-mungen auf die bürokratische Führung nach links drücken oder zumindest in den Augen seiner Anhänger diskreditie-ren zu wollen. Es ist paradox, dass eine Strömung, die einst angetreten ist, um wahrhaft revolutionäre Parteien anstel-le der alten degenerierten auf-zubauen, so oft unterschätzt hat, wie wichtig autonome re-volutionäre Parteien sind, wo-bei ich nicht so sehr das Pro-gramm meine, sondern die mühsame Aufgabe, sich als selbstständiges kollektives Organ aufzubauen.

Dies könnte mensch als „blo-ße Worte“ ansehen.. Aber Theorie, also Worte sind auch Praxis, ein Aspekt der Wirk-lichkeit, der nicht weniger re-al ist als das, was wir „mate-riell“ nennen. Um mit Marx zu sprechen: die Theorie „steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen stehe, weil es nicht im Magen liege“ (Der leiten-de Artikel in Nr. 179 der »Köl-nischen Zeitung«, MEW Bd. 1, S. 97, AdÜ).

Mai 2012

Übersetzung: MiWe

alexis tsipras

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Quebec

QuebecDer „Streik der Studierenden“ in Quebec – ein Ahornfrühling voller roter QuadrateAm Samstag, dem 26. Mai 2012, fand eine massive Mobilisierung in verschiedenen Städten Quebecs statt. Die Tageszeitung Le Devoir schrieb dazu: „Am Samstagabend war der Lärm von Töpfen erneut in mehreren Städten in Quebec zu hören.“ Tausende von Menschen aller Altersgruppen haben sich nicht nur gegen höhere Studienge-bühren und gegen das Gesetz Nr. 78 ausgesprochen, sondern auch ihre Ablehnung der Regierung charest [Jean charest ist Premiermini-ster von Quebec seit April 2003] kundgetan.

Obwohl vier Verhaftungen vorgenommen wurden, fand die 33. Nachtdemonstration insgesamt in einer ruhigen Atmosphäre statt. Zwei junge Männer wurden insbesondere beschuldigt, Polizeibeamte bei der Ausübung ihres Dienstes behindert und zwei Pferde geschla-gen zu haben, auf denen Polizisten saßen.

Insgesamt wurden ein Dutzend Kochtopfdemonstrationen an meh-reren Stellen der Metropolregion [Montreal] durchgeführt. Alle wur-den wegen Verletzung der kommunalen Vorschriften für illegal erklärt, aber dennoch geduldet. Der Verkehr wurde dabei stark behindert, weil die Demonstranten zahlreich und verstreut waren.

Zwischenfälle wurden bisher nicht gemeldet, außer dass ein un-geduldiger Autofahrer einen Demonstranten mit seinem Fahrzeug ei-nige hundert Meter vor sich hergetrieben hat, allerdings ohne ihn zu verletzen.

Nachstehend veröffentlichen wir einen vom 22. Mai 2012 datierten Artikel von Louis Gill. Louis Gill ist Ökonom und (emeritierter) Pro-fessor der uQAM (universität von Quebec in Montreal) und unter an-derem Autor des buchs La crise financière et monétaire mondiale, editions M, Québec, 2011. er schreibt regelmäßig in der von François chesnais herausgegebenen Vierteljahreszeitschrift Carré rouge. [Ré-daction A l’Encontre]

Louis Gill

Alles begann mit der Entscheidung der Regierung von Quebec, die Stu-

diengebühren von derzeit 2168 Dol-lar pro Studienjahr (10 Kurse zu je 3

Credits) ab dem Herbsttrimester 2012 über einen Zeitraum von fünf Jahren um 75 % zu erhöhen. In den Folgejah-ren sollten die Gebühren dann an die Inflation gekoppelt (indiziert) wer-den. Dieser Plan wurde schließlich von fünf auf sieben Jahre gestreckt. Man sollte dazu wissen, dass Bildung in Quebec in öffentlichen Schulen auf allen Bildungsstufen kostenlos ist, au-ßer an den Universitäten. Am Ende der „Stillen Revolution“ von 1960, die die Periode der „Großen Dunkelheit“ des autoritären Regimes von Premier Maurice Duplessis beendete, war die kostenlose Universität als Teil einer umfassenden Reform des Bildungs-systems als mittelfristiges Ziel ange-peilt worden, auch wenn dies kurzfris-tig noch zu teuer war. Als Mitglied der UNESCO unterliegt Kanada auch dem Internationalen Pakt über wirtschaft-liche, soziale und kulturelle Rechte, dessen Artikel 13 besagt, dass „Hoch-schulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähli-che Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entspre-chend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss“.

Obwohl dieses Ziel nie realisiert wurde, ist Quebec die Provinz Kana-das mit den niedrigsten Studienge-bühren geblieben; eine Tatsache, auf

Demonstrationszug auf dem Weg von Ottawa nach Gatineau

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Quebec

die die Regierung sich jetzt stützt, wenn sie sagt, dass eine Anpassung nach oben geboten sei und dass die StudentInnen „ihren fairen Anteil“ an der Finanzierung der Ausbildung zah-len sollten, deren Nutznießer sie sind. Nachdem sie 20 Jahre auf dem Stand von 1968, also 500 Dollar pro Jahr, „eingefroren“ waren, wurden die Stu-diengebühren in den frühen 1990er Jahren verdreifacht und stiegen dann weiter um 100 Dollar jährlich in den letzten fünf Jahren bis auf heute 2168 (kanadische) Dollar. Die neue schritt-weise Erhöhung in den nächsten sie-ben Jahren, die im Herbst in Kraft tre-ten soll, würde dann zu 3946 Dollar im Jahr 2018/2019 führen. Die Regie-rung beruft sich auf die Tatsache, dass dieser Betrag nur den Anschluss an 1968 herstellen würde, wenn der da-malige Betrag mit der Inflation in die-sem Zeitraum von 50 Jahren Schritt gehalten hätte.

Diese Argumentation ignoriert nicht nur, dass das Ziel ursprüng-lich war, diese Gebühren bis auf null zu reduzieren, weil Bildung ein Ge-meingut ist, dessen Kosten und Nut-zen von allen geteilt werden sollten, sondern übersieht auch die Tatsache, dass eine Vielzahl weiterer Gebühren […] zu den Studiengebühren im Lau-fe der Jahre hinzukamen und jetzt ein Niveau von durchschnittlich etwa 650 Dollar pro Jahr erreichen.

EinE mächtiGE mObilisiE-runG

Die Anfang Februar 2012 begonnene Streikbewegung trat Ende Mai in ihre fünfzehnte Woche ein, hat Hunderttau-sende von StudentInnen an den Hoch-schulen und Universitäten mobilisiert und sogar kurze Sympathiestreiks an einigen weiterführenden Schulen aus-gelöst. Sie war von unzähligen groß-artigen Solidaritätsaktionen geprägt, von der Bildung von Streikpostenket-ten, die den Zugang zu Einrichtungen, die sich demokratisch für den Streik entschieden hatten, blockieren sollten, von Hunderten von Kundgebungen in verschiedenen Städten, von riesigen Demonstrationen, darunter denen vom 22.  März, 22.  April und 22.  Mai, an denen jeweils über 200 000 Menschen in Montreal teilnahmen, und tägli-chen Nachtdemonstrationen, von de-

nen jetzt am 22.  Mai die 29. in Fol-ge stattfand.

Sie ist auch von gewaltsamer Poli-zeirepression geprägt, was zu Tausen-den von Verhaftungen und ernsten Ver-letzungen von Demonstranten durch Schlagstöcke, Reizgas, Knallgranaten und Plastik- oder Gummigeschosse durch Einheiten der Bereitschaftspo-lizei geführt hat. Obwohl die Bewe-gung Gewalt ablehnt und entschlos-sen ist, sie aus ihren Reihen fernzu-halten, war es ihr dennoch nicht ge-lungen, die Aktivität von Randalierern zu stoppen, die sich den Demonstra-tionen angeschlossen hatten, und als Vorwand für brutale Polizeireaktionen dienten. Darüber hinaus sah sich die Bewegung damit auch Vorwürfen ih-rer Gegner ausgesetzt, die ihr die Ver-antwortung für Fälle von Vandalismus zuschrieben, die von solchen fremden Elementen begangen wurden. Montre-al vibriert täglich unter den Sirenen der Streifenwagen, die sich wie ein Wirbelwind von einem Ort zum an-deren bewegen, um den Bewegungen der Demonstranten zu folgen, und dem Lärm der Hubschrauber, die die Operationen vom Himmel aus über-wachen.

Der Streik hat eine außergewöhn-liche politische Reife und eine seltene Entschlossenheit bei der Verteidigung des Willens zur Veränderung gezeigt. Er ließ überzeugend die Arroganz und den rückwärts gerichteten Charak-ter einer herrschenden Clique zutage treten, die zu allem bereit ist, um ih-re Privilegien und ihre veralteten Wer-te zu bewahren. Er zeigte ein immen-ses Talent und bemerkenswerte Krea-tivität durch die Verknüpfung kämpfe-rischer Aktionen mit einer lebendigen Widerstandskunst. Man sah dies auf Transparenten, Plakaten, Schildern, Kostümen, Make-ups und sogar bei teilweise entkleideten Teilnehmerin-nen, die sich auf den Demonstrationen die Brüste mit einem einfachen roten Quadrat bemalt hatten, aber auch bei Theater, Parodien oder Chansons. Als Beispiele sei auf die Videos „Lipdub rouge“ und „Tribunal du peuple des condamnés d’avance“ wie auch das Lied von Ariane Moffat mit dem Titel „Donnerstag, 17.  Mai 2012“ verwie-sen, die alle über das Internet zugäng-lich sind.

Der studentische Widerstand hat

nicht nur enorme Unterstützung in der Bevölkerung gewonnen, sondern auch, und das ganz stark, bei den Leh-rern, Professoren und Dozenten der Hochschulen und Universitäten so-wie ihren Gewerkschaften und Ver-bänden. Vor allem die zu Beginn des Streiks gebildete Gruppierung „Profs gegen die Anhebung“ hat zur Verviel-fältigung der Initiativen zur Unter-stützung der StudentInnen beigetra-gen, bei den Streikpostenketten und durch verschiedene andere Initiati-ven. Das gleiche gilt für verschiedene Gruppen zur Verteidigung von Rech-ten und Freiheiten sowie für viele Per-sönlichkeiten. Das Künstlermilieu be-zeugte ebenfalls seine starke Unter-stützung. Dabei sollte vor allem den Jutra-Abend erwähnt werden, auf dem alljährlich die Filmschaffenden aus Quebec geehrt werden; dort zeigte in diesem Jahr die Mehrheit der Künstler das rote Quadrat. Auch in der Bevöl-kerung ganz allgemein ist die Unter-stützung der Sache der StudentInnen weit verbreitet.

“inDiviDuEllE rEchtE“ im GEGEnsatz zu kOllEktivEn rEchtEn

Es versteht sich von selbst, dass die Gegner der studentischen Aktionen nichts auslassen, um sie zu stoppen, vornweg die Regierung der Libera-len Partei unter Premierminister Jean Charest.

Fest entschlossen, die Studienge-bühren zu erhöhen, hat er gleich zu Beginn die Tür zu jeglichem Nach-geben zugeschlagen; er weigerte sich strikt , mit den Verbänden der Studie-renden zu verhandeln, und setzte auf deren Kurzlebigkeit – ein fataler Irr-tum, wie er dann einsehen musste. Gespräche mit den Verbänden wur-den erst in letzter Minute vereinbart, als klar wurde, dass nach 11 Wochen Streik die Studieneinheiten drohten, irreparabel beschädigt zu werden.

Dies geschah jedoch in einem Geist der Nicht-Anerkennung der studentischen Aktionen als kollek-tiver Streikbewegung, die demokra-tisch von den Studentenverbänden be-schlossen werden, und auch der Nicht-Anerkennung der studentischen Orga-nisationen als wirklicher Vertretungen der StudentInnen. Nach der anfäng-

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inprekorr 4/2012 35

Quebec

lichen Weigerung, mit den radikaleren Teilen der Bewegung, dem Bündnis für eine breite gewerkschaftlich-stu-dentische Solidarität (CLASS)1, zu diskutieren – unter dem Vorwand, das Bündnis würde sich weigern, Gewalt explizit zu verurteilen –, erklärte er sich schließlich widerwillig doch da-mit einverstanden, weil der Verband der Hochschulstudenten (FEUQ)2 und der Verband der College-Studenten (FECQ)3 dessen Teilnahme gefor-dert hatten. Eine vierter Verband, der „Runde Tisch der Studierenden von Québec“ (TACEQ)4, nahm ebenfalls an den Diskussionen teil.

Allein die Diskussionen, die zwi-schen der Regierung und den vier Stu-dentenorganisationen stattfanden, er-streckten sich über 20 Stunden. Sie begannen am 4. Mai 2012 und ende-ten erst am nächsten Tag, als sich ge-walttätige Auseinandersetzungen zwi-schen Demonstranten und der Poli-zei in der Kleinstadt Victoriaville ent-wickelten, wohin die Liberale Par-tei ihren Generalrat verlegt hatte, um Montreal zu meiden. Ergebnis war ei-ne Vereinbarung, bei der die studen-tischen Vertreter regelrecht übers Ohr gehauen wurden. Glücklicherweise wurde diese Vereinbarung mit über-wältigender Mehrheit von den Mit-gliedern der vier Organisationen ab-gelehnt. Da sie sich weigerten, die Gespräche wieder aufzunehmen, und gleichzeitig auf die Sackgasse und den Handlungsbedarf hinwiesen, konzen-trierte sich die Regierung stattdessen auf die Einführung eines besonders schwerwiegenden Ausnahmegesetzes, das als Gesetzentwurf Nr. 78 bezeich-net wird.

Vor der Verabschiedung dieses Ge-setzes waren StudentInnen, die die Fortsetzung des Streiks ablehnten, vor Gericht gezogen, um eine Verfü-gung zur Wiederaufnahme der Kur-se zu erwirken, und zwar unter Beru-fung auf ihr Recht, Dienstleistungen zu erhalten, für die sie bezahlt ha-ben. Die Richter des Obersten Ge-richts, die diese Anträge an sich gezo-gen hatten, gaben ihnen recht und ver-kündeten, dass, entgegen den elemen-tarsten pädagogischen Überlegungen, im Namen des sogenannten „indivi-duellen Rechts auf Bildung“ die Vor-lesungen auch für nur ein, zwei, drei oder vier StudentInnen gehalten wer-

den müssten. Die studentische Ant-wort in Form massiver Streikposten-ketten hatte zum Ergebnis, dass die Hochschulverwaltungen ihre offen-sichtliche Unfähigkeit zeigten, die-sen Verfügungen gerecht zu werden. Wir standen vor der absurden Situati-

on, dass die Professoren durch einen Gerichtsbeschluss gezwungen wa-ren, ihre Vorlesungen vor einer klei-nen Handvoll StudentInnen zu hal-ten, aus Angst vor einer Anklage we-gen Missachtung des Gerichts und der möglichen Verhängung von Freiheits-strafen.

