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Ironie: das klassische Prinzip in der Kunst - · PDF fileD’Alemberts, Eulers und Lagranges bei ihren Angriffen auf Leibniz – sie werden dafür in Gauß’ Schrift aus dem Jahr

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Der Begriff der „Idee“ ist inzwischen praktisch seines ei-gentlichen Sinns völlig entleert worden. Streng klas-sisch beschränkt sich die Verwendung des Begriffs

„Idee“ auf Gedanken über universelle Naturprinzipien oder überklassische künstlerischen Konzepte, die entsprechend dieses be-grifflichen Maßstabs hervorgebracht wurden. Bei der heute inLehre und Praxis vorherrschenden Methode findet man etwas,was man treffend als Mansch-Faktor (Einheitsbrei) bezeichnenkann – wobei dies für die sog. Naturwissenschaft, insbesondereder Mathematik, sogar noch weitaus schlimmer zutrifft als beider Definition von Gesetzen künstlerischer Komposition. Derverstorbene Brite C.P. Snow bezeichnete dies zutreffend als Kri-se der „zwei Kulturen“ in der neuzeitlichen europäischen Zivili-sation – als Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst. BeideSeiten der Professionen sind daran schuld; die Folgen für die Bil-dung sind schwerwiegend, und die moralischen Auswirkungenwaren bisweilen katastrophal. Ich verwende hier den Begriff„Idee“ in seiner richtigen, strengsten Bedeutung für beide Berei-che.

Typisch für das erwähnte „Manschen“ ist die MethodeD’Alemberts, Eulers und Lagranges bei ihren Angriffen aufLeibniz – sie werden dafür in Gauß’ Schrift aus dem Jahr 1799über den Fundamentalsatz der Algebra völlig zurecht angegrif-fen. Unter Geltendmachung einfacher algebraischer Methodenwischten sie mit einem lässigen Handstreich die Tatsache eineswesentlichen ontologischen Unterschieds zwischen bloßer Alge-bra und einem Thema physikalischer Geometrie, wie z.B. derontologische, geometrische Unterschied zwischen Punkt, Linie,Körper usw., vom Tisch. Empiristen wie sie und andere, ähnlich

Gesinnte, verwenden an Stelle wirklicher wissenschaftlicherPrinzipien eine reduktionistische Vorstellung von Mechanik, ge-nau wie es Euler und Lagrange getan haben. Mit anderen Wor-ten, sie begingen vorsätzlich einen simplen Betrug, gleich demder Anhänger von Rameau und Fux gegenüber dem Werk vonJ.S. Bach und seinen Nachfolgern. Heute ist ein methodologi-scher Betrug derselben Art im Bereich der Komposition undAufführung von Dichtung und klassischem Drama weithin,wenn auch glücklicherweise nicht überall verbreitet.

Ich will nun Ihre Aufmerksamkeit auf ein Problem lenken:den Begriff der klassischen Ironie, einem wesentlichen Prinzipklassischer Dichtkunst. Eine Idee, die eng verbunden mit demKonzept eines wirkenden universellen Naturgesetzes ist undihren Ausdruck auch in der klassischen Musik findet.

Anhand der Betrachtung von vier Shakespeare Dramen wol-len wir den Gedanken genauer zu fassen versuchen: Julius Cäsarund drei dramatische Behandlungen von Stoffen, die nicht reinhistorischen, sondern legendären Gesellschaften entsprechen:König Lear, Macbeth und Hamlet. Bei der ersten von Shakespearedargestellten Gesellschaft handelt es sich um eine wahrheits-gemäße Nachbildung der moralisch dekadenten Kultur des al-ten Rom. Die Kulturen der anderen drei Gesellschaften, welcheShakespeare darstellt, sind auch verkommen, offen gesagt sogarziemlich verrückt. Dabei geht es darum, die betreffende Kulturin jedem wahren historischen (Julius Cäsars Rom) oder legen-dären Fall historisch treffend darzustellen.