Es ist schwer, hier nicht die Paral-lele zu sehen zwischen dem sogenann-ten „individuellen Recht auf Bildung“, dem die einstweiligen Verfügungen zur Anerkennung verhelfen sollen, und dem sogenannten „individuellen Recht auf Arbeit“, das die sogenann-ten „right-to-work-laws“ (“Recht auf Arbeit”-Gesetze) in 23 konserva-tiven Staaten im Süden und Westen der USA garantieren sollen. Entge-gen ihrer betrügerischen Benennung als „Recht auf Arbeit”-Gesetze dienen diese Anti-Gewerkschafts-Gesetze in Wirklichkeit nur der Anerkennung des Rechts von die Gewerkschaften ab-lehnenden Arbeiterinnen und Arbei-tern, diesen auch künftig fernzublei-ben und trotzdem von den von der Ge-werkschaft ausgehandelten Errungen-

schaften zu profitieren, ohne Mitglie-der zu sein und ohne sich an deren Fi-nanzierung zu beteiligen.

Die Regierung hat nicht aufge-hört zu behaupten, der Studentenstreik sei kein Streik, selbst wenn er demo-kratisch mit Stimmenmehrheit in ord-

nungsgemäß zustande gekommenen Versammlungen beschlossen wur-de, sondern ein „Boykott“ der Vorle-sungen, der irgendwie individuell von einzelnen StudentInnen entschieden wurde. Sie sagt, letztere könnten im-mer noch, wenn sie wollen, ihre Kur-se „boykottieren“, aber man könne ih-nen nicht erlauben, im Namen einer kollektiven Aktion, deren Legitimität nicht anerkannt werde, das „individu-elle Recht auf Bildung“ von Studieren-den, die weiterhin ihre Kurse besuchen möchten, zu bestreiten. Das Gesetz 78 bestätigt dieses sogenannte „individu-elle Recht auf Bildung“ und zerschlägt die Anerkennung des Rechts, kollektiv eine Unterbrechung der Vorlesungen zu beschließen, wie man in der Arbeits-welt beschließt, zu einem Druckmittel zu greifen, um die Arbeit zu unterbre-chen, also zum Streik.

DiE aussErGEWöhnlichE bEDEutunG DEs GE-sEtzEs 78

Das Gesetz  78 weist die Professoren

Gegen die Erhöhung der schulgebühren

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Quebec

an, ihre Arbeit wieder aufzunehmen und alle mit ihrer Funktion verbunde-nen Aufgaben ohne Unterbrechung, Verzögerung, Reduzierung oder Ver-änderung ihrer normalen Aktivitäten zu erfüllen. Es verbietet einer Orga-nisation der Lohnabhängigen, ihren Führern einschließlich der Sprecher sowie ihren Mitgliedern, sich an ab-gestimmten Aktionen zu beteiligen, die zu einem Verstoß gegen diese Ver-pflichtungen führen können. Es be-sagt, dass niemand durch eine Hand-lung oder Unterlassung das Recht ei-nes Studenten, die Bildung der von ihm besuchten Einrichtungen zu er-halten, stören darf, und verbietet jede Form der Versammlung in einem Ge-bäude, in dem diese Dienste geleistet werden, sowie auf dem Gelände, in dem das Gebäude liegt, und in einem Umkreis von 50 Metern um die äuße-ren Grenzen dieses Geländes. Es legt fest, dass eine Organisation oder ein Verband von Organisationen gesamt-schuldnerisch für Schäden haftet, die von ihren zuwiderhandelnden Mitglie-dern verursacht werden, und führt die Umkehr der Beweislast in Fragen der zivilrechtlichen Haftung für solche Schäden ein.

Das Gesetz Nr. 78 sieht vor, dass, wenn eine studentische Organisation für schuldig befunden wird, das nor-male Angebot an Bildungsleistungen behindert zu haben, ihr über einen Zeitraum von einem Trimester für je-den Tag der Behinderung Büros, Mö-bel und andere Leistungen wie auch die zentral abgebuchten Beiträge ent-zogen werden, auf die sie nach dem Gesetz über Akkreditierung und Fi-nanzierung von studentischen Organi-sationen, das seit den 1960er Jahren in Kraft ist und die Grundlage der offizi-ellen Anerkennung studentischer Or-ganisationen bildet, einen Anspruch hat. Damit ist die Existenz der Stu-dentenorganisationen als solche durch dieses Ausnahmegesetz bedroht.

Im Falle der Verletzung einer Be-stimmung des Gesetzes sind Geldstra-fen von 1000 bis 5000 Dollar für einen Einzelnen, von 7000 bis 35 000 Dol-lar für einen Anführer oder Sprecher einer Organisation und von 25  000 bis 125 000 Dollar für einen Verband vorgesehen. Diese Beträge werden im Wiederholungsfall verdoppelt.

Weit über den alleinigen Zweck

der Wiederaufnahme des Unterrichts hinaus regelt das Gesetz alle Formen von Demonstrationen durch die Be-grenzung der Teilnehmerzahl auf 50. Die Organisation einer Demonstration mit mehr TeilnehmerInnen bedarf ei-ner Genehmigung. Ein Antrag in die-sem Sinne muss der Polizei minde-stens acht Stunden im Voraus vorge-legt und die Strecke bekannt gegeben werden, was jegliche spontane De-monstration aus welchem Grund oder von welcher Organisation auch immer illegal macht.

Die Polizeieinheit, an die der An-trag gestellt wird, hat das Recht, diese Route zu ändern.

Das Gesetz  78 soll bis Juli 2013 gelten, aber es ist unmöglich zu über-sehen, dass die Regierung nach Mit-teln sucht, den „sozialen Frieden“ auch über die nächsten Wahlen hi-naus, die zu diesem Zeitpunkt statt-finden, zu erzwingen. Auch die Stadt Montreal hat beschlossen, die Orga-nisatoren von Demonstrationen zu er-mahnen, ihre Route bekannt zu geben, weil sonst die Versammlung als ille-gal betrachtet werde. Sie hat auch das Tragen von Masken bei Demonstrati-onen für illegal erklärt.

mit übErWältiGEnDEr mEhrhEit abGElEhnt

Das Gesetz Nr. 78 wurde rundweg ab-gelehnt, von der Bevölkerung insge-samt, von Gewerkschaften, Verbän-den und vielen Persönlichkeiten, die die Verletzungen der Vereinigungs-, Meinungs- und Versammlungsfrei-heit verurteilen, die in sich den Sa-men zum Polizeistaat tragen. Es wur-den bereits Hunderttausende von Un-terschriften von Gegnern für Petiti-onen gesammelt und Verfahren ein-geleitet, die seine Unrechtmäßigkeit feststellen sollen. Die radikalste stu-dentische Organisation, CLASSE, hat zum zivilen Ungehorsam dagegen auf-gerufen. Um das Ausmaß der Opposi-tion gegen dieses Gesetz zu ermessen, müssen wir erwähnen, dass sie sogar bis in die Reihen der Anwaltskammer der Provinz Quebec reicht, deren Prä-sident sagte, dass dieses Gesetz „ge-gen die Verfassung und Grundrech-te der Bürger verstößt“ und dass „das Ausmaß der Freiheitsbeschränkungen nicht gerechtfertigt [sei], um die Ziele

der Regierung zu erreichen“. Anderer-seits hat die Anwaltskammer natürlich den Weg des zivilen Ungehorsams als Mittel des Protestes verurteilt, den sie als eine unzulässige Abweichung von der Rechtsstaatlichkeit charakterisiert.

Was Maßnahmen bezüglich der Demonstrationen betrifft, so werden sie jeden Tag auf der Straße heraus-gefordert. Am Abend der Verabschie-dung des Gesetzes Nr. 78 z. B. gingen 15 000 Menschen in Montreal und in Hunderten anderen Städten wie Que-bec, Sherbrooke und Gatineau auf die Straße und skandierten: „Kein Son-dergesetz wird uns brechen. General-streik unbegrenzt!“ oder „Das Sonder-gesetz ist mir scheißegal“. Am Nach-mittag des 22.  Mai, zum hunderts-ten Streiktag, protestierten mehr als 250  000 DemonstrantInnen aller Al-tersgruppen aus Montreal und ande-ren Regionen in Quebec erneut mit einem Marsch durch die Straßen von Montreal. Gleichzeitig gab es kleine-re Demonstrationen in anderen Städ-ten Quebecs. Am selben Abend fand in Montreal auch die 29. Nachtde-monstration in Folge gegen steigende Studiengebühren und zum ersten Mal auch gegen das „Gummiknüppelge-setz“ (das Gesetz  78 [d.  Üb.]) statt. Weitere Nachtdemonstrationen er-folgten gleichzeitig auch in anderen Städten.

Unterstützung für den Streik gab es auch außerhalb von Quebec, beson-ders in Englisch-Kanada, von wo So-lidaritätserklärungen und finanzielle Unterstützung vom kanadischen Stu-dentenverband, von der Organisation kanadischer Universitätsprofessoren, von der Gewerkschaft des öffentli-chen Dienstes, der „Kanadischen Ar-beiterInnen der Automobilindustrie“ und der Gewerkschaft für Kommuni-kation, Energie und Papier kam; au-ßerdem fanden am 22.  Mai in New York und Paris Demonstrationen statt.

Diese enorme Mobilisierung von Studentinnen und Studenten, aber auch von Menschen aller Schichten und Altersgruppen unterstreicht nicht nur die Unterstützung für die studen-tischen Forderungen. Sie drückt auch den Überdruss der Bevölkerung an den korrupten und arroganten poli-tischen Führern aus, die des Betrugs und des Machtmissbrauchs schuldig sind. Man sollte dazu wissen, dass im

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Quebec

selben Moment, in dem die Regierung Charest ihr Gummiknüppelgesetz be-schloss, die Arbeit der öffentlichen Untersuchungskommission zu Ab-sprachen und Korruption bei der Ver-gabe von öffentlichen Aufträgen in der Baubranche begann, einer Kommissi-on, gegen deren Bildung sich die Re-gierung mehr als zwei Jahre strikt ge-wehrt hatte. Diese Untersuchung zielt darauf ab, die Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, Bauunter-nehmern, Ingenieurbüros und der ge-heimen Wahlkampffinanzierung von politischen Parteien, insbesondere der Liberalen Partei, aufzudecken.

Einen Vorgeschmack auf die Ar-beit dieser Untersuchungskommissi-on gab die Enthüllung der Existenz eines Wohltätigkeitsessens, das für den scheidenden Bildungsminister Line Beauchamp von einer bekannten Figur der italienischen Mafia in Mon-treal organisiert worden war. Beauch-amp stand für die harte Linie gegen die StudentInnen.

Auf der anderen Seite scheint auch der Ruf des Montrealer Bürgermei-sters Gérald Tremblay schwer ange-schlagen zu sein durch die Verhaf-tung seiner ehemaligen rechten Hand, Frank Zampino, dem früheren Präsi-denten des Verwaltungsrats der Stadt Montreal, und eines Dutzends seiner engsten Mitarbeiter durch die ständige Anti-Korruptions-Einheit unter dem Vorwurf des Betrugs, der Verschwö-rung und der Untreue!

minimalE kOstEn für DiE fOrDErunGEn DEr stuDiE-rEnDEn

Im Haushalt für die Jahre 2012/13, der am 20. März vorgestellt wurde, hat die Regierung einen Nettobeitrag der Stu-dierenden zur Finanzierung der Uni-versitäten von 279 Millionen Dollar vorgesehen, der sich aus dem vorge-sehenen Anstieg der Studiengebüh-ren für 2016/17 ergibt. Dieser Be-trag, der nur drei Zehntel von einem Prozent der erwarteten Haushaltsein-nahmen für 2016/17 ausmacht, könn-te den Hochschulen ohne zusätzliche Kosten für den Staat zur Verfügung gestellt werden, allein durch Hinzufü-gen einer neuen Steuerstufe von 28 % für besonders hohe Einkommen über 125 000 Dollar.5 So verlangt man ein-

fach von besonders wohlhabenden Bürgern statt von armen StudentIn-nen, ihren „gerechten Anteil“ zu leis-ten, um den Hochschulen die Mittel zu gewähren, die diese zur Erhaltung und Verbesserung ihrer Qualität benö-tigen.

Auch wenn das Thema in einem Kampf, der sich im Moment allein ge-gen steigende Studiengebühren rich-tet, nicht unmittelbar auf der Tages-ordnung steht, ist es nützlich zu wis-sen, dass die jährlichen Kosten für das Erreichen der kostenlosen Universi-tät von heute an bei ungefähr 600 Mil-lionen Dollar liegen würden und al-lein durch die volle Besteuerung der Veräußerungsgewinne von Unterneh-men und Privatpersonen finanziert werden könnten. Wird dies nicht ge-tan, käme dies Steuervergünstigungen gleich, das heißt Geschenken für die Reichen in Höhe von 830 Millionen im Jahr 2011.6 Es ist höchste Zeit, den Versuch zu stoppen, der Jugend von Quebec die Belastung für die Fi-nanzierung des Gemeinguts Bildung aufzubürden, und damit zu begin-nen, die Einnahmen abzumessen, auf die die Regierung durch ihre großzü-gigen steuerlichen Maßnahmen zu-gunsten von Unternehmen und Super-

reichen verzichtet. Mit ihrem hartnä-ckigen Versuch, die Hand in die Ta-schen der StudentInnen zu stecken, um die Finanzmittel der Hochschulen zu erhöhen, greift die Regierung in die falsche Tasche. Sie sollte die Mittel eher bei denen holen, die durch Steu-

erprivilegien besser ausgestattet sind. Durch das Beschreiten des Pfads der Arroganz und der Rückzugsgefechte hat sie die derzeitige großartige Be-wegung entfesselt, die Trägerin groß-er Hoffnungen ist. (22. Mai 2012)

Übersetzung: Björn Mertens

1 65 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt

etwa 109  000 College- und Hochschulstu-

denten.

2 15 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt et-

wa 125 000 Hochschulstudenten.

3 23 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt et-

wa 80 000 College-Studenten.

4 70 000 Mitglieder an drei Universitäten.

5 Es gibt drei Stufen der Besteuerung für das

persönliche Einkommen in Quebec. Die Steu-

ersätze sind 16% auf Einkommen bis zu

39 060 Dollar, 20% auf Einkommen zwischen

30 061 und 78 120 Dollar und 24% auf Ein-

kommen über 78 120 Dollar.

6 Finanzministerium Québec, Dépenses fis-

cales, Édition 2011, p. VIII.

toronto: solidarität mit den studierenden in Québec

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Brasilien

BrasilienBilanz unserer Beteiligung an der brasilianischen PT von 1979 bis zur ersten regierung lulaJoão Machado

Die entstehung Der Pt

Die Gründung der PT (Partido dos Tra-balhadores, Arbeiterpartei) wurde En-de 1978 ins Auge gefasst und 1979 in Angriff genommen. Im Februar 1980 kam mit der Verabschiedung ihres Ma-nifestes eine offizielle Bewegung zur Gründung der Partei zustande. Die 1964 an die Macht gelangte Diktatur ging damals ihrem Ende entgegen und es gab lediglich zwei legale Parteien: die ARENA, die die Regierung unter-stützte, und die MDB (Movimento De-mocrático Brasileiro) in der Oppositi-on.

Bereits in den frühen Schriften der Partei war von Sozialismus und der Kritik am Kapitalismus die Rede, aber im Mittelpunkt stand der Gedanke, ei-ne Partei der ArbeiterInnen aufzubau-en, die unabhängig und frei von Chefs sein sollte, um die Interessen der Ar-beiterInnen zum Ausdruck zu bringen und sie nicht zu bevormunden. Ihre Gründungscharta bediente sich der be-rühmten Worte, die Marx zu Zeiten der I. Internationale gebraucht hatte: „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein“.