Damit sind wir in einem Bereich angelangt, der reich mit klas-sischen Formen von Ironie durchdrungen ist.

Die Bühnensprache ist die von Shakespeares England, aberdiese Sprache wird zur Vermittlung einer antiken Kultur ver-wendet, die mit Shakespeares Englisch nicht übereinstimmt. BeiJulius Cäsar muß die verkommene Seele des wahren Roms derdamaligen Zeit in englischer Sprache ausgedrückt werden, seinwahrer Charakter an jenem Ort und zu jener Zeit. Ironie! DasPrinzip ist dieselbe historisch genau treffende Darstellung, dieShakespeare in seinem Bericht über Herrschaft und Fall der ve-nezianisch-normannischen Tyrannei in Englands Geschichte imMittelalter vermitteln wollte, diesmal angewandt auf diesen hi-storischen Fall und keinen anderen. Ironie!

Unfähige Leute, etwa Romantiker oder Modernisten, werdendiese Dramen als kostümierte Handlung auf die Bühne bringen,die nicht dem gegebenen geschichtlichen Rahmen entspricht,sondern ein kaum verhüllter Ausdruck der zeitgenössischen eng-lischsprachigen Kultur ist. Was den Unterschied ausmacht, wirddeutlich an Schillers Abfassung seines Gedichtes Die Kraniche

Ironie: das klassische Prinzip in der Kunst

Von Lyndon LaRouche

Hamlet-Aufführung

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des Ibykus. Schiller unternahm dafür ziemlich umfassende Vor-arbeiten, an denen Goethe, Wilhelm von Humboldt und ande-re beteiligt waren. Worum es ging, war das reichlich ironischeGefühl der Sprache und Atmosphäre des wahren Korinth zuIbykus’ Lebenszeiten zu vermitteln – aber eben in SchillersDeutsch. Eine Fülle an Ironie!

Für das Publikum ist es entscheidend von Vorteil, wenn diebeabsichtigte historische Genauigkeit getreu erarbeitet wird, sowie es Schiller bei seiner Komposition der Kraniche des Ibykustat. Das ruft ein unheimliches, ironisches Gefühl hervor, wie esangemessene Inszenierungen jedes dieser Dramen tun werden.

Wie Schiller betont: Der Mann von der Straße sollte das Thea-ter in einem anderen Zustand verlassen als jenem, mit dem erwenige Stunden vorher das Theater betrat. Eine solche Wirkungwird nicht durch weinerliche moralische Erbauung erzielt. DieWirkung rührt daher, daß der Bürger der Geschichte sozusagenüber die Schulter blickt. Einer Geschichte, welche anders ist alsseine eigene Lebenserfahrung zu seiner Zeit und an seinem Ort.„Warum haben die nicht gemerkt, wie verkommen ihre Kulturwar? Könnte ich heute etwas gegen tragische Irrtümer in meinereigenen Gesellschaft tun? Wie dumm müßte ich sein, wenn ichnicht meine eigene Kultur so betrachten könnte, wie die imTheaterstück dargestellte Kultur, deren Verrücktheit offensicht-lich war?“ Ironie! Er wird nicht so närrisch sein, zu versuchen,von der Kultur auf der Bühne ein Prinzip für seine eigene Kul-tur abzuleiten.

Die Leidenschaft des Bürgers sollte nicht mit der Idee ange-regt werden, daß man die Geschichte der Kultur, die auf derBühne daherstolzierte, verändern oder von ihr moralische An-leitungen ableiten kann, sondern er soll entsprechende Einsich-ten in die qualitativ anderen geschichtlichen Besonderheiten sei-ner eigenen Kultur entwickeln. Nur ein närrischer, absonderli-cher Mann würde auf der Bühne oder im wahren Leben so tun,als sei er schwanger. Ironie!

Wir alle sind Teil einer langen Geschichte – der europäischenGeschichte. Die Erde ist nicht flach wie eine Scheibe, und ge-nausowenig ist es irgendein bedeutsamer Abschnitt der Kulturin der Geschichte. Die Kultur eines jedes Ortes und innerhalbeiner bestimmten historischen Periode besitzt bestimmte dyna-mische Eigenschaften, in sich und bezogen auf Unterschiede zuallen längeren Abschnitten der Geschichte. Auf diese Unter-schiede – Ironien! – sollte der Schriftsteller und der Regisseur sei-ne Aufmerksamkeit lenken. Der fähige Schriftsteller muß, wieFriedrich Schiller angibt, vor allem ein Historiker ganz be-stimmter Art sein. Jedes klassische Drama muß eine Reise desGeistes in eine bestimmte Zeit und an einen bestimmten Ort inder Geschichte sein, so als besuchte man ein Land, wo man iro-nischerweise nicht die eigene Sprache spricht, und wo die Ge-wohnheiten des gesellschaftlichen Austauschs ironisch anderssind. Dieser Sinn für die Geschichte aus der Sicht dieser ironi-schen bewußten Erfahrung der unterschiedlichen Qualität derZusammensetzung von Kulturen, von Gesellschaften, ja vonaufeinanderfolgenden Generationen derselben Gesellschaft –wie es das Beispiel des kulturellen Konflikts zwischen der „68er-Generation“ und jungen Erwachsenen im Studentenalter heute

zeigt – ist immer mit ein Gegenstand der Aufgabe des klassi-schen Theaters im allgemeinen.

Das bringt uns zur nächsten zu berücksichtigenden Ebene.Der Romantiker oder Existentialist, der während der Auf-führung im Publikum sitzt, bildet sich in seiner simplen Denk-weise ein, er beobachte als Teil des Publikums das Verhalten aufder Bühne und reagiere auf das, was er erlebt – tatsächlich sind esAutor, Regisseur und Schauspieler, die ironisch die Zuschauer beob-achten und Schlußfolgerungen über das erwartete und tatsächlicheVerhalten dieses Publikums wie auch über sich selbst ziehen. Allesist Ironie ! Ich erläutere:

Die Umlaufbahn der Planeten ist nicht kreisförmig, sondernelliptisch. Fermat wies nach, daß der Weg der geringsten Wir-kung nicht derjenige der kürzesten Entfernung ist, sondern der-jenige der kürzesten, schnellsten Zeit. Huyghens dachte, dieserWeg sei durch das Zykloid definiert – aber Leibniz und Ber-nouilli wiesen nach, daß es das von der Kettenlinie definiertePrinzip des Leibnizschen Kalkulus war, das Prinzip der allge-meinen geringsten Wirkung.

Alle großen Autoren, Regisseure und Schauspieler der klassi-schen Kunst in Theater und Dichtung gehen von nichts weni-ger aus als davon, vor allem anderen das unsterbliche Wesen deserfahrenen, lebenden menschlichen Individuums und seinerGattung anzudeuten. Ironie ! Im Andeuten selbst liegt eineontologische Aktualität und zwar in dem Sinne wie Riemannversucht, das richtige metaphysische Verständnis des Begriffsvon Dirichlets Prinzip darzustellen, oder so wie er dies in seinemWerk zu Abelschen Funktionen über Dirichlets eigene Beweis-führung hinaus vorantreibt: Abelsche Funktionen sind der Aus-druck buchstäblich grenzenloser Ironie, was an sich schon eine iro-nische Vorstellung ist. Zur richtigen Verwendung des Begriffs„metaphysisch“ verweise ich den Leser dieser Zeilen zum Ver-gleich auf den grundlegenden Gedankengang, den ich als Kernmeiner Schrift Vernadskij und das Dirichlet-Prinzip geliefert ha-be.