In erster Linie ist die Entstehung der PT durch die Streikbewegung in Brasilien während des Niedergangs der Diktatur und den sog. „authentischen“, d. h. klassenbewussten Gewerkschafts-flügel angestoßen worden. Neben die-sen gewerkschaftlichen Kräften be-teiligten sich jedoch von Anfang an auch verschiedene revolutionäre poli-tische Organisationen maßgeblich an der Gründung der Partei, wobei na-mentlich zwei Organisationen trotzkis-tischer Provenienz ins Gewicht fielen: die morenistische Convergência Soci-alista (CS ) und die Fração Operária Trotskista (FOT, eine kleine aus einer

lambertistischen Abspaltung stammen-de Organisation), die von dem Vorsit-zenden der Lederarbeitergewerkschaft in São Paulo und einem der wichtigsten Protagonisten der PT in der Anfangs-phase, Paulo Skromov, geführt wurde.

Die DS (Democracia Socialista), die später die brasilianische Sektion der IV. Internationale wurde, entstand offi-ziell unter diesem Namen Ende 1979, während die Gründung der PT bereits im Gange war. Ihre Mitglieder waren jedoch bereits vor Entstehung der Or-ganisation maßgeblich an der Schaf-fung der PT in zwei wichtigen Staa-ten (Minas Gerais und Rio Grande do Sul) beteiligt und breiteten sich später auf das ganze Land aus. Diese beiden Staaten bildeten gemeinsam mit Rio de Janeiro die wichtigsten Staaten hinter São Paulo, dem bevölkerungs- und in-dustriereichsten Staat, der mit Abstand federführend in der PT war.

Am 31. Mai und 1. Juni 1980 fand der Nationale Gründungskongress der PT statt und danach begann die Mit-gliederrekrutierung.

Damals war es extrem schwierig in Brasilien, als politische Partei zuge-lassen zu werden. Eine gesetzliche Re-gistrierung war erst möglich, wenn ei-ne Partei in mehreren Staaten vorhan-den war und eine Mindestzahl von ei-nigen hunderttausend Mitgliedern hat-te. Insofern waren für die Zulassung die Mitwirkung und der Anschluss der revolutionären Organisationen ebenso ausschlaggebend wie die wachsenden Beitrittszahlen von Aktiven aus den Gemeinden der katholischen Basiskir-che und Anhängern der Befreiungsthe-ologie. Daher war auch der Einfluss des linken Flügels in der PT von Anfang an groß, auch wenn die Führung von den „authentischen“ Gewerkschaftern und namentlich von Lula dominiert wurde.

In diesem Zusammenhang fiel auch ins Gewicht, dass sich alle Kräfte, die links von den Parteien der vormaligen Komintern standen (der offiziellen KP und der PC do B, die sich anfangs als maoistisch und bis 1989 als proalba-nisch verstand), frühzeitig, wenn auch nicht unbedingt von Beginn an am Auf-bau der PT beteiligten. Im August 1981 waren die Mitgliederrekrutierung und die Organisation in den Staaten abge-schlossen, sodass die gesetzliche Zu-lassung beantragt und das „Erste Nati-onale Treffen“, d. h. der erste Kongress abgehalten werden konnten.

Im Jahr 1983 entstand die „Articu-lação“ (nach den 113 Unterzeichnern gemeinhin „Verbindung der 113“ ge-nannt), ein Block, der von Lula und an-deren Führungsmitgliedern zur Siche-rung der Mehrheit in der PT (damals ca. 60% der Delegierten auf den nati-onalen Kongressen) gebildet wurde. Dieser Block umfasste außer den Lula-nahen Gewerkschaftern bekannte Ein-zelmitglieder, vormalige MDB-Abge-ordnete, Linkschristen und Mitglieder verschiedener revolutionärer Organisa-tionen, die sich teils aufgelöst hatten, teils noch existierten. Diesen Block gibt es noch immer, wobei Name („Ar-ticulação Unidade na Luta“ et „Cam-po Majoritário“) und Zusammenset-zung mehrmals wechselten. Seine poli-tischen Positionen waren notabene im-mer heterogen: Bis 2003 gehörten ihm stets linke Strömungen an, daneben so-zialdemokratische Tendenzen und ab den 90er Jahren offen sozialliberale. Während der 80er Jahre waren Posi-tionen, die sich an der KP Kubas ori-entierten, einflussreich. Bis 1989 stand Lula im „Zentrum“ dieses Blocks, um anschließend zum faktischen Füh-rer seiner Strömung zu werden, die am weitesten rechts und dem bürger-

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Brasilien

lichen Parlamentarismus und der Poli-tik „im Rahmen der bestehenden Ord-nung“ am aufgeschlossensten gegen-über stand. Allerdings vertrat Lula die-se Position nie nach außen hin und ver-mied es, sich bei internen Auseinander-setzungen zu exponieren.

Der Entstehungsprozess der PT wurde mit der Gründung der CUT (Central Única dos Trabalhadores) 1983 gewissermaßen abgeschlossen. Anders als der Name vermuten lässt, war sie nie eine Einheitsgewerkschaft, sondern geriet zum wichtigsten brasi-lianischen Gewerkschaftsverband und war stets eng mit der PT liiert. Die Füh-rung wurde immer durch die „Articu-lação Sindical“ gebildet, die eng mit dem Lula-Flügel um die „Articulação“ der PT verbunden ist und aus deren Reihen immer gut die Hälfte der Füh-rung stammt.

Mit der Gründung der PT ver-schafften sich die brasilianischen Ar-beiterInnen ihr eigenes Sprachrohr zu Zeiten eines sozialen Aufschwungs und eine Bewegung, die ihnen eine klassen-politische Unabhängigkeit verlieh. Da-rüber hinaus erwies sich die PT als plu-ralistische Partei mit einer gewissen in-neren Demokratie und verstand sich selbst als eine sozialistische Partei.

Wachstum unD WanDel Der Pt

Von ihrer Gründung an hatte die PT schon immer beträchtliche Schwächen, ganz besonders was die recht ober-flächliche Diskussion über den Stellen-wert des Sozialismus oder ihre eher va-ge Organisationsstruktur angeht. Aber trotzdem konnte sie sich zum wichtigs-ten Bezugspunkt der brasilianischen Linken entwickeln und sich konsoli-dieren – bis 1989, als Lula mit seiner Präsidentschaftskandidatur als dezi-diert linker Kandidat scheiterte. Auch international ist die PT zu einer Be-zugsgröße geworden, die immerhin so stark war, dass ein großer Teil der bra-silianischen Linken die Schwächen der Partei als nachrangig betrachtete und keine Perspektive mehr außerhalb die-ser Partei sah.

Mit dem Jahr 1989 begannen dra-stische Veränderungen auf interna-tionaler Ebene mit dem Zusammen-bruch des sog. „sozialistischen Lagers“ und der darauf folgenden großen Kri-se der Linken. Seither hat sich der neo-

liberale Schub in der ganzen Welt ein-schließlich Brasiliens zunehmend aus-gebreitet und zu tiefgreifenden ökono-mischen, politisch-ideologischen und sozialen Veränderungen geführt. Die Lohnabhängigen und die sozialen Be-wegungen sind seitdem schwächer ge-

worden. Bereits ab 1988 nahm die Ein-bindung der PT in die brasilianischen Institutionen erheblich zu, nicht nur was ihre Vertretung im Parlament an-ging, sondern auch in den Kommu-nalverwaltungen und später in den Regierungen der Einzelstaaten. Dies verstärk te logischerweise den Anpas-sungsdruck der Partei an die bürger-lichen Institutionen, dem sie aufgrund ihrer politisch-ideologischen Instabili-tät umso schwerer standhalten konnte. Außerdem verschärfte die starke Prä-senz der PT in den Gewerkschaftsappa-raten von Anfang an die Bürokratisie-rungstendenzen, zumal seit dem Ende der 80er Jahre die dortige „Articulação Sindical“ rechts von der „Articulação“ der PT stand. Insofern war der Anpas-sungsdruck an das bürgerliche System im Gewerkschaftssektor anfänglich stärker al sauf der politisch-parlamen-tarischen Ebene.

Lulas Wahlniederlage von 1989 – zu einem Zeitpunkt, als die Linke in eine große internationale Krise geriet – markierte zugleich einen Bruch in der Entwicklung der PT. Lula und sei-ne AnhängerInnen freundeten sich zu-nehmend mit dem Gedanken an, dass er und die PT durch Mäßigung ih-rer programmatischen Aussagen und

breitere Bündnisse Wahlerfolge erzie-len könnten. Die Verkennung der un-vermeidlichen Klassenwidersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft wur-de dadurch allmählich prägend für die Wahlstrategien, was nach der zweiten Wahlniederlage Lulas 1994 noch stär-

ker zutage trat. Abgelehnt wurde eine linke Herangehensweise an Wahlen, die auf eine umfassendere Mobilisie-rung der Straße setzt – stärker noch als 1989 und ausgehend von der Überle-gung, dass sich bei landesweiten Wahl-en gegensätzliche Klassenstandpunkte gegenüber stehen.

Seit Anfang der 90er Jahre gehörten Lula und seine Entourage zu denjeni-gen, die die PT am stärksten zur „Mä-ßigung“ und zur Aufweichung sozia-listischer Positionen drängten und im-mer engere Kontakte zu bürgerlichen Kreisen herzustellen versuchten. Die PT begann dadurch, ihren rebellischen Geist aufzugeben und sich zunehmend an das System anzupassen. Zuneh-mend machte sich neoliberales Gedan-kengut unter ihrer Führung breit. Mit jeder Wahl rückte die PT auf nationa-ler Ebene weiter nach rechts. Jede Nie-derlage bei den Präsidentschaftswahlen (außer 1989 und 1994 verlor Lula auch 1998) wurde so interpretiert, dass man auf dem Weg zur „Mäßigung“ und Ver-breiterung der Bündnisse noch nicht weit genug vorgeschritten sei.

Mit dieser politischen Entwicklung ging auch ein organisatorischer Wandel einher. Während die PT in ihren Anfän-gen darauf bedacht war, sich als Kader-

lula

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Brasilien

partei zu organisieren, setzte sich nun zunehmend das Konzept durch, die Partei ausschließlich um die Wahlen herum aufzubauen. Während der 90er Jahre begann man, Wahlkampagnen „professionell“ zu gestalten, d. h. vor-wiegend mit bezahlten Kräften anstatt mit freiwilligen Parteiaktivisten.

Allerdings verlief die Entwicklung in der Gesamtpartei sehr unterschied-lich, und der politische Differenzie-rungsprozess in der Partei spitzte sich erheblich zu. In den 90er Jahren gab es eine recht eindeutige Polarisierung zwischen der Linken und der Rechten in der Partei, besonders, als nach 1993 der alte Mehrheitsblock – Articulação – in die größere „Articulação Unidade na Luta“ um Lula und José Dirceu einer-seits und die „Articulação de Esquer-da“ andererseits zerfiel. Infolge dieser Spaltung bildete übrigens die „Articu-lação de Esquerda“ gemeinsam mit an-deren linken Strömungen, besonders der DS, vorübergehend (1993–1995) die Mehrheit in der nationalen Partei-führung. Diese linkere Mehrheit kam zustande, obwohl die Partei eine ihrer wichtigsten Strömungen – Convergên-cia Socialista – verloren hatte, die 1992 aus der PT ausgeschlossen wurde, mit der Begründung, dass sie das Statut über die Tendenzrechte in der Partei nicht akzeptiert habe, und obwohl ein Teil der Parteilinken nach 1989 nach rechts abgewandert war.

Der dezidiert rechte Parteiflügel trat mit der Gründung des „Campo Majo-ritário“ der PT 1995 nunmehr offen in Erscheinung. Nach und nach be-gann der Großteil dieses „Lagers“ und v.  a. seine Führung damit, seine sozi-alen Bindungen und politischen Be-zugspunkte neu zu gestalten: Je weiter sie sich dem Unternehmerlager annä-herten, desto mehr entfernten sie sich von sozialistischen Positionen. In der Vorbereitungsphase zum 2. Kongress der PT, 1999, versuchten sie bereits, den formalen Bezug auf den Sozialis-mus zu liquidieren (José Dirceu erklär-te den Sozialismus zum „Zombie, der der PT nachhängt“). Sie scheiterten zwar mit diesem Vorstoß, weil auch im „Campo Majoritário“ ihre Position in der Minderheit war, aber nichtsdesto-weniger identifizierte sich die Führung der Parteimehrheit zunehmend mit den Inhalten von „New Labour“ und drif-tete konsequenterweise in das neolibe-rale Lager ab.

Dem gegenüber entwickelten sich die Dinge im Lager der dezidiert linken Strömungen ganz anders. Auch diese Strömungen litten unter der internatio-nalen Krise der Linken und waren dem zunehmenden Druck der Institutionen ausgesetzt – aber nicht in gleicher Wei-se. Ein Teil von ihnen war – wie ge-sagt – nach rechts abgedriftet, aber die-jenigen, die bei der Stange blieben, wi-derstanden größtenteils dem Druck des Neoliberalismus und hielten an der so-zialistischen Ideologie fest. Mit der Gründung der Articulação de Esquer-da, 1993, schuf sich dieser Widerstand ein wichtiges Sprachrohr.

Auch wenn es einen ständigen Ab-wanderungsprozess aus dem linken La-ger hin zu rechteren Positionen seit An-fang der 90er Jahre gab, übte die PT-Linke weiterhin einen bemerkenswert starken Einfluss auf die politischen Po-sitionen der Partei aus. Während der „Encontros“ (Kongresse) 1995 und 1997 waren die Mehrheitsverhältnisse zwischen links und rechts unentschie-den. Und selbst innerhalb des „Cam-po Majoritário“ verlief die Entwick-lung sehr differenziert. Ein Gutteil die-ser Gruppierung hielt an der Oppositi-on zum Sozialliberalismus und am Be-zug auf den Sozialismus fest. Außer-dem zwangen die Verhältnisse unter der Regierung Cardoso mit der PT in der Opposition diese, sich vom Neoli-beralismus rundum abzugrenzen, wo-durch die laufenden internen Prozesse unter der Decke blieben.

Die entWicklung Der Ds in Den 80er Jahren

Die DS wurde 1979 aus einer Vereini-gung zweier Kadergruppen gegründet, die größere aus Minas Gerais, die an-dere aus Rio Grande do Sul. Dazu ka-men Genossen, die früher in der POC-Combate waren, die weiland der IMT der IV. Internationale angehört hatten. Zusammen waren es im ganzen Land 60 Aktive.

Die DS hatte damals bereits Verbin-dungen zur IV. Internationale – zwei Vertreter von ihr, Francisco Louçã und Socorro Ramirez, der später die IV. In-ternationale verlassen sollte, nahmen am Gründungskongress teil. Und vor ihrer offiziellen Gründung hatte die neue Organisation bereits einen Ver-treter als Beobachter auf den XI. Welt-kongress der IV. Internationale 1979

entsandt. Jedoch dauerte es bis 1984, bis der formale Aufnahmeantrag an die IV. Internationale gestellt wurde, und auf dem Weltkongress 1985 wurde sie als brasilianische Sektion anerkannt.

1981 schloss sich eine kleine aus der CS hervorgegangene Organisati-on mit der DS zusammen – oder bes-ser: ging in ihr auf – und die Organisa-tion gab sich den neuen Namen ORM-DS (Organização Revolucionária Mar-xista – Democracia Socialista). 1982 trat die FOT (die bereits CLTB, Comitê de Ligação dos Trotskistas Brasileiros hieß) der DS bei (Paulo Skromov hatte bereits zu diesem Zeitpunkt seine füh-rende Position in der PT aus der Grün-dungsphase nicht mehr inne und sollte die DS ein paar Jahre später verlassen).

Seit ihrer Gründung verfolgte die DS die Linie, ihren eigenen Organi-sationsaufbau mit dem der PT zu ver-binden. Insofern kann von Entrismus keinesfalls die Rede sein, sondern es ging um einen Organisationsaufbau auf zwei Ebenen: den der PT als unab-hängige Arbeiterpartei, was beinhalte-te, sie als Partei und nicht als „legale Frontorganisation“ o.ä. zu betrachten, und den der DS als Sektion der IV. In-ternationale und selbstverständlich als Teil der PT und nicht in Konkurrenz zu ihr. Wir haben die PT als eine Par-tei beschrieben, deren Zukunft offen war und die seit ihrer Gründung einen permanenten Tendenzkampf durch-lebte, dessen Ende nicht vorbestimmt war. Eine Umwandlung in eine revo-lutionäre Partei war durchaus möglich, aber eine solche Entwicklung hätte ei-nen Sieg der linkesten Strömungen in den politischen Linienkämpfen voraus-gesetzt. In der generellen Linie wurde diese Position erstmals eindeutig 1980 in einer Schrift mit dem Titel „O PT e o Partido Revolucionário no Brasil“ zu-sammengefasst.

Von Beginn an gab es enge Be-ziehungen zwischen der DS und der Führung der IV. Internationale. Außer Francisco Louçã, der mehrmals seit 1979 nach Brasilien kam, nahmen auch Daniel Bensaïd und Michael Löwy an vielen Debatten und Aktivitäten der DS teil, daneben andere Führer der IV. In-ternationale oder ihrer Sektionen. Mi-chael spielte bereits in der Grundsatz-diskussion während der Gründungs-phase der DS eine wichtige Rolle und Daniel war unter den nichtbrasilia-nischen Kadern der IV. Internationale

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Brasilien

derjenige, der zwischen 1980 und 1990 und später zwischen 2002 und 2004 am häufigsten in Brasilien zugegen war.

Zwischen 1980 und 1990 unter-nahm die IV. Internationale den Ver-such, sich stärker in Lateinamerika zu verankern und organisierte jährliche Treffen der Politbüros der lateinameri-kanischen Sektionen und entsandte au-ßerdem mehrere führende Vertreter in die dortigen Länder. Regelmäßig wa-ren dabei aus dem Büro der IV. Inter-nationale Daniel Bensaïd und Charles-André Udry vertreten. In diesem Rah-men entwickelten sich sehr enge Bezie-hungen zwischen der DS und der mexi-kanischen PRT, die in den 80er Jahren die stärkste Sektion der IV. in Lateina-merika darstellte.

Ein Meilenstein war die Konferenz der DS von 1988. Im Jahr davor hat-te der 5. Encontro Nacional der PT ein ziemlich linkes Programm und ein Re-gularium über die parteiinternen Ten-denzen (das die Existenz von Parteien innerhalb der Partei verbieten sollte) verabschiedet. Um diesen Regulari-en zu entsprechen, ersetzte die DS ihr altes Statut (das allein vom Namen her an eine Partei erinnerte) durch „grund-legende Normen“, die im Grunde den alten Regeln entsprachen. Zugleich än-derte sie ihren Namen in „Democracia Socialista“, entsprechend dem Grün-dungskongress; außer dass dieser Na-me für eine Strömung innerhalb ei-ner Partei angemessener ist, war er in der Praxis ohnehin die geläufigste Be-zeichnung.

Da die DS eine positive Bilanz aus der bisherigen Entwicklung der PT zog, entschieden wir, sie als eine „revolutio-näre Partei im Aufbau“ zu bezeichnen. Genossen aus der mexikanischen PRT, namentlich Sergio Ramírez, der inter-national der aktivste Kader der PRT-Führung war und die engsten Kontakte zu den Brasilianern hatte, legten uns nahe, die PT umstandslos als „revolu-tionäre Partei“ zu bezeichnen, um un-ser Engagement in der Partei eindeutig zu dokumentieren und zugleich unse-re Position nach außen hin offen zu ge-stalten. Bis dahin hatten wir die PT als eine „Arbeitermassenpartei“ oder als eine „unabhängige Arbeiterpartei“ be-zeichnet, aber nicht als eine „revolu-tionäre Partei“. Aus ihr hätte sich un-seres Erachtens eine revolutionäre Par-tei entwickeln können, sofern der Klas-senkampf in Brasilien und die Ausei-

nandersetzungen innerhalb der Par-tei sich günstig gestalteten. Insofern hielt die Führung der DS die Empfeh-lung unseres mexikanischen Genossen für übertrieben – zumal einflussreiche Teile der PT einschließlich ihres Mehr-heitsflügels in keiner Weise revolutio-när gesinnt waren – votierte aber für die Bezeichnung als „Revolutionäre Partei im Aufbau“, um zu unterstrei-chen, dass wir uns mit dem Aufbau der PT als solcher identifizierten.

Daniel Bensaïd, der auf der DS-Konferenz nicht zugegen war, hielt no-tabene diese Formel im Nachhinein für fragwürdig. Die Bezeichnung als „Re-volutionäre Partei im Aufbau“ hät-te wenig Aussagekraft und würde un-ser Engagement in der PT auch nicht nachdrücklicher hervorheben. Wiede-rum riskierten die Mitglieder der DS mit dieser Formel auf künftige Pro-bleme der PT nicht angemessen reagie-ren zu können, denn unsere Einschät-zung, dass sich die PT zu einer revo-lutionären Partei wandeln könnte, lässt auch eine gegenteilige Entwicklung of-fen.

Es ließe sich argumentieren, dass die Formel von der „Revolutionären Partei im Aufbau“ dazu angetan ist, sich ausschließlich auf die gegensätz-lichen Positionen innerhalb der Par-tei zu konzentrieren und dabei au-ßer Acht zu lassen, dass eine qualita-tive Änderung passieren muss, damit sich eine breite Klassenpartei in eine revolutionäre Partei im eigentlichen Sinn verwandelt. Mit anderen Worten würde dadurch der qualitative Sprung für nachrangig erklärt, der durch den Übergang einer Arbeiterpartei, die de-ren Interessen vertritt, zu einer Partei, deren raison d’être nicht nur der Kampf für eine andere (sozialistische) Gesell-schaft sondern auch der dafür notwen-dige revolutionäre Umsturz des kapita-listischen Staates ist. Diese Konzeption beinhaltet ein klares Verständnis von den Grenzen der bürgerlichen Institu-tionen und ihrem transformativen Po-tential, das in dieser Klarheit zu keiner Zeit von der PT als Ganzes geteilt wor-den ist.

Die DS hat sich in den Folgejahren ständig mit diesen Fragen befasst, eben weil wir von einer „Revolutionären Par-tei im Aufbau“ ausgingen. Diese ste-rile Formel geriet jedoch zum Selbst-zweck und wurde wirkungsmächtiger als die zugrundeliegenden Analysen.

Später wurde die Formel von der „Re-volutionären Partei im Aufbau“ aufge-geben, aber es gab weiterhin Konfusi-on um die Charakterisierung der PT als „Revolutionärer Partei“. Nicht weni-ge GenossInnen verfielen in den Glau-ben, dass ein Identitätskonflikt bezüg-lich der Mitgliedschaft in der DS (und folglich der IV. Internationale) und der in der PT ausgeschlossen sei.

Verstärkt wurde diese Konfusion dadurch, dass die Namensänderung in DS anstelle von ORM-DS und die Ver-abschiedung der „grundlegenden Nor-men“, die an das „Regularium über die parteiinternen Tendenzen“ der PT an-gepasst wurden, von vielen Mitglie-dern so interpretiert wurden, dass über eine formale Änderung hinaus ein in-haltlicher Wandel der DS stattgefun-den habe. Die Absicht der Verfasser der Resolutionen und der „grundlegenden Normen“, eine formale Änderung vor-zunehmen, ohne die inhaltlichen Be-ziehungen zwischen DS und PT neu zu definieren, wurde großteils missver-standen.

Als Ende der 80er Jahre der Rich-tungswechsel der PT einsetzte, zähl-te die DS ungefähr 1000 Mitglieder, wobei ihre Anhängerschaft in der Par-tei deutlich darüber hinausging und sie üblicherweise fast 10% der Dele-gierten bei den nationalen Encontros (Kongressen) stellte. Innerhalb der PT-Linken und der Partei insgesamt verfügte sie über beträchtlichen Ein-fluss und eine bedeutende soziale Ver-ankerung, besonders im Bundesstaat Rio Grande do Sul, während in Minas Gerais – ihrer Ausgangsbastion – der Aufbau der DS durch bewussten Orts-wechsel vieler Mitglieder in andere Bundesstaaten zurückgeworfen wur-de. Neben ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit in der CUT (Central Única dos Trabalhadores) war ihr Einfluss in der Studentenbewegung – ihrer wich-tigsten Ausgangsbasis – ungebrochen. Sie errang Abgeordnetenmandate wie bspw. mit der Wahl von Raul Pont in das Landes- (1986) und Bundesparla-ment (1990). Zugleich wurde die Or-ganisation eng und sogar zunehmend mit der IV. Internationale und ihren Positionen identifiziert. Die damalige Linksentwicklung der PT war sicher auch auf die Rolle der DS zurückzu-führen. Im Ganzen lässt sich sagen, dass die Linie, die DS als Sektion der IV. Internationale und zugleich die PT

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Brasilien

als Partei aufzubauen bis dahin erfolg-reich verlief.

Die Ds zWischen 1990 unD 2002

Auf der anderen Seite warf diese Li-nie ab 1990 (man kann auch sagen ab 1995) und somit bereits vor Lulas Wahl zum Präsidenten und dem Eintritt in seine Regierung ernsthafte Probleme auf, die parallel zu der Rechtsentwick-lung der PT und der zunehmenden An-passung an die Institutionen des bür-gerlichen Staates entstanden.

Die PT hatte allmählich wachsen-den Einfluss in diesen Institutionen er-langt – besonders ab 1988, wo sie Bür-germeistermandate in den Hauptstäd-ten dreier Bundesstaaten (São Pau-lo, Porto Alegre und Vitória) errungen und somit gezeigt hatte, dass es durch-aus gangbare Alternativen bei den Präsidentschaftswahlen gab. Hinzu kamen die internationale (auch ideo-logische) Krise der Linken nach 1989 und das Fortschreiten der neoliberalen Offensive. Auch wenn die Entwick-lung nicht linear verlaufen ist – es gab wie gesagt zwischen 1993 und 1995 eine linke Mehrheit in der PT-Führung – befand sich die PT seither und be-sonders nach 1994 auf dem Weg nach rechts.

Auch die Linke in der PT, beson-ders die DS, beteiligte sich zunehmend an den Strukturen des bürgerlichen Staates. In Rio Grande do Sul hatte nicht nur die DS ihren stärksten Ein-fluss auf bundesstaatlicher Ebene son-dern auch die PT ihre größte institu-tionelle Verankerung: Nach dem Bür-germeisteramt in Porto Alegre über-nahm sie ab 1998 auch die Landesre-gierung. Dies soll nicht heißen, dass die PT in Rio Grande do Sul rechts vom Rest der Partei gestanden hätte. Sie stand damals sogar im Gegenteil auf deren linkesten Flügel, was ne-ben dem Einfluss der DS auch auf das Gewicht der Articulação de Esquerda (die in diesem Bundesstaat die Mehr-heit der früheren Articulação mit sich gezogen hatte) zurückzuführen war. Seltsamerweise war die PT in diesem Bundesstaat die am stärksten instituti-onell verankerte und zugleich die lin-keste Sektion des Landes während der 90er und zu Beginn der 2000er Jahre.

Anfang 1994 lag Lula in den

Umfragen zur Präsidentschaftswahl für einige Monate vorn. Zwar wur-de die Frage einer Regierungsbetei-ligung der DS innerhalb der IV. In-ternationale nicht formal diskutiert, aber Ernest Mandel war besorgt da-rüber. Während einer internationalen Sitzung verwies er mich auf die Risi-ken, die mit einer solchen Regierun-gsbeteiligung einhergingen, zumal es sehr unwahrscheinlich sei, dass Lu-la an der Regierung eine linke Posi-tion einnehmen und auf Konfrontation mit der Bourgeoisie und dem Imperia-lismus gehen würde. Damals sah ich dies nicht so, denn die PT hatte zu der Zeit eine mehrheitlich linke Führung, an der die DS beteiligt war. In deren Führung herrschte die Ansicht, dass es durch Lulas Wahlsieg – auch gegen dessen ausdrücklichen Willen – zu ei-ner umfassenden Klassenkonfronta-tion kommen würde, sowohl was die allgemeine Situation im Lande als au-ch die innerparteilichen Positionen in der PT anging.

Mitte 1994 wurde klar, dass Lula nicht gewinnen würde und die Diskus-sion über eine mögliche Regierungs-beteiligung ebbte ab. Erst Ende 2002 lebte die Debatte wieder auf, diesmal unter deutlich ungünstigeren Kräfte-verhältnissen für die Linke.

Es gab in der IV. Internationale ei-ne weitere Diskussion über die brasili-anischen Präsidentschaftswahlen von 1994. In seinem Bericht (“Uma Nova Época Histórica”) auf einer Sitzung des Internationalen Exekutivkomi-tees (IEK) zur Vorbereitung des Welt-kongresses (WK) von 1995 wies Da-niel Bensaïd darauf hin, dass die PT die Wahlen von 1994 mit einem gemä-ßigteren Wahlprogramm bestritten ha-be als die chilenische Unidad popular, und zwar mit dem Einverständnis der Mitglieder der brasilianischen Sekti-on.

Es gab damals heftige Auseinan-dersezungen während des redaktionel-len Programmentwurfs, aber die Linke legte keinen Alternativvorschlag in der generellen Linie vor. Das vera-bschiedete Programm war ein Kom-promiss zwischen der Linken, die da-mals die Mehrheit in der Führung in-nehatte, und dem Flügel um Lula. Re-trospektiv war dies möglicherweise ein Fehler. Die Mehrheitsverhältnis-se in der PT-Führung zugunsten der Linken waren zeitweise trügerisch –

Lula hatte weiterhin einen dominie-renden politischen Einfluss in der Par-tei. Es ist müßig, darüber zu spekulie-ren, was im Falle eines Wahlsiegs von Lula passiert wäre, aber unsere dama-lige Zustimmung zum Programm trug sicher dazu bei, dass wir das damals schon bestehende Ausmaß der Diffe-renzen in der PT weniger klar sahen.

Natürlich muss dies alles im dama-ligen Kontext gesehen werden, zumal das Thema des o.g. Berichts von Dani-el Bensaïd genau der Auftakt einer für die Linke schwierigeren Zeit war, in der sie einer starken neoliberalen Of-fensive defensiv gegenüber stand.