Um den Kern des Gedankenganges zu wiederholen, sei fol-gendes gesagt. Bei der wissenschaftlich korrekten Anwendungdes Begriffs metaphysisch betont die Wissenschaft, daß Sinneser-fahrung nur bedingt Gültigkeit hat – daß sie bestenfalls Schat-ten der wirkenden Realität darstellt, die als Folgen der Wirkungnicht wahrgenommener, aber nachweisbar wirkender Prinzipienauf den Sinnesapparat des Einzelnen hervorgerufen wurden.Universelle Prinzipien oder Gesetze kann man nie unmittelbarmit den Sinnen erkennen, sondern bestenfalls nur das Vorhan-densein ihrer Wirkungen, welche zeigen, daß unbestreitbar et-was wirkt, die aber – wie die Auffassungen des komplexen Be-reichs in der mathematischen Physik – nicht selbst als Gegen-stand der Sinneswahrnehmung in Erscheinung treten.

Wirklich ist nicht etwa das, was eine naive Auslegung von Sin-neseindrücken vermuten läßt – sondern bestenfalls das, was dasden Sinneseindrücken Unbekannte, als Schatten auf das Senso-rium wirft. Das ist das Wesen der Ironie ! Solche Ironie vereint Na-turwissenschaft und die Praxis gültiger klassischer künstlerischerKomposition als übereinstimmende Eigenschaften menschlichenWissens des Menschen in dem Universum, in dem wir existieren.

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Dieses Prinzip der Ironie ist das wahre Gesetz aller Komposi-tion und Aufführung klassischer Kunst. Das ist es, was etwa ausdem Gesamtwerk Leonardo da Vincis ein einziges einheitlichesUnternehmen macht.

Um zu vermitteln, was wahr ist, muß man auf die Ironie desEntwicklungsprozesses ständiger Veränderung zurückgreifen,der die Bereiche von Sterblichkeit und Unsterblichkeit in einereinzigen Erfahrung verschmilzt. Das ist der höchste Ausdruckklassischer Kunst. Dies ist die unverzichtbare Aufgabe klassi-scher künstlerischer Komposition und ihrer Aufführung.

LEBEN ALS KUNST: DAS PRINZIP DER TRAGÖDIE

Im Werk Vernadskijs existiert das Leben nachweislich als uni-verselles Prinzip, aber das Leben läßt sich nicht funktionell inden relativ universellen Bereich der abiotischen Abläufe einord-nen. Es wirkt auf den abiotischen Bereich und innerhalb seinerGrenzen, aber das Leben als solches ist nicht Teil dieses Bereichs,sondern steht über ihm. In ähnlicher Weise definiert sich dieNoosphäre durch ein Prinzip der Erkenntnis (Kognition), dassich nicht innerhalb der Grenzen des Bereiches der Biologie ein-ordnen läßt und über ihm steht. Der Bezug auf real wirkendePrinzipien wie diese, ist der einzige vernünftige Gebrauch desBegriffs „metaphysisch“, so wie die Gauß-Riemannsche Vorstel-lung des komplexen Bereichs die erkenntnistheoretisch meta-physische Aktualität aller erfahrenen physischen Abläufe imUniversum bezeichnet.

Diesen Begriff phy-sisch wirkender meta-physischer Existenzhaben schon die Py-thagoräer und Platonverstanden. In der pla-tonischen und christ-lichen Theologie ent-spricht er der Vorstel-lung von der Unsterb-

lichkeit der individuellen menschlichen Persönlichkeit; es ent-spricht der Idee vom Menschen, dessen Funktion innerhalb derNoosphäre aufgrund der Sterblichkeit, welche das Leben jedeseinzelnen Menschen bestimmt, begrenzt ist. Dennoch, das Be-sondere eines Menschen, seine individuelle Persönlichkeit liegtim Wirkungsbereich eines Prinzips, das keinen biologischen Toderfährt. So kann im Werk Vernadskijs und seiner entsprechen-den Nachfolger nur das Leben an sich Leben erzeugen, und nurdas Prinzip der individuellen Erkenntnis an sich kann Erkenntniserzeugen.