Andererseits war der Bericht „Uma Nova Época Histórica“ damals ein Grundlagentext der DS. Mehre-re Texte von Daniel Bensaïd und Mi-chael Löwy wurden übersetzt und verbreitet und einige standen in dem Sammelband Marxismo, Moderni-dade e Utopia, herausgegeben von José Corrêa Leite (São Paulo, Edito-ra Xamã, 2000). Dieses Buch wurde zu einem zentralen Schulungstext der DS.

Viele Mitglieder der DS waren sich wenigstens seit Mitte der 90er Jah-re über das Ausmaß der Institutiona-lisierung und damit des Anpassungs-prozesses an die bürgerlichen Institu-tionen des brasilianischen Staates be-wusst. Ebenso wussten wir, dass die-ser Prozess auch die Parteilinke ein-schließlich der DS (die obendrein in den Institutionen inzwischen sehr ein-flussreich war) mittlerweile erreicht hatte. Zur Jahrtausendwende glaubten wir jedoch, dass der Druck durch einen neuen Internationalismus, dessen sicht-barster Ausdruck die Weltsozialforen waren, ausreichen würde, der Linken – und besonders der DS – wieder eine re-volutionäre Perspektive zu geben und den gefährlichen Anpassungskurs zu korrigieren. Daniel Bensaïd teilte mit anderen Mitgliedern der IV. Internati-onale diese Sichtweise, wie sich an der optimistischen Schilderung der Atmo-sphäre auf den Weltsozialforen in sei-nem Buch Une Lente Impatience erse-hen lässt.

Obwohl unsere damaligen Analy-sen einschließlich einiger Beiträge von führenden Mitgliedern der IV. Interna-tionale auf den besorgniserregenden Kurs der PT hinwiesen, haben wir un-ser Aufbaukonzept in keiner Weise ge-ändert.

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Brasilien

lulas Wahl unD Der Bruch Der Ds-mehrheit mit Der iV. internationale

Mit der Wahl Lulas zum Präsiden-ten Ende 2002 beschleunigten sich die Dinge. Zugleich gab es neue Anpas-sungstendenzen an die Logik der bür-gerlichen Institutionen seitens Lulas und der Mehrheit in der PT-Führung: die Wahl eines Großunternehmers zum Vizepräsidenten, Bestandsgarantien für „Verträge“ mit den „Märkten“ etc. Die PT-Linke und namentlich die DS wi-dersetzten sich dem – Heloísa Helena von der DS wurde 2002 zur Symbolfi-gur dieses Widerstands. Ihre Kandida-tur für das Gouverneursamt ihres Bun-desstaates Alagoas wurde von der nati-onalen Führung der PT abgelehnt, um so einem Bündnis mit der Liberalen Partei Platz zu machen.

Ende 2002 sollte sich rasch die Fra-ge nach den Beziehungen zwischen DS und der Lula-Regierung stellen, was Anlass zu größter Sorge unter der Führung der IV. Internationale und be-sonders bei Daniel Bensaïd war. Kurz nach der Bestätigung über Lulas Wahl-sieg rief er mich an, um mir seine Be-fürchtungen mitzuteilen (ich war sein Hauptansprechpartner in Brasilien). Ähnlich wie Ernest Mandel einige Jah-re zuvor wies er darauf hin, dass eine Regierung unter Lula wohl kaum Aus-einandersetzungen mit den herrschen-den Klassen anzetteln und tiefgreifen-de Reformen durchsetzen würde, was eine Regierungsbeteiligung der Lin-ken und besonders der DS rechtferti-gen würde. Während ich 1994 an die-sen Argumenten gezweifelt hatte, war dies 2002 nicht mehr der Fall. Ich ant-wortete vielmehr, dass die Regierung Lula meiner Meinung nach sogar noch schlimmer sei, als er gedacht habe, und dass ich komplett gegen eine Beteili-gung der DS an dieser Regierung sei, aber die Diskussion darüber in der DS sehr schwierig sei. Angesichts der ge-meinsamen Geschichte von DS und PT und dem mit Lulas Wahl entstandenem Klima war es absolut nicht einfach, ei-ne Regierungsbeteiligung abzulehnen.

In dem nachfolgenden Prozess wurden sowohl der revolutionäre Ge-halt der DS und ihre Beziehungen zur IV. Internationale als auch die Rol-le der IV. Internationale selbst als in-ternationaler revolutionärer Organisa-tion auf die Probe gestellt. In der IV.

Internationale gab es keinen interna-tionalen Zentralismus, und sie ergriff keine Position in den Fragen der na-tionalen politischen Orientierung. Sie gab nicht vor, eine „Weltpartei der Re-volution“ zu sein, wie dies die Kom-intern gewesen war und wie sie es in ihren Anfängen für sich selbst bean-sprucht hatte. Aber indem sie sich als eine internationale revolutionär-sozia-listische Organisation verstand, wenn auch strukturiert als Zentrum zum Ideen- und Informationsaustausch mit einem Netz von Sektionen, kam sie in diesem Fall nicht umhin, sich an der Diskussion über eine Frage mit in-ternationalen Weiterungen effektiv zu beteiligen. Eine Form von Beteili-gung ist, die Standpunkte und Beden-ken der verschiedenen Mitglieder zum Ausdruck zu bringen. Eine andere, die für Fragen von programmatischer Be-deutung gilt, ist, dass die internationa-len Instanzen Beschlüsse treffen, die von denjenigen abweichen, die von den Sektionen getroffen worden sind. Dies müssen die Sektionen verbreiten, auch wenn sie nicht zu deren Befol-gung verpflichtet sind.

Obwohl die von Heloísa Helena öf-fentlich eingenommene Position auf große Resonanz stieß und ein Teil ihrer Führung intern opponierte, beschloss die DS, sich an der Regierung zu be-teiligen. Allerdings gab es mit Rück-sicht auf die Einwände eine Art Kom-promiss: Die Beteiligung wurde an den „Richtungskampf“ der Regierung ge-knüpft und es wurde nachdrücklich be-stätigt, dass ein möglicher Bruch mit der Regierung optional bliebe. In den Folgemonaten gingen wir verschiedene Kompromisse mit der Führung ein, um den Diskussionsrahmen und die DS als solche so weit als möglich aufrecht zu erhalten. Vom Standpunkt des linken DS-Flügels, der am stärksten gegen die Regierungsbeteiligung opponierte, waren dies Kompromisse insofern ge-rechtfertigt, als wir davon ausgingen, dass der Gang der Ereignisse den Cha-rakter der Regierung Lula deutlicher zutage treten lassen würde.

Im Januar 2003 trafen sich viele Mitglieder der IV. Internationale in Porto Alegre auf dem WSF, darunter Daniel Bensaïd. In seinem ausführ-lichen Bericht von den damaligen Dis-kussionen schreibt er:

„Die Stimmung auf dem dritten WSF im Januar 2003 war spürbar an-

ders als 2002. Die PT hatte die Wahl-en in Rio Grande do Sul als amtieren-de Regierung verloren, während Lula mit über 60% der Stimmen zum Prä-sidenten gewählt worden war. Nach 20 gar nicht so langen Jahren hat es der Metallarbeiter aus São Bernardo zum ersten Arbeiterpräsidenten Lateiname-rikas gebracht. Sein Sieg war der Tri-umph der PT, die Ende der 70er Jah-re aus dem Nichts entstanden ist. Und zum Teil war es auch unser Sieg. Die neue Regierung war eine Koalitions-regierung, in der die PT zwar domi-nierte, deren Partner jedoch als Brems-klotz wirkten und in eine andere Rich-tung strebten. (…) Unser Genosse Mi-guel Rossetto übernahm das schwere Amt des Ministers für Agrarentwick-lung mit einem Landwirtschaftsmini-ster an der Seite, der aus den Reihen der Großgrundbesitzer stammte.

Unser Aufenthalt diente im Wesent-lichen dazu, uns mit unseren brasilia-nischen GenossInnen zu treffen, die zugleich auch erstmals seit der Regie-rungsbildung zusammentrafen. Man-che standen noch immer unter der – verständlichen – Euphorie des Wahl-sieges, der jedoch ambivalent und vol-ler Widersprüche war. Während die so-zialen Proteste in den Städten seit zehn Jahren eher verhalten waren und die PT beunruhigende Rückschläge wie die Niederlage in Rio Grande do Sul hinnehmen musste, hatte Lula mühe-los mit einer stark persönlichkeitsbezo-genen Wahlkampagne gewonnen, was vor allem an den Abnutzungserschei-nungen der bürgerlichen Parteien lag. Um Verbündeten und den Märkten ent-gegen zu kommen hatte er eine mode-rate Kampagne geführt, dem IWF vo-rauseilenden Gehorsam versichert und eine unternehmerfreundliche Equipe zusammengestellt. Dennoch wollten einige GenossInnen in der Regierung unbedingt eine Art Institution der Dop-pelmacht sehen, in der die Wirtschafts- und Finanzministerien unter liberalem Einfluss und dem gegenüber die sozia-len Ministerien für Agrarreform, Städ-tebau und Umwelt standen. Eine Re-gierung also mit zwei Gestalten und zwei Seelen?

Nach noch nicht einmal einem Jahr wurde klar, wie zwischen diesen bei-den Seelen das Kräfteverhältnis be-stellt war.“ („Une Lente Impatience“, S. 317-318).

Im Weiteren ging Daniel insbeson-

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Brasilien

dere auf den wuchtvollen Auftritt von Heloísa Helena in der Diskussion ein.

Kurz nach dem WSF ging die De-batte um die Regierung Lula auf dem WK der IV. Internationale im Februar 2003 weiter. Die brasilianischen Dele-gierten hatten mehrheitlich eine kriti-schere Position als die DS im Gesamt-en. Unter den fünf Delegierten war au-ßer mir und Heloísa Helena noch Lu-izianne Lins, die damals Abgeordne-te im Bundesstaat Ceará war und mit ihren dortigen GenossInnen zum lin-ken Flügel der DS gehörte. Nach ih-rer Wahl zur Bürgermeisterin von For-taleza im Oktober 2004 sollte sie übri-gens von ihren dezidiert linken Positi-onen abrücken, obwohl ihre Kandida-tur gegen die PT-Mehrheit und sogar gegen die DS-Mehrheit durchgesetzt worden war, um der DS-Linken einen Stand zu verschaffen. Wir kamen mit den übrigen Delegierten überein, auf dem Kongress nicht über für und wider der DS-Beteiligung an der Regierung Lula zu diskutieren sondern zu versu-chen, die ganzen Widrigkeiten dieser Frage auszuleuchten und zu unterstrei-chen, dass diese Beteiligung an Bedin-gungen geknüpft sei und jederzeit be-endet werden könne.

Daniel Bensaïd war damals in der Führung der IV. Internationale (der er informell zugehörte, ohne Mitglied der Leitungsorgane zu sein) derjenige, der am stärksten in die Brasilien-Debat-te involviert war. Auf den Plenarsit-zungen des Kongresses äußerte er sich nicht zu diesem Punkt, aber in einem persönlichen Gespräch teilte er mir mit, dass sich die DS allem Anschein nach spalten würde. Natürlich war ich mit ihm einer Meinung und hatte nicht die geringsten Zweifel daran. Aber ich glaubte, dass es durchaus möglich wä-re, dass die Gegner der Regierungs-beteiligung bei dieser Spaltung in der Mehrheit wären. Schließlich war die Regierung Lula eine offen bürgerliche Regierung, die sich von den traditio-nellen Positionen der PT abkehrte, was in den Folgemonaten immer deutlicher zum Vorschein kam. Und die DS hat-te seit jeher die Position, dass eine re-volutionär-marxistische Strömung auf keinen Fall an einer bürgerlichen Re-gierung teilhaben dürfe – eine Position, die in den Diskussionen der IV. Inter-nationale noch an Nachdruck gewann.

Daniel reiste 2003 noch zweimal nach Brasilien, u.a. um an dem Kon-

gress der DS Ende des Jahres teilzu-nehmen. Daneben verfasste er für Rou-ge einen wichtigen Beitrag mit dem Ti-tel „La peur triomphe sur l’espérance“ (2.10.2003), der umgehend ins Portu-giesische übersetzt und in Brasilien verbreitet wurde. Der bezeichnende Ti-tel – zu Deutsch: „Die Angst besiegt die Hoffnung“ – war die Umkehrung einer der Hauptparolen in Lulas Wahlkampf: „Die Hoffnung besiegt die Angst“. Der Artikel ging schonungslos mit der Re-gierung ins Gericht und auch mit der PT-Führung, die von ihren Abgeord-neten „Abstimmungsdisziplin“ bei der Rentenreform verlangte.

„Der Zweck dieser Disziplinierung, die zu Lasten des Pluralismus als einem der wichtigsten Güter der PT geht, liegt auf der Hand: die Partei muss sich ent-scheiden, ob sie als politisches Sprach-rohr der sozialen Bewegungen oder als Transmissionsriemen der Regierungs-maßnahmen in der Gesellschaft fungie-ren will. Auf dem Spiel steht hier die Zukunft als „Klassenpartei“, die aus ei-ner massiven Radikalisierung der sozi-alen Kämpfe seit Ende der 70er Jahre heraus entstanden ist.

Die Umwandlung der PT in eine Partei des „dritten Weges“ als brasili-anische Variante von „New Labour“ wird in den kommenden Monaten er-hebliche Widerstände unter den tradi-tionellen Anhängern der PT hervorru-fen, zumal die Regierungspolitik selbst einen erheblichen Disziplinbruch in Hinblick auf die Kongressresolutionen vom Dezember 2001 darstellt.“

Der Artikel wurde natürlich zur Un-terstützung des linken DS-Flügels ge-schrieben, obgleich sich Daniel be-mühte, den Dialog mit der Gesamtor-ganisation aufrecht zu erhalten.

Zugleich erging von mehreren Sek-tionen der IV. Internationale ein in-ternationaler Appell gegen den Aus-schluss von Heloísa Helena und ande-ren PT-Parlamentariern.

Im November 2003 fand der Kon-gress der DS statt. Die dort verabs-chiedete Resolution war noch ziemli-ch weit linksstehend. Daniel Bensaïd sprach als Vertreter der IV. Internatio-nale erst am Schluss der Konferenz. Er machte keinen Hehl aus seiner Opposi-tion gegen die Regierungsbeteiligung, was natürlich bei einem Teil der Dele-gierten nicht gut ankam.

Im Dezember schloss die PT-Füh-rung Heloísa Helena und drei Land-

tagsabgeordnete aus der Partei aus, ob-wohl es eine breite Gegenbewegung gegen diese Ausschlüsse gab. Darauf-hin gründeten diese Abgeordneten ge-meinsam mit anderen Gruppierungen, die sich aus der PT zurückgezogen hat-ten, sowie einzelnen Aktivisten ver-schiedener politischer Provenienz die Bewegung für die Bildung einer an-deren Partei (aus der dann die PSoL – Partido Socialismo e Liberdade her-vorging).

Am 27. Januar 2004 verfasste Dani-el Bensaïd gemeinsam mit dem eben-falls in der Brasiliendebatte stark en-gagierten Francisco Louçã einen Brief an zwei Leitungsmitglieder der DS, der nach Belieben auch anderen Leitungs-mitgliedern zur Kenntnis gegeben wer-den konnte. Neben dem ausdrücklichen Protest gegen den Ausschluss von He-loísa – nunmehr auch – aus der DS ging der Brief auf grundlegende strate-gische Probleme ein:• die Bilanz der Regierung Lula und

ihre Perspektiven• die wirtschafts-, sozial- und außen-

politischen Grundprinzipien einer politischen Alternative zu dieser ne-oliberalen, rückwärtsgewandten Re-gierung im Rahmen der nationalen und internationalen Kräfteverhält-nisse

• das Festhalten an der vom Kongress beschlossenen programmatischen und organisatorischen Orientierung der DS als Brückenpfeiler einer lin-ken Alternative zur Regierungspoli-tik.