Deshalb verbinden vernünftige Menschen und Gesellschaftenihr wichtigstes Eigeninteresse mit dem Begriff der Unsterblich-keit, wie er mit der Existenz des menschlichen Lebens innerhalbder Noosphäre verbunden ist, wenn auch nur als Andeutung derUnsterblichkeit. Die einzige vernünftige Verwendung des Be-griffs „klassisch“ in der europäischen Zivilisation geht nach un-serem besten heutigen Wissen auf Ideen zurück, die von den Py-thagoräern und Platon entwickelt wurden. Deren Vorstellungenberuhten wiederum auf Entwicklungen, welche bis in die ägyp-tische Zivilisation zurückreichen. Die gesamte europäische klas-sische Wissenschaft und Kunst ist Gegenstand dieser Sicht derNatur des einzelnen Mitglieds der Menschheit im Universum.

NEHMEN WIRZUM BEISPIEL SHAKESPEARES WERK.

Seit eine Bande venezianischer Schufte – wie Zorzi („Giorgi“),Kardinal Pole, Thomas Cromwell u.a. – den Justizmord an Sir

Dieser Spiralnebel M51ist 13 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt.

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Thomas More (Morus) bewirkt hatten, nahm das zeitgenössi-sche England Christopher Marlowes und Shakespeares Eigen-schaften eines schrecklichen venezianischen Alptraums an.Früher war mit der Befreiung unter Richmond (Heinrich VII.)ein England entstanden, das frei von der langen Tyrannei derultramontanen Kräfte der venezianisch-normannischen Partner-schaft und ein Segen gewesen war: die Erfahrung des neuzeitli-chen souveränen Gemeinwesens. Dieses Commonwealth der Zeitvon Sir Thomas More war nun in großer Gefahr, bedroht; wiespäter zu Shakespeares Zeit, vom Aufstieg einer Neuen Partei inVenedig, wodurch England zunehmend von der Person PaoloSarpis und prominenten aufsteigenden Agenten Sarpis desfrühen 17. Jahrhunderts wie dem verkommenen Sir Francis Ba-con und Thomas Hobbes beherrscht wurde.

Für Shakespeares Kreis der Anhänger von Sir Thomas Moreu.a. hätte es keinen Richmond geben kön-nen, wäre nicht Ludwig XI. in Frankreichgewesen, und keinen Ludwig, wäre nichtJeanne d’Arc gewesen. Diese Geschichtereichte weit zurück in tiefliegende Schich-ten der Menschheit, lange vor dem Übeldes kaiserlichen Rom. Unter dem Einflußder Anhänger Paolo Sarpis, – darunter Ba-con, Hobbes und John Locke – wurdenShakespeares Theaterstücke entweder ver-boten oder von den Regisseuren bis zurUnkenntlichkeit verstümmelt, bis ihr Erbein Deutschland von den Kreisen, welcheden Grundstein für die deutsche Klassikim späten 18. Jahrhundert legten – es han-delt sich um Shakespeare-Bewunderer wieAbraham Kästner, dessen Schüler Gott-hold Lessing, Moses Mendelssohn,Goethe und Schiller – gerettet wurde.

Auf der klassischen Bühne ist diemenschliche Geschichte unsterblich. Sieexistiert in einer „Gleichzeitigkeit der Ewigkeit“, wie RaffaelSanzio dies in der Schule von Athen im Vatikanischen Museumdarstellt. Auf diese Bühne in der Ewigkeit der Menschheit, stelltdas klassische Schauspiel sowohl das Stück als auch das Publi-kum. So stellte der Dichter Aischylos im Gefesselten PrometheusPrometheus und die Menschheit im Rahmen des unsterblichenKampfes gegen die bösartige, quasi satanische Tyrannei desolympischen Zeus dar. Man vergleiche Shakespeares Behand-lung des Hamlet mit einer bestimmten Eigenheit von Aischylos’Gefesseltem Prometheus und mit dem Versuch P. B. Shelleys, die-sen zu rekonstruieren.