Im weiteren heißt es: „Sofern die DS über diese Probleme keine klare Li-nie erzielt, wird sie orientierungslos den politischen Ereignissen hinter-her schwimmen und darauf beschränkt sein, die Politik der Regierung Lula in impressionistischer Weise zu kommen-tieren, statt innerhalb der PT eine klare oppositionelle Orientierung zu entwi-ckeln. Ansonsten bleibt das Ziel einer unabhängigen und organisatorisch ge-stärkten DS (wie auf der Delegierten-konferenz beschlossen) leeres Gerede. (…) Ich hoffe, dass eine Katastrophe noch abgewendet werden kann.“

Im Februar 2004 nahm Daniel Ben-saïd im Rahmen einer neuerlichen Bra-silienreise an einer Leitungssitzung der DS teil. Inzwischen war der Spaltungs-prozess der DS bereits irreversibel ge-worden und sollte sich noch über die

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Brasilien

kommenden Monate hinweg erstrecken.Dennoch gab es einen weiteren Ver-

such seitens der Führung der IV. Inter-nationale, diese Debatte positiv zu be-einflussen und einen gemeinsamen Rahmen der dortigen Sektion auf-recht zu erhalten. Im Januar 2005 ver-fassten Daniel Bensaïd, Michael Löwy und Francisco Louçã einen weiteren Brief an die brasilianischen Genossen. Das Thema war vorwiegend dasselbe – die Bilanz der Regierung Lula und der zwingend erforderliche Regierungs-austritt – aber die Argumentation ging mehr ins Detail. Daneben wurde vorge-schlagen, dass angesichts der weit vor-geschrittenen Spaltung der DS beide Teile der brasilianischen Sektion ihre Beziehungen mit der IV. Internationale aufrecht erhalten sollten, da für die dor-tigen Mitglieder nicht bloß eine einzige Linie gültig sein könne. Stattdessen sollen : „die Genossen, die dies wollen, zum Aufbau der PSoL beitragen, ohne dabei in die Fallstricke eines Linksra-dikalismus zu geraten (…); der Dialog zwischen den linken PT-Strömungen und kleinen unabhängigen Organisa-tionen wie der PSoL hergestellt wer-den. Dadurch könnte sich die kritische Linke in und außerhalb der PT gegen-seitig ergänzen und die jeweiligen tak-tischen Entscheidungen respektieren statt einander zu attackieren. Dies be-trifft namentlich die Genossen unserer Strömung: sie haben sich unterschied-lich entschieden und folgen daher mo-mentan einer unterschiedlichen Dyna-mik, aber trotzdem dürfen sie nicht ei-nander die Tür zuschlagen und eine ge-meinsame Perspektive verlieren.“

Dieser Vorschlag setzte voraus, dass die DS-Mehrheit eine Position ein-nimmt, die ihre Beziehungen zur Re-gierung Lula und der PT sehr proble-matisch gestalten würde und für sie nur akzeptabel wäre, wenn sie ernsthaft an der Option festhielte, unter Uänden mit der Regierung Lula zu brechen und am Aufbau einer neuen Partei (der PSoL) mitzuwirken.

Der Brief der drei Genossen wurde unter den Mitgliedern der DS auf dem WSF im Januar 2005 verteilt., aber nur durch Mitglieder, die der Regierungs-beteiligung kritisch gegenüber standen. Die Mehrheit der DS wollte ihn nicht nur nicht diskutieren, sondern sich nicht einmal auf eine Diskussion mit den beiden eigens zu diesem Zweck angereisten Vertretern der Leitung der

IV. Internationale – François Sabado und Olivier Besancenot – einlassen.

Die Position der drei Unterzeichner dieses Briefes wurde durch eine Re-solution des Internationalen Komitees

(IK) der IV. Internationale von 27. Fe-bruar 2005 unterstützt. In dieser Reso-lution, in die Mehrheitsposition der DS erstmals ausdrücklich kritisiert wurde, heißt es:

„1. Die Erfahrung der vergangenen 2 Jahre mit der Lula-Regierung offenba-rt klar das Wesen, die Orientierung und die Politik dieser Regierung. Es ist eine Koalitionsregierung mit Vertretern des Kapitals und abhängig von der Rech-ten im Parlament. Diese Regierung be-treibt eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik und ist somit nicht in der Lage, die grundlegenden Probleme der Armut und der sozialen Ausgrenzung in Brasilien anzupacken und dem Imperi-alismus die Stirn zu bieten. Diese zwei

Jahre zeigen auch, dass die innere Dy-namik ihrer Politik nicht geändert wer-den kann. (…)

3. Unter diesen Bedingungen steht eine Politik der Erfüllung von Forde-

rungen der breiten Massen – Lohnan-hebungen, Schaffung von Millionen von Arbeitsplätzen, Verteidigung des Öffentlichen Dienstes, umfassende Agrarreform, Haushalts- und Finanz-politik, die sich an den sozialen Prio-ritäten und nicht an den Finanzmärkten ausrichtet – im Widerspruch zur Lula-Regierung.

4. Angesichts der allgemeinen Ori-entierung der Regierung bilden die lin-ken Minister nur ein Feigenblatt bzw. werden zu Geiseln einer Politik, die nicht die ihre ist. Diese zwei Jahre der Erfahrung mit dieser Regierung zeigen sehr klar, dass der Aufbau eines antili-beralen und antikapitalistischen politi-schen und gesellschaftlichen Blocks im

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Brasilien

Widerspruch zur Beteiligung an dieser Regierung steht.

5. Von Beginn an seit Lulas Regie-rungsbildung gab es in der IV.  Inter-nationale Vorbehalte, Zweifel und Wi-derspruch zur Beteiligung der DS an der Regierung sowie an den konkreten Umständen dieser Beteiligung (Rol-le in den sozialen Bewegungen). Den-noch hat die Internationale – nachdem die DS einmal diese Entscheidung ge-troffen hatte und die Internationale die von der Mehrheit der brasilianischen GenossInnen vorgetragenen Argu-mente berücksichtigt hatte – sich ent-schlossen, am Beginn dieses Prozesses keine Resolution zu verfassen und die Erfahrungen der brasilianischen Ge-nossInnen zu begleiten. Auf der letz-ten Sitzung des Internationalen Komi-tees hat die Internationale mit der Ein-richtung eines internationalen Diskus-sionsbulletins zur politischen Lage in Brasilien einen Diskussionsprozess er-öffnet. Die Internationale hat es somit vermieden, die Frage der Beteiligung an der Regierung mit dogmatischen Formeln anzugehen und die besonde-ren Charakteristika des Landes, der Geschichte der PT und ihrer Verbin-dungen mit den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften zu ignorieren. Angesichts der Erfahrung dieser zwei Jahre und angesichts der oben darge-legten Punkte (1 bis 4) kann kein Zwei-fel darin bestehen, dass eine Beteili-gung an der Regierung Lula, sei es auf Ministerebene, sei es an anderer Stelle mit politischer Verantwortung, im Wi-derspruch zum Aufbau einer Alterna-tive von unten steht, die sich in Über-einstimmung mit unseren programma-tischen Positionen befindet.“

Zudem verabschiedete das IK am 1. März 2005 einen Antrag, in dem die generelle Linie des Briefes von Daniel, Francisco und Michael bestätigt wur-de.

Die DS-Mehrheit weigerte sich, in ihren Reihen diese Positionen organi-siert zu diskutieren. Im April fand eine weitere Konferenz statt, an der sich die Kader, die bereits im Aufbau der PSoL engagiert waren, schon nicht mehr be-teiligten. Dabei wurde als indirekte Antwort auf die IV. Internationale eine Resolution mit dem recht zweischnei-digen Titel „Der Internationalismus des 21. Jahrhunderts“ verabschiedet, die realiter einer Distanzierung von der IV. Internationale gleichkam.

Eine Minderheit unter den Konfe-renzteilnehmern lehnte es ab, in der Regierung Lula und der PT zu bleiben und identifizierte sich weiterhin mit der IV. Internationale. Einige Monate spä-ter brachen diese Genossen mit der PT und beteiligten sich größtenteils ge-meinsam mit anderen Parteiflügeln, die im September 2005 die PT verließen, am Aufbau der PSoL.

Damit ging eine Epoche der IV. Internationale in Brasilien, für die die DS und der Aufbau der PT stand, zu Ende und eine neue begann, näm-lich die Reorganisation, Umgruppie-rung und sogar Wiederaufbau der sozi-alistischen Linken Brasiliens nach dem Rückschlag durch die Regierung Lu-la. Die IV. Internationale trug entschei-dend dazu bei, dass diese neue Etap-pe der brasilianischen Sektion und der IV. Internationale unter den bestmög-lichen Umständen beginnen konnte, obwohl diese Bedingungen sich letzt-lich als schwieriger erweisen sollten, als 2004/5 angenommen.

Bilanz

Nachdem wir uns lange Zeit beim Auf-bau der DS als revolutionärer Orga-nisation und der PT als Arbeitermas-senpartei engagiert hatten, müssen wir eingestehen, dass wir mit der Regie-rungsbildung unter Lula einen schwe-ren Rückschlag erlitten haben. Die PT hatte aufgehört, eine unabhängige Par-tei der brasilianischen Arbeiterklasse zu sein und war zu einem Transmissi-onsriemen von Regierung und Staat geworden. Was waren die Gründe, aus denen der größere Teil der brasiliani-schen Sektion der IV. Internationale mit ihr gebrochen hatte?

Wenn man diese Frage unter einem anderen Aspekt bedenkt, hatte sich die Mehrheit der Organisation, die in pro-grammatischer Übereinstimmung mit der IV. Internationale entstanden war und vielfältige unmittelbare Bindungen zu ihr hatte und deren politische Schu-lung u.a. auf zahlreichen Schriften und Resolutionen aus den Reihen der IV. Internationale beruhte, sich an ei-ner Regierung beteiligt, die sich in kei-ner Weise mit sozialistischen Zielset-zungen identifizierte.

Die DS hatte nach Angaben der da-maligen Konferenz Ende 2003 unge-fähr 2000 Mitglieder. Etwas mehr als 500 von ihnen gehörten Gliederungen

an, die weiterhin mit der IV. Internatio-nale verbunden waren und die PT zwi-schen 2004 und 2005 verlassen hatten. Etwa drei Viertel der Mitglieder blie-ben in der PT. Dabei gab es ein regional sehr unterschiedliches Verteilungsmu-ster. In Rio Grande do Sul, wo etwa die Hälfte der Mitglieder lebte und wo ei-ne besonders starke Einbindung in par-lamentarische Institutionen und Struk-turen innerhalb Gewerkschaft und Par-tei bestand, verblieben etwa 90% in der PT. In den anderen Bundesstaaten lag dieser Prozentsatz bei etwa 60% und in einigen verließ die Mehrheit der DS die PT.

Von den etwa 500 Mitgliedern, die mit der PT gebrochen hatten, quittierte nahezu die Hälfte ihre organisierte po-litische Betätigung oder organisierte sich zumindest nicht in der PSoL oder aber traten kurz darauf aus. Nach den Wahlen von 2006, bei denen wir unse-re beiden Abgeordnetenmandate verlo-ren, kamen weitere Verluste hinzu: Ver-einzelte Genossen gingen wieder zur PT zurück (besonders in Ceará, wo Lu-izianne Lins die Kommunalwahlen ge-wonnen hatte) oder engagierten sich nach ihrem Austritt aus der PSoL und Enlace (der Strömung der PSoL, in der die Mitglieder der IV. Internationale organisiert waren) in den sozialen Be-wegungen.

Die Reorganisation der brasilia-nischen Sektion der IV. Internationa-le ging also deutlich schwächer vo-ran, als wir uns es erhofft hatten und bspw. auch Daniel, der in seinem 2004 erschienenen Buch Une Lente Impa-tience von einem deutlich stärkeren Zu-sammenhalt der revolutionären Kräfte in der DS ausgegangen war, während er zugleich eine endgültige und negati-ve Bilanz der Regierung Lula vorgelegt hatte. Wie viele von uns überschätzte er die Tendenz innerhalb der DS, mit der Regierung Lula zu brechen.

Wenn wir erörtern, warum nicht mehr Mitglieder der DS mit der PT ge-brochen haben, gehen wir davon aus, dass diejenigen, die in der Regierung geblieben sind, unrecht hatten und dass eine sozialistische Revolution erforder-lich und auch möglich ist.

Ein Teil der Erklärung liegt sicher-lich in der generellen Entwicklung der Klassenkämpfe und den Folgen der ne-oliberalen Offensive für die Linke – die sog. objektiven Faktoren. Zunächst ein-mal bedeutete der Aufbau einer ande-

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Brasilien

ren Partei, dass man nicht mehr den po-litischen Aktions- und Einflussrahmen, den die PT bot, zur Verfügung hatte. Damit waren die Voraussetzungen für einen Neubeginn schwierig. Außerdem konnten die Regierung und Lula nach erheblichen Rückschlägen 2003/2004 und – mehr noch – mit der Krise des „mensalão“1 2005, ab 2006 ihren Ein-fluss unter der Bevölkerung und den or-ganisierten Bewegungen wiedergewin-nen und ausbauen, indem sie ein Pro-gramm für soziale Beihilfemaßnahmen auflegten und auf einen wirtschaftli-chen Aufschwung bauen konnten.

Von zentraler Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass die DS damals etliche hundert Mitglieder hat-te, die als bezahlte Funktionäre für die Partei oder die CUT oder in Partei-na-hen Institutionen tätig waren und ab 2003 auch in der Landesregierung. Be-sonders galt dies für Rio Grande do Sul, wo fast die Hälfte der DS-Mit-glieder lebte. Wenn es an sich schon schwer ist, nicht der Attraktion einer Regierungsbeteiligung und den Zwän-gen der Machtausübung zu erliegen, so galt dies erst recht für die DS un-ter den konkreten Umständen 2003 bis 2006. Ein beredtes Beispiel hierfür ist der Werdegang von Luizianne Lins und Teilen der DS-Mitglieder in Ceará, die sich nach deren Wahl zur Bürgermei-sterin von Fortaleza von scheinbar ent-schlossenen Verfechtern eines Austritts aus der PT um 180 Grad zu Anwälten einer armseligen Realpolitik gewandelt haben.

Allerdings haben auch wir, die wir mit der PT gebrochen hatten, Fehler in der Zeit nach Lulas Wahlsieg und während der internen Auseinander-setzungen in der PT und der DS be-gangen. Aber wenn man eine Bilanz aus den Plänen der IV. Internationale, eine starke revolutionäre Organisation in Brasilien aufzubauen und zum Auf-bau einer revolutionären Massenpartei beizutragen, ziehen will, befasst man sich am sinnvollsten mit unseren Pro-blemen aus der Zeit davor, die gegen Ende 2002 dazu geführt haben, dass wir noch nicht einmal ansatzweise auf eine derart komplexe Situation vorbe-reitet waren, wie sie durch Lulas Wahl-sieg für die PT-Linke entstanden ist.