Die Schwäche der antiken griechischen Tragödie vor Aischy-los’ Prometheus-Trilogie und Platons entsprechendem Protestgegen die Tragödien im allgemeinen, besteht darin, daß das Dra-ma nicht einmal die Vorahnung eines ironisch vorgestellten Schat-tens einer Lösung für die zukünftige Gesellschaft – das „Erhabene“im Schillerschen Sinne – enthält. Der gefesselte Prometheus bildeteine Ausnahme unter den klassischen Tragödien, die vor Platongeschrieben wurden und die eine entscheidende Schwäche auf-

weisen. In den überlieferten Inhalts-angaben der Aischylos Trilogie wirdPrometheus im abschließenden drit-ten Teil des Schauspiels aus Gefan-genschaft und Folter befreit. Hierliegt die furchtbare Macht, die gegenZeus aufgebracht wird, eine Macht,die im Gefesselten Prometheus bereitsironisch angedeutet wird.

In diesem Fall findet sich die Lö-sung nicht in dem Drama, das fälsch-lich als Textbuch ausgelegt wird. Sieliegt im Geist des Publikums, weil essich um Menschen handelt, die sehen,wie der Wohltäter der Menschheit ge-foltert wird, weil er das Recht derMenschen (aus denen sich das Publi-kum ironischerweise zusammensetzt)

verteidigt, ihre natürliche Fähigkeit zur Entdeckung und An-wendung nützlicher universeller Prinzipien zum Ausdruck zubringen. Wer sich an Solons Brief erinnert, den dieser an seinedekadenten Mitbürger richtete, kann auch erkennen, daß derverfolgte Prometheus ihr Wohltäter ist und um ihrer selbst wil-len verfolgt wird. Dieser Teil der Trilogie, Der gefesselte Prome-theus, hat verfassungsrechtliche Bedeutung, welche sich in derGründung der amerikanischen Republik widerspiegelt. Der Ab-schnitt aus Goethes fragmentarischem Großkopta, in dem Pro-metheus Zeus verflucht, ist hier ein relevanter Bezugspunkt.Derartige Ironie ist das Geheimnis aller klassischen Dichtungenund Dramen in Komposition und Aufführung, die heute nochunserer Aufmerksamkeit würdig sind!

Der olympische Mythos bringt einen gesellschaftlichen Zu-stand zum Ausdruck, wo eine herrschende Oligarchie die Le-bensumstände der Mehrheit der Menschheit auf die Stufe vonwildem oder gezähmtem menschlichem Vieh herabgewürdigthat. Es ist diesen wie Vieh behandelten Menschen verboten, dieEntdeckung universeller Naturgesetze anzuwenden, ja sich die-

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Standbild Paolo Sarpis in Venedig

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se auch nur vorzustellen; als Beispiel dient in dem Stück von Ai-schylos die Verwendung des Feuers. Sie dürfen die Mittel, durchdie sich der Zustand der breiten Masse der Menschen verbessernließe, nicht kennen. Man nennt das beschönigend die „traditio-nelle Kultur“, die für Menschenvieh vorgeschrieben ist. Deshalbwird der Sklave, der Lesen und Schreiben gelernt hat, von derHand des Ungeheuers, das die Gesetze schreibt, ermordet.

Um Shakespeares Werk angemessen zu folgen, müssen wir dasPrinzip dieses Aischylos-Schauspiels – beispielsweise bei Hamlet– mitberücksichtigen. Wie Shakespeare Horatio in der Schluß-szene des Stücks zum Publikum hin sagen läßt, müssen wir dieLehre aus den vorangegangenen Ereignissen zieht. Nicht die, diesich in England ereigneten, sondern auf der Bühne, sonst wür-den wir dasselbe in der Zukunft wiederholen. Das wird nicht derim Drama handelnden skandinavischen Bevölkerung mitgeteilt,sondern dem englischen Publikum, welches bei der Aufführungdes Schauspiels anwesend ist. Das Spielen des Spiels ist in die-sem Augenblick der Triumph des Autors, der Schauspieler unddes Publikums über das Böse, das in Hamlets verkommenemStaate Dänemark sichtbar wird. Im Stück selbst gibt es kein„happy end“, aber für das anwesende oder zukünftige Publikum,das sich von der Ironie des Dramas, das es erfahren hat, ange-messen begeistern läßt, wird der Weg für ein gutes Ende aufge-zeigt.

So wird in Aischylos’ Prometheus oder den späten DramenShakespeares, bei Lessing und Schiller, wie in den besten Wer-ken Goethes, das Abschreckende einer schrecklichen Kultur ansich zum Sprungbrett, um vorauszusehen, was Schiller als Prin-zip des Erhabenen definierte. Der einzelne Mensch muß größersein als sein oder ihr persönliches Schicksal. Aischylos’ Prome-theus veranschaulicht das genauso wie die Jeanne d’Arc der wah-ren Geschichte und in Schillers inhaltlich wahrheitsgemäßer

Darstellung auf der Bühne. Das klassische europäische Dramamuß immer diesem Maßstab der Definition seines Sinns undZwecks standhalten.

In dem Drama des wahren Lebens der Jeanne d’Arc (Johannavon Orleans) gibt es kein „happy end“ für ihr sterbliches Leben;was bleibt, ist ihre tatsächliche Unsterblichkeit. Sie findet ihrenAusdruck in der Selbstbefreiung Frankreichs von der normanni-schen Tyrannei, welche durch die Sendung Jeanne d’Arcs einge-leitet wurde. Jeanne starb, wie alle Männer und Frauen auf dieeine oder andere Weise sterben werden; aber sie hat die Un-sterblichkeit gewonnen – ironisch, durch die Art und Weise, wiesie mit der übermächtigen Gefahr für ihr sterbliches Dasein um-ging.

Der Fall von Shakespeares Richard III. rückt die reale Jeanned’Arc klar in den Brennpunkt, ebenso wie es Schiller mit seinemSchauspiel tut.

Trotz des klassischen Menschenbildes, das in den besten Mo-menten der antiken griechischen Kultur – wie in dem BriefSolons von Athen oder Platons Lehre von der Unsterblichkeitund Agape – zum Ausdruck kommt, war die Lage des Volkes imallgemeinen bedrückend. Sie lebten mehr oder weniger in einemtierhaften Zustand, als Menschenvieh, das von Oligarchien, wiedenen der mythischen Götter des Olymp gehütet wurde. Dermoralische Verfall Athens war eine Folge der von Eleaten undSophisten verbreiteten reduktionistischen Philosophie; dieÜbel, welche den Niedergang des Römischen Reiches einleite-ten, das byzantinische Reich und die ultramontanen Tyranneiunter der Aufsicht der Finanzoligarchie Venedigs und der nor-mannischen Ritter – all dies zeigt uns eine lange, von großenQualen geprägte Geschichte. Eine sich über lange Zeiträume hinerstreckende Tragödie. Schließlich wurde in der Renaissance des15. Jahrhunderts eine neue Gesellschaft auf der Grundlage des

Das legendäre Amadeus Quartett

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Prinzips der Agape gegründet: das Gemeinwesen Frankreichs un-ter Ludwig XI. und Englands unter Heinrich VII. Es war einNeubgeinn der Menschheit im neuzeitlichen Europa, der mitder in diesem Jahrhundert beginnenden Renaissance seinen An-fang nahm.

Wahre Kunst befaßt sich dementsprechend mit ähnlichenThemen, welche die Frage der geistigen Größe und die Fähig-keit zum Guten, oder den Mangel des Guten, das Böse zum Aus-druck bringen. In Shakespeares Richard III., wo Richmond qua-si den alten Drachen der normannischen Ritterschaft erschlägt,sollte man die Befreiung der Menschheit von einem großenÜbel sehen. Retrospektiv findet hier das Leiden der unterdrück-ten christlichen Märtyrer im Römischen Reich von Nero bisDiokletian und der Schrecken des praktisch völkermörderischenneuen finsteren Zeitalters im Europa des 14. Jahrhundert, wel-che die Allianz der venezianischen Finanzoligarchie mit den nor-mannischen Rittern heraufbeschwor, seine historische Rechtfer-tigung.