Innerhalb der Leitung der DS war bereits mehrfach darüber diskutiert worden, ob ein Bruch mit der PT mög-lich wäre. In den Kongressbeschlüssen

der DS tauchten regelmäßig Formulie-rungen auf wie: „Teile der PT sind für ein revolutionäres Projekt nicht emp-fänglich“. Tatsache aber ist, dass für viele Mitglieder der DS ein Bruch mit

der PT schwer vorstellbar war und dass selbst die DS-Führung teilweise die Diskussion kaum nachvollziehen konn-te. Andere wiederum waren schlicht-weg nicht bereit, sich den Mühen eines organisatorischen Neubeginns zu un-terziehen und unter schlechteren mate-riellen Bedingungen Politik zu betrei-ben geschweige denn persönliche ma-terielle Einbußen in Kauf zu nehmen.

Einen der Fehler, die wir zweifels-ohne begangen hatten, hat Daniel Ben-saïd benannt, als er die Formel „revo-lutionäre Partei im Aufbau“ kritisierte: eine übermäßige Identifikation mit der PT und eine Unterschätzung der künf-tigen Probleme. Diese Unterschätzung hielt sogar noch in der zweiten Hälf-te der 90er Jahre an, als die PT nach und nach ihren linken Radikalismus der frühen Jahre ablegte. Ein weiteres Problem war das Fehlen einer eindeu-tigeren Analyse über die Weiterungen einer Regierungsbeteiligung im Rah-men des bürgerlichen Staates.

So haben wir bspw. niemals in der Gesamtorganisation der DS eine Bi-lanz aus den ganzen Erfahrungen, die die DS selbst bei ihren Regierungs-beteiligungen auf kommunaler (v.a. in Porto Alegre, aber auch in anderen

Städten) oder regionaler Ebene (in Rio Grande do Sul, zeitweise aber auch in anderen Bundesstaaten) gemacht hat, gezogen. Einzelne Aspekte dieser Er-fahrungen wurden zwar diskutiert, wie

bspw. die Beteiligung der Bevölkerung und besonders die „partizipative Haus-haltspolitik“, aber eine umfassende Bi-lanz unterblieb. Zum Teil lag dies auch an der fehlenden Zeit: Unsere Regie-rungsbeteiligung in Rio Grande do Sul, wo die DS sehr einflussreich war, ende-te 2002, just als Lula zum Präsidenten gewählt wurde.

Ein anderes Problem, dem wir uns in der DS nie ernsthaft gestellt haben, war die Finanzierung der Wahlkampa-gnen, obwohl dies natürlich von zen-traler Bedeutung war. Bereits sehr früh-zeitig wurden die Kampagnen der PT auch aus Unternehmensabgaben finan-ziert. Außerdem verfügten wir seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre und ein-deutiger noch seit 2001/2002 (als zwei Bürgermeister der PT unter noch heu-te unklaren Umständen ermordet wur-den) über etliche Hinweise, dass in den von der PT regierten Kommunen auf recht unorthodoxe Weise2 Gelder ein-getrieben wurden.

Eine andere Herangehensweise an diese Frage wäre, von einer dop-pelten Identität der DS-Mitglieder bis 2003/2004 auszugehen: der der PT und der der IV. Internationale. Letzte-re umfasste die revolutionäre und so-

landlose – enttäuschte hoffnungen

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Brasilien

zialistische Identität im allgemeineren Sinn und entsprach den revolutionären und sozialistischen Überzeugungen der DS-Mitglieder. Dies bedeutete für uns, dass unser politischer Kampf aus einem

ethisch-politischen Engagement he-raus geführt wurde, das über die All-tagsprobleme hinausging. Mit der zeit-weise gültigen Formel einer „revolutio-nären Partei im Aufbau“ und der unzu-reichenden Problematisierung der Ent-wicklung der PT geriet in Vergessen-heit, dass diese beiden Identitäten mit-einander in Konflikt geraten könnten. Entgegen der Annahme vieler Genos-sInnen konnte die Vereinbarkeit beider Identitäten nicht als dauerhafte Errun-genschaft angesehen werden.

Und als diese beiden Identitäten mit Lulas Regierungsbildung in deutlichen Gegensatz zueinander gerieten, konn-te sich die Identität als PT-Mitglied auf soziale und materielle Vorteile in je-der Hinsicht stützen, denen man nur mit einem deutlich stärkeren revoluti-onären Bewusstsein hätte widerstehen können. Dies wiederum hätte vorausge-setzt, dass man dies Bewusstsein zuvor geschärft und gestärkt hätte, indem die zunehmende Limitierung der PT ver-deutlicht und die Erfahrungen mit de-ren Regierungspolitik sorgfältiger ana-lysiert worden wären.

Mit diesen Überlegungen soll frei-lich nicht infrage gestellt werden, dass der Aufbau der PT berechtigt war und dass wir zumindest bis zur Wahlkampa-gne 1989 in der generellen Linie richtig

lagen. Bis dahin nämlich war nicht nur die PT eine eindeutig linke Partei mit einer positiven Entwicklungstendenz, sondern entwickelte sich auch die DS innerhalb der PT und konnte sich auf-

bauen. Vielmehr soll kritisiert werden, dass die Linie aus den Anfängen der 80er Jahre im Wesentlichen unverän-dert während der 90er Jahre beibehalten wurde, sogar noch nach der Wahlnie-derlage von 1994, als die Vorstellungen Auftrieb bekamen, dass man breitere Bündnisse anstreben und die Partei mä-ßigen müsse, um den „Widerstand der herrschenden Klasse gegen die PT zu reduzieren“.

Auch wenn eine Linie noch so gut ist, kann eine sie nicht auf Ewigkeit bei-behalten werden. In seinem Buch Une Lente Impatience schrieb Daniel, dass nach 1989 ein grundlegender Wandel eingetreten sei. „Die Schockwelle der 80er Jahre dort unten (d. h. in Latein-amerika) war keine Einbildung. Mehr-fach sah es so aus, als würde die nica-raguanische Revolution auf Guatema-la und El Salvador übergreifen. Es gab Volksaufstände in Bolivien und San-to Domingo. (…) Dieser Elan wurde gebrochen. Nach zehn Jahren Krieg in Mittelamerika markierte die zweifache Wahlniederlage – der Sandinisten in Nicaragua und von Lula bei den Präsi-dentschaftswahlen – den Schlusspunkt dieser vielversprechenden Ära.“ (Une Lente Impatience, S. 296).

In Brasilien vollendete sich 1994 mit der zweiten Niederlage Lulas bei

den Präsidentschaftswahlen der 1989 begonnene Konjunkturwandel. Die ne-oliberale Offensive war in großem Um-fang zugange und Lula und seine An-hänger in der PT wurden in erster Linie von der Sorge umgetrieben, maßzuhal-ten und den Widerstand der herrschen-den Klassen zu reduzieren. Zu diesem Zeitpunkt hätte man die politische Li-nie revidieren und v.a. den Optimismus der vorhergehenden Periode korrigieren müssen.

Mit dieser Analyse der brasilia-nischen Erfahrung beim Aufbau der Sektion der IV. Internationale inner-halb der PT soll nicht infrage gestellt werden, dass der Aufbau „breiter Par-teien“ – die durchaus sehr unterschied-lich sein können – unter bestimmten Bedingungen als politische Linie be-rechtigt ist. Aber es soll der Blick da-für geschärft werden, dass die konkrete Situation genauestens berücksichti-gt werden muss und dass man v.a. die beiden Ebenen der Aufbauarbeit ausei-nander halten und gegenseitig abstim-men muss. Außerdem muss man sich der Bedeutung der beiden Identitäten bewusst sein, die miteinander konfligie-ren können, wie dies in Brasilien pas-siert ist, als die „breite Partei“ schließ-lich sehr breit geworden und dann auch an die Regierung gelangt ist, als die so-zialen Mobilisierungen im Abwärtst-rend lagen.

Dieser Text basiert auf einem schriftlichen Bei-trag für das Seminar zum Gedenken an Daniel Bensaïd, das im Januar im Institut International de Recherche et de Formation (IIRE) in Ams-terdam stattfand. Aber nicht deswegen wurde die Beteiligung von Daniel Bensaïd an den Dis-kussionen in der DS hervorgehoben, sondern weil seine Präsenz besonders in der letzten Pe-riode prägend war.

Übersetzung: MiWe

1 Skandal um monatliche „Abschlagszah-lungen“, die als Bestechungsgelder in großem Umfang von der Regierung und der PT an die Parlamentsabgeordneten der Regierungsmehr-heit und sogar der Opposition geflossen sind, um sich somit Stimmen zu erkaufen.

2 Die plausibelsten Erklärungen zu diesen beiden Morden an den Bürgermeistern von Campinas und Santo André lauten, dass sie Pläne zu un-terbinden oder einzudämmen versucht haben, Gelder bei Unternehmen zu requirieren, die für die Kommunen tätig waren. Diese Annahmen werden von den Familien der beiden Ermor-deten gestützt und von der PT-Führung bestrit-ten. Bis heute sind die Untersuchungen hierü-ber noch nicht abgeschlossen.

heloísa helena

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Nachruf

NachrufGerry foley – ein Leben für die sozialistische revolutionJeff Mackler

Wenige Revolutionäre in der Vergan-genheit oder Gegenwart haben ihr ge-samtes erwachsenes Leben als Haupt-amtliche der sozialistischen Revolution gewidmet. Gerry Foley gehörte zu die-sen wenigen. Am 21. April ist er in San Cristóbal de las Casas in den Bergen von Chiapas, dem ärmsten Staat von Mexiko, unerwartet gestorben.

Gerry verbrachte 50 Jahre mit dem Kampf für die Befreiung der Mensch-heit von jeder Form kapitalistischer Barbarei, Unterdrückung und Ausbeu-tung, nicht weit weg von Armutslöh-nen. Er tat es mit einem Zwinkern im Auge und einer Leidenschaft für alles Menschliche, und er hat jeden Augen-blick tief genossen.

Gerry war dreiundsiebzig. Er starb wenig mehr als eine Woche nach dem Umzug von seiner Wohnung in Mérida, wo er sich halb zur Ruhe gesetzt hat-te, nach San Cristóbal, vielleicht we-gen der Erschöpfung nach dem Trans-port seiner enormen Sammlung von Büchern in sein neu gemietetes Haus. Sein Freund Pete, der zu dieser Zeit vor Ort war, hat uns erzählt, dass Gerry ge-rade eine Veranstaltung in dem groß-en Gemeinschaftsbereich seines Wohn-komplexes verlassen hatte, wo er mit einigen jungen Leuten gesprochen hat-te. Er kehrte ganz kurzatmig in seine Wohnung zurück, wo er sofort auf den Boden fiel und einige Minuten danach starb, wahrscheinlich an einer Herzat-tacke.

Gerry gehörte zu den aktivsten und talentiertesten Genossen von Socialist Action. Diejenigen, die ihn kannten, werden sich sofort an seine Großzügig-keit, die Tiefe seines Wissens und sei-ner Analysen, die Brillanz seiner Dar-stellungen, die Liebe zum Leben in all seiner Verschiedenheit und seine dau-erhafte Freundschaft erinnern.

Gerry konnte nicht nur Texte in rund 90 Sprachen lesen, er sprach über ein Dutzend fließend und diente oft, immer wenn seine Kenntnisse gefragt

waren, als Übersetzer. Die ungewöhn-liche Leichtigkeit, mit denen er Spra-chen beherrschte, ging mit einem tie-fen Verständnis der Geschichte und der Kultur jeder Nationalität dieser Sprachen einher. Bücher waren Ger-rys einziger teurer Besitz. Er hatte eine

Sammlung von vielleicht 10  000, die von Kalifornien über Alabama bis Me-xiko verstreut sind.

Gerry, der fließend Gälisch sprach, gehört ziemlich sicher zu den Revo-lutionärInnen, die sich in irischer Ge-schichte und Politik am besten aus-kennen. Der irische Befreiungskampf, egal welche Rückschläge es gab, war in seinem Bewusstsein immer präsent. Vielleicht bringen in Sachen Sozialis-mus die Worte des bekannten irischen Marxisten und Republikaners James Connolly, der zu seinen Helden zähl-te, 100 Jahre später Gerrys Credo pas-send zum Ausdruck. Connolly bemerk-te: „Eine wirkliche sozialistische Be-wegung kann nur aus dem Kampf ent-

stehen, aus der kompromisslosen Be-kräftigung des Vertrauens in uns. Ei-ne solche Bewegung sammelt in sich unfehlbar jedes Element der Rebelli-on und des Fortschritts, und inmitten des Sturms und der Anstrengung des Kampfes festigt sie sich zu einer wirk-

lichen revolutionären Kraft.“ Mit sei-nen eigenen Worten hat Gerry vielfach ähnliche Empfindungen zum Ausdruck gebracht.

Gerry hat über ein Jahr in Irland verbracht, wo er mit den irischen Ge-nossInnen arbeitete, darunter Berna-dette Devlin McAliskey, die leiden-schaftliche nordirische sozialistische Führungsperson und jüngste Frau, die je in das britische Parlament gewählt worden ist. Als professioneller Journa-list, der für die internationale trotzkis-tische Presse arbeitete, bediente sich Gerry seiner Einblicke in die irische Politik, um die revolutionäre Politik einer Generation politischer Aktivi-stInnen zu prägen.

Gerry Foley

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Nachruf

Jahrzehnte später, 1997 übernahm Gerry den Vorsitz des in San Francis-co angesiedelten Komitees für die Frei-lassung von Roisin McAliskey, Berna-dettes Tochter, die von den britischen Behörden ins Gefängnis geworfen und gefoltert wurde, als sie und ihre Unter-stützerInnen auf der ganzen Welt ein von der deutschen Regierung initiiertes Auslieferungsbegehren scheitern lie-ßen, bei dem es um an den Haaren her-beigezogenen Beschuldigungen ging, sie sei an terroristischen Aktivitäten beteiligt. Roisin, die damals schwan-ger war, gewann schließlich ihre Frei-heit, aber erst nachdem sie gezwun-genermaßen ihr Baby, während sie in Ketten lag, in einer schmutzigen bri-tischen Gefängniseinrichtung zur Welt gebracht hatte. Bernadette, die eini-ge Jahrzehnte vorher, als sie die „Keys to San Francisco“ (die ihr aus Aner-kennung ihrer Mitgliedschaft im bri-tischen Parlament von dem Board of Supervisors von San Francisco verlie-hen worden waren) der Black Panther Party übergeben hatte, bei US-ameri-kanischen AktivistInnen für die Befrei-ung der Schwarzen großen Respekt ge-wonnen hatte, war zusammen mit Ger-ry bei Massenkundgebungen zur Ver-teidigung ihrer Tochter aufgetreten.

Während seiner Reden über buch-stäblich jedes Thema traten Gerry oft Tränen in die Augen, wenn er in seinen Gedankengang einen Bezug auf Irland einflocht. Der irische Kampf für Selbst-bestimmung, der längste in der Welt-geschichte, der seit 700 Jahren andau-ert und immer noch nicht abgeschlos-sen ist, war in Gerrys Bewusstsein fest verankert. Und wenn man ihm die Gele-genheit gab, hat Gerry über jedes bedeu-tende Ereignis dieser 700 Jahre erzählt.

Niemand war Gerry in Bezug auf sein tiefes Verständnis der nationalen Frage – des Kampfs der unterdrückten Völker und Nationen um Selbstbestim-mung, Würde und Freiheit – ebenbür-tig. Er setzte sich für alle unterdrückten Völker ein und verachtete ihre Unter-drücker mit großer Leidenschaft.

Gerrys Artikel sind in sozialis-tischen Zeitungen rund um die Welt er-schienen. Wir werden bald eine Liste mit vielen davon veröffentlichen. Sei-ne Einstellung und Hingabe an die so-zialistische Revolution und den Auf-bau der leninistischen Partei, das In-strument, das Voraussetzung ist, um sie herbeizuführen, lebt in unserer Partei

und ihren GenossInnen. In seinem hal-ben Ruhestand blieb Gerry Ehrenmit-glied des Politischen Komitees von So-cialist Action, oft fand er Zeit, um über Skype an seinen Beratungen teilzuneh-men und gelegentlich eine Aufgabe zu übernehmen. Er hoffte, im August an der Nationalen Konferenz von Socia-list Action teilnehmen zu können.

Wie Gerry TroTzkisT Wurde

Nachdem Gerry einen Abschluss von der American University in Washing-ton, D.C. hatte, begann er im Herbst 1960 ein Aufbaustudium an dem Rus-sian and East European Institute an der Indiana University. Dort traf er den Mit-studenten George Shriver, der von einer trotzkistischen Position aus über politi-sche Fragen diskutierte. George und El-len Shriver waren ebenfalls im Herbst 1960 aus der Gegend von Boston, wo sie im gleichen Jahr Gründungsmitglie-der der Young Socialist Alliance (YSA) gewesen waren, an die Indiana Univer-sity gekommen. Die YSA war die mit der Socialist Workers Party (SWP), der damaligen Hauptorganisation der trotz-kistischen Bewegung in den Vereinig-ten Staaten, solidarische Jugendgrup-pe. Infolge von gemeinsamer Arbeit mit George, Ellen und anderen TrotzkistIn-nen zur Verteidigung der kubanischen Revolution schloss Gerry sich der trotz-kistischen Bewegung an.

Nachdem George, Ellen und Ger-ry die Indiana University verlassen hatten, blieb dort eine starke Abtei-lung der YSA bestehen. Als die Abtei-lung den Nationalen Organisationsse-kretär LeRoy McCrae einlud, um über den Befreiungskampf der Schwarzen zu sprechen, sah Thomas Hoadley, ein mccarthyistischer Staatsanwalt in Indi-ana, eine Gelegenheit, um ein obskures und reaktionäres, antikommunistisches Gesetz anzuwenden. Drei YSA-Mit-glieder auf dem Campus wurden wegen „Verschwörung zum gewaltsamen Um-sturz des Staates Indiana“ angeklagt. Gerry nahm aktiv an den wichtigen Be-mühungen zu ihrer Verteidigung teil, die bald zu einer erfolgreichen natio-nalen Kampagne für die „Bloomington Three“ Ralph Levitt, Tom Morgan und Jim Bingham wurde. Nach jahrelangen Bemühungen von YSA und SWP wur-de das Gesetz für verfassungswidrig erklärt, ein bedeutender Bürgerrechts-sieg für die gesamte sozialistische Be-

wegung und für alle, die die Bedeutung von breiten Verteidigungskampagnen für Opfer kapitalistischer Verfolgung verstanden.

Gerry verteidigte politische Gefan-gene in den USA und überall auf der Welt. Er war immer unter den ersten, die Aufrufe zur Verteidigung von Op-fern des Kapitalismus unterzeichneten, und arbeitete oft in Verteidigungskomi-tees mit. In San Francisco war er füh-rend in der Verteidigung von iranischen politischen Gefangenen und nahm an der Verteidigung von Mumia Abu-Ja-mal teil.

Im Herbst 1962 ging Gerry an die University of Wisconsin in Madison. Dort war er ein Aktivist in dem „Fair Play for Cuba“-Kommittee, das von SWP und YSA initiiert worden war. Kurz darauf, im Oktober 1962, führte die kubanische Raketenkrise zur Be-drohung durch einen weltweiten Atom-krieg, als die Kennedy-Administrati-on die US-Flotte gegen sowjetische Schiffe entsandte, die mit Atomraketen nach Kuba unterwegs waren. Die Ku-banerInnen, die im April 1961 eine von den USA geförderte Invasion an der Schweinebucht niedergeschlagen hat-ten, bemühten sich um die russischen Raketen als Sicherheit gegen eine wei-tere derartige Invasion.

Gerry war aktiv in der Verteidigung Kubas, verkaufte The Militant, die Zei-tung der SWP, und unterstützte das Recht Kubas, sich gegen imperialis-tische Angriffe zu verteidigen. Er trug zur Gründung einer Abteilung der YSA in Madison bei. Bald zog er nach New York um, trat der SWP bei, arbeite-te für kurze Zeit als Sozialarbeiter und wurde Mitglied der kämpferischen So-zialarbeitergewerkschaft. „Nach den Standards der Stadt lag ich nicht gut“, hat Gerry mir damals gesagt, „weil es, wie ich es gesehen habe, meine Aufga-be war, um all die restriktiven bürokra-tischen Provisionen herumzukommen und sicherzustellen, dass alle meine Klienten Sozialfürsorge erhalten, und zwar den möglichen Maximalbetrag.“

Ein paar Jahre darauf bewarb Gerry sich auf eine Stelle als Übersetzer bei den Vereinten Nationen. Er füllte ei-nen Antrag aus, in dem nach den Na-men und der Anzahl der Sprachen ge-fragt wurde, die er übersetzen konn-te. Er nannte 25. Später fragte sein un-gläubiger Interviewer, was er denn mit 2,5 Sprachen meine. Gerry antwortete,

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Nachruf

die Zahl sei 25, worauf der Intervie-wer umgehend eine Schar von Sprach-expertInnen aus verschiedenen UN-Abteilungen holen ließ, um Gerrys Be-hauptung überprüfen zu lassen. Gerry kam leicht durch und war überrascht, dass ihm die Stelle sofort angeboten wurde, allerdings unter einer Bedin-gung: Die UN hatten eine Regel, nach der jeder Mitgliedsstaat das Recht hat-te, Einwände gegen die eigenen Staats-bürger zu erheben, bevor ihre Bewer-bungen angenommen werden konnten.

Gerry wurde schließlich darüber unterrichtet, dass die US-Regierung ein Veto gegen seine Bewerbung ein-gelegt hatte. Aber der empörte Mitar-beiter der UN, der Gerry hierüber in-formierte, legte dem UN-Brief mit der Ablehnung heimlich seine unzensier-te FBI-Akte bei. Gerry erzählte mir, dass darin buchstäblich jedes YSA- und SWP-Treffen verzeichnet war, das er besucht hatte, jede Verantwortung, die er in der Partei übernommen hat-te, jede öffentliche Veranstaltung, an der er teilgenommen hatte, und Namen und Anschrift von jedem Vermieter. So wurde Gerry in diesen Tagen vor dem Freedom of Information Act und noch in der McCarthy-Ära zufällig vielleicht zum ersten US-Amerikaner, der seine nicht-gesäuberte FBI-Akte zu Gesicht bekam. Hierauf war er stolz.

revoluTionärer Journa-lisT

Gerry wurde bald zu einem hauptamt-lichen Mitarbeiter der SWP und arbei-tete unter der Leitung von Joseph Han-sen an der Produktion von Interconti-nental Press, einer der besten revoluti-onären Wochenzeitungen auf der Welt. Hansen, einer der Sekretäre von Leo Trotzki während seines Exils in Mexi-ko, brachte Gerry nahe, dass es unbe-dingt notwendig ist, akkurat zu berich-ten, genau zu recherchieren, Quellen zu überprüfen und klar und sorgfältig zu formulieren, um die damalige revo-lutionäre Politik der SWP zu erklären. Damals war Intercontinental Press ei-ne offizielle Veröffentlichung der Vier-ten Internationale, der internationa-len revolutionär-sozialistischen Orga-nisation, mit der die SWP solidarische Beziehungen unterhielt. Eine formelle Mitgliedschaft war durch reaktionäre US-Gesetzgebung verhindert, wie das heute bei Socialist Action der Fall ist.

Gerry blieb etwa 17 Jahre lang hauptamtlicher Mitarbeiter der SWP und schrieb für alle ihre Veröffentli-chungen, seine Artikel wurden oft von Sektionen der IV. Internationale nach-gedruckt. Seine journalistischen Auf-gaben führten ihn nach Portugal, wo er über die Revolution von 1974/75 berichtete, durch die die Salazar-Dik-tatur gestürzt wurde. Er reiste auch in den Iran, als der von den USA ge-stützte und installierte Schah von einer revolutionären Welle weggeschwemmt und die Tür für sozialistische Trans-formation immer weiter geöffnet wur-de. In beiden Fällen und überall sonst, wo Gerrys Wissen, seine Berichte und Sprachkenntnisse ihn hinbrachten, oft in abgelegene Orte, arbeitete Gerry mit den Gruppierungen der IV. Internatio-nale zusammen, die in diesen Mobili-sierungen aktiv waren.

Gerry verließ die SWP 1980 und nahm die Tätigkeit für International Viewpoint auf, die neue Zeitschrift der IV. Internationale. Sein Ausscheiden aus der SWP, die ihn nachträglich aus-schloss, ging auf seine Opposition ge-gen die bürokratischen und kultartigen Praktiken des Nationalen Sekretärs der SWP Jack Barnes zurück, der zusam-men mit einem willfährigen „leader-ship team“ die Preisgabe ihres trotzkis-tischen Erbes durch die SWP in Szene setzte. Damit ging der Ausschluss von Hunderten der engagiertesten Genos-sInnen einher, darunter vielen, die 1938 die SWP mitgegründet hatten. Viele von diesen GenossInnen bildeten bald da-rauf Socialist Action.

Als er in Paris lebte, war Gerry Au-tor, Übersetzer und oft Sprecher bei Konferenzen von Sektionen der IV. In-ternationale. Er verfasste Hunderte von Artikeln, in denen er über wichtige Er-eignisse in der Weltpolitik berichtete, und trat der französischen Sektion der IV. Internationale bei, der Ligue Com-muniste Révolutionnaire.

Ab Ende der 1980er Jahre schrieb Gerry, der die slawischen und ande-re osteuropäische Sprachen beherrsch-te und sich sehr für die Massenbewe-gungen in der UdSSR und Osteuropa interessierte, die die stalinistische Herr-schaft in Frage stellten, zahlreiche Ar-tikel, die große Einsicht in die revolu-tionären Entwicklungen in diesen Län-dern lieferte, insbesondere den wich-tigen Kampf der unterdrückten Natio-nalitäten der UdSSR.

Gerrys Einschätzung der Bedeu-tung dieser Entwicklung traf sich mit der von Socialist Action. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gab es die reale und unmittelbare Möglichkeit, trotz-kistische Parteien in Osteuropa und in der zerfallenden UdSSR aufzubau-en. Er unterstützte die Bemühungen von Socialist Action, trotzkistische De-legationen nach Osteuropa und in die UdSSR zu schicken, und unsere Bei-träge zum Aufbau einer trotzkistischen Partei in Polen einschließlich der Über-setzung einiger wichtiger Schriften von Trotzki ins Polnische.

In den 90er Jahren kehrte Gerry in die USA zurück, um als internationaler Redakteur unserer Zeitung zu arbeiten. Typisch für Gerry war allerdings, dass er, bevor er bei International Viewpoint ausschied, darauf bestand, dass wir sei-

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Nachruf

nem Vorschlag zustimmten, dass er drei Wochen lang Ungarn besuchte, da-mit er „die Sprache lernen“ und die Er-eignissen in diesem Land besser verfol-gen konnte.

Als er in die USA zurückkam, wur-de Gerry sofort in das Politische Komi-tee von Socialist Action kooptiert, wo sein Wissen über Osteuropa und die neuen Ereignisse in der UdSSR sehr viel zu der tiefreichenden Berichterstat-tung in unserer Presse beitrug. Die Be-richterstattung über revolutionäre Ent-wicklungen in Osteuropa, Lateiname-rika und Irland war bemerkenswert im Hinblick auf Einzelheiten und die Ana-lyse. Oft kam sie aus Quellen erster Hand oder von direkt an den Ereignis-sen Beteiligten.

Gerry übernahm gern Aufgaben überall auf der Welt. Zur Beobachtung der Rebellion der Zapatistas in Mexi-ko besuchte er San Cristóbal, Ocosingo und andere Ortschaften, die die Zapati-stas zeitweise besetzt hatten, um aus er-ster Hand etwas über ihren Einfluss zu erfahren und ihre RepräsentantInnen zu treffen.

Ein Ereignis im Zusammenhang mit der Rebellion der Zapatistas, das ein Schlaglicht auf Gerrys Willen wirft, in

direkte Verbindung zu den Menschen zu treten, deren Kampf er sich zu eigen machte, geht mir durch den Kopf. Ich besuchte San Cristóbal, um zu versu-chen, Zapatistas zu treffen und ihre Ver-handlungen mit der mexikanischen Re-gierung zu beobachten, durch die ihr er-ster Aufstand 1994 zeitweise beendet wurde. Bevor ich nach Mexiko abfuhr, bat Gerry mich, ihm ein Wörterbuch der Sprache der Indigenas mitzubringen. Damals war solch eine Bemühung das letzte, was ich im Sinn hatte. Aber zu-fällig ging während einer Pressekonfe-renz nach den Verhandlungen ein Stra-ßenverkäufer mit solch einem Wörter-buch durch die Gänge und ich gedachte es nach San Francisco mitzubringen, um Gerry mit meiner Fähigkeit zu über-raschen, seiner im Wesentlichen exzent-rischen Anfrage nachzukommen.

Mit einem fröhlichen Lachen über-reichte ich Gerry bei meiner Rückkehr das Wörterbuch. Nach einem kurzen Blick in das Buch sagte Gerry mit einer winzigen Spur von Geringschätzigkeit: „Das ist ein Tzotzil-Wörterbuch. Ich muss mit der wichtigsten indigenen Ur-sprache anfangen, mit Nahuatl. Das hier wird mir nicht viel nützen.“ Unnach-ahmlich Gerry! Ich bin sicher, dass Ge-

nossInnen, die ihn gekannt haben, Tau-sende von ähnlichen Anekdoten parat haben, die für Gerrys großartige Exzen-trik bezeichnend sind.

Gerry Foley hat mit dem Leben von RevolutionärInnen rund um die Welt zu tun gehabt, darunter GenossInnen von anderen sozialistischen Strömungen, die unsere Politik, unser Programm und unsere Traditionen nicht teilen. Socia-list Action hat Trauerbezeugungen von vielen GenossInnen außerhalb unserer Bewegung erhalten, die Meinungsver-schiedenheiten zu wichtigen politi-schen Fragen mit uns haben mögen, die aber Gerrys Sorgfalt bei der Dar-stellung unserer Ideen respektiert und von dem Material profitiert haben, das nur aufgrund seines Könnens und sei-ner Erfahrungen zur Verfügung gestellt werden konnte.

Gerry war einzigartig. Ihn gekannt zu haben, hieß, auf unzählige Weisen bereichert zu werden. Er lebt in un-seren Taten und unserem Engagement für die revolutionäre Sache und das Programm, für das er sein Leben lang eingetreten ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Friedrich Dorn