Was der Zuschauer aus der großen klassischen Tragödie ge-winnt, ist vor allem anderen eine Andeutung der Unsterblich-keit. Z.B. die Unsterblichkeit der realen Jeanne d’Arc, die Schil-ler mit dem Hilfsmittel des klassischen Theaters auf der Bühnezum Leben erweckt. Ein anderes Beispiel ist die Bedeutung desLebenswerks von Martin Luther King. Das, was es zu erfassengilt, ist die unsterbliche Bedeutung der eigenen kurzen sterbli-chen Existenz. Man muß sich die Frage stellen: „Was soll ich mitdiesem sterblichen Leben beginnen, um die Aufgabe dieser kur-zen sterblichen Existenz zu erfüllen?“ Das ist der ironische Un-terschied zwischen menschlichem Leben und der unsäglichenkleinen Seele, die in Lord Chesterfields berühmter Briefsamm-lung zum Ausdruck kommt, oder in der falschen Auslegung desklassischen Dramas als eine Ansammlung mehr oder wenigerkleinlichen Moralisierens, wenn der Romantiker oder Existen-tialist klassische Bühnenwerke oder Gedichte bei der Auf-führung erstickt.

Die Bedeutung des sterblichen Lebens jedes Einzelnen liegt inder Zukunft der Gesellschaft. „Was, mein Lieber, könnte der un-sterbliche Zweck deines sterblichen Lebens sein?“ Das Erlebender klassischen Tragödie zwingt uns, die Qualen der Vergangen-heit, ihre unvollendeten Errungenschaften zu hören, und, wennwir können, zu entdecken, mit welchen Mitteln wir zu einemResultat beitragen können, das die Vergangenheit uns in der Ge-genwart oder Zukunft zu verwirklichen aufgetragen hat. Ernst-hafte Bürger denken mehrere Generationen oder sogar nochweiter voraus. Dazu stürzen sie sich nicht in wilde Phantasien,sondern wählen ein paar Ecksteine aus, die heute gelegt werdenmüssen, weil sie ein notwendiger Schritt hin zu etwas von Be-deutung sind, das die Menschheit in der Zukunft verwirklichensollte. So mache ich als Ökonom in meinem Alter keine Pläne,die sich nicht auf eine Welt der heute jungen Erwachsenen be-ziehen, wie sie diese in einem halben Jahrhundert – zwei Gene-rationen in die Zukunft von heute gesehen – erlebt haben underleben werden.

Große Kunst ist gerade in dem Maße groß, wenn sie vermag,die Absicht, welche den Künstler bei seiner Kunst leitet, zum

Ausdruck zu bringen. Das ist das Wesen, der Zweck und die not-wendige Qualität für die Aufführung klassischer Tragödien undDichtung. Bei der ernsthaften klassischen Kunst, wie auch beider wahren Naturwissenschaft geht es immer um den Aufbau ei-ner besseren Zukunft, in der unsere Nachfahren leben werden.Wahre Wissenschaft hat, wie wahre Kunst, kein überzeugende-res Ziel als das. So muß man klassisches Drama und klassischePoesie verstehen und aufführen.

In der Unsterblichkeit menschlicher Seelen finden alle Ge-rechtigkeit, die Guten wie die Bösen, und ebenso die Feigen undbloß Unnützen. Das ist das Wesen wahrer Wissenschaft.

(Bei dem vorliegenden Artikel handelt es sich um einen Auszug ausLyndon LaRouches Artikel „Man’s Original creations,“ der im Juni 2005in der Vierteljahreszeitschrift Fidelio veröffentlicht wurde.)

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Statue der Jeanne d’Arc in Reims